Es war ein Traum. Berliner Novellen - Rudolf Stratz - E-Book

Es war ein Traum. Berliner Novellen E-Book

Rudolf Stratz

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Beschreibung

Der Band versammelt die vier längeren Novellen "Es war ein Traum", "Aus der Jugendzeit", "Es war ein alter König" und "Der böse Geist". Die Titelnovelle erzählt die Geschichte des Universitätsdozenten Doktor Siegfried Elkan und der jungen Majorstochter Yella von Lützelhardt. Wiewohl kein praktizierender Arzt, leistet Siegfried Elkan erste Hilfe, als er nach einem Reitunfall der jungen Frau an ihr Krankenlager gerufen wird. Schnell kommen die beiden sich näher, so dass Elkan hofft, in Yella die Frau seines Lebens gefunden zu haben. Aber da hat er die Rechnung ohne den jungen Dragoner Diether von Ottenhöfen, ihren Verlobten, gemacht. Nach "drei Tagen Traum" "voll Langen und Bangen" bestätigt sich für den Doktor erneut, dass die Gesetze von Natur und Gesellschaft unabänderlich sind. "Die Wasser waren zu tief. Keine Brücke führte von ihm hinüber an das andere Ufer." – Auch die drei weiteren Erzählungen thematisieren auf unnachahmliche Weise aktuelle Themen und Probleme des Berliner Gesellschaftslebens der damaligen Zeit.-

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Rudolf Stratz

Es war ein Traum

Berliner Novellen

Saga

Es war ein Traum. Berliner Novellen

© 1903 Rudolf Stratz

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711507025

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Es war ein Traum

I

Doktor Siegfried Elkan sass an seinem Schreibtisch und arbeitete am Schluss seiner Universitätsvorlesung für das nächste Kolleg:

„Wie auf allen streitigen Grenzgebieten der Wissenschaften, finden wir auch auf unserem Ackerfeld zwischen Medizin und Philosophie lockende Spekulationen in Menge, wie die Dinge sein könnten oder sein sollten. Allein wir müssen auch hier auf dem Boden der Tatsachen bleiben und wissen: das Gesetz der Natur ist unabänderlich. Was sie vereinigt, werden wir nie trennen. Was sie scheidet, kann all unser Wunsch und Weisheit nicht verbinden ...“

Er liebte diese stillen Nachmittagsstunden, wenn von unten nur gedämpft der Lärm des winterlichen Berliner Strassenlebens herausscholl und sonst sich nichts in seiner Junggesellenwohnung rührte. Umsomehr störte ihn der Wortwechsel, der sich im Flur entsponnen hatte. Er unterschied das Flüstern seiner Wirtschafterin und eine gleichfalls gedämpfte Männerstimme, die in ostpreussischer Mundart sprach. Dann trat die Hüterin seines Hauses ein, schuldbewusst — denn sie durfte eigentlich um diese Zeit nicht stören — und meldete: „Herr Doktor! Es ist ein Dragoner draussen!“

Siegfried Elkan schob erstaunt den Zwicker zurecht. „Ein Dragoner? Was will er denn?“

„Er sucht einen Arzt. Es sei eilig. Er sei schon umsonst in der ganzen Nachbarschaft herumgelaufen. Alles weg!“

„Also lassen Sie ihn hereinkommen!“

Als der Dragoner sporenklirrend eintrat, erhob sich der junge Gelehrte und sah ihn unsicher an. Seine militärischen Kenntnisse waren, da er nie gedient hatte, gleich Null. Er hielt den hübschen Menschen mit dem aufgedrehten Schnurrbart für einen Offizier. Aber da schlug jener stramm stehend die Hacken zusammen. Es war also doch ein Gemeiner.

„Ich soll einen Arzt holen!“ meldete er laut und bestimmt.

„Ja, mein Lieber!“ sagte Siegfried Elkan. „Ich bin allerdings auch Doktor der Medizin. Aber ich praktiziere nicht. Ich bin Privatdozent der Physiologie an der Berliner Universität.“

Das verstand der Dragoner natürlich nicht, sondern wiederholte: „Ich soll nur rasch den nächsten Arzt holen!“

„Ist denn ein Unglück passiert?“

„Das Fräulein ist in der Reitbahn vom Pferd gefallen und eben in der Droschke nach Hause gekommen. Die rechte Hand tut ihr so weh.“

„Und Sie haben nirgends einen Doktor auftreiben können?“

„Nein.“

„Na — dann kommen Sie in Gottes Namen!“

Der Bursche war misstrauisch geworden. Er zögerte. „Aber Sie sind doch ein richtiger Doktor?“

Siegfried Elkan, der seinen Radmantel umhing, lachte. „Zur ersten Hilfe reicht es noch. Ist es weit?“

„Gerade um die Ecke, in der Lützowstrasse.“

Das Haus in der Lützowstrasse, das sie nach zwei Minuten betraten, öffnete seine Türe auf einen Klingelzug von selbst. Es war also nicht eigentlich „herrschaftlich“. Der Pförtner fehlte. Und mehr noch: Sie stiegen im Innern nicht die auch schon ziemlich einfache Vordertreppe hinauf, sondern gingen über den Hof in eines jener Hinterhäuser, die man aus Höflichkeit „Gartenwohnung“ nennt, da zwei Stiegen empor zu einem Porzellanschild, auf dem „von Lützelhardt“ stand.

Als der Dragoner öffnete, rief von innen eine Mädchenstimme: „Sind Sie’s, Abrameit?“

„Zu Befehl, gnädiges Fräulein. Ich habe den Herrn Doktor mitgebracht!“

„Gott sei Dank! Ach, bitte — kommen Sie doch herein, Herr Doktor! Ich fürchte so: Mein Handgelenk ist entzwei!“

Er gab seinen Mantel dem Burschen. „Nur Mut! Es wird schon nicht so schlimm sein!“

„Doch! Es tut infam weh! Wir haben uns nach allen Regeln der Kunst überschlagen; der Gaul wurde scheu und ging einfach hoch — über die Bandentüre ... o ... mir brummt noch der ganze Schädel!“

Während sie das erzählte, war er eingetreten. Sie stutzte bei seinem Anblick ein wenig und schaute ihn ebenso misstrauisch an wie vorher der Dragoner Abrameit. Er stellte sich vor: „Doktor Elkan! Gebrochen ist an Ihrem Arm nichts. Sonst würden Sie nicht so damit herumfuchteln. Aber nun setzen Sie sich bitte einmal und halten Sie still! Können Sie den Ärmel noch höher aufstreisen? Bis zum Ellbogen — so.“

Ohne sie näher anzusehen, nahm er neben ihr Platz und vertiefte sich in die Untersuchung. Er drehte die magere, nicht übermässig zarte Hand nach verschiedenen Richtungen, drückte und tastete. Eine Weile war sie stumm. Dann zuckte sie zusammen: „Au! — o Gott!“ und entschuldigte sich gleich darauf. „Ich bin ganz nervös ... von dem Schrecken vorhin ...“

Er hielt den Blick auf das gerötete Handgelenk gerichtet. „Sie haben Courage genug. Andere hätten schon lange geschrien.“

„Nein — so bin ich gar nicht!“ sagte sie trotzig, biss die Lippen zusammen und rührte sich nicht mehr, bis er zu Ende war und ihr sein Gesicht zuwandte. „Also: Es ist nichts entzwei! Nur eine leichte Sehnenzerrung. Ich lege Ihnen den Arm in eine Schlinge. Es ist bald wieder gut!“

„Na, schön!“ sagte sie mit einem Seufzer der Erleichterung. „Da hab’ ich wieder einmal mehr Glück als sonst was gehabt. So geht’s mir meistens.“ Sie stand auf, die rechte Hand wie ein Kind auf dem linken Arm wiegend. „Was brauchen Sie jetzt, Herr Doktor? Tücher?“

„Ja — wenn ich bitten darf!“

Sie lief ins Nebenzimmer und kam mit einem Pack Weisszeug zurück. Und zum ersten Male merkte er jetzt, wo die ärztliche Pflicht getan, wie hübsch sie war.

Sie hatte etwas Knabenhaftes. Nicht nur in der Gestalt, die schlank und dünn wie eine Gerte war, sondern auch im Antlitz. Das war keck und sorglos, mit krausen Haarbüscheln um Stirn und Ohren. Und irgend eine anziehende Unregelmässigkeit darin. Er konnte nicht gleich erkennen, was.

Sie begegnete seinem Blick und lachte. „Ja — Sie als Arzt sehen mir natürlich an, dass das nicht das erste Mal ist. Vor einem Jahr habe ich mir glücklich das Nasenbein ein bisschen gebrochen. Aber man sieht es doch kaum mehr — nicht wahr?“

„Es steht Ihnen ganz gut!“ sagte er, und nicht nur aus Höflichkeit. Diese kaum merkbare Verschiebung der Linie zwischen den Augen gab ihrem schmalen, lebenslustigen Gesichtchen einen fremdartigen Zug. Es kam etwas von einer Zigeunerin dabei heraus.

Während er ihr den Verband anlegte, sprachen sie nichts, und Siegfried Elkan frug sich im stillen: Merkwürdig, dass sie so allein in der Wohnung ist!

Sie erriet seine Gedanken halb und halb. „So — danke!“ nickte sie und schaukelte prüfend den Arm in der Schlinge. „Jetzt bin ich gespannt auf die Schelte, die mir bevorstehen. Erst, wenn mein Vater nach Hause kommt — das geht noch! Dann, wenn mein Vetter kommt — das wird gut! Na — ich setze mich an den Tisch und halte mir die Ohren zu und pfeife — ja so — das kann ich ja nicht — ich bin ja Invalide.“

Sie lachte wieder sorglos und warf einen Blick auf das Notizbuch, das er herausgezogen. „Was wollen Sie denn noch wissen, Herr Doktor?“

„Nur Ihren Namen — wenn ich bitten darf.“

„Ich heisse Yella — ach so, Papas Namen meinen Sie natürlich: Major a. D. Freiherr von Lützelhardt.“

„Papa ist jetzt für die Marine tätig,“ fuhr sie fort und wies auf die Wände des einfach und geschmacklos in abgeblasster Dutzendeleganz gehaltenen Zimmers, die statt der üblichen Stahlstiche und Photographien allerhand Tabellen und Längsdurchschnitte von Kriegsschiffen bedeckten. „Im Flottenverein! Sind Sie auch im Flottenverein?“

„Nein, gnädiges Fräulein!“ Siegfried Elkan beugte sich vor und ordnete einen Knoten an der Schlinge noch fester an. Dabei umwehte ihn ein ganz feiner, kaum merklicher Stallgeruch und er dachte sich: die ist wirklich wie ein hübscher kleiner Stalljunge. Viel mehr Kind als Weib, trotz ihrer zwanzig Jahre!

„Gehört denn dieses tückische Pferd Ihnen?“ frug er.

Das stimmte Yella heiter. Er hatte das so rührend naiv gesagt. „O Gott — ich und ein Vollbluthengst! Fragen Sie doch lieber gleich, ob ich nicht Rothschild zum Onkel habe! Nein — mein Vetter Diether hier auf der Kriegsakademie — der, dessen Bursche sie eben holte — also der hat einen Freund, der eben in Indien ist — ein Jahr à la suite des Regiments. Auf dem seine Pferde passt Diether auf und ich reite sie heimlich, wenn er es nicht merkt!“

„Aber heute kommt der Unfug zu Tag?“ Er stand mit ernster Miene auf.

„Ja. Na — wenn schon! Aber sagen Sie, Herr Doktor: Ist bis übermorgen der Arm gesund?“

„Hoffentlich. Warum?“

„Am dreiundzwanzigsten Dezember ist immer ein kleines Fest bei uns. Es ist der Jahrestag, an dem Papa sein eisernes Kreuz erster Klasse erworben hat — der Tag der Schlacht an der Hallue — Sie wissen ...“

Siegfried Elkan hatte keine Ahnung, dass man sich 1870/71 auch an der Hallue geschlagen. Aber er nickte und sagte: „O — freilich.“

Dabei nahm er seinen Hut. „Ich werde Nachmittags noch einmal herankommen. Also auf Wiedersehen!“

„Dank’ schön!“ Sie begleitete ihn bis zur Flurtüre und schüttelte ihm mit ihrer Linken derb und unbefangen die Hand. „Ein Glück, dass der Abrameit Sie gerade zu Hause getroffen hat. Sonst säss’ ich noch so da, wie ich vom Pferde geplumpst bin. Eigentlich eine Schande! Man sitzt eben so unsicher! Ich kann auch als Junge reiten. Aber das schickt sich ja nicht. Nun will ich Sie aber nicht aufhalten, damit Sie auch zu Ihren anderen Patienten kommen!“

„Ich habe keine, mein Fräulein!“ sagte Siegfried Elkan. „Ich bin allerdings auch Doktor der Medizin, aber in erster Linie Doktor der Philosophie ...“

„Beides?“

Er bejahte.

„Aber das muss ja fürchterlich sein!“ Sie griff sich an den Kopf. „Mir wird schon seekrank bei dem blossen Gedanken!“

„Sind Sie denn schon einmal zur See gefahren?“

„Einmal zu Pfingsten — nach Rügen. Sie auch?“

Siegfried Elkan hing sich den Mantel um. „Ich bin schon rund um die Erde gesegelt, gnädiges Fräulein!“

Sie schaute ihn andächtig an und sagte: „Schrecklich! Wohl als Schiffsarzt?“

„Warum meinen Sie das?“

„Na — weil’s dann nichts kostet!“

Er lachte. „Ich habe die Kosten noch aufgetrieben! Hier als Privatdozent spinne ich ja auch keine Seide ...“

„Was lehren Sie denn da?“

„Ich lese zur Zeit über physiologische Psychologie!“

„Sie Ärmster! Ich hab’s mir aber gleich gedacht, wie der Abrameit Sie hereinbrachte: Das ist gar kein richtiger Doktor!“

„Na, na!“ sagte Siegfried Elkan gutmütig.

Sie wurde ein bisschen rot und sah sehr hübsch aus. „Ich meine natürlich: viel mehr wie ein richtiger Doktor! Etwas Höheres! Wissen Sie: An mein Geschwurbel müssen Sie sich schon gewöhnen! Wenn man so den ganzen Tag mit meinem Vetter und den Leutnants herumläuft und in der Reitbahn herumsteht — viel schlauer wird man davon nicht! Also nochmals schönen Dank!“

„Auf heute nachmittag!“ wiederholte Siegfried Elkan, grüsste die kleine Turfzigeunerin und stieg die Treppe hinab.

Unterwegs hörte er von unten her Sporenklirren. Ein Dragonerleutnant eilte, zwei Stufen auf einmal nehmend, das Stiegenhaus herauf. Es war ein hübscher, blonder Mensch mit offenen Zügen, aber finster und verdriesslich aussehend, einen erloschenen und wie im Zorn zerkauten Zigarettenstummel schief im Mundwinkel. Im Vorübergehen warf er dem jungen jüdischen Gelehrten einen scharfen, nicht sehr verbindlichen Blick zu.

Das war wohl der mehrgenannte Vetter Diether.

Siegfried Elkan trat langsam auf die Strasse. Er ärgerte sich über diesen Dragonerleutnant und wusste selbst nicht, warum.

II

Der junge Offizier zog inzwischen oben energisch die Klingel, schob seinen öffnenden Burschen Abrameit, der in seinen Mussestunden als Mädchen für alles in der Lützelhardtschen Wohnung tätig war, zur Seite und trat ohne weiteres in das mit den Schiffstabellen und Fregattendurchschnitten geschmückte Wohnzimmer. Yella erwartete ihn dort, trotzig und kampflustig wie ein verwundeter Soldat, das weisse Dreieck der Armbinde scharf von dem Schwarz des Reitkleides abgehoben, das knapp ihre gertenschlanke, schmalschulterige und schmalhüftige Gestalt umschloss.

„Guten Tag!“

„...’ Tag, Dietherchen!“

„Was war denn das für ein Kerl, der da eben von dir wegging?“

„Der Doktor!“

„Was sagt er?“

Sie machte eine geringschätzige Bewegung mit der gesunden Hand. „Pah! Kleiner Rumpler! Einfach lachbar! Übermorgen kork’ ich selbst beim Fest den Mathäus Müller auf!“

„Also nichts kaput?“

„Nee, Diether — Unkraut verdirbt nicht!“

Daraufhin wendete sich der Dragonerleutnant ab und rief mit schallender Stimme: „Abrameit!“ Und als der Bursche vor ihm stand, fuhr er fort: „Abrameit! Wenn das gnädige Fräulein wieder einmal mit dem Pferd Malheur hat, so bringst du einen christlichen Arzt ins Haus. Einen Mann mit blonden Haaren. Einen Militärarzt. Verstanden, alter Freund? Rede nicht! Ab!“

Abrameit machte Kehrt und dachte sich sein Teil. Als er fort war, sagte Yella: „Was hast du denn gegen den Doktor?“

„Ich habe gar nichts gegen ihn. Ich kenne ihn ja gar nicht. Ich mag bloss diese Leute nicht. Es ist mir ein unangenehmer Gedanke, dass so jemand sich an deiner Person zu schaffen macht!“

„So? Nun — er hat mich so zart angefasst — so sanft ...“

„Ach, wirklich?“ sagte der Dragoner höhnisch. Er war in sehr schlechter Laune. Das trat umsomehr hervor, als sein an sich gutmütiges, sommersprossiges Gesicht dadurch einen düsteren Ausdruck trug, dass der rechte Augapfel mit einer Anzahl kleiner roter Pünktchen durchsetzt war — die Folge eines Sturzes auf der Rennbahn und ein Gegenstück zu Yellas kaum merklich zwischen den Augen verschobener Gesichtslinie. Die beiden sahen sich ähnlich.

Sie wurde trotzig. „Heute nachmittag kommt er wieder! Er ist eben anders wie ihr! Du machst in fünf Minuten mit deinem Säbel und deinem Geschimpfe auf den Dienst mehr Lärm als der in einem ganzen Jahr. Er hat so was Stilles — so was Wehleidiges — Liebes — und ein ganz, ganz bisschen Humor. Aber ich glaube: Er ist melancholisch von Natur!“

„Meinetwegen!“

„Er hat so grosse schwermütige Augen. Und auch wenn er lächelt — — Es ist alles so sein an ihm ... Eigentlich ist er ein ganz hübscher Mensch in seiner Art — nicht?“

„Ach — lass mich jetzt in Ruhe mit dem Kerl!“ Diether setzte sich ärgerlich hin.

„Er ist doch interessant! Leutnants habe ich schon massenhaft kennen gelernt, aber noch nie jemanden, der doppelter Doktor ist und rund um die Welt gesegelt. Auf eigene Kosten! Er muss viel Geld haben!“

„Ja — Geld!“ wiederholte Diether von Ottenhöfen düster.

Seine Base setzte sich ihm gegenüber an den Tisch, stützte den Kopf auf den Arm und wartete auf die Strafpredigt wegen des unbefugten Besteigens des Hengstes. Nach seinem Gesichtsausdruck konnte die Geschichte schön werden.

Na — wenn schon! Sie nahm nicht leicht etwas übel. Dem Vetter am wenigsten. Sie war ein guter Kamerad. Also los mit der Pauke! Alles auf Erden geht vorüber.

Aber zu ihrem masslosen Erstaunen sagte der Rennreiter ganz weich und ernst: „Kleine ... wenn du dir nun das Genick gebrochen hättest!“

„Was wäre denn das für ein Verlust?“

„Es wäre doch schade!“

„Pah! Lieber Gott ... Was hat man denn schliesslich vom Leben!“

„Du musst doch auch an die anderen denken!“

„Ihr seid auch ohne mich fidel! Ob ich da mitlaufe oder nicht! In einem Jahr sagt ihr höchstens einmal beim Hinausreiten nach dem Grunewald: ‚Schad’ um die kleine Lützelhardt! War doch ein tüchtiges Mädchen!‘ Und wenn dann die Hunde kommen und es bläst auf den Hörnern, dann bin ich schon wieder vergessen. O — ich kenn’ euch!“

„Aber ich, Yella! Wenn dir heute was passiert wäre — wenn du nicht mehr da wärst, machte mir das Leben auch keinen Spass mehr. Dann wollt’ ich auch, es wäre aus. Ich kann das nicht so recht sagen, aber ... na, du verstehst. Wir wissen’s ja beide: Es ist eben ein Elend, dass man kein Geld hat ...“

Dabei liess der Dragoner den Kopf auf die Brust sinken und schaute so hoffnungslos drein, dass es auch Yella ganz kläglich zu Mute wurde. Er war ganz anders wie sonst. Irgend etwas war passiert.

Sie ging zu ihm und tippte ihm auf die Schulter. „Du, Diether?“

„Ja?“ Er schaute gramvoll auf.

„Erzähl’ mal!“

„Soll ich wirklich?“

„Ja.“

„Es ist aber höllisch traurig.“

Um ihre Lippen zuckte es. „Ich kann mir’s auch schon denken!“

„So? Dann rat mal!“

„Du warst bei Onkel Ottenhöfen!“

„Ja! Vorhin! Seit drei Tagen wollt’ ich schon an die Geschichte ’ran. Ich halt’s nicht mehr aus — dies Lauern und Warten auf nichts und wieder nichts. Da dacht’ ich mir: Jetzt machst du ein Ende — so oder so — und ging hin. Zur Vorsicht frug ich noch die Pflegerin im Flur, wie’s Exzellenz ginge. Sie meinte: Na, so, so! Jedenfalls war er ausser Bett, sass im Lehnstuhl und quetschte sich Zitronensaft in ein Glas — gegen die Gicht ...“

„Na — und?“ drängte Yella. Sie war ganz blass geworden.

„Er begrüsst mich ganz freundlich und ich sage: Onkel, schon seit zwei Jahren wollen wir uns nun heiraten, die Yella und ich! Sie kennt mich und ich kenne sie, noch aus der Zeit, wie ich Kadett war und sie ein Hemdenmatz von vier Jahren. Da kauft man die Katze nicht im Sack, und wenn man die Yella ordentlich an der Kandare hält, wird es eine famose kleine Frau. Aber du weisst: Ich habe nichts und sie hat ein bisschen weniger. Du hast schon so vielen aus der Familie geholfen. Geh — gib uns doch auch das Kommissvermögen!“

„Und da hat er ‚Nein‘ gesagt!“ flüsterte Yella mit gepresster Stimme.

„Ich sage dir — er ist traurig geworden — so unglaublich traurig — der alte Mann! Erst hat er überhaupt nichts geantwortet, dann hat er den Kopf geschüttelt und gemeint: ‚Die kleine Lützelhardt ist ein Windhund, aber immerhin — Rasse bleibt Rasse — die macht sich schon!‘ — und endlich hat er meine Hand gefasst und mich geradezu um Verzeihung gebeten und gesagt: ‚Ich hab’s nicht mehr! Ich hätt’s euch schon lange gegeben — aber ich hab’s nicht mehr! Ich bin freilich ein alter Witwer und ein alter Soldat, der nicht viel braucht — aber ich kann doch nicht mit dem Leierkasten auf den Höfen stehen und mir mein Geld verdienen. Ein bisschen was muss ich doch für mich haben, wo ich alt und krank und allein bin. Drei aus der Familie hab’ ich bis jetzt schon ausgesteuert — die Sievekings und die beiden anderen Ottenhöfens — der Rest meines Geldes langt jetzt gerade noch für mich. Ich kann nicht, mein Sohn! Sag’s auch der kleinen Lützelhardt: ich kann nicht!‘ — Ich hab’ meinen Säbel umgeschnallt und bin still wieder weggegangen!“

„Ach — wenn der Onkel sich ein bisschen einschränken wollte! Er braucht doch nicht so viel! Dann ginge es schon!“

„Er lebt ja schon wie ein Spartaner! Vielleicht übertreibt er ja auch ein bisschen! Er ist ja schon sehr alt und ängstlich. Aber schliesslich ist es sein Geld! Wir können es ihm doch nicht mit Gewalt wegnehmen. Es ist einfach aus und keine Hoffnung mehr.“

Yella war noch nicht ganz entmutigt. „Wenn ich jetzt hingehe und ihn schön bitte? Ich falle vor ihm auf die Kniee, wenn es etwas hilft!“

„Es hilft aber nichts! Sogar wenn der Onkel mal stirbt, kriegen wir nichts. Dann erbt seine Schwester, der alte Drache aus dem Fräuleinstift, was dann noch übrig ist. Sie hat irgend ein Recht darauf. Er müsste schon bei Lebzeiten mit dem Segen herausrücken!“

„Und kann er es denn wirklich nicht?“

„Kennst du den alten Wendel — den Generalmajor?“

„Gesehen hab’ ich ihn einmal mit dem Onkel Ottenhöfen.“

„Na eben — die beiden sind dicke Freunde — schon von den Feldzügen her. Der alte Wendel sitzt nun auf seinem Gut, ist Witwer und mopst sich zum Steinerweichen. Der liegt dem Onkel ewig in den Ohren, er möchte doch zu ihm hinausziehen aufs Land, nach Vorderpommern. Dann mopsten sie sich zu zweit und lebten wie der Herrgott in Frankreich. Wenn der Onkel das annähme, dann würde er damit natürlich seine Finanzen so entlasten, dass er uns helfen könnte. Auf dem Gut braucht er ja fast nichts!“

„Aber warum geht er denn darauf nicht ein?“ frug Yella vorwurfsvoll.

„Gott — er ist eben lieber hier in Berlin. Es gefällt ihm hier besser. Er möchte seine Unabhängigkeit haben. Da ist nicht daran zu denken.“

„Ja — aber was tun wir jetzt, Diether?“

„Wir warten weiter.“

„Auf was denn?“

Der im blauen Rock lachte bitter. „Auf ein Wunder, Kleine! Anders werden wir beide auf dieser Welt nicht mehr Mann und Frau.“

Sie hatte sich abgewendet und schluckte und druckte, um ihre Tränen zurückzuhalten. Dann frug sie mühsam: „Wie ist’s denn mit dem Los?“

„Vorige Woche war die Ziehung in der letzten Klasse. Wieder nichts! Ich geb’s jetzt auf.“

Dieses Los der preussischen Staatslotterie spielten sie schon seit zwei Jahren, in der Hoffnung, durch einen Haupttreffer das Kommissvermögen zu gewinnen. Aber bisher war nur zweimal der Einsatz herausgekommen.

„Und die Lose in der Danziger Pferdelotterie?“ forschte sie weiter.

„Längst im Papierkorb. Den Viererzug werden wir nicht zu sehen bekommen!“

Und von diesem Viererzug hatten sie schon miteinander geträumt und wie man ihn vorteilhaft verkaufen würde, ihn mit aller List und Tücke einem Krösus aus dem Tiergartenviertel aufschwindeln, um wenigstens einen Grundstock zu dem nötigen Kapital zu gewinnen.

„Rings um einen wohnen die blödsinnig reichen Leute!“ sagte Yella weinerlich und verstört. „Und wir haben rein gar nichts! Ist das eine Gerechtigkeit?“

Der Dragoner zuckte stumm die Achseln. Sie schüttelte mit einem Ruck die Haare aus dem hübschen Gesicht. „Der Majoratsherr kümmert sich auch gar nicht mehr um mich! Der könnte doch wirklich auch was tun!“

„Euer Majoratsherr? Der ist doch krank! Der hamstert doch alle Einkünfte für seine Familie zusammen! Hat recht! Wenn er morgen stirbt, haben seine Frau und seine Töchter sonst kaum das trockene Brot!“

Sie gab das zu, mit einem verdüsterten Kindergesicht und feuchten Augen. „Ja. Es ist nichts und wird nichts!“

„Ja, hexe nur, Kleine!“ sagte Diether bitter. „Vorwärts: klatsch in die Hände — ja so — das kannst du ja nicht — und zaubere, ohne alle Apparate! Zaubere meine ganze Mütze da voll brauner Lappen! Sonst werden wir alt und grau und blödsinnig und haben nichts voneinander. Ja — heule nur! Ich heulte am liebsten mit!“

Die kleine Turfzigeunerin tat sich jetzt keinen Zwang mehr an. Sie weinte blindlings darauf los, immer energischer und leidenschaftlicher, und weinte sich schliesslich in eine wilde Wut hinein, in der sie ihr zusammengeknäultes Taschentuch zerbiss und stossweise aufschluchzte. Ihr Vetter stand inzwischen, ihr den Rücken drehend, am Fenster, warf den Säbelgriff von einer Hand in die andere und fluchte halblaut und verbissen vor sich hin, in einer Reihe immer wiederkehrender Aufforderungen an Himmel, Teufel und Donnerwetter, in dies vermaledeite Hundeleben hineinzuschlagen.

So trieben sie es eine Weile. Es war das gewöhnliche Ende, wenn die Rede auf die Kaution gekommen war, und tat ihnen wohl, so wenig es ihnen auch nützte. Zu guter Letzt wendete er sich, wieder gleichgültig dreinschauend, um: „Na — nun mach’ Schluss, du Tränensuse! Behalte noch was für morgen übrig! Da führen wir doch wieder dieselbe Komödie auf.“

Sie gehorchte, trocknete sich mit der gesunden Hand die Augen und seufzte tief. Sie taten einander sehr leid und sich selber noch mehr. Dann sagte sie getröstet: „Komm ins Gartenzimmer! Wir wollen Kaffee trinken.“

Das Gartenzimmer ging auf den Hof einer Gemeindeschule, in dem einige kümmerliche Bäume zwischen ihren himmelhohen steinernen Kerkerwänden nach Licht und Luft strebten. Der Nachmittagskaffee stand schon auf dem Tisch, daneben Yellas Leibgericht, westfälischer Pumpernickel mit Butter und Honig.

Heute war sie mit ihrem verbundenen Arm dieser Herrlichkeit gegenüber hilflos. Der Dragoner richtete ihr die Schnitten her. „Armes Dummchen!“ sagte er gutmütig. „Jetzt müssen wir dich auch noch päppeln!“ Und sie sperrte gehorsam den Mund auf und liess sich von ihm wie ein kleiner kranker Vogel füttern. Das machte beiden Spass. Sie wurden wieder guter Laune und er neckte sie, während sie kaute und ihr dabei immer noch einzelne Tränen als Nachzügler über die Wangen liefen: „Solch ein Dummchen! Fällt vom Pferde und tut sich weh! Na — warte nur! Jetzt kommt der Doktor und der Apotheker! Jetzt heisst’s blechen!“

Daran hatte sie noch nicht gedacht. Sie hörte mit dem Essen auf und machte erschrockene Augen. „Du — ob das sehr teuer wird — der Doktor?“

„Na natürlich!“ sagte der Dragoner. „Das ist doch einer von den Feinsten. Das sieht man doch. Abrameit hat gerade den Rechten geholt, der Esel!“

Yella schlug sich verzweifelt mit der Hand vor die Stirne. „O Gott — ich bin doch auch wirklich ein Schaf! Muss ich vom Pferd herunter plumpsen! Und so ungeschickt ...“

„Sei froh, dass das Pfötchen nicht ganz entzwei ist!“

„Ja — aber Papa hat doch jetzt eben wieder gar kein Geld. Ich weiss es. Die fünfzig Mark für das Fest übermorgen — die hat er schon lange zurückgelegt und in einem porzellanenen Glücksschweinchen hinterm Ofen aufgehoben. Wenn ich ihm nun noch mit einer Doktorrechnung komme ...“

„Dann zahlt sie eben nicht!“

„Das ist aber doch sehr unangenehm!“

Der Rennreiter stand auf. „Es ist vieles im Leben unangenehm. Das könnten wir beide wissen. Wenn du genug gefuttert hast, dann sag’s! Ich muss zur Akademie.“

Sie begleitete ihn in den Flur. Dort küssten sie sich — nur einmal, sehr ernst und einfach. Es war wie eine täglich vorgeschriebene Zeremonie, bei der man sich, nach ein paar Jahren, nicht jedesmal etwas Besonderes denkt. Dann schwiegen sie eine Weile und endlich sagte Yella: „Du — weisst du, wie der Doktor heisst?“

„Na?“

„Elkan! Toll — was?“

Aber der Leutnant war in seiner melancholischsten Stimmung. „Ich wollte, ich hiesse Elkan!“

„Nein!“ schrie sie empört.

„Doch! Dann hätt’ ich Geld! Adieu, Maus! Soll ich dich morgen zum Tattersall abholen?“

„Ja — jetzt kann ich aber doch nicht mitreiten?“

„Du stellst dich auf die Tribüne und schaust zu.“

„Das ist wahr! Also um zehn! Pfeife nur unten auf dem Hofe: ‚Das Ganze sammeln!‘ Dann komme ich ’runter!“

Diether von Ottenhöfen nickte und eilte sporenklirrend die Treppe hinab. Sie schaute ihm nach, solange sie ihn sehen konnte, und kehrte dann trübsinnig in die einsame Wohnung zurück.

III

Der frühe Winterabend dämmerte, als Doktor Siegfried Elkan wieder die Klingel an der Lützelhardtschen Wohnung zog und dabei sein Herz klopfen fühlte. Yella war, als er eintrat, immer noch allein. Den ganzen Nachmittag, seit Diethers Weggang, war nichts mehr passiert. Es war langweilig zum Sterben und sie freute sich, wieder ein menschliches Gesicht zu sehen. Es waren doch feine, kluge Züge, ernste Augen und dann dies halb melancholische, halb belustigte Lächeln. Dabei hatte sie immer die Empfindung: Der steht über deinem Kram hier. Der ist klüger als wir Lützelhardts und Ottenhöfens zusammen!

„Wie steht’s?“ frug er ohne weiteres.

„O — ’s geht ganz gut, Herr Doktor!“

„Keine Schmerzen?“

„Es piekt nur noch ein wenig. Das hat nichts auf sich!“ Sie wurde verlegen und stotterte dann rasch darauf los: „Ich habe Gewissensbisse, Sie eigentlich noch zu bemühen, Herr Doktor! Ihre Zeit ist doch natürlich so kostbar und die Dummheit mit dem Arm so unbedeutend ...“

„Aber behandelt muss sie werden!“

„Ja ... aber ... zum Beispiel — ich kenne einen Stabsarzt vom Regiment meines Vetters — der ist auch hierher abkommandiert — der kommt gleich, wenn ich ihn bitte.“

„Wie Sie wollen!“ sagte Siegfried Elkan kurz und stand auf.

Sie sah, dass sie ihn gekränkt hatte. „Jetzt habe ich natürlich wieder Unsinn geredet! So geht’s mir immer, wenn ich besonders schlau sein will! Dann verheddere ich mich heilig — es war ja nämlich gar nicht so gemeint.“

„Aber, liebes Fräulein, ich verstehe Sie sehr gut!“ sagte Siegfried Elkan. „Ich bin aus Kreisen, die den Ihrigen ferne stehen. Als Offizierstochter haben Sie mehr Zutrauen zu einem Militärarzt. Das ist menschlich!“

Sie wurde erregt. „Aber so ist’s ja doch nicht, Herr Doktor! Wahrhaftig nicht!“

„Was ist es denn dann nur?“

Auf diese Frage sah sie ihn von der Seite an. Ihr hübsches Gesicht wurde rot. Dann murmelte sie kleinlaut: „Sie sind so teuer!“

Jetzt musste er herzlich lachen. Sein Antlitz verschönte sich dabei und wurde viel jünger und frischer. „Ich bin gar nicht teuer! Im Gegenteil — ich bin umsonst!“ — „Ich bin doch sonst nicht praktischer Arzt!“ fuhr er fort, da sie ihn sehr ernst ansah und unschlüssig mit den Zähnen an der Unterlippe nagte. „Wenn ich zu einem Patienten gehe, tue ich es nur aus Gefälligkeit! Und nun zeigen Sie mal bitte den Arm her!“

„Wer hat Ihnen denn den Gedanken in den Kopf gesetzt, dass ich solch ein Blutsauger bin?“ frug er, während er den Verband abnahm.

„Mein Vetter.“

„Schon wieder der Dragoner?“

„Ja — immer der! Diether Ottenhöfen!“

„Na ...“ Weiter sagte Siegfried Elkan nichts. Man konnte allerlei aus dieser Silbe heraushören. Dann umwickelte er das immer noch geschwollene Handgelenk mit neuen Mullstreifen, zart wie eine Krankenwärterin, und frug dabei: „Steht ihr Vetter hier in Berlin?“

„Er ist auf der Akademie. Und dann ist er doch Rennreiter. Erinnern Sie sich denn nicht: Voriges Jahr hätte er doch beinahe in Hoppegarten die ‚Armee‘ gewonnen, wenn ihm nicht im Finish der Sattelgurt geplatzt wäre!“

„Natürlich erinnere ich mich!“ sagte Siegfried Elkan ernst. Er war kaum jemals in Hoppegarten gewesen und hatte keine Ahnung, was die „Armee“ war. „So! Jetzt legen wir den Arm wieder in die Invalidenschlinge! Aber warum warnt Sie denn dann der Herr Vetter vor meinen Brigantenrechnungen? Die jungen Herren, die in den Rennen mitreiten, sehen doch sonst nicht so ängstlich aufs Geld!“

„Er hat doch nichts. Genau so viel wie ich. Er kriegt die Zulage aus der Familienstiftung, die jeder Ottenhöfen kriegt, solange er Offizier ist; das sind noch nicht zwei Taler im Tag. Für den Rest muss er selber sorgen!“

„Wie denn? Das interessiert mich. Das ist mir eine ganz neue Welt. Also er gewinnt wohl Rennpreise?“

„Ja, Ehrenpreise! Das bare Geld steckt doch der Besitzer des Pferdes ein. Für solch einen silbernen Humpen riskiert er nun das Genick und ich zerquetsch’ mir auf der Tribüne beinahe die Hände vor Angst. Manche Herren gibt’s ja — die versetzen die Silbersachen noch am selben Abend unbesehen. Das hat er aber nie getan.“

„Nun — und dann wird wohl gewettet und auch ein bisschen gespielt?“

„Er wettet nicht und spielt nicht. Er sagt, das sei für einen armen Teufel auf dem Turf die einzige Möglichkeit, anständig durchzukommen. Aber im Pferdehandel — da ist er stark!“

„Aha!“

„O ja!“ sagte die Kleine stolz. „Er kauft Gäule — die reinen Verbrecher — und wenn er sie ein Vierteljahr geritten hat, kann sich jeder Stabsoffizier von der Infanterie draufsetzen. Und sie bleiben so! Es gibt nie Streit. Nur einmal: da fiel ein Major gerade bei der Bataillonsbesichtigung vom Pferd. Furchtbar — nicht?“

„Furchtbar.“

„Aber es war sein Glück. Denn der Kommandierende sagte: Das kann jedem einmal passieren! — und er behielt sein Bataillon. Den Gaul schickte er mit einem sackgroben Brief an den armen Diether zurück und kaufte sich ein lammfrommes Tier. Wie er nun im nächsten Jahr auf der guten Himmelsziege zur Besichtigung angezuckelt kam, da blieb er freilich im Sattel, aber sein Bataillon war so unter aller Würde, dass Exzellenz noch auf dem Heimweg zu seinem Adjutanten sagte: ‚Dem guten X. müsste bei seinem Embonpoint das Zivil doch vorzüglich stehen!‘ Na — und vier Wochen darauf trug er schon Zylinder und Regenschirm!“

„Das sind Geschichten!“ sagte Siegfried Elkan.

„Ja, Sie lachen darüber — seien Sie nur still! Ich kenne jetzt schon Ihr verstohlenes Gesicht. Sie erleben viel. Aber wir erleben wenig. Das ist nun einmal unsere Welt!“

Er überlegte. „Eigentlich müsste ich jetzt gehen. Aber lieber bliebe ich noch ein bisschen und Sie erzählen weiter!“

„Was denn?“

„Gerade wie jetzt! Was Ihnen durch den Kopf geht!“

„Na — da wird ein schöner Unsinn herauskommen!“ sagte Yella unbefangen.

„Wenn schon! Weisheit höre ich genug. Wir Berliner sind ja so schlau! Ich finde es viel netter, hier zu sitzen und Ihnen zuzuhören!“

„Sie sind jedenfalls der erste, der auf meine Konversation Wert legt. Mein Vetter Diether sagt immer: Yella — wenn du reden willst, dann schweige!“

Dieser ewige Vetter Diether! Der war hier offenbar das leitende Prinzip! Siegfried Elkan wurde nervös bei dem Gedanken an den hübschen jungen Menschen im blauen Rock, den man, auch wenn er ferne von hier auf den Bänken der Kriegsakademie sass, förmlich im Zimmer herumgehen sehen, sein Säbelrasseln, seine Stimme hören konnte. Freilich, dieser Mann der Pferde und des Sports passte zu der Turfzigeunerin. Das war gleiche Rasse. Und ihr Besucher sagte sich unbehaglich: Sie hat wirklich was von einem kleinen Stalljungen an sich! Jetzt nimmt sie sich noch zusammen, mir gegenüber, dem Fremden, dem Arzt, dem Israeliten! Aber wie burschikos mag die wohl mit ihren Freunden, den Leutnants, verkehren und sich kameradschaftlich mit ihnen herumtreiben, wenn draussen der Herbstwind über den grünen Rasen pfeift. Und ebenso im Winter, im Dämmerlicht des Tattersalls, oder solange die Bäume grün sind, draussen, auf verschwiegenen Reitwegen des Grunewaldes ...

Er ärgerte sich über diese ihm unbekannten Offiziere und frug sich dann selbst erstaunt: Was gehen mich diese Leute in Attila oder Kürass an? Aber die Missgunst blieb.

Es war inzwischen halbdunkel geworden. Yella versuchte, die Lampe anzuzünden. Bis zum Abnehmen von Glocke und Zylinder ging es, aber das Streichholz konnte sie mit der allein freien Linken nicht anstecken. Er griff nach der Schachtel und hielt sie fest. Dabei berührten sie sich. Er fühlte ihre warme, magere Kinderhand.

Dann flammte das Licht auf. Bei dem Schein von unten sah ihr hübsches, sorgloses Knabengesicht, während sie sich über den Brenner beugte, ganz anders aus als bisher, geheimnisvoll in der seltsamen Beleuchtung und dem über die Stirne fallenden, goldig schimmernden Haargespinst. Das war eine Märchenprinzessin, bis die Glocke wieder über der Lampe und das Zimmer wieder alltäglich war und sie wie früher dastand, biegsam und schmächtig, alles an ihr von einer herben, knospenden Unreife, alles an ihr ausgehungert nach Leben und Liebe.

„Was machen Sie eigentlich so den ganzen Tag?“ frug er.

„Nicht viel Gescheites!“ sagte Yella und setzte sich wieder. „Wenn mein Vetter dienstfrei ist, stecken wir im Tattersall. Da hat er seine Pferde stehen. Meist so ein halbes Dutzend. Irgend eines finde ich immer zum Reiten, ohne dass es mich etwas kostet. Die Stalleute kennen mich ja alle. Vorigen Monat hab’ ich ein Vollblut für eine ängstliche Dame aus der Tiergartenstrasse zugeritten! Sie wusste natürlich nichts davon! Neulich hab’ ich sie draussen am Hippodrom gesehen. Dick! Sehr dick! Sie flog im Sattel wie ein Gummiball und schaute starr vor sich hin, und der Stallmeister würdevoll daneben. Ich musste mir das Lachen verbeissen! Aber der Gaul ging gut!“

Sie machte ein spitzbübisches Gesicht in Erinnerung an die dicke Dame, die auf Rat des Arztes das Reiten im deutschen Trab als Schweninger-Kur betrieb. Sie hatte das freilich nicht nötig. Sie war mager wie eine Katze.

„Reiten Sie nicht, Herr Doktor?“ forschte sie.

„Ich kann leider gar nicht reiten!“

„O!“ sagte sie. Weiter nichts. Solch ein Mensch war ihr offenbar in ihrem jungen Leben noch nicht vorgekommen.

„Und wenn Ihr Vetter nun Dienst hat ...?“

„Ach! Dann sitz’ ich zu Hause und schmökere was aus der Leihbibliothek oder denke mir dies und das! Ich möchte so gerne mal reisen! Ich beneide Sie, dass Sie um die Welt gesegelt sind. Ich bin schon froh, wenn ich im Sommer auf ein paar Wochen zu Verwandten aufs Gut geladen werde. Der Majoratsherr hat mich schon zweimal dort gehabt. Dann schickt er immer gleich eine Rückfahrkahrte zweiter Klasse, damit es mich nichts kostet. Aber für nächsten Sommer schaut’s windig damit aus. Na — wenn schon! Ich langweile mich dort. Die sind schauderhaft fromm. Besonders seine Frau!“

„Und dann trösten Sie sich und gehen auf den Rennplatz?“

„Ja. Da hab’ ich mir ein Passepartout herausgeschwindelt. Da kostet es mich nur die Stadtbahn hin und her. Das ist ja eigentlich mein einziger Spass im Leben. Aber wie Diether einmal im Karlshorster Sprung kopfvor ging — o Gott — mir zittern jetzt noch die Kniee, wenn ich daran denke. Wissen Sie — er hat ja kein Geld, um sich eigene Rennpferde zu halten. Und zu den allerallerersten Herrenreitern gehört er nun einmal nicht. Er muss reiten, was man ihm gibt. Da sind greuliche Schinder darunter. So ist’s überall: Wer arm ist, muss seine Haut zu Markt tragen.“

Sie war wirklich noch ganz Kind, wie sie da unbefangen ihr einfaches Lust und Leid vor ihm entrollte. Dass ein Ding auf Erden vor allem nichts kosten dürfe, schien ihr ganz selbstverständlich. Sie war wohl noch nie auf den Gedanken gekommen, dass man einfach hingehen, den Beutel ziehen und etwas Wesentliches kaufen könne. Derlei musste dem Leben auf irgend eine Weise abgelistet und abgeschmeichelt werden.

„Um Kunst und derlei kümmern Sie sich wohl gar nicht?“ fragte Siegfried Elkan.

Sie bejahte eifrig. „O gewiss — machen wir! Oft kriegt Diether Billetts zum Königlichen Schauspielhaus — umsonst natürlich, als Offizier. Da ist’s famos! Da bin ich furchtbar gern! Neulich — da haben Diether und ich doch da lachen müssen — wir haben uns förmlich geschämt. Noch ’ne Stunde später, im Pschorrbräu, sind wir auf einmal beide wieder herausgeplatzt!“

„Im Pschorrbräu?“

„Na ja. Gern gehe ich ja nicht hin — am anderen Morgen hat man die ganzen Haare voll kalten Tabakrauch — aber im Bristol oder Monopol, da kostet das ‚Guten Abend‘ vom Oberkellner ja schon allein einen Taler ...“

„Und dann Konzerte,“ fuhr sie fort. „Konzertbilletts kriegt man leicht, massenhaft. Aber das ist nichts Rechtes. Und lauter Kinderfräulein sitzen um einen ’rum, mit den Karten ihrer Herrschaft. Einmal hab’ ich sogar ein geistliches Oratorium mitangehört. Nie wieder! Bei Schulte, in der Gemäldeausstellung, bin ich auch abonniert. Das kostet fünf Mark im Jahr. Da gehen wir Sonntag vormittag immer hin und ich suche mir ein Bild aus, zum Spass natürlich.“ Sie dämpfte geheimnisvoll ihre Stimme: „Einmal sind wir in den ‚Webern‘ gewesen — Sie wissen, in dem grässlichen Stück. Ich und ...“

„Sie und der Vetter Diether,“ sagte Siegfried Elkan melancholisch.

„Ja. Er natürlich im Räuberzivil. Ganz oben, im dritten Rang sind wir gesessen, unter lauter Leuten mit roten Schlipsen. Warum nicht? Es sah uns ja keiner. Na — und wenn schon ...“

Dies: ‚Na — und wenn schon!‘ schien das Leitmotiv ihres Lebens. Der Gelehrte stand auf, um sich zu verabschieden. „Da machen Sie wohl weniger Bälle und Gesellschaften mit als andere junge Damen?“ frug er.

„Mit wem soll ich denn ausgehen? Mit Papa? Der kommt Abends todmüde heim und arbeitet noch die halbe Nacht über der Flottenagitation. Oder mein Vetter? Der sagt, wenn er den Tag über in der Akademie geschuftet und seine stetigen Gäule zugeritten hat, dann wolle er den Teufel tun und Abends Familie simpeln! Und ausserdem — wenn’s regnet: Eine Nachtdroschke — um das Sündengeld wäre es doch wirklich schade! Und dann die Toiletten und dann ... ich habe so gar kein Talent zur Wohlerzogenheit! Stillsitzen und Tee trinken und alte Damen um einem ’rum — o, da wird mir ganz bange. Adieu, Herr Doktor! Auf morgen!“

„Morgen mittag! Und dass Sie mir bis dahin nicht etwa versuchen, zu radeln oder Schlittschuh zu laufen oder so was! Sie sind zu allem fähig!“

„Nein. Ich werde ganz brav sein!“

Kurz nachdem der Arzt gegangen, wurde die Türe der Lützelhardtschen Wohnung von aussen mit einem Drücker geöffnet. Yellas Vater, der Flottenagitator, kam nach Hause. Mit seiner gebeugten Haltung, dem dunklen Schlapphut und abgetragenen Überzieher, dem Stoss von Papieren unter dem Arm erinnerte er in seinem Äusseren wenig mehr an den früheren Stabsoffizier, eher an einen sorgenvollen älteren Geschäftsmann. Dazu passte auch der ungepflegte graue Bart, das gelichtete Haar und vor allem die müden, von grossen Säcken eingefassten Augen. Man sah ihm an, dass er vom Leben nicht mehr viel hoffte. Sein ganzes Dasein war ein Kampf gegen seine Leutnantsschulden gewesen, die ihm endlich an der Majorsecke über den Kopf gewachsen waren. Seitdem schlug er sich so durch und war seit einem halben Jahr für die Vergrösserung der Marine tätig, obwohl er selbst auf dem Exerzierplatz ergraut und nie auf Deck eines Kriegsschiffes gewesen war. Aber — ob Sand oder Wasser — er war ein ehrlicher Patriot und verteidigte das nach bester Überzeugung zu Land wie zur See.

Yella lief ihm entgegen und meldete ihm, den Arm in der Binde schwenkend, zunächst das Wesentlichste: „Papa! Es kostet nichts! Der Doktor nimmt keinen Groschen!“

„Na, Gott sei Dank!“ sagte der alte Herr. „Ich meine, dass dir nichts Ernstes passiert ist. Ich habe Diether auf der Strasse getroffen. Er hat’s mir erzählt. Nichts als Unfug treibst du. Aber von dem Arzt können wir kein Almosen annehmen. Es ist ein Doktor Elkan, sagt Diether?“

„Ja. Du, Papa: Ein netter Mensch. Fein. Zart. Komisch ist, wenn er lächelt: Dabei behält er doch immer ganz traurige Augen. Ich glaube, wenn er allein in seiner Wohnung sitzt, dann ist er ganz schwermütig.“

Der Major war unschlüssig. „Am besten ist, ich gehe einmal zu ihm in seine Wohnung und danke ihm!“

„Tu’s doch gleich, Papa! Abrameit weiss die Nummer. Gerade um die Ecke. Er ist eigentlich Professor an der Universität oder so was! So einem Mann kann man doch nicht einen Taler in die Hand drücken!“

Der Freiherr von Lützelhardt ging. Als er nach geraumer Zeit zurückkam, war er ganz aufgeregt. „Schade, dass du das nicht gesehen hast, Yella!“ sagte er, seinen vergilbten Hohenzollernmantel an den Nagel hängend. „Herrgott ... ist dieser Doktor Elkan eingerichtet! Du hast recht: Ein netter Mensch! Und dabei ganz einfach! Geradezu bescheiden! Aber seine Wohnung: welch eine Pracht! Denk dir nur: Ein echter Lenbach über dem Schreibtisch. Ein echter Defregger! Ein echter Menzel! Da steckt allein ein Vermögen darin. Eine Bibliothek von gewiss tausend Bänden, alle ganz gleich in echtem Schweinsleder gebunden, mit einem eigenen Bücherzeichen, das irgend ein berühmter Mensch extra für ihn entworfen hat. Und dann ein Gobelin aus dem sechzehnten Jahrhundert. Aus Gent. Einfach wunderbar. Er hat mir alles gezeigt und dabei auch viel von dir gesprochen. Und dann sagte er: ‚Ihr Fräulein Tochter hat mich übrigens daran erinnert, dass ich noch nicht Mitglied Ihres Flottenvereins bin. Das ist ein Versäumnis. Ich bin ein guter Deutscher, wenn mir auch viele Leute wegen meiner Konfession ein Recht darauf absprechen wollen. Erlauben Sie, dass ich mich gleich in Ihre Listen als Mitglied eintrage!‘ Und weisst du, was er als Beitrag gezeichnet hat? Fünfhundert Mark!“

„O Gott!“ sagte Yella erschrocken.

„Er muss sehr reich sein. Und wie die fünfhundert Mark für den Flottenverein dastanden, da konnt’ ich ihn wirklich nicht gut fragen: ‚Herr Doktor — was bekommen Sie für die Behandlung meiner Tochter?‘ Da blieb die Sache in der Schwebe.“

„Na, wenn schon!“ meinte Yella. Diese Schuld drückte sie wenig. Ihre Gedanken waren bei der Pracht der Wohnung, vor allem bei dem Gobelin. Sie hatte noch nie einen Gobelin gesehen.

In das Kanapee gekauert, begann sie zu klagen: „Alle Leute haben Geld. Bloss wir nicht. Rings um einen haben die Leute was vom Leben und wir dürfen ewig zuschauen. Ich hab’s jetzt satt. Ich möchte manchmal rein davonlaufen aus Verzweiflung. Ich weiss bloss nicht, wohin!“

„Ja, liebes Kind!“ Der Major hatte sich an den Tisch gesetzt und ordnete seine Papiere, um mit der Arbeit zu beginnen. „Vor dem Leben kann man nicht davonlaufen. Das holt einen doch ein. Und schliesslich gleicht sich alles aus. Glaubst du, dass dieser Doktor Elkan nun glücklich ist mit seinem vielen Geld? Und du hast keins und bist doch ein vergnügter Springinsfeld!“

„Ja. ’s ist sonderbar!“ murmelte Yella.

IV

Spät Abends war Siegfried Elkan noch ausgegangen. Er sass mit seinem Bruder, dem Rechtsanwalt, und seinem Schwager, dem Börsenbesucher, in dem Restaurant eines vornehmen Lindenhotels, und hatte ihnen eben von der kleinen Lützelhardt und seinem Abenteuer am Nachmittag erzählt.

„Ein Ausblick in eine ganz andere Welt,“ sagte er. „Stallgeruch, Säbelgerassel, buntes Tuch, viel göttlicher Leichtsinn, kein Groschen Kleingeld und mitten in der Boheme solch eine kleine Turfprinzessin — das alles lebt dicht bei uns, gleich um die Ecke und wir ahnen von denen soviel wie die von uns! Es ist wirklich wahr: Berlin ist eine Wildnis. Wir wissen heutzutage im Innern Chinas besser Bescheid als im Hause unseres Nachbarn. Und vor allem: Wir haben mehr Interesse dafür! Wir wollen ja nichts von unserem Berliner Nächsten wissen! Er ist ja unser selbstverständlicher Feind!“

„Na — man sachte!“ sagte Oskar Stern und träufelte sich Zitronensaft auf seinen Kaviar.

„Doch!“ Sein Schwager war heute erregter als gewöhnlich. „Woher stammt denn sonst dies tiefe und unversöhnliche Misstrauen? Glaubst du, mein lieber Oskar, etwa an Leutnants, die nicht aus dem ‚Simplizissimus‘ stammen? Gilt nicht vielen jeder Gutsbesitzer schlechthin als Jeuratte und Sektbold? Und umgekehrt: in welchem Lichte erscheinen denen erst wir? Da haben die meisten drüben nur so eine unbestimmte Vorstellung: ‚Der Alte hat mit Hasenfellen hausiert, der Sohn fährt auf Gummirädern und das Ganze ist ein Unfug!‘ Ist denn gar keine Klärung, kein unbefangenes Schauen, kein Verstehen möglich? Sage selbst!“

Aber die beiden anderen sagten nichts. Der eine, der von Berufsarbeit überhäufte Rechtsanwalt, war viel zu müde, um jetzt noch diese weltbewegende Frage anzuschneiden, und der andere, der Schwager, ein Epikuräer und Mann einer schönen Frau, liebte ernste Gespräche nur beim Geschäft. Er goss sich stirnrunzelnd seinen trockenen Sekt ein, kaute und meinte schliesslich, auf Näherliegendes eingehend: „Ich habe die kleine Lützelhardt oft draussen auf dem Rennplatz gesehen. Auffallend hübsche Person. Stimmt.“

Siegfried Elkan zögerte. „Weisst du vielleicht auch ... so zufällig ... wie eigentlich ihr Ruf ist?“

„Ich war voriges Frühjahr auf der Tribüne dicht dabei, wie die alte Lützelhardt, die Frau vom Majoratsherrn, sie zum Sommer auf ihr Schloss einlud. Also ist ihr Ruf an sich jedenfalls tadellos. Lieber Gott ... sie zieht eben mit den Leutnants herum, vom Sattelplatz zum Totalisator und zurück zum Start, und denkt sich nichts schlimmes dabei. Ein Sportmädel, da gibt’s noch mehr!“

„Und was wird nun schliesslich aus solch einem Mädchen wie der kleinen Lützelhardt?“

„Sie heiratet.“

„Aber wen?“

„Glückssache! Frage der Schlauheit! Ich glaube, sie hat die Weisheit nicht gerade mit Löffeln gegessen. Aber immerhin — zu irgend einem ostelbischen Junker langt’s noch! Die Wasserpolackei ist auch eine schöne Gegend.“

„Das wäre aber doch jammerschade!“

Die beiden anderen sahen sich verstohlen an. Sie merkten beide etwas, und Oskar Stern dachte sich: „Das muss ich doch heute noch meiner Frau erzählen, dass ihr Bruder sich glücklich verliebt hat. Spasshaft: In eine kleine Grösse vom Rennplatz! Solch ein solider Mensch wie er, der vom Pferde nichts weiss, als dass es ein gefährliches Tier mit vier Beinen ist!“

Oder war es vielleicht nur Zufall, dass die Rede gerade auf die hübsche Lützelhardt gekommen? Er fing von etwas anderem an, von einem Automobil, das er in Paris, als Geburtstagsgeschenk für seine Gattin, in Bestellung gegeben, und wartete, was Siegfried Elkan tun würde.

Und richtig: Nach kaum fünf Minuten sagte der, als setze er ein im Gang befindliches Gespräch fort: „Glaubst du wirklich, dass sie nicht sehr klug ist?“

Der Schwager lachte: „Na — Temperament und Klugheit — das ist bei den Frauen schon beinahe dasselbe. Und Temperament hat sie! Das stimmt! Du musst sie nur mal in Karlshorst oder Hoppegarten sehen; da ist sie wie ein Irrwisch — da und dort ... schüttelt da ’nem Buchmacher die Hand und verhandelt dort mit der Frau von irgend einem Trainer, und fraternisiert hinter der Tribüne mit ein paar Jockeys, und läuft dann wieder zu ihren Leutnants zurück und steckt mit ihnen die Köpfe zusammen wie eine Gruppe Verschwörer, und schliesslich wird dann der grosse Schlag riskiert und sie legen zehn Mark zusammen am Totalisator an. Das heisst: Sie steht aussen und wartet da auf die anderen und ist in grösster Aufregung. Einmal frug sie mich, den sie gar nicht kennt, mit ganz zitternder Stimme: Wie viel gibt’s auf ‚Iverness‘? Und als ich sagte: siebzig auf zehn — da seufzte sie tief auf vor Freude und Erleichterung! Siebzig Mark — das war für die alle nun ein Vermögen!“

„Also Geld hat sie gar keines?“

„So viel Geld gibt’s ja gar nicht, als diese Leute nicht haben,“ sagte der Schwager philosophisch und blies den Rauch seiner Havanna von sich.

„Den Vater kennst du nicht?“