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Zwei junge Menschen sehen einander nur für wenige Augenblicke. Zwillingsseelen, die sich in unterschiedlichen, oft dramatisch bewegten Momenten begegnen und wieder verlieren. Zwei Zeitebenen, die in einander verschmelzen. Ein Sehnen. Die Natur des Verlangens, die überwältigende Intensität der Begierde – und dennoch schrecken beide in ihrer abgeklärten Modernität davor zurück. Selbst wenn Körperlichkeit und Sexualität längst aller Schamhaftigkeit beraubt sind, das Herz bleibt scheu. Empfindungen die verwirren, warnen, fordern gelebt zu werden, versinken im Morast der Konventionen. Verzweifelte Moral siegte über zwei Herzen. Das Feuer lodert, droht zwei Menschen zu verbrennen, bis….
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Seitenzahl: 376
Veröffentlichungsjahr: 2013
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Inge Elsing-Fitzinger
Erkämpfte Träume
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Jänner 1 9 5 7
Am Tag davor
Drei Jahre später: Frühling 1 9 6 0 in Wien
Vor drei Jahren in Tirol.
Gasthof zum goldenen Bock.
Rückblendung: Vreden 1936
Frühling 1 9 6 0 in Wien
W i e n 1960
4 Jahre später im Hause Pall
H e r b s t 1975
I t a l i e n 1980
Theresa hatte sich vor drei Jahren in Rom etabliert.
1985
1989 in Wien
Litauen 1991
Ein Jahr später
Impressum neobooks
„Innsbruck, Hauptbahnhof. Der Eilzug Wien – Basel fährt auf Gleis 4 ein!“
Eine knatternde Stimme versucht über Lautsprecher die Reisenden zu erreichen. Informationen dröhnen aus Boxen, werden durch den brausenden Luftstoß des einfahrenden Zuges verschluckt.
Eine schnatternde Mädchenschar kreischt wild durcheinander. Prallgefüllte Rucksäcke. Wirr herumliegende Schier versperren den Durchgang. Missbilligende Schreie, hysterisches Rufen. Ein mit Armen und Beinen wedelnder Fahrdienstleiter perfektioniert das bedrohliche Chaos.
In der Menge steht ein junger Mann, gut aussehend, elegant gekleidet. Unternehmungslust blitzt in seinen Augen. Hut und Mantel stechen treffend unpassend aus dem Gewirr von Schimützen und Anoraks ab. Unschlüssig mustert er zwei gewaltige Koffer, eine sichtlich schwere Reisetasche. Ausweglos scheint es ihm, durch dieses wirre Knäuel von Menschen und Gepäcksstücken die Treppe zum gewünschten Gleis zu erreichen.
Der suchende Blick bleibt abrupt am Fenster des eben anhaltenden Zuges hängen. Der Herzschlag setzt einen Moment lang aus. Ein zartes Gesicht. Vorerst nur ein Oval mit zwei riesengroßen, mandelförmigen Augen. Bernsteinfarben funkeln sie ihm entgegen. Lockung. Verwirrung. Faszination.
Koffer und Tasche sind vergessen. Kraftvoll schiebt er die herumstehenden Passagiere zur Seite, bahnt sich drängend den Weg hin zu diesem Traumbild. Er reißt Taschen aus Händen, tritt auf Zehen, überhört das Geschrei der Angerempelten. Von einem unsichtbaren Band gezogen, stürmt er vorwärts. Nur noch wenige Meter.
Jetzt erkennt er einen wohlgeformten Mund, wilde schulterlange Locken, ein bezauberndes Lächeln, das nur ihm gelten konnte.
In diesem Moment der Entzückung setzt sich der Zug in Bewegung.
Er hastet weiter, winkt, ruft Worte, die im Rauschen des Fahrtwindes untergehen. Verzweifelt streckt er die Arme nach der wunderschönen, jungen Frau aus. Gehetzt folgt er den rollenden Waggons, hastet mit Riesenschritten dem Unglücksgefährt nach, das ihm das holde Wesen mit jeder Umdrehung der Räder mehr entreißt.
Unvermittelt sind der Peron und damit die Verfolgung der immer schneller werdenden Wagen zu Ende. Aufgehäufte Schneeberge. Ein letzter Blick. Sie strahlt, winkt spontan, heftig. Mit wehenden Armen erwidert er den Abschiedsgruß. Pustend stammelt er:
„Wer bist du? Wie heißt du, wo kann ich dich wieder finden?“
Drei lustige Pfiffe der Lokomotive. Die höhnische Antwort auf seine Herzenspein.
Enttäuscht kehrt er zurück zu den Gepäcksstücken, die verlassenen auf dem mittlerweile leergefegten Bahnsteig stehen.
Erst jetzt besinnt er sich darauf, eilig den Zug zu finden, der ihn nach Reutte, seinem Wunschziel befördern sollte. Mit angespannter Stimme wendet er sich in makellosem Norddeutsch, dem stampfenden Fahrdienstleiter zu.
„Ist dies hier der Zug nach Reutte, bitte!“
Wildes Gestikulieren und Nicken bestätigt seine Vermutung.
Kaum ist das Gepäck zur Tür hinein geschoben, dampft der Zug ab. Eilig erklimmt er das Trittbrett. Der eben Befragte, mit roter Mütze und Signaltafel, wirft die fliegende Tür hinter ihm zu.
„Na duml di scho du damischer Flachlandtiroler, damischer!“ hört er die keuchenden Worte des Beamten.
Erschöpft lässt er sich auf einen Platz des kaum besetzten Waggons fallen. In seinem Schädel rotieren verworrene Gedanken an das eben Erlebte. Verdammt müde und erschöpft ist er plötzlich.
Das monotone Rattern der Räder verbreitete eine beklemmende Lethargie in dem viel zu engen Abteil des Expresszuges, der zügig von Holland gegen Süden strebte. Eine drückende Atmosphäre, verstärkt durch das Grollen des Donners in immer kürzeren Abständen. Am Himmel ballten sich riesige Wolkenmassen zusammen, drohten sich jeden Moment über die vorbeirasende Landschaft zu ergießen.
Zeitig am Morgen hatte Eduard Behring den Romexpress bestiegen, um seine neue Arbeitsstelle in Österreich zu erreichen. Innsbruck oder Reutte. Zwei gewählte Möglichkeiten aus einem Wust von Stellenangeboten.
Bei dem Gedanken an Mutters letzte Worte lächelte er unvermittelt. Bub, bist du völlig durchgeknallt, fährst da hinunter zu den Russen!
Für die älteren Menschen im Norden Deutschlands, denen der Schreck des Krieges auch nach Jahren noch in den Knochen steckte, war Österreich gleichzusetzen mit dem tiefsten Balkan - also Russland.
Mutter Behring hatte vor wenigen Tagen den Hörer aufgelegt und bitterlich geschluchzt. Ein schmerzliches Sehnen drängte den abtrünnigen Sohn, die verzweifelte Frau innig an sein Herz zu drücken. Er würde einen langen, ausführlichen Brief schreiben.
Eduard sah die entsetzten Augen seiner Haushälterin vor sich. Seit über einem Jahr regelte die gute Frau zweimal die Woche, mit Engelsgeduld sein häusliches Chaos. Eine Perle.
„Jesus Maria, Herr Eduard. Das können sie doch nicht machen. So Heut auf Morgen alles hinschmeißen. Die ungewisse Zukunft. Ein fremdes Land. Fremde Menschen!“ Händeringend war sie in der kleinen Wohnung herumgerannt. Ein vergeblicher Versuch, mit mütterlicher Fürsorge dieses Hirngespinst aus seinem Kopf zu treiben.
„Sie kennen doch keinen Menschen da unten. Und die Sprache! Womöglich können sie sich mit diesen Leuten gar nicht richtig verständigen.“
„Sie haben doch auch unsere Sprache perfekt gelernt Frau Novak“, hatte er gelacht. Die gute Frau war Tschechin, vor vielen Jahren mit ihrem Mann aus der Heimat geflüchtet. In Deutschland hatte sie tapfer gegen Vorurteile angekämpft und wurde glücklich. Der leicht böhmische Akzent rang ihm oft ein Lächeln ab. Ihren kleinen Sohn hatte sie als Dreijährigen verloren. Vor langer Zeit.
„Ich mag sie so gern, Herr Eduard. Sie sind mir ans Herz gewachsen, als wären sie mein eigenes Kind. Oh Gott, den Trennungsschmerz werde ich nicht verkraften. Man könnte glauben sie rennen vor irgendetwas davon!“
Tu ich ja auch, wollte er antworten. Hatte es aber dann doch nicht getan. Verzagt hatte Frau Novak seine Habseligkeiten in die Koffer geschlichtet.
„Die frisch gebügelten Hemden. Alles wird wieder zerknittert sein, wenn sie dort ankommen.“ Aufgeregt war sie herumgeflattert, konnte sich kaum beruhigen.
„Ich schreibe auch bestimmt sofort eine Karte. Ich schaffe das ganz bestimmt.“ Er hatte die rundliche Frau zärtlich umarmt, einen Kuss auf die Wange gedrückt. Tränen kollerten über ihre vollen Backen. Ein herzzerreißender Seufzer zum Abschied.
„Gott befohlen, junger Herr, und alles Glück der Welt!“ Ihre letzten Worte hatten gut getan.
Eine Pappelallee am Horizont. Gefährliche Lanzen. Eine Phalanx gegen die unbändige Naturgewalt. Furcht einflößend. Belächelt von der Allmacht des göttlichen Willens. Das Brausen, Stöhnen, Dröhnen und Rollen schwoll zu einer disharmonischen Symphonie an. Crescendo, Forte, Fortissimo!
Mit Paukenwirbel und Tschinellegeschmetter brach die schwarze Hülle auseinander. Kugelhagel prasselte auf das Zugdach. Sintflutartige Bäche schwappten über angelaufene Scheiben. Aufgrellende Blitze. Für Bruchteile von Sekunden war die Düsternis erhellt.
Unbeirrt raste der Zug weiter. Ein mühseliger Versuch dem verderblichen Schicksal zu entfliehen. Wie Zündhölzer brausten Strommasten vorbei. Zischende Luftböen in der angespannten Stille. Das Gefährt hetzte in gleichmäßigem Rhythmus von Bahnschwelle zu Bahnschwelle. Ein Tunnel. Schlagartig verstummte der Trommelwirbel.
Die westfälische Landschaft, satte Weiden blieben in dichten Nebelschwaden zurück. Wiesen, die sich in Windeseile zu endlosen Seen wandelten, lagen hinter ihnen.
Der Zug flutschte durch die dunkle Röhre ans Tageslicht. Die Welt war verändert. An den Scheiben zerplatzten dicke Tropfen. Das Dröhnen flaute in Sekundenschnelle ab. Feierliche Stille, nur die regelmäßigen Stöße der Achsen.
Jetzt war der Himmel blau, mit hellen, pfützenähnlichen Wolkenfetzen bekleckert. Vom Horizont spannte sich ein prächtiger Regenbogen bis zu den Gleisen. Triumphierendes Pfeifen und Schnalzen. Nach Süden, immer weiter, immer weiter nach Süden.
Zu fünft saßen sie im Abteil. Unterschiedlich an Alter, Geschlecht und Aussehen. Ein fettleibiges männliches Ungetüm schnaufte in der linken hinteren Ecke. Ein Walross, nicht nur an Umfang. Ein zerrupfter Schnauzer wölbte sich über wulstige Lippen, verdeckte eine tiefe Hasenscharte.
Der rundlichen Bauersfrau gegenüber rutschte der voll gestopfte Proviantkorb vom Schoss. Wurstbrote und Äpfel kollerten zu Boden. Der Nachbar grunzte. Sein hochrotes Gesicht verzerrte sich unwillig. Die klebrige Brille glitt von der Nasenwurzel zur knolligen Spitze. Im letzten Moment fassten ungeschickte, verhornte Händen danach.
Beim Fenster saß ein junger Mann. Anfang, höchstens Mitte zwanzig. Üppiges, dunkelbraunes Haar fiel keck über die hohe Stirn. Der Rest lag zurückgekämmt über einem wohlgeformten Schädel. Graugrüne Augen fixierten starr einen undefinierbaren Punkt.
Schiefergrauer Anzug, makellos, nahtglatt. Eine etwas auffällige Weste aus rotem Baumwollstoff, mit eingewebten, silbernen Sternchen. Silberne Knöpfe. Die ebenso rote, mit silbernen Querstreifen durchwirkte Krawatte, korrekt zwei Daumenbreit geknotet. Socken in etwas dunklerem grau als die Hose. Auf Hochglanz poliertes Schuhwerk. Der Anzug war selbst gefertigt. Sein Meisterstück. Dementsprechend gab er sich, selbstbewusst und sicher.
So passend sich das Erscheinungsbild auch zusammenfügte, so unpassend schien es für diesen Anlass. Im Netz über ihm zusammengepfercht zwei große Koffer aus hellem Schweinsleder, eine prall gefüllte Reisetasche. Die Gepäcksstücke ließen eine länger dauernde Reise vermuten.
Ein heftiges Rucken des Zuges. Aus seinem Traum gerissen, hörte er plötzlich die Worte seiner Mitreisenden. Plattdeutsch. Ausdrucksweise und Tonart variierten unwesentlich. In jedem Ort des Münsterlandes wandelte sich der Dialekt geringfügig. Mit ihm änderten sich auch Gehabe und Mentalität der Menschen. Manche waren zurückhaltender als andere, wortkarger, stiller. Gesprächig oder überschwänglich war wohl kaum einer. Mit wenigen Worten kam man rasch auf den Punkt. Eine romantische Liebeserklärung zu formulieren lag nicht in der Wesensart der Westfalen. Trotzdem liebten sie.
Eduard Behring, der junge Mann mit dem eher unpassenden, doch perfekt passenden Anzug, saß schweigend inmitten der Gruppe. Feingliedrig dünnhäutige Hände ruhten kraftvoll auf der makellosen Bügelfalte. Die Schmachtlocke auf der ebenmäßigen Stirn verlieh ihm ein abenteuerliches Aussehen.
Auch er kam aus dem Norden, aus einem kleinen Städtchen an der holländischen Grenze. Die meisten Männer dieser Gegend waren Nachkommen der Wikinger. Eduards dunkler Haarschopf bildete eine löbliche Ausnahme. Sein hoher Wuchs, sein schmales, wohlgeformtes Gesicht, die breiten Schultern zeigten Rasse. Er war stolz Westfale zu sein, geboren im Frühling 1936, in einer verträumten Kleinstadt.
Wie nah noch an Kilometern, und doch schon so fern im Herzen.
„Die Heimat werde ich nie vergessen“, säuselte er kaum hörbar vor sich hin.
„Es ist an der Zeit die Geborgenheit abzustreifen, sich von der Familie zu lösen.“ Eine Tatsache, die die meisten seiner Landsleute als Sakrileg bezeichnet hätten.
In der vergangenen Nacht hatte er die Nabelschnur mit einem scharfen Schnitt durchtrennt. Jetzt war er auf der Flucht vor der Einberufung zur Bundeswehr.
Im Ernstfall würde er sein Herzblut für das Vaterland lassen. Er liebte seine Heimat. Den Humbug, dieses großkotzige Training zur Verteidigung wollte er einfach nicht mitmachen. Krieg führen ja, Krieg spielen bestimmt nicht.
Ein Entschluss, den er lange überdacht, alle Fürs und Wider erwogen hatte. Letztlich stand seine Entscheidung fest.
Ein Deserteur der deutschen Fahne, doch reinen Herzens.
Theresa wickelte eine Locke ihrer Prachtmähne verträumt um den Finger. Melancholie lag in ihrem Blick, Sehnsucht und Zuversicht.
„Den Mut könnte man schon verlieren bei soviel Jugendwahn in der Modeszene“, sinnierte sie vor sich hin. „Sechzehnjährige drängen unermüdlich vorwärts. Da sehe ich mit meinen fast zweiundzwanzig Lenzen bisweilen ganz schön alt aus. Aber ich bin glücklich und das ist doch das Wichtigste.“
Die junge Frau strahlte von Innen. Liebe! Begeisterung für ihren Beruf! Ein Sehnen, mehr zu geben, als ihr gerade in letzter Zeit möglich gewesen war. Selbstverwirklichung, einen stets wiederkehrenden Traum umzusetzen.
Kritisch betrachtete sie ihr Spiegelbild. „Die Lockenpracht? Pure Berechnung? Bestimmt nicht“, klang ihre Stimme überzeugt. „Ich liebe meine langen Haare. Schon als Mädchen war ich stolz auf seine üppige Fülle“.
Mühevoll hatte einst die allzu strenge Frau Mama sie zu Zöpfen zusammengewürgt. Mutter hielt es für unschicklich und absolut unangebracht, mit wallender Mähne zur Schule oder zum Klavierunterricht zu gehen.
Unglücklich ließ Tess dieses Martyrium damals über sich ergehen, löste jedoch bei jeder sich bietenden Gelegenheit das quälende Geflecht auf. Die krausen Locken fielen dann schon bei der kleinsten Bewegung übermütig über Stirn und Nacken.
„Lass sie doch ihre herrlichen Haare offen tragen. Die meisten Mütter wären stolz, wenn ihre Töchter eine solche Mähne aufzuweisen hätten“, kam der verständnisvolle Einwand Papas öfters zaghaft durch. Doch leider hatte Papa im Hause Hofer nur die Funktion des zweiten Geigers. Um des lieben Friedens willen, wie er sich meist auszudrücken pflegte, und resigniert die Schultern hob. Gegen die Autorität seiner allgewaltigen Frau konnte und wollte er nicht ankämpfen.
Mittelmäßigkeit feierte Triumph. Risiken wurden gescheut. Durch jahrelange Knechtschaft mürbe gemacht, fungierte er als treusorgender Familienvater, plante das leibliche Wohl seiner Lieben. Zu Hause hielt er sich eher im Hintergrund. In gehobener Beamtenstelle zeigte er sich stets verständnisvoll und zuverlässig der kleinen Gruppe gegenüber, die er väterlich betreute.
„Wo sind nur meine Träume geblieben“, grübelte er oft. „Große, schöne Träume. Schauspielschule. Burgtheater. Filmstar. Große Karriere.“
Irgendwann einmal stand Leopold Hofer kurz davor, ein zukunftsträchtiges Engagement zu bekommen. Just in dem Augenblick hatte das Schicksal erbarmungslos zugeschlagen, ihm Mara über den Weg geschickt. Zielstrebig schaltete die junge Frau die Hirngespinste ihres Geliebten aus, verdonnerte ihn zu lebenslangem Staatsdienst. Als Lohn durfte er sie, die alles Beherrschende, zum Traualtar führen. So geschehen am 3. September l933. Ein denkwürdiger Tag im Leben des leider allzu schwachen, seelenguten Mannes.
Frau Mara Hofers Leben verlief in penetrant geregelten Bahnen. Tödlich langweilig, phlegmatisch, moralisierend, wie Tess bald herausfand. Trotz ständigem Lamento über Familie, Freunde und Bekannte, die sich mit unverschämter Selbstverständlichkeit regelmäßig bei ihr ein Stelldichein gaben, wurde kein Fest übersehen. Sie fühlte sich für die ganze Verwandtschaft verantwortlich. Ein Versäumnis wäre ihrer unmaßgeblichen Meinung nach, einem mittleren Weltuntergang gleichzusetzen gewesen.
In der geräumigen Küche prangte ein nicht zu übersehender, etwa vierzig Zentimeter langer Geburtstagskalender. Über und über voll gekritzelt mit roten, blauen, gelben und grünen Namen. Durch verschiedene Farben nach Wichtigkeit, wie Verwandtschaft, Freunde, Bekannte oder sonst wen, geordnet. Nicht zu vergessen, die in Schwarz geschriebenen, mit einem Kreuz und dem genauen Datum des jeweiligen Todesjahres versehenen. An solchen Tagen stand dann ein Bild des Onkels, der Tante oder eines Freundes im ersten Fach der Anrichte. Davor flackerte eine kleine Kerze.
Damals als Kind häufig belächelt, musste Theresa sich eingestehen: „Ich habe doch tatsächlich auch solch ein Ding an der Wand hängen. Zwar wesentlich kleiner, aber immerhin. Meine Aktionen und Sehnsüchte, ein kaum zu bewältigendes Arbeitspensum. Termine und Sessionen, Auftritte, Meetings“, stöhnte sie auf.
Das Telefon schrillte störend.
„Der Termin für die Modenschau wurde um zwei Stunden vorverlegt.“ Ein Keuchen in Intendant Möllers Stimme ließ sie das Schlimmste befürchten. „Tess, sie müssen um fünfzehn Uhr auf der Matte stehen, sonst gibt es eine Katastrophe.“
„Immer ich. Habt ihr denn kein anderes Zugpferd mehr.“ Den Termin im Kosmetikstudio konnte sie wieder einmal vergessen.
„Aber ich habe doch noch…“
„Es gibt nichts Wichtigeres. Sie sind vertraglich gebunden. Bitte Tess, machen sie mir das Leben doch nicht so schwer.“ Von wegen, dachte die gestresste Frau verbittert. Möller kreischte hektisch weiter.
„Außerdem fliegen sie für zwei Tage nach Mailand. Das habe ich heute Vormittag mit Belluzzi arrangiert. Die neue Kollektion ist fertig. Packen sie das Notwendigste zusammen. Ich bringe sie nach der Show persönlich zum Flughafen. Tschüss bis später. Ich kann mich doch auf sie verlassen?“ War das nun eine Frage, überlegte Tess leicht schockiert. Eher ein Befehl.
Wo blieb da noch Zeit für einen Gedanken an Tante Emmas Namenstag?
Mutters zweite Leidenschaft galt ausschließlich ihrer Wunschtochter. Mit diesem Kind stillte sie ihr Sehnen nach etwas, das ausschließlich ihr gehören sollte. Dem Etwas, das sie besitzen, formen, manipulieren konnte. Dem sie ihren Willen aufzwingen, es beherrschen wollte. Ihr Ehemann blieb meist zurückhaltend, um unnötigen Streitigkeiten aus dem Weg zu gehen.
Leopold hatte seine eigene Lebensphilosophie, die er mit akribischem Eifer verfolgte. Quälte ihn das Weib zu sehr, verschwand er stillschweigend. Reichte das Nebenzimmer nicht aus, und verfolgten ihn ihre Sticheleien und zänkischen Beschimpfungen selbst bis auf das kleinste Örtchen der nicht allzu großen Wohnung, packte er Hut und Mantel, suchte Zuflucht bei Freunden aus vergangenen Jugendtagen. Häufig seufzte er schweren Herzens längst verlorenen Illusionen nach.
„Die liebenswerte, fröhliche Hansi! Einstmals Solotänzerin an der Staatsoper. Und der gutmütige Karl, mittlerweile ein begehrter Volksschauspieler“, träumte er. „Den Fritz mag ich am allerliebsten. Was für herrliche Witze erzählte er doch stets, ohne die Miene zu verziehen.
In ihrer Runde konnte er unbeschwert und herzlich lachen. Auch das ein oder andere Gläschen Wein durfte er sich genehmigen, ohne eine ätzende Rüge befürchten zu müssen. Manchmal durfte ihn Tess begleiten. Glücksmomente, von denen es nicht allzu viele zu Hause gab. Mutter fühlte sich unverstanden, verschmäht, und ließ dies auch alle hören, ob es sie interessierte oder nicht. Sie nervte mit bewundernswerter Ausdauer.
Ihr Kind, für sie von Anfang an klar, dass es nur ein Mädchen sein konnte, sollte alle unerfüllten Träume erfüllen, alle heimlich ersehnten Wünsche Wirklichkeit werden lassen. Sie imaginierte einen Homunkulus, geschaffen aus ihr, geformt von ihr, gelebt einzig nach ihrem Reglement.
Theresa war selbstverständlich ein Mädchen, auch ein Sonntagskind, wie gewünscht. Die erste Enttäuschung, die sie Mama gleich bei der Geburt bereitete, war ein Kranz kohlrabenschwarzer, etwa fünf Zentimeter langer Haare, anstatt der ersehnten blonden Löckchen. Nach etwa drei Monaten fielen auch diese, missmutig bereits akzeptierten schwarzen Borsten aus.
„Leopold, was soll ich nur machen“, kreischte die Frau einst panisch. „Das Kind sieht ja schrecklich aus. Ich werde noch verrückt. So kann ich den Wurm doch keinem Menschen zeigen.“ Ein erstickter Verzweiflungsschrei durchdrang die Wohnung. Tess strahlte als rosiger Skinhead in den Tag. Totale Panik seitens der Mutter, über Monate.
„Das Kind braucht unbedingt Ersatzhaare. Ich habe mich schon diesbezüglich erkundigt. Morgen wird eine Kinderperücke angeschafft. Koste es was es wolle.“ Diesen Irrsinn verhinderte Papa überraschender Weise.
Endlich, als Einjährige, sprossen Härchen als zarter Flaum, die sich, je länger sie wurden, in winzigen Ringellöckchen um das hübsche Gesicht legten. Selbstverständlich weißblond, wie gewünscht.
Stolz nahm Mutter die entzückten Vergleiche von Nachbarn und Bekannten entgegen, denen sie ihr wunderschönes Töchterchen nun präsentierte.
Häufig dehnte Mara ihre Einkäufe stundenlang aus, und hörte sich nicht satt an den Verzückungen der Leute, die sie traf.
Tess konnte sich des Gedankens nicht erwähren, Mutter hätte sie mit Freuden unter einen Glassturz gestellt, im Naturhistorischen Museum als Unikat bewundern lassen.
Dabei wäre mein einziger Wunsch nur etwas aufrichtige Liebe gewesen. Ein wenig Zärtlichkeit, Streicheleinheiten, eine innige Umarmung, Verständnis und später, ja später oft auch Nachsicht, sinnierte sie bisweilen.
Doch solcher Gefühle war die Mutter nicht fähig. Sie erwartete Perfektion. Wozu hätte sie sonst all die hübschen Kleidchen, Stiefelchen, Maschen und Rüschen, die sündteuren Geburtstagspartys finanziert? Ausgaben müssen sich schließlich lohnen.
Mit weißen Strumpfhosen, weißen Handschuhen und einem pastellfarbenen Schürzchen stand Tess oft sehnsüchtig vor der Sandkiste, beneidete ihre Altersgenossen. Im Gatsch planschten, Sandburgen bauen. Doch da war kein Erbarmen seitens der gestrengen Mama zu erwarten. Ein einziges Mal stürzte sie sich mit heroischem Mut mitten in das Kindergetümmel. Kurz darauf wurde sie unter Beschimpfungen und Ohrfeigen vom Spielplatz gezerrt. Soviel zur wunderbaren Kindheit.
Theresas sechster Geburtstag war gleichzeitig auch ihr erster Schultag. Freudige Erregung erfüllte das Kinderherz. Nun aber mussten beste schulische Leistungen erbracht werden.
Wenigsten diesbezüglich gab es keine nennenswerten Probleme, erinnerte sie sich. Aber Mutters krankhafter Ehrgeiz, aus ihr eine Nobelpreisträgerin zu machen, ein Hirngespinst. Lernen bis spät in die Nacht. Unzählige herausgerissene Seiten, wenn auch nur ein einziger Buchstabe etwas aus der Reihe tanzte. Ungerechte Prügel mit dem Kochlöffel oder dem Teppichklopfer. Völlig überflüssig, trotzdem nicht weniger schmerzhaft.
„Wenn du dich weiter so renitent anstellst, du undankbarer Fratz, kommst du ins Internat, das verspreche ich dir.“ Sie hörte Mutters schrille Stimme, als stünde sie neben ihr.
Tess wurde immer aufmumpfiger, begann sich vehement den felsenharten Maßstäben der ehrgeizigen Mutter zu widersetzen. Fazit: Internat. Klosterschule. Papas schwache Gegenargumente wurden völlig ignoriert.
So kniete Theresa tagaus, tagein um sechs Uhr morgens in der Klosterkapelle, leierte inbrünstig Gebete und Bitten herunter, in der Hoffnung ein Gott hätte Erbarmen. Doch da war scheinbar auch wenig Verständnis zu erwarten. Es tat sich einfach nichts, was in irgendeiner Form ihren Wünschen entsprochen hätte. Fromme Sprüche ballten sich zentnerschwer auf das gemarterte Kinderherz.
Irgendwann kam für kurze Zeit der Wunsch auf Ordensfrau zu werden und Medizin zu studieren. Albert Schweizer war in aller Munde, fand auch den Weg hinter die meterhohen Steinmauern des Klosters. Theresa, wie sie nun allerorts genannt wurde, wollte als Missionsärztin nach Afrika.
„Schaut doch nur, diese armen, niedlichen Heidenkinder. Denen will ich unbedingt helfen. Das kann doch nicht allzu schwer sein.“ Triumphierend hatte sie damals stapelweise Bilder in der Runde geschwenkt, die die frommen Frauen ihr mit Begeisterung schenkten. Sie wollte den Ärmsten der Armen Glück und Frieden bringen.
„Außerdem haben die Schwestern so wunderschöne, wallende Kleider an.“ Eine Feststellung, die selbst Papa nicht widerlegen konnte.
Tess betete also fleißig weiter, lernte seitenweise Bibelsprüche auswendig, und wurde bald eine hoffnungsvolle Anwärterin.
Mit wachsender Besorgnis beobachtete Papa den Wandel seines geliebten Kindes, und begann nun doch systematisch dagegen anzukämpfen.
Eines Tages, es war an Theresas vierzehntem Geburtstag, fasste er sich ein Herz, überhörte alle Protestrufe der frommen Frau Mama, beschloss seine einzige Tochter aus dem Internat zu nehmen, um sie vor dem „drohenden Klosterleben“ zu bewahren.
„Hast du dir eigentlich schon einmal ernstlich Gedanken über deine Zukunft gemacht?“, fragte der fürsorgliche Vater nach einer ungemütlichen Jause mit diversen Onkeln und Tanten, die alle gekommen waren, um nach dem Seelenheil des jungen Mädchens zu sehen.
„Du hast doch so gerne deinen Puppen neue Kleidchen genäht, und dich dabei äußerst geschickt angestellt. Möchtest du nicht auf eine höhere Schule gehen, wo du alles über Schneiderei, Mode und Design lernen könntest?
Erstaunt hatte ihn Tess angeblickt. Zweifelnd, ratlos. Die einseitige Erziehung im Kloster hatte sie völlig vergessen lassen, dass es auf der Welt auch noch andere Dinge, andere Berufe, andere Maßstäbe gab, die es lohnte zu bedenken.
„Nächsten Donnerstag fahre ich mit dir in die Modeschule Hetzendorf. Die Frau Direktor hat uns freundlicher Weise eine Sonderführung mit ausgiebigen Erklärungen und Hinweisen zugesichert. Eine zukunftsträchtige Branche“, fügte Vater mit Überzeugung hinzu.
Tess war begeistert. Spontan beschloss sie zu Beginn des nächsten Schuljahres dort einzutreten. Zum Geburtstag wünschte sie sich eine Nähmaschine.
Völlig aufgewühlt, streifte das Mädchen in den weiten Räumen der vielleicht künftigen Schule umher. Erinnerungen überwältigten sie.
Sie war etwa drei Jahre alt, als Mama eine Periode der Selbstverwirklichung hatte. Modistin. Den Beruf hatte sie einst erlernt. Diese verrückten, untragbaren Hüte, die Mama in dieser Zeit auf ihrem Kopf herumschleppte, in der tiefsten Überzeugung die Schönste zu sein. Obstkörbe, dann wieder Vogelnester oder Blätterranken in Herbsttönen. Entsetzlich kitschig aber sehr spaßig.
„Ich habe mir damals wirklich alle Mühe gegeben, diese guten Stücke auseinander zu nehmen“, lachte sie herzlich auf. „Was für ein Spaß, an ihnen herumzuschnippeln, oder das schrecklichste Ereignis; eines dieser einmaligen Modelle in den Ofen zu stecken, wo es ein Raub der Flammen wurde.“
Erbarmungslos prügelte Mutter mit dem Teppichklopfer damals auf sie ein, kreischte hysterisch. Sie war wirklich bitterböse. Ein Schauer überlief sie heute noch.
Tess hatte zu dieser Zeit täglich viele Stunden bei den drei Buresch – Schwestern verbracht. Die unverheirateten Damen wohnten auf der gleichen Etage. Sie führten einen seriösen Schneidersalon, und gaben den perfekten Babysitter ab. Liebevoll umhegten sie den kleinen Spatz mit allem nur Erdenklichen. Hier fühlte das Kind, bislang erdrückt von kühler Zuwendung, das erste Mal aufrichtige Zärtlichkeit. Ausgehungert nach Liebe und Verständnis, hineingepresst in das Wunschschema einer unbefriedigten, egozentrischen Frau, empfand sie Wärme, Verständnis und Geduld als himmlische Wohltat.
Tante Willy, die älteste, riesengroß und ziemlich beleibt, mit lustigen Grübchen in den Wangen. Richtige kleine Löcher, weil sie immer lächelte. Sie sorgte souverän für das leibliche Wohl des Frauenhaushaltes.
„Die köstlichen Kuchen und die vielen kleinen Überraschungen“, seufzte Tess nachdenklich. Manchmal tauschte Tante Willy das große Transchiermesser mit der überdimensionalen Zuschneidschere, und half Tante Fini, der Meisterin, die schönen Stoffe in Teile zu zerlegen. Tante Mia nähte diese geschickt zusammen. Im Nu zierte ein neues Teil die Kleiderpuppe. Fröhlichkeit breitete sich auf Tess Gesicht aus bei den Gedanken an längst verflossene Tage.
Frau Wunderlich, wie Tess die wundersame, armlose Lady liebevoll nannte, hatte tatsächlich fast jeden Tag ein neues, und immer schöneres Kleid an.
„Und erst die Schatzkiste unter dem riesigen Tisch. Die bunten Stofffetzchen, aus denen ich so hübsche Kleidchen gebastelt habe. Meine ersten Kreationen“, murmelte sie verklärt.
Tante Fini war wirklich ziemlich dürr, erinnerte sie sich. Aber so geduldig. Sie half mir immer. Da ein Säumchen, dort ein Rüschchen. Meine Puppe Helga wurde mal zur Sportlerin, mal zur eleganten Dame, je nach Farbe und Modell. Zu meinem vierten Geburtstag, das herrliche Puppenballkleid, von Tante Mia persönlich genäht. Rosaroter Satin und ein prächtige Perlengürtel. Ein alter Rosenkranz. Eine heroische Opfergabe von Tante Willy.
Selbstverständlich kam auch Tessy nicht zu kurz. Aus verbliebenen Stoffresten fertigten die Damen immer wieder neue Blusen, Röcke oder Kleider für das rasch heranwachsende Mädchen an.
An diese wunderbare Zeit erinnerte sich Theresa jetzt, als sie durch die Klassenräume der Schule schritt. Ihr Herz vollführte Luftsprünge, und sie fiel Papa um den Hals.
„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie glücklich ich bin, Vati. Das war die beste Idee, die du jemals hattest. Ich werde dir auch keine Schande machen. Nie sollst du von deiner Tochter enttäuscht werden. Ich schwörs!“
Mutter Hofer stand den jüngsten Hirngespinsten reichlich skeptisch gegenüber. Die Euphorie der Tochter ließ sich nicht mehr bremsen.
Damals schwor sich Theresa; sollte sie einmal eigene Kinder haben, diese eher zu fördern als fordern, ihnen alle Toleranz der Welt zukommen zu lassen. Sie würde keine jener Mütter sein, deren Kinder das erreichen sollten, was sie selbst nie geschafft haben. Sie wollte ihnen mit Verständnis und Großzügigkeit begegnen, nie in ein Wunschschema pressen. Ein Vorsatz, geformt aus Entbehrtem, Ersehntem, unerfüllten Kindheitsträumen.
Jetzt redete ihr schon lange niemand mehr drein. Theresa war selbständig geworden, verdiente ihr eigenes Geld. Ihre Persönlichkeit formte sich aus Erfahrungen, guten und weniger guten, hilfreichen und warnenden.
„Nun ist mein Leben ein Traum!“ Tess sagte es ganz nüchtern, und es hörte sich kein bisschen kitschig an.
„Ich tue das, was ich immer schon wollte, seit ich ein kleines Mädchen war: ich zeichne Modelle, führe sie vor und habe Erfolg.“
Ein Lächeln lag auf ihren ebenmäßigen Zügen, tanzte in ihren Augen. Der offene Blick, der relaxte Sexappeal einer Frau, die wusste wie ihr Weg zu verlaufen hatte. Sie fühlte sich erwachsen und zufrieden. Abgesehen von den immer wieder auftretenden Störfaktoren, die sich unverschämt und penetrant einzuschleichen drohten.
Als junges Mädchen wollte sie immer älter aussehen und setzte auch alles daran, dies mit Lippenstift und Wimperntusche zu realisieren. Ihr erstes Erfolgserlebnis, mit vierzehn. Die dick bebrillte Billeteuse im Haydnkino auf der Mariahilferstraße ließ sie anstandslos passieren.
Denn sie wissen nicht was sie tun, d e r Film, den man gesehen haben musste um IN zu sein. James Dean, Schwarm aller Mädchenherzen, rührte zu Tränen, verursachte schlaflose Nächte. Man fühlte sich
s o erwachsen.
Heute dachte sie nicht im Traum mehr daran ihr Alter zu kaschieren, obwohl die Konkurrenz mitleidslos jeden Monat ihres Lebensalters unter die Lupe nahm, die nachstrebenden Models immer jünger wurden.
Sie hatte Erfolg, war gut im Geschäft. Eine Tatsache, die auch ein forschender Blick in die glänzende, feindselige Scheibe über der Frisierkommode nicht in Abrede stellen konnte. Wozu auch, ihr Spiegelbild trickste die Geburtsurkunde absolut aus. Sie kannte das Geheimrezept: Ich werde geliebt!
In den letzten Jahren gab es einige Gefährten, mit denen sie mal kürzer mal länger Tisch und Bett teilte. Affären, die sie meist nicht sonderlich tief greifend berührten. Fast immer wurden diese Herren nach dem einen oder anderen Fauxpas kurzerhand entsorgt. Diese Aktionen verliefen ohne größeren Aufwand. Mann packte freiwillig (oder auch unfreiwillig) Klamotten und Zahnbürste ein, verließ mal verlegen lächelnd, mal überheblich grinsend, die gastliche Stätte.
Standhaft hatte sie sich gewehrt eine feste Bindung einzugehen, lehnte charmant doch entschieden Annäherungsversuche diverser Verehrer ab, konzentrierte sich auf ihre Karriere. Mit bestem Ergebnis.
„Mein Terminkalender platzt aus allen Nähten. Mein Bankkonto weist absolut zufrieden stellende Bilanzen auf.“ – Bis da vor einem Monat Wolfram Pall auf der Bildfläche erschien.
Das erste Mal in ihrem Leben war sie bereit Termine abzusagen, eine Photosession abzulehnen, auf einen Urlaub zu bestehen, der ihr drei glückliche Tage mit diesem attraktiven Mann bescheren sollte.
Scherzend liebäugelte sie mit dem ersten Rendezvous, nahm lächelnd die händeringenden Rügen ihres Managers entgegen. Überzeugt warf sie sich hinein in diese Achterbahn der großen Gefühle, für die es nun seelisch und realistisch einen Platz zu finden galt. Sie balancierte über ein Minenfeld der Nicht-Akzeptanz mit traumwandlerischer Sicherheit in erhabenem Glücksrausch.
„Wolfram wird mein Leben von Grund auf verändern.“ Alles Bisherige verblasste vor dieser wunderbar rosig scheinenden Zukunft.
Vater war der Erste, dem sie von ihrem umwerfenden Lover erzählte.
„Du machst das schon richtig, mein kleines Mädchen. Folge nur deinem Herzen, und lasse dich nicht beirren. Das wahre Glück kommt selten. Wenn es dich dann trifft, musst du zugreifen, darfst es nicht mehr loslassen. Doch überlege sorgsam, mein Kind. Sich halbherzig auf eine Beziehung einzulassen, nur, um nicht allein zu sein, ist pure Zeitverschwendung.“
Diese plötzlich völlig fremden, überwältigenden Regungen verwirrten, befremdeten die junge Frau. Es gab Momente in denen sie sich feige in ihr Schneckenhaus zurückzog, aus Angst ihr Herz zu riskieren. Doch dann stand Wolfram wieder vor ihr, der kühne Ritter. Er brachte sie zum Strahlen, wie einen kostbaren Solitär, der nur in den Händen eines echten Könners wahres Feuer entwickelt.
Gleich beim zweiten Zusammentreffen hatte sie ihren erotischen Nachholbedarf zur vollsten Zufriedenheit gedeckt. Beide verloren sich in einem wirren Strudel der Leidenschaft, liebten einander bis an ihre Grenzen.
Bereits mit sechzehn verdiente Theresa ihr Taschengeld selbst, als Model. Die Schlussvorführung der während des Schuljahres gefertigten Entwürfe und Modelle, die die Mädchen mit Stolz und Selbstbewusstsein zeigten.
Tess hatte ihr Bestes gegeben. Eine mehr als gewagte Kreation, die deutlich aus dem streng vorgegebenen Rahmen fiel. Mit Charme und Geschick überzeugte sie die Professoren von der Güte des Produktes. Wenig später tänzelte sie mit nahezu professioneller Nonchalance über den Laufsteg. Im Herzen Zuversicht, im Gesicht ihr schönstes Lächeln. Neidisch beobachtet von den Klassenkameradinnen, bekrittelt von mehreren älteren Herrschaften, enthusiastisch beklatscht von einigen Modephotographen, die sich alljährlich zu diesen Veranstaltungen der Modeschule Hetzendorf auf Nachwuchssuche begaben. Der Erfolg sprach für sich. Noch am gleichen Abend hatte sie einen provisorischen Vertrag in der Tasche.
„Fräulein Hofer, liebe Theresa, sie werden in den kommenden Wochen und Monaten einige Male pro Woche in verschiedenen Ateliers zu Aufnahmen erscheinen, werden auf Hausmodeschauen Modelle vorführen. Sind sie mit unseren Bedingung einverstanden.“ Wie himmlisch aufregend hatte das damals geklungen. Noble und Reiche von der Güte der gezeigten Produkte überzeugen, war ihr erster Auftrag. Viel hat sich daran eigentlich bis heute nicht geändert, stellte sie lakonisch fest.
Nach Abschluss der Meisterklasse, machte sie ihr Hobby zur Profession. Ein Knochenjob, der ihr bisweilen alle Kraft und Stärke abverlangte, sie manchmal an die Grenzen des zu Ertragenden führte. Beseelt von gnadenlosem Ehrgeiz kämpfte sie unermüdlich weiter, stieg die steile Treppe mit Grazie und Selbstdisziplin Stufe um Stufe höher.
„Hat sich doch gelohnt!“ Zufrieden blickte sie in den Spiegel. Ihr Spiegelbild nickte zurück. „Nun kannst du Anforderungen stellen, Kritiken äußern, und wirst allgemein geschätzt und geachtet. Dein Können, das profunde Fachwissen, die Kenntnis von Stoffqualität und Verarbeitungslabel bringt dir selbstverständlich große Vorteile.“ Stolz und Zufriedenheit hatte sich in diese Behauptung gemischt. Ihr Name war ein Begriff in der Szene.
Sie hatte mehrere Angebote namhafter Firmen als Designerin zu arbeiten. Man überbot sich mit Prämien und Geschenken, um sich ihre Gunst zu sichern.
„Im Augenblick balanciere ich auf einem schmalen Grat. Man erwartete eine rasche Antwort. Welches Angebot soll ich annehmen? Wie soll ich mich entscheiden, ohne den Rest der Werber für immer zu vergrämen? Tja, liebe Tess, jetzt ist guter Rat teuer“, sinnierte sie nachdenklich.
In diesem seelischen Konflikt, in dem weder Papa oder neidische Freunde, noch wohlwollende oder konkurrierende Kollegen Trost und Hilfe spenden konnten, erschien dieser Traummann.
„Seit ich Wolfram kenne, läuft mein Leben eigentlich recht stürmisch ab. Aber es ist wunderbar aufregend. Jetzt bestimmt e r endlich wo es lang geht.“
Plötzlich hatte sich alles verändert. Wolfram war Arzt. Dreizehn Jahre älter als sie. Eine Persönlichkeit, die sie voll und ganz einvernahmte, vom ersten Augenblick an. Ein betörender Liebhaber, charmant und überzeugend. Rührend herzlich, liebenswürdig, vertrauenserweckend und stark. Er würde sie durch alle Höhen und Tiefen lenken, mit sicherer Hand, mit Kraft und Seriosität. Sie fühlte sich unendlich geborgen an seiner Seite. Probleme lösten sich auf wie Sommernebel, verschwanden. Alles war klar und übersichtlich.
Der Personenzug zuckelte durch eine Traumlandschaft. Weiß glänzende Gipfel, unvorstellbar hohe Berge, die majestätisch das schmale Tal bewachten. Leichtes Frösteln wechselte in anheimelnde Wärme und Wohlgefühl. Eine prächtige, für Eduard Behring völlig fremde, und dennoch schon nach wenigen Stunden so vertraute Gegend. Hier werde ich eine gute Zeit verbringen, werde erfolgreichsein, dachte er mit fester Überzeugung. Die glühenden Wangen an die angelaufenen Scheiben gepresst, starrte er aus dem Fenster, bis die Nacht über dem Land lag, der Himmel voller Sterne strahlte.
„Wie schnell kann sich das Umfeld, das Leben ändern, wenn man es zulässt“, stellte er überrascht fest. „Für viele Menschen kriecht die Zeit dahin, wie eine träge, schleimige Masse. Ekelig langsam, langweilig, unerfüllt. Unzufriedenheit macht sich breit. Man wird reizbar, ungerecht, neidisch. Verbrechen werden aus dieser trostlosen Lethargie geboren. Gewalt, Brutalität, Tod.“
Eduards Leben hingegen verraste. Er hetzte von einem Ziel zum Nächsten. Wissbegierig, voller Tatendrang, gönnte er sich keine Pause. Ihm wurde jeder Tag zu kurz. Immer weniger schlief er, um nicht kostbare Stunden zu vergeuden.
Gleich einem Stier, stürmte er von einer Arena zur nächsten. Wer sich ihm in den Weg stellte wurde zwar nicht rücksichtslos überrannt, aber sicher besiegt. Kein Hindernis war zu groß, keine Hürde unüberwindbar. Er wollte seinen Weg gehen. Unbeirrt, aufrecht.
„War ja nicht immer ganz leicht“, sinnierte er zufrieden! Aber ich lass mich einfach nicht unterkriegen.“ Immer wieder blitzten Erinnerungen seines oft recht hektischen Werdegangs auf.
Sehr zum Bedauern des guten Meisters, wechselte er unmittelbar nach erfolgreich bestandener Gesellenprüfung in die Industrie. Ein geeignetes Sprungbrett, um seinen gesetzten Träumen ein Stück näher zu rücken.
„Industrielle Erzeugung.“ Wie Magie klangen diese Worte. Nach kurzer Zeit erkannte man auch hier seine Begabung und Fähigkeiten.
„Herr Behring, sie werden alle Positionen durchlaufen.“ Die feste Stimme seines neuen Arbeitgebers klang Vertrauen einflößend.
„Zuschnitt, Einrichten, Taschenfertigung, Kantenverstürzen, Achsel- und Seitennähte schließen, Ärmel einnähen und so weiter. Alles Dinge, die ein tüchtiger Lehrlingsausbilder mit links beherrschen muss.“ Ein herausfordernder Blick, den Eduard klar erwiderte.
Die erste Treppe seiner langen Aufstiegsleiter hatte er erreicht. Sein Eifer, sein tadelloser Ruf, nicht nur als Könner, sondern vor allem als Kumpel, eilten ihm voraus. Gerechtigkeit und Umsicht waren vorrangig.
Fred Bäumler war einst sein härtester Konkurrent in der neuen Firma.
Unerwartet, aus heiterem Himmel traf ihn eines Tages die Hiobsbotschaft.
“Ich bin schwanger!” Ein Blitzschlag. Kathi stand vor ihm, mit verheultem Gesicht, struppigem Haar. Aufgelöst. Völlig verzweifelt.
In Eds Kopf – ein wirbelndes Karussell. Er hatte eine lange Schicht hinter sich, war todmüde.
Wie konnte das passieren? Er kannte das Mädchen doch kaum. Vor zwei Monaten in einer Bar! Sie sah nett aus, er hatte sie aus Freds Umklammerung befreit. Filmriss.
Jetzt stand sie vor ihm, war sichtlich verzweifelt. Fetzten einer wagen Erinnerung kehrten wieder. Die verrauchte Kneipe. Das adrette Töchterchen aus bürgerlichem Haus. So gab sie sich jedenfalls, als Ed bereits leicht beschwipst mit Fred Bäumler das Lokal betrat.
Fred baggerte die Kleine reichlich frech an. Sie hatte nur Augen für Eduard.
„Du kleines Miststück“, lallte Fred, „hast ja keine Ahnung was dir entgeht.“
Gierig fingerte er nach ihren prallen Brüsten, klatschte ihr auf den Hintern, versuchte sie gewaltsam in eine Ecke zu drängen. Er zerrte Fred zurück an den Tisch.
„Blöde Nutte auch!“, hatte er damals geschimpft. „Was mischt du dich überhaupt in meine Angelegenheiten. Such dir gefälligst selbst ein Mädchen. Den ganzen Abend lang gehst du mir schon auf den Nerv. Spannst mir eine nach der anderen aus. Mir reicht es.“
Plötzlich schlug er zu. Die harte Faust landete in Eds Magengrube. Überraschte Augen. Kurz darauf kippte er vorn über, schlug mit dem Kopf am Tresen auf.
„Na gut geschlafen mein Freund?“ Eine heitere Stimme weckte ihn.
Das Mädchen von gestern Abend in der Bar, saß auf der Bettkante, lächelte liebevoll, streichelte seinen Brummschädel.
„Wo bin ich?“ Die fremde Wohnung. Das zerwühlte Bett. Zwei leere Weinflaschen am knallroten Teppich. Ein Aschenbecher, voll mit abgebrannten Zigarettenkippen. Alkoholvergiftung oder Nikotinvergiftung?
Gedächtnisverlust. Seine Stimme klang rau. Der Hals kratzte. Splitternackt lag er auf den zerknautschten Lacken. Das Mädchen lachte.
„Bei mir, mein Schatz. Bei deiner Kathi. Ich habe dich mit nach Hause genommen. Du warst so hilfebedürftig. Später allerdings hätte
i c h fast Hilfe gebraucht. Du bist ja ganz rasch zur Sache gekommen, du toller Hecht.
„Haben wir miteinander geschlafen?“
„Geschlafen haben wir auch, aber erst viel später“, lachte sie schallend. Was glaubst du denn. Wir haben es immer wieder getrieben, du hast mich so herrlich geliebt und es war wundervoll.“
Entsetzt blickte Eduard auf den Wecker am Nachttisch. Neun Uhr zwanzig.
„Warum hast du mich nicht eher geweckt. Ich muss zur Arbeit.“
„Das wusste ich doch nicht, mein schöner Mann. Ruf einfach an und melde dich krank.“
Noch nie im Leben war ihm so etwas passiert.
„Unmöglich. Ich muss sofort weg.“
„Aber du kommst doch wieder. Nach der Arbeit. Versprochen.“ Sie hatte sich zärtlich an ihn gekuschelt, ihm einen leidenschaftlichen Kuss auf die Wange gedrückt. „Es war so wunderschön heute Nacht. Bitte komm wieder.“
Kathi war Freds Freundin, dem sie in blinder Hörigkeit gehorchte, seit zwei Jahren schon. Bedingungslos erfüllte sie ihm jeden noch so ausgefallenen Wunsch. Doch davon hatte Eduard keine Ahnung.
Mit neun Jahren wurde sie das erste Mal vergewaltigt, mit dreizehn schickte sie der eigene Vater auf den Strich. Jetzt war sie achtzehn. Vor zwei Jahren hatte Fred sie aus dem triefenden Sumpf herausgeholt. Endlich hatte sie ein zu Hause, ein warmes Bett, täglich eine warme Mahlzeit. Fred kaufte ihr neue Klamotten, machte sie zu einer attraktiven, verführerischen Frau, die nur von Fred ausgesuchte Freier bedienen musste.
Sie liebte Fred und er liebte sie auch, auf seine Art. Für intrigante Machenschaften allerdings musste sie widerspruchslos Willens sein. Eduard zu verführen war eine solche Situation.
Als Arbeitskollege von Fred Bäumler bestand die Gefahr, Eduard könnte ihm den schon lange geplanten Posten vor der Nase wegschnappen. Wilde Eifersucht brachte Fred auf die irrwitzige Idee, diesem Saubermann eine gehörige Portion Unannehmlichkeiten unterzujubeln.
„Immer nur die reine Weste anhaben und die anderen in Grund und Boden stampfen. Das lasse ich mir einfach nicht bieten. Dir werd ich es zeigen.“ Fluchend rannte er zu Hause herum. Sein Hirn arbeitete fieberhaft. Dann hatte er den „Freund“ zu besagter Sauftour überredet. Kathi war schon seit einigen Wochen schwanger von ihm. Jetzt wollte er Eduard den Balg unterschieben.
„Ich werde zu dem Kind stehen. Ein Vaterschaftstest wird Klarheit bringen.“
Eduard traf sich in nächster Zeit öfter mit Kathi. Er war höflich, zuvorkommend. Das Kind würde er wohl oder übel akzeptieren müssen. Er wollte sich keinesfalls binden, wollte vorwärts kommen, sein großes Ziel erreichen.
Triumph lag in Freds Augen.
„Mit einem Balg am Hals wirst du deine Zukunftspläne gewaltig zurückschrauben müssen, Freund.“ Lodernde Bosheit in der Stimme.
Der fiese Plan ging nicht auf. Eduard arbeitete mit doppeltem, ja dreifachem Eifer. Ließ sich durch gemeine Ränke nicht beirren. Immer wieder versuchte Fred seinem Konkurrenten ein Bein zu stellen, ihn bei der Geschäftsleitung in Misskredit zu bringen. Ed parierte alle Schläge mit Virtuosität.
Besuche zu Hause wurden seltener. Von Mal zu Mal verschob er angekündigte Treffen, vertröstete die Anderen, doch vor allem sich selbst. Die Zeit, die kostbare Zeit.
Weihnachten wollte Eduard mit der Familie zusammen sein. Am dreiundzwanzigsten Dezember bestieg er elegant, aufs adretteste herausgeputzt, den schnaufenden Zug. Dunkelbrauner, breitkrempiger Filzhut. Gleichtoniger, selbst gefertigter Kamelhaarmantel mit breitem Revers und flottem Dragoner. Hochmodisch. Le dernier Cris.
„Diese boxkalbenen Schlüpfer!“ stöhnte er. „Für die Witterung denkbarst ungeeignet, aber unentbehrlich.“ Die spiegelglatten Sohlen verliehen seinem sonst so selbstbewussten Auftreten einige Balanceschwierigkeiten.
Mehr schlecht als recht schlitterte er über den schlüpfrigen Boden der berstend vollen Bahnhofshalle. Auf trockenem Terrain fand er seine gewohnte Sicherheit sofort wieder. Monsieur nahm Platz, legte die Beine nonchalant übereinander, steckte sich ein Zigarillo an. Ratternd setzte sich der Zug in Bewegung. Dampfend polterte er hinaus aus dem stinkenden Ruhrpot, der Heimat entgegen. Schmutzig graue Hausmauern, drückende Rauchschwaden, machten einem glitzernden Wintermärchen Platz. Eiskristalle tanzten an den Scheiben.
Kein Stress, jede Menge Weihnachtsgeschenke im Gepäck. Magenkribbeln. Herzklopfen. Freudige Erwartung. Die letzten Stationen huschten vorüber. Ein Ruck, ein schriller Pfiff. V r e d e n. Er war zu Hause. Die Geschwister. Ihre zänkischen Nörgeleien, unnötigen Streitereinen und ausgelassener Übermut. Wie hatte er all das vermisst.
Vor dem Haus parkte ein flaschengrüner VW. Schwester Margret mit ihrem Gert. Erst kürzlich hatte er von ihrer Verlobung erfahren.
Mutter schloss Eduard mit früher nie erfahrener Zärtlichkeit in die Arme, drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. Wie oft hatte er sich als Junge nach solchen Liebkosungen gesehnt. Dann stand der Vater vor ihm. Auf seinem rosigen Gesicht hatten sich einige Falten gebildet. Seine Augen blickten sanft und lächelten. Ein Händedruck mit Vaterstolz.
Der neue Schwiegersohn Gert war in Vaters Alter. Margret war als Haushälterin zur Pflege seiner kranken Frau aufgenommen worden, stand ihm tapfer zur Seite. Sie putzte, kochte, wusch und umsorgte die Patientin. Tröstete dann aus vollem Herzen den armen Mann, als die Frau starb. Auf Gerts Bitte blieb sie bei ihm, um Beistand zu leisten, für ihn weiter zu sorgen. Schließlich begannen die Beiden mehr für einander zu empfinden, als sie sich anfangs einzugestehen wagten. Aus Achtung und Freundlichkeit wurde Liebe. Glücklicher Gert. Glückliche Margret.
Eduard und Jan wurden nach dem wunderschönen Weihnachtsfest auf die Ofenbank verbannt. Margret und Gert bekamen das Burschenzimmer. Besagte Kammer, unmittelbar unter dem Dach, im Sommer viel zu heiß, im Winter viel zu kalt. Unzureichend isoliert, dienten die Pressspanplatten wohl eher zur Dekoration als zum Schutz. An den dünnen Wänden hingen Eiszapfen in zierlichen Kaskaden. Davon konnten die Burschen seit ewigen Zeiten ein frostiges Lied singen. Gert stülpte sich kurz entschlossen Mutters Teewärmer über das spärlich behaarte Haupt, und sah damit so komisch aus, dass sich die Schwestern glucksend und lachend auf dem Teppich kugelten.
Die Festtage flutschten in Windeseile vorüber. Man hatte fein gespeist, mehr als ausreichend gebetet, gelacht, war glücklich. Am zweiten Januar hieß es Abschied nehmen. Auf ein hoffentlich baldiges Wiedersehen.
Der Zug ratterte die gleiche Strecke zurück. Schon nach wenigen Kilometern kramte Eduard das Geschenk seines neuen Schwagers aus der Tasche.
„Handbuch der Sternenkunde“.
Steckt da wirklich ein Körnchen Wahrheit dahinter, fragte er sich. Die Welt der Sterne, ihre Zeichen und Planeten! Etwas schwierig schien es ihm, seine eigene Schicksalsvorhersage zu analysieren, doch versuchen wollte er es unbedingt.
„Meine Geburtsstunde. 20. April knapp vor Mitternacht. Zwei Sternzeichen treffen unmittelbar aufeinander. Der Widder, begleitet von Mars mit dem Element Feuer. Der Stier, mit Venus an seiner Seite und dem Element Erde.“
Planetenbahnen, Berechnungen und astronomische Messungen formten in den frühgeschichtlichen Hochkulturen die Grundlagen für unser heutiges Wissen.
Bis ins sechzehnte Jahrhundert hatte das um 150 n. Ch. Verfasste Tetrabiblos des Astrologen Claudius Ptolemäus unumstrittene Gültigkeit. Erst Nikolaus Kopernikus und später Johannes Kepler…, Eduard atmete erleichtert auf.
Endlich zwei Namen die er aus der Schulzeit kannte. Eifrig versuchte er weiterzulesen. Richtig spannend kam ihm alles plötzlich vor, …..rückten das Weltbild zurecht. Nicht die Erde ist der Mittelpunkt des Universums, sondern die Sonne. Astrologie und Astronomie sind untrennbar mit einander vereint. Experimentelle Parapsychologie gibt Millionen Menschen innere Kräfte, Lebenshilfe in unserer hektischen, vergänglichen Zeit…
Auf der ersten Seite des Büchleins, eine Widmung.
Ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt!
Ein Bettler, wenn er nachdenkt.
Friedrich Hölderlin
In Eduard vereinigten sich diese Gedanken zu einer untrennbaren Symbiose. Keinen Raum ließ er zwischen Wunsch und Tat. Keinen Platz zwischen Traum und Wirklichkeit. Keinen Unterschied zwischen Möglichem und Unmöglichem.
Obwohl er als Stier die Risiken und Gefahren wohl erkannte, stürzte er sich, typisch Widder, waghalsig ins Abenteuer. Mit heißblütiger Spontaneität, impulsivem Ungestüm räumte er Hindernisse aus dem Weg. Sein Blut brodelte über von Energie und Unternehmungsgeist.
„Ich muss es schaffen.“ Überschwang paarte sich mit Beharrlichkeit und Ausdauer. Sein Credo. „Eine Sache, welche auch immer es im Laufe meines Lebens sein wird, werde ich zu einem guten, sinnvollen und vor allem erfolgreichen Ende bringen. Das habe ich mir von allem Anfang an vorgenommen, und werde auch keinen Deut davon abrücken.“
Die häufigen Firmenwechsel hatten nur einen Sinn: Verbesserung seiner Position, mehr lernen, Rüstzeug horten für die Zukunft. Natürlich auch Geld. Geld war lebensnotwendig.
„Eines Tages werde ich ganz oben stehen“, nährte er täglich seine Überzeugung. In jeder seiner immer verantwortungsvoller werdenden Positionen, spiegelte sich der Grundgedanke, als Sieger durch die Ziellinie zu gehen. Eines allerdings duldete er nie: Unzuverlässigkeit, Lügen, Faulheit und Unkorrektheit.
Mit wohlklingender, nie zu lauter Stimme, transportierte er Überzeugungskraft, anfangs bei seinen Vorgesetzten, später bei seinen Untergebenen in Kopf und Herz. Immer fand er genau die Mitte, das alle überzeugende Maß.
Ein ganzer Stapel Post hatte sich während seiner Abwesenheit angesammelt, von Frau Novak, der Haushälterin, sorgfältig geordnet. Belangloses sortierte er rasch aus, freute sich über wohlgemeinte Neujahrswünsche.
Die monatlich erscheinende Fachzeitschrift blätterte er aufmerksam durch. Begierig las er Neuerungen und fortschrittliche Meinungen angesehener Fachleute. Sein intensivstes Interesse galt neuen, mehr versprechenden Stellenangeboten.
Eines Tages war Kathi, die Mutter seines angeblichen Kindes, mit hochrotem Kopf im Betrieb aufgekreuzt, mitten in eine entscheidende Diskussion mit dem Vorstand geplatzt. Eduards Erzrivalen Fred Bäumler waren in letzter Zeit mehrere gravierende Fehler unterlaufen. Seine Entlassung wurde ernstlich in Erwägung gezogen. Eduard versuchte krampfhaft das Schlimmste zu verhindern.