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Willkommen auf der Akademie der Schattenjäger in London! Hier lernen Schüler, wie man Dämonen bekämpft. Einen Pakt mit einem Dämon eingehen ist strengstens untersagt. Und erst recht, sich in einen zu verlieben. Die 17-jährige Einzelgängerin Remedy ist froh, endlich ihre Ausbildung an der Akademie der Schattenjäger zu beginnen. Doch zu ihrer Überraschung muss sie mit drei anderen Anwärtern zusammen wohnen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Jeder von ihnen hat eine einzigartige Begabung -- und ein sehr großes Ego. Das ungleiche Team wird auf die Probe gestellt, als sie gegen die Regeln der Akademie verstoßen und einen Dämon in ihrem Badezimmer einsperren. Der Dämon warnt sie vor einer großen Gefahr, die London bald ereilen wird. Können sie dem Dämon trauen – und einander? Das neue magische Fantasyabenteuer aus London!
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Seitenzahl: 341
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Everglow
Die Akademie der Schattenjäger
Band eins
Anna Heart
Titel: Everglow – Die Akademie der Schattenjäger Band 1
Autorin: Anna Heart
Cover: Ria Raven
Deutsche Erstveröffentlichung: Berlin 2023
© 2023 Von Morgen Verlag
Alle Rechte vorbehalten.
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Nachwort der Autorin
Der Dämon trat in die Höhle. Er musste das Pentagramm nicht sehen, er spürte es auch so, und wusste, er würde dem anderen Dämon hindurch folgen.
Wohin es führte, wusste er dagegen nicht. Nur, dass die drei, die er verfolgte, etwas planten. Seit Monaten schon umgaben die Gerüchte ihn wie das Summen in einem Bienenstock, und er hatte die Stimmen hinter verschlossenen Türen, die Schritte in den geheimen Gängen des Schlosses gehört. Als dann der andere mit Proviant für mehrere Tage aufgebrochen war, hatte er sich an seine Fersen geheftet, auch wenn er nur eine grobe Ahnung dessen hatte, was vor ihm lag. Großes stand ihm bevor, und er verzog den Mund zu einem humorlosen Lächeln. Aber er musste es tun, wenn er seine Heimat retten wollte. Wenn er wieder unbeschwert in das lachende Gesicht eines Kindes sehen wollte, ohne die Bedrohung im Hinterkopf zu haben, die ihnen alles raubte, was sie hatten.
Früher, als kleiner Junge, hatte er von Großem geträumt. Aber die heldenhaften Taten, die er sich in seiner Kindheit ausgemalt hatte, standen in keinem Vergleich zu dem, was er jetzt vorhatte. Und im Gegensatz zu seinen Träumen in der Kindheit würden sie ihn danach nicht als Helden feiern. Die Tage, in denen alles einfach und klar war, waren seit dem Tod seines Vaters vorbei. Aber er musste es tun. Für sich. Für das Erbe des Mannes, dessen Verlust ihn immer noch schmerzte.
Der Dämon sah sich um. Drei Tage lang hatte er sich durch die Wildnis der Unterwelt gekämpft, war durch Wälder gelaufen, in denen sich die Äste wie Arme nach ihm ausgestreckt hatten, und hatte Flüsse aus Feuer und Seen voller abscheulicher Wesen überquert. Die Erinnerung ließ ihn jetzt noch schaudern.
Aber er hatte es tun müssen. Viel stand auf dem Spiel.
Wenn die Gerüchte stimmten.
Bunte Schatten tanzten auf dem rauen Stein, der hier fast schwarz erschien, und vor ihm auf dem Boden der Höhle glühte das Pentagramm in einem orangenen Licht auf. Jemand wollte ein Geheimnis wahren, das verriet ihm schon die Tatsache, dass das Pentagramm nicht im Hof des Schlosses oder auf dem Marktplatz der Hauptstadt erschaffen worden war.
Kurz fragte er sich, wohin es ihn bringen würde, aber das war egal. Derjenige, den er verfolgte, war schon gestern Abend hindurchgetreten, doch das Pentagramm würde nicht so schnell erlöschen. Schließlich war es mit Blut gezeichnet, und rostbraune Flecken säumten die Spitzen des fünfzackigen Sterns. Ein solches Portal würde ewig halten.
Kurz drehte er sich nach dem Eingang der Höhle um und warf einen Blick zurück. In der Ferne meinte er die Türme des Schlosses erkennen zu können, die in den wolkenlosen Himmel ragten, vor einem Meer aus Baumwipfeln und Steppe. Sein Zuhause, dachte er zärtlich, auch wenn er sich die Türme wahrscheinlich nur einbildete. Inzwischen war er zu weit davon entfernt, um sie wirklich sehen zu können. Zu weit, um umzukehren.
Wenn er nicht zurückkehrte, würde niemand ihn jemals finden. Er hatte kein Wort gesagt, hatte keinen Brief hinterlassen oder ein Zeichen, wohin er aufbrach. Auch weil er es nicht wusste.
Die Erkenntnis erfüllte ihn gleichermaßen mit Trauer und dem Gefühl einer unbeschreiblichen Freiheit.
Kurz atmete er noch einmal die kalte, feuchte Luft der Höhle ein. Dann schloss er die Augen und trat auf das Pentagramm.
Die Lippen fest zusammengepresst ließ er die Empfindungen, die das Reisen zwischen den Dimensionen mit sich brachte, über sich ergehen. Kurz war es, als würde ein Wind ihn in alle Richtungen zerren, und er kämpfte darum, aufrecht stehen zu bleiben. Dann fiel er, er fiel und fiel und fiel, und wie immer schaffte er es nicht, sich davon zu überzeugen, dass er jemals wieder festen Boden unter den Füßen spüren würde.
Ein dumpfer Schock durchfuhr ihn, als er auf der anderen Seite landete. Schwankend öffnete er die Augen. Es dauerte eine Weile, bis er sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatte, das durch ein schmutziges Fenster in den Raum fiel.
Er befand sich in einem heruntergekommenen Gebäude. Die Tapete schälte sich von den Wänden und die nackte Glühbirne, die an einem Kabel von der Decke hing, war zerbrochen. Umgestürzte Tische und hastig zusammengeschobene Stühle türmten sich in einer Ecke des weitläufigen Raumes auf, der einst ein Tanzsaal gewesen sein musste.
Langsam verließ er den Raum, durchquerte einen Flur und einen Innenhof und trat hinaus auf eine Straße.
Lärm umgab ihn, die Rufe von Händlern, das Rauschen von fernem Verkehr. Die Luft stank nach Abgasen, nach dem Essen der Menschen und etwas, das langsam vor sich hin faulte.
Er wusste, wo er war, noch bevor er an einem der Verkaufsstände die T-Shirts mit der Aufschrift „I love London“ sah. Er war schon ein paar Mal für kurze Zeit hier gewesen.
Diesmal sah es so aus, als würde er länger bleiben.
Heute würde alles anders werden.
Ich drehte mich noch einmal im Bett um und streckte mich genüsslich, die warme Decke über dem Kopf. An jedem anderen Tag hätte ich ein drückendes Gefühl im Magen gehabt bei dem Gedanken daran, in die Schule gehen zu müssen. Aber nicht heute.
„Remedy! Du musst aufstehen, sonst kommst du zu spät!“, hörte ich die Stimme meiner Mutter, begleitet von einem heftigen Klopfen an meiner Tür. Nur meine Mutter nannte mich Remedy, für alle anderen war ich bloß Remy.
„Ich komme ja schon!“, rief ich zurück und wartete, bis ich die sich schnell entfernenden Schritte meiner Mutter auf der Treppe hörte.
Mit einem Gähnen rollte ich mich aus dem Bett. Dann schob ich einen Stapel Bücher zur Seite, um den Schrank zu öffnen. Er war das einzige Möbelstück, das ich nicht von entfernten Cousinen oder Cousins geerbt hatte, und mit seinem dunklen Holz auch das einzige Möbelstück, das so aussah, als gehörte es hierher. Alles andere machte einen zusammengewürfelten Eindruck, und ich mochte das weiß lackierte Bett ebenso wenig wie den alten Küchentisch, der als mein Schreibtisch diente.
Langsam zog ich meine dunkelrote Schuluniform an, die sich mit meinen rotbraunen Haaren biss. Meine Bluse war etwas verknittert, aber es lohnte sich nicht, heute noch etwas dagegen zu tun. Nur noch einmal, erinnerte ich mich. Ich konnte es kaum erwarten, heute Abend die gebügelte Hose auszuziehen – gegen den Faltenrock hatte ich mich mit vierzehn zum ersten Mal erfolgreich gewehrt. Vielleicht, überlegte ich, sollte ich zur Feier des Tages meine Schuluniform verbrennen. Kurz dachte ich sogar darüber nach, ein wenig Make-Up aufzulegen, doch ich hatte keine Lust auf die dummen Nachfragen und stichelnden Kommentare meiner Mitschüler.
Zufrieden machte ich mich über die schmale Treppe auf den Weg nach unten und verfluchte wie immer den abgetretenen, ehemals beigen Teppich, der die Stufen an den Kanten rutschig machte.
Meine Mutter hatte mir bereits eine dampfende Tasse Kaffee mit viel Milch hingestellt, und ich setzte mich an den Küchentisch, an dem gerade einmal genug Platz für zwei Teller war.
Schnell drückte meine Mutter mir einen Kuss auf den Scheitel. „Ich muss los, sonst komm ich zu spät ins Büro“, sagte sie schon halb im Hinausgehen. Ich hörte, wie sie die Haustür öffnete, dann rief sie mir noch einmal zu: „Alles Gute für deinen letzten Schultag!“
Mein letzter Schultag. Der Tag, auf den ich seit meiner Einschulung gewartet hatte.
Ich machte mir ein Marmeladentoast und kaute darauf herum, aber bekam vor Aufregung kaum etwas hinunter. Immer wieder sah ich auf die Uhr, die über der Spüle hing – sie hatte in der weiß getünchten Küche nirgendwo sonst Platz gefunden.
Mir gefiel unser kleines Reihenhaus, und ein leichter Stich durchfuhr mich bei dem Gedanken, morgen auszuziehen. Dann wieder kribbelte die Vorfreude in mir, als ich daran dachte, bald meine eigene Wohnung zu haben. In London.
Mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht machte ich mich schließlich früher als sonst auf den Weg zum Schulbus. Normalerweise zögerte ich den Moment so lange wie möglich hinaus. Doch dieses Mal konnte ich mir sogar ein Grinsen nicht verkneifen, als der Bus, wie immer zu spät, um die Ecke des roten Backsteinhauses am Ende der Straße bog.
Und wie immer war der Bus vollkommen überfüllt. Doch Kyle hatte mir einen Platz freigehalten. Er drückte mich kurz an sich. Seine dunkelblonden Haare waren verwuschelt, und der Ausdruck auf seinem blassen Gesicht zeigte deutlich, was er von meiner bevorstehenden Abreise hielt.
„Ich kann nicht glauben, dass ich mich ab morgen allein mit diesen Kindern rumschlagen muss!“ Er warf einen Blick auf die Gruppe Elf- und Zwölfjähriger, die sich vor uns zu sechst auf einen Vierersitz gequetscht hatten. Über den Lärm, den sie veranstalteten, verstand ich Kyle beinahe nicht.
„Ich auch nicht! Ich werde dich so vermissen“, sagte ich und drückte Kyles Arm. Es stimmte.
„Nun, du wirst an einem besseren Ort sein“, sagte er mit einem Seufzen.
Ich musste lachen. „Das klingt, als ob ich sterben würde.“
„Für mich wird es auch so ähnlich sein, wenn du so weit weg bist …“ Wieder seufzte er mit einem Blick auf die Kinder, die einen Wettbewerb veranstalteten, wer die Zunge am längsten herausstrecken konnte.
„Aber trotzdem … so mitten im Schuljahr die Schule zu wechseln? Ich kann immer noch nicht glauben, dass du ein Stipendium für eine dieser Eliteschulen in London bekommen hast.“
Er beäugte mich misstrauisch, und ich zog die Schultern ein. Es gefiel mir nicht, dass ich meinen besten Freund anlügen musste, aber ich hatte keine andere Wahl. Die Wahrheit konnte ich im schlecht sagen – er würde mir auch kaum glauben, dass ich ab morgen die Akademie der Schattenjäger besuchen würde, um als Dämonenjägerin ausgebildet zu werden.
„Ich würde dich mitnehmen“, sagte ich. „Vielleicht passt du ja noch in meinen Koffer.“ Immerhin entlockte ich ihm damit ein kurzes, bitteres Lachen. „Ich würde gern mitkommen und diesen Mist endlich hinter mir lassen.“
Ich verstand ihn nur zu gut. Kaum hatten wir den Bus verlassen und standen vor dem anonymen, weißen Schulgebäude, sah ich auch schon den Grund für seine schlechte Laune auf dem Parkplatz im Innenhof. Taylor, Leony und Melanie lehnten rauchend an einem schwarzen BWM, der Taylors älterem Bruder gehörte. Sie lachten gerade über etwas, ein hohes, gemeines Kichern, bei dem sich mir die Nackenhaare aufstellten.
„Ignorier sie einfach“, sagte ich leise zu Kyle.
Das Problem war nur, dass Taylor, Leony und Melanie uns aus irgendeinem Grund nicht ignorierten. Sie ließen keine Gelegenheit aus, sich über uns lustig zu machen. Das war im Prinzip nicht allzu schlimm, ich hatte genug Selbstbewusstsein, mich nicht von ein paar Idiotinnen einschüchtern zu lassen. Aber Taylors älterer Bruder ging in seiner Freizeit ins Fitnessstudio und drohte mit seiner Muskelmasse gern jedem, der es wagte, etwas auf die spitzen Bemerkungen seiner kleinen Schwester zu entgegnen.
Ich straffte meine Schultern. Heute war mein letzter Tag hier, erinnerte ich mich. Und ich würde nicht ohne ein Abschiedsgeschenk gehen.
„Na, ihr Loser? Wieso ist deine Bluse so verknittert? Hast du kein Bügeleisen?“, rief Taylor mir zu. Ihre Worte lösten ein gemeines Kichern in der kleinen Gruppe aus.
Ich lächelte ihr nur zu und hob meinen Kopf. Kyle neben mir zog die Schultern hoch, als könnte ihn das vor ihren Worten schützen.
Sie riefen uns noch etwas hinterher, doch ich ignorierte es und gab mir Mühe, die breiten Stufen zum Eingang der Schule nicht zu schnell hinaufzulaufen.
„Ich kann verstehen, dass du so fröhlich aussiehst“, brummte Kyle. „Ich freue mich ja für dich, aber für mich …“ Er ließ den Kopf hängen.
Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Wir werden in Kontakt bleiben. Und irgendwann bist du hier auch raus“, sagte ich und lächelte ihn mitleidig an.
Er zuckte mit den Schultern und verabschiedete sich dann, um zu seiner ersten Stunde zu gehen. Ich sah ihm nach, wie er in dem langen, grauen Gang verschwand, und verspürte wieder diesen Stich zusammen mit der Vorfreude. Noch acht Stunden, und ich würde dieses Gebäude für immer verlassen.
Der Unterricht zog sich endlos hin. Es ergab keinen Sinn mehr, mich auf Mathe, Englisch und Französisch zu konzentrieren, wenn ich schon morgen ganz andere Fächer haben würde. Also kritzelte ich auf meinem Block herum, versuchte, die Sticheleien der anderen zu ignorieren, und wartete ab.
Die Mittagspause verbrachte ich wie immer mit Kyle, und wie immer taten wir unser Bestes, um Taylor, Leony und Melanie aus dem Weg zu gehen.
Wir saßen in der Kantine, die aus einem ehemals überdachten Parkplatz umgebaut worden war. Weiß getünchte Pfeiler stützten die niedrige Decke, und die Mischung aus lauten Gesprächen, schrillem Lachen und den Essengerüchen weckte wieder meine Vorfreude auf ein anderes Leben. Meine eigene Wohnung. Mitschüler, die das gleiche Ziel hatten wie ich. Und vor allem: Magie.
„Ich hoffe wirklich für dich, dass das Essen auf dieser Eliteschule ebenso piekfein ist wie die Mitschüler“, erklärte Kyle, während er in seinen gestampften Erbsen herumstocherte. Seinen Fisch in Backteig hatte er kaum angerührt, während ich gerade die letzten Reste von meinem Teller kratzte.
„Isst du das noch?“ Ich zeigte mit meiner Gabel auf seinen Teller. Wortlos schob er ihn zu mir hin, und ich sparte mir eine Bemerkung über Kyles dünne Gestalt, während ich das bereits halb erkaltete Essen verschlang.
Jemand warf mir ein Papierkügelchen an den Hinterkopf, aber ich seufzte nur auf und drehte mich nicht um. Ich konnte mir schon denken, wer es war.
Endlich kam auch die letzte Stunde, und ich rutschte vor Aufregung auf meinem Stuhl hin und her. Irgendwann hob ich die Hand.
„Ich müsste mal auf Toilette“, sagte ich.
Ein leises Kichern brach aus, doch es störte mich nicht.
Mrs. Wright starrte mich über ihre Brillengläser hinweg an. „Na gut“, sagte sie schließlich. „Aber das nächste Mal gehst du vor der Stunde!“
Ich musste mir ein Grinsen verkneifen bei dem Gedanken, dass es für mich keine nächste Stunde mit ihr geben würde.
Betont langsam verließ ich den Klassenraum, während Mrs. Wright damit fortfuhr, die unterschiedlichen Wirtschaftssysteme in Europa zu erklären.
Auf dem Gang sah ich mich um. Niemand war da. Aus den angrenzenden Klassenräumen drang das eintönige Gemurmel der Lehrer. Sehr gut.
Ich schlich mich in den Gang, in dem sich die Spinde wie eine Reihe von unbeweglichen Soldaten an der Wand entlang zog. Wieder sah ich mich mit klopfendem Herzen um, doch entdeckte niemanden.
Hastig presste ich die Handflächen aufeinander und schloss die Augen. Ich musste mich konzentrieren, doch mein schnell schlagendes Herz machte es schwer. Schließlich spürte ich ein sanftes Kribbeln in meinen Fingern, das die Magie ankündigte. Ich formte ein Bild in meinem Kopf und sandte es in die Welt hinaus. Ein leichter Schwindel überkam mich, als das Bild Wirklichkeit wurde und dabei meine Kräfte nutzte.
Mit einer Hand stützte ich mich an der Wand ab. Dann horchte ich. Leises Scharren und Gackern verrieten mir, dass es funktioniert hatte.
Mit einem Grinsen ging ich zurück zum Unterricht.
Der Zeiger auf der Uhr wollte sich nicht weiterbewegen, und ich beschäftigte mich damit, eine Zimmerpflanze abzuzeichnen, die in der Ecke vor sich hinstarb. Doch irgendwann war es geschafft: Meine letzte Stunde im britischen Schulsystem kam zu einem Ende. Noch nie hatte mich das Läuten der Schulglocke mit derartiger Freude und Erleichterung erfüllt wie heute.
Ich ließ mich absichtlich etwas hinter den anderen zurückfallen, die kichernd und in Unterhaltungen vertieft aus dem Klassenzimmer stürmten. Bevor ich den Raum verließ, sah ich mich noch einmal um. Alles hier war Grau in Grau, die Wände, die von den Kunstprojekten vergangener Klassen nur wenig aufgehellt wurden, die Decke aus Gipsplatten, unter denen einige meiner Mitschüler einmal das Klassenbuch versteckt hatten. Selbst die Fenster, die sich auf einer Seite bis zu den aus grauem Waschbeton bestehenden Fensterbänken herunterzogen, waren von einem grauen Schleier überzogen.
Schließlich folgte ich den anderen langsam, den Rucksack locker über der Schulter. Mein Herz schlug schneller. Was, wenn die Magie längst verflogen war? Ich hatte in meinem Leben bisher nur wenige Zauber gewirkt, schließlich hatte ich meine Ausbildung noch vor mir, und keine Erfahrung damit, wie lange sie andauerten.
Doch dann hörte ich es.
„Was ist denn los?“, vernahm ich Kyles Stimme neben mir.
„Ein kleines Abschiedsgeschenk“, meinte ich mit einer wegwerfenden Handbewegung.
Wir erreichten den Gang mit den Spinden, und ich konnte nicht anders: Ich brach in lautes Lachen aus.
Gackern und Kreischen erfüllten die Luft. Weiße Federn segelten durch den Gang, als fünfzig Hühner gleichzeitig in die Freiheit aufstiegen. Eines davon hatte sich in Taylors blondem Haar verkrallt, und sie schlug kreischend nach dem Tier. Melanies Gesicht zierte ein Hühnerschiss, während Leony auf dem Boden mit einem der Tiere rang.
„Was …“, begann Kyle neben mir, doch dann sah er mein Grinsen und verstand. „Wie hast du das geschafft? Wo hast du die Hühner her?“
Ich zuckte nur mit den Schultern. „Das bleibt mein kleines Geheimnis.“ Dann drehte ich mich um und lief aus der Schule.
Ich schaute nicht zurück.
Als ich zu Hause ankam, grinste ich immer noch. Ich kochte Nudeln mit Soße, während ich darauf wartete, dass meine Mutter von der Arbeit zurückkehrte. Es fühlte sich merkwürdig an, keine Hausaufgaben erledigen zu müssen, und ich nutzte die Zeit, meinen Roman zu Ende zu lesen.
Schließlich stürmte meine Mutter, viel zu spät wie immer, in die Küche.
„Hallo, mein Schatz“, begrüßte sie mich und umarmte mich kurz. „Ich bin am Verhungern!“
Während wir an unserem kleinen Küchentisch saßen und unsere Nudeln aßen, musterte sie mein zufriedenes Gesicht.
„Wie war dein letzter Schultag?“, fragte sie zwischen zwei Bissen.
„Ach, wie immer.“
Am nächsten Morgen erwachte ich mit einem vorfreudigen Herzklopfen. Ich hatte am Abend zuvor bereits meine Sachen gepackt, und zwei Koffer standen neben meiner Zimmertür. Mehr würde ich nicht mit nach London nehmen. Es tat mir weh, meine Bücher zurückzulassen, die in das schmale Regal neben dem Fenster gequetscht waren und in mehreren säuberlichen Stapeln davor standen, aber es ging nicht anders.
Ich duschte und zog mich an. Kurz betrachtete ich mich im Spiegel im Bad durch den Schleier aus Feuchtigkeit, der sich über das Glas gelegt hatte. Was mich in London wohl erwartete? Hoffentlich ein besser isoliertes Bad, denn der Architekt hatte als Abzug einfach ein Loch in die Wand einbauen lassen. Aber selbst wenn es zugig sein würde und im Winter mein Atem zu sehen wäre: meine eigene Wohnung! Ich konnte es noch immer nicht fassen, und ich überlege mir schon, Kyle zu einem Wochenende nach London einzuladen, wo wir in aller Ruhe durch die Straßen spazieren würden.
Allerdings musste ich die Wohnung erst einmal finden. Außer einem Brief mit der Adresse für meine Unterkunft und dem Standort der Akademie hatte ich wenig Informationen erhalten. Meine Mutter konnte mir leider auch nicht mehr sagen.
„Es tut mir fast leid, dass ich ein gewöhnlicher Mensch bin“, hatte sie mit einem Seufzen gesagt und den Brief in den Händen gedreht. „Wenn dein Vater hier wäre …“
Ich hatte den Wunsch unterdrückt, sie darauf hinzuweisen, dass mein Vater schon lange nicht mehr da war. Strenggenommen hatte ich nicht einmal richtige Erinnerungen an ihn. Er hatte meine Mutter verlassen, als ich erst drei Jahre alt gewesen war. Sie hatte es ihm verziehen; seine Arbeit als Dämonenjäger eignete sich eben nicht für ein Familienleben. Auch wenn sie immer nur mit einem Seufzen und einem Schulterzucken darauf reagierte, mich machte seine Entscheidung wütend. Aber wir kamen auch ohne ihn gut zurecht, wie ich immer gern betonte, wenn der Blick meiner Mutter in die Vergangenheit zu gehen schien und ihre Augen glasig wurden.
Wir beide.
Von nun an musste ich ohne sie auskommen. Und sie ohne mich.
Trotzdem, ich würde ihr beweisen, dass es möglich war. Nicht nur würde ich die beste Schattenjägerin werden und meinen Vater übertreffen, ich würde ihr jede Woche schreiben. Sie anrufen. Sie besuchen. Mein Leben mit ihr teilen, statt einfach zu verschwinden. Ich hatte es mir fest vorgenommen.
An meinem Willen mangelte es sicher nicht, aber es löste ein nervöses Flattern in meinem Magen aus, als ich darüber nachdachte, wie unvorbereitet ich an die Akademie gehen würde. Auch wenn ich nichts über meine Mitschüler wusste, so stellte ich sie mir als höfliche, magisch versierte Übermenschen vor. Ich würde mich anstrengen müssen, um mit ihnen mitzuhalten, und noch mehr, um sie zu übertreffen. Aber ich würde es schaffen.
Meine Mutter wartete bereits in der Küche auf mich. Ein kleiner Kuchen mit siebzehn Kerzen stand auf dem Tisch, und drei Pakete in buntem Weihnachtsgeschenkpapier lagen darum herum. Sie sah mich entschuldigend an. „Etwas anderes hatten wir leider nicht mehr, und ich hatte keine Zeit …“
Ich schüttelte entschieden den Kopf. „Das Papier ist mir egal“, sagte ich mit Nachdruck. „Ich freue mich auch so darüber.“
Ich riss die Verpackung auf – und versuchte, nicht enttäuscht auszusehen. Was ich für ein neues Buch gehalten hatte, erwies sich als Notizbuch mit glitzernden Einhörnern darauf.
„Die mochtest du doch früher so gern“, meinte meine Mutter.
Ich zwang mich zu einem Lächeln. „Ja, vielen Dank! Und es passt auch zu meiner neuen Schule!“
„Gibt es etwa Einhörner?“
Aus irgendeinem Grund ging meine Mutter immer davon aus, dass ich das Wissen über alles Magische von meinem Vater geerbt hatte. Ich zuckte nur mit den Schultern.
Das zweite Päckchen enthielt eine dünne Halskette, an der ein goldenes Einhorn baumelte. Ich nahm mir vor, sie ganz weit unten in meinem Koffer zu verstecken. Und irgendwann in den sauren Apfel zu beißen und meiner Mutter mitzuteilen, dass ich mit zehn in Einhörner vernarrt gewesen war, aber sich mein Geschmack in den letzten sieben Jahren geändert hatte.
Das letzte Geschenk war immerhin ein Buch. Ich traute mich kaum, die Beschreibung zu lesen, aber es schien keinerlei Einhörner zu beinhalten. Dafür spielte es in London, und ich nahm mir vor, alle Orte, die darin vorkamen, an meinen Wochenenden zu besuchen.
Mit einem breiten Grinsen und einem erleichterten Seufzer bedankte ich mich. „Das nehme ich auf jeden Fall mit nach London!“
„Ach, mein Schatz.“ Meine Mutter zog mich in ihre Arme und drückte mich fest. „Alles Gute zum Geburtstag“, flüsterte sie neben meinem Ohr.
Ich konnte an ihrer Stimme hören, dass ihr Tränen in den Augen standen, und auch ich spürte plötzlich einen Kloß im Hals.
Sie hielt mich vor sich und lächelte mich traurig an. „Was soll ich denn ohne dich machen, meine Kleine?“
„Ich bin gar nicht klein“, protestierte ich mit Tränen in den Augen. „Im Gegenteil, ich bin vollkommen durchschnittlich groß!“
Sie musste lachen, und auch ich grinste durch meine Tränen hindurch.
Dann erinnerte sie mich daran, die Kerzen auszublasen. „Wünsch dir was, aber sag es niemandem!“, ermahnte sie mich wie jedes Jahr an meinem Geburtstag.
Ich schloss die Augen und blies die Kerzen aus. Als ich dem sich kräuselnden Rauch hinterher sah, dachte ich fest: Ich will die beste Dämonenjägerin aller Zeiten werden.
„Ach, meine Kleine“, sagte meine Mutter wieder und drückte mich an sie. Dieses Mal widersprach ich ihr nicht. Zu sehr hatte ich bei meinem Wunsch die Verantwortung gespürt, die von nun an auf mich zukommen würde.
Ich. Eine Dämonenjägerin.
Ich konnte es kaum erwarten.
Der Abschied von meiner Mutter fiel kurz aus, weil sie mit einem Blick auf die Uhr leise fluchte und zur Arbeit eilen musste.
„Schreib mir, wenn du in London angekommen bist, und ruf mich an!“ Mit zugeworfenen Kusshänden und Winken verschwand sie nach draußen.
Ich zwang mich dazu, ihr nicht lange nachzusehen, sondern machte mich über den Kuchen her. Viel bekam ich nicht herunter, zu groß war die Aufregung.
Schließlich ging ich nach oben, holte meine beiden Koffer und schloss die Tür zu meinem Zimmer, ohne mich noch einmal umzudrehen.
Der Bus zum Bahnhof hatte Verspätung, und ich musste mit meinen beiden Koffern rennen, so gut ich konnte, um meinen Zug zu erwischen. Zu meiner Enttäuschung fuhr er von einem ganz normalen Gleis ab und erwies sich auch als ganz normaler Zug.
Während der Fahrt beruhigte sich mein Herzschlag etwas. Ich sah aus dem Fenster. Grüne Weizenfelder flogen vorbei, ab und zu unterbrochen von einem vereinzelten Baum. In der Ferne tauchten Dörfer und kleinere Städte auf und verschwanden dann wieder.
Gern hätte ich meine Aufregung mit jemanden geteilt, aber zwischen den Anzugträgern und gepiercten Mädchen in zerrissenen Jeans gab es niemanden, dem ich mein Geheimnis hätte verraten können.
Kyle hatte mir eine Nachricht geschickt, in der er mir zu meinem Geburtstag und meinem neuen Leben gratulierte.
Irgendwann musst du mir verraten, wie du es geschafft hast, heimlich fünfzig Hühner in die Schule zu schmuggeln. Sie suchen immer noch nach dem Schuldigen, schrieb er, und ich schickte nur einen zwinkernden Smiley zurück.
Schließlich wandelte sich die Landschaft. Aus grünen Feldern wurden rote Backsteinhäuser, die sich in geraden Reihen vor dem grauen Himmel entlangzogen. In der Ferne konnte ich die ersten Hochhäuser erkennen, die aber nichts mit den gläsernen Prachtbauten der Londoner City gemein hatten. Grauer Waschbeton ragte in die Höhe, durchbrochen von Fenstern, die den Himmel spiegelten und wie Löcher in den Gebäuden wirkten.
Der Zug raste weiter, und helle Sandsteinbauten tauchten auf, die mit Stuck verziert an sauberen Straßen standen.
Fasziniert starrte ich aus dem Fenster. Natürlich war ich schon in der Vergangenheit in London gewesen, doch mir war, als sähe ich es jetzt zum ersten Mal. Mein neues Zuhause, dachte ich. Stolz erfüllte mich bei dem Gedanken, dabei hatte ich nichts Besonderes getan, um an der Akademie aufgenommen zu werden. Es reichte, dass mein Vater ein Dämonenjäger war und ich seine Kräfte geerbt hatte. Immerhin etwas, das er mir gegeben hatte, auch wenn ich so gut wie nichts über die Welt der Dämonenjäger wusste.
Kurz schloss ich die Augen, um das vorfreudige Kribbeln in meinem Magen zu genießen. Jetzt würde sich das ändern. Ich würde alles über Dämonen und Magie lernen, und heute ging ich den ersten Schritt auf dem Weg zur Dämonenjägerin.
Ich musste noch eine weitere halbe Stunde mit der U-Bahn fahren, oder Tube, wie sie hier in London genannt wurde, bevor ich Camden Town erreichte.
Schon beim Aussteigen wehte mir eine Mischung aus Bratfett, indischen Gewürzen und Abgasen entgegen, die ich aus meiner kleinen Heimatstadt nicht kannte. Aber es störte mich nicht, im Gegenteil. Ich schloss die Augen und sog den Duft ein, bis mich ein vorbeihastender Mann unsanft zur Seite schob.
Ich brauchte lange, um mein neues Zuhause zu finden. Das lag auch daran, dass ich die Zeit gern dazu genutzt hätte, den Stadtteil zu erkunden. Zwei Dinge prägten Camden: auf der einen Seite das Getümmel vor den verschiedensten Läden, die Nietengürtel, Handyhüllen und T-Shirts mit der Aufschrift „I love London“ anboten. Und auf der anderen Seite die Farbpracht der Häuser, die alle in einem anderen Ton angestrichen und mit den merkwürdigsten Verzierungen ausgestattet waren. Das eine Haus wirkte wie ein übergroßes Lebkuchenherz mit den zuckergussartigen Schnörkeln, die sich um die Fenster rankten. Das nächste schien von einem riesigen Turnschuh getreten zu werden, während daneben bunte Mandalas und ein Elefantenkopf dem Gebäude ein indisch anmutendes Aussehen gaben.
Und überall waren Leute. Die meisten waren Touristen, die der noch kalten Frühlingsluft in langen Mänteln und Regenjacken trotzten. Die Londoner erkannte man daran, dass ihnen das Wetter vollkommen egal zu sein schien. Junge Frauen in bauchfreien Tops mischten sich mit Männern in zerrissenen Jeans und T-Shirts, und es schien ein Wettkampf darüber stattzufinden, wer die größte Gürtelschnalle hatte. Über allem wehte ein starker Wind, der den leicht verfaulten Geruch des Regent’s Canal mit sich trug.
Mit großen Augen wanderte ich durch die Straßen, ohne auf die Richtung zu achten. Erst als meine Arme schwer davon wurden, meine Koffer zu ziehen, hielt ich inne und schaute erneut auf mein Handy. Zu weit. Verdammt.
Innerlich schalt ich mich. Es war schließlich Freitag und die Schule würde erst am Montag beginnen, also hatte ich genug Zeit, mir die Stadt in Ruhe anzusehen, wenn ich erst einmal in meiner Wohnung angekommen war. Im Kopf ging ich bereits alles durch, was zu tun war, ich musste einkaufen, um etwas zu essen zu haben, mein Bett beziehen, meine Sachen im Schrank verstauen … und dann würde ich mich in den Trubel des Londoner Lebens stürzen.
Mit einem Seufzer drehte ich mich um und ging zurück, wobei ich den Blick nicht von den Plakaten abwenden konnte, die hier überall an den Wänden klebten und längst vergangene Bands und Theaterstücke ankündigten. Keinen der Namen hatte ich jemals gehört, doch die bunten Bilder zogen mich in ihren Bann.
Schließlich konnte ich mich losreißen und bog in eine Seitenstraße ab, die mich von den bunten Geschäften wegführte. Nur wenig später stand ich vor meinem Ziel: Oval Road 29B.
Ich besah das Gebäude von außen. Die Mischung aus beigem Backstein und einem weißen Fundament wirkte nach dem Farbspiel der Häuser zuvor bieder. Ich sah mich kurz um, doch es bestand kein Zweifel daran, dass ich an der richtigen Adresse war.
Sechs Wohnungen verteilten sich auf die drei Etagen, wie mir die Klingelschilder mitteilten. Ich studierte noch einmal den Brief in meiner Hand, dann drückte ich auf den Knopf, neben dem „4“ stand.
Nichts passierte.
Ich versuchte es noch einmal und lauschte auf ein Summen oder ein anderes Geräusch, doch nichts ertönte.
Verwirrt sah ich mich um. In der Einladung der Schule hatte gestanden, dass mein neues Zuhause die Oval Road 29B Wohnung vier sein sollte. Wieso war dann niemand da, der mich willkommen hieß?
Gerade wollte ich mich umdrehen und mir überlegen, was ich jetzt tun sollte, als ich drinnen ein Poltern auf der Treppe hörte.
Kurz danach öffnete ich die Tür und ich blickte in das Gesicht eines jungen Mannes. Ich schätzte ihn auf achtzehn oder neunzehn, doch in seinen dunklen Augen lag etwas, das ihn älter wirken ließ. Hastig strich er sich durch die dunkelbraunen Haare, als er mich sah. Sein Gesicht war scharf geschnitten, und etwas daran ließ mich an einen Raben denken. Aber die Härte seiner Züge wurde durch ein weiches Glänzen in seinen Augen wieder wettgemacht.
„Sorry“, murmelte er, machte aber keine Anstalten, mich hineinzubitten. Viel mehr wirkte es, als wollte er an mir vorbeigehen, aber meine beiden Koffer versperrten ihm den Weg.
„Hallo“, sagte ich und versuchte, nicht rot zu werden, als mich seine Augen intensiv musterten. „Ich ziehe hier ein. Ich meine, ich bin die neue Bewohnerin. Nummer vier. Also, in dem Brief …“ Unter seinem Blick schien die Verbindung zwischen meinem Gehirn und meinem Mund aufgehoben zu sein. Was war nur los mit mir? Sonst war ich doch nicht so leicht aus der Fassung zu bringen.
Er starrte mich verwirrt an, dann fiel sein Blick auf meine Koffer. „Nummer vier? Ah, du musst eine neue Mitbewohnerin in der WG sein.“
„WG?“, entfuhr es mir. Ich schüttelte den Kopf. Es musste sich um ein Missverständnis handeln.
„Ja, die WG.“ Er deutete mit einem schlanken Finger nach oben. „Nummer vier? Da wohnen doch schon ein paar andere? Ich sehe sie manchmal, das Mädchen mit den langen, schwarzen Haaren? Und der große Typ?“
Langsam sickerte Verständnis durch mein noch immer von dieser Neuigkeit geschocktes Gehirn. „Du bist gar nicht hier, um mich zu empfangen?“
Erstaunt schüttelte er den Kopf. „Nein, ich wohne in der Drei. Ich wollte nur einkaufen gehen.“
Mein Magen drehte sich um, als mir klarwurde, dass ich mich ihm beinahe als neue Dämonenjägerin vorgestellt hatte. Meine Ausbildung hatte noch nicht einmal begonnen, und ich hätte schon fast die erste Grundsatzregel gebrochen: niemals einen Menschen zu verraten, dass es Dämonen gab.
Es war das einzige Bisschen Weisheit, das mein Vater mir vermittelt hatte, bevor er verschwunden war. Leider hatte er mir nie erzählt, was für Konsequenzen es hatte, wenn ich diese Regel brach – dafür war er nicht lange genug bei meiner Mutter und mir geblieben.
„Alles in Ordnung?“, fragte mich der junge Mann und musterte mich besorgt.
„Ja, ja“, brachte ich hervor. „Ich war nur kurz in Gedanken woanders. Ähm, also, dann sind wir wohl Nachbarn. Es freut mich, dich kennenzulernen.“ Ich streckte ihm die Hand entgegen und bemerkte erst im nächsten Augenblick, dass ich noch immer den Griff meines Koffers fest umklammert hielt.
Er musste lächeln, aber es war ein schönes Lächeln, das sein ganzes Gesicht erhellte. Nachdem ich mich von dem Koffergriff befreit hatte, nahm er meine ausgestreckte Hand.
„Ich bin Nathan“, stellte er sich vor.
Die Berührung seiner Haut auf meiner fühlte sich angenehm warm an, nachdem meine Finger in der Frühlingskälte klamm geworden waren.
„Und du?“, fragte er.
Etwas verzögert ließ ich seine Hand los. „Remedy. Aber alle nennen mich nur Remy“, stammelte ich. Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss. Noch immer war ich innerlich damit beschäftigt zu verarbeiten, dass in mein neues Zuhause mit anderen teilen würde. Wenn es sich nicht um ein Versehen handelte. Hoffentlich war es ein Versehen.
„Es freut mich, dich kennenzulernen, Remy“, sagte er und tippte sich in einem kleinen Salut mit zwei Fingern an die Schläfe. „Ich muss jetzt mal los.“
„Ja, äh, dann. Man sieht sich“, sagte ich und versuchte ein Lächeln, das eher wie ein dümmliches Grinsen aussehen musste.
Erwartungsvoll blieb er vor mir stehen, und ich nutzte die Gelegenheit, um ihn zu mustern. Im Gegensatz zu den meisten Jungs, die ich kannte, trug er keine zerrissene Jeans, sondern eine schwarze Hose und ein schwarzes Hemd, das schlicht, aber gut an seiner schlanken Figur aussah.
„Ähm, könntest du mich durchlassen?“, fragte er freundlich.
Wieder spürte ich das Blut in meinem Wangen. Hastig wich ich zur Seite und stolperte über meinen Koffer. Eine schnelle Hand packte mich am Arm und zog mich zurück auf die Füße, bevor ich fallen konnte.
„Hoppla“, meinte Nathan mit einem Lächeln. Ich wäre am liebsten einfach auf der Stelle verschwunden – wenn es einen Zauber gab, der das bewirken konnte, lernte ich ihn hoffentlich bald.
„Also“, sagte er noch einmal und ging an mir vorbei. Ich starrte ihm hinterher, bevor ich mich wieder der verschlossenen Tür zuwandte.
Eine WG … Ich war Einzelkind und es nicht gewohnt, neben meiner Mutter noch andere Leute um mich herum zu haben. Ein- oder zweimal waren zwei Cousinen von mir zu Besuch gekommen, aber ich hatte mich ebenso sehr auf ihr Kommen gefreut wie danach auf ihre Abreise.
Nein, es musste ein Irrtum sein. Ich hatte meine eigene Wohnung, ganz bestimmt.
Es dauerte fast zwanzig Minuten, bis ich eine Gestalt die Straße entlang auf das Haus zukommen sah. Dieses Mal beobachtete ich den jungen Mann mit etwas mehr Zurückhaltung, aber das offene Lächeln in seinem dunklen Gesicht schien mir zu gelten.
„Hi, ich bin Chris!“, stellte er sich vor und reichte mir eine große Hand, deren Druck fest, aber nicht unangenehm war. In seinen Trainingsklamotten und mit dem etwas verschwitzten Gesicht wirkte er gar nicht wie ein angehender Dämonenjäger – ich hatte mehr Eleganz erwartet. Andererseits deuteten meine enganliegende Jeans und der grüne Wollpullover wohl auch nicht auf Material für die Eliteschule hin, auf die ich gehen sollte.
Seine krausen, schwarzen Haare trug er in einem kurzen Schnitt, was ihm ein wenig ein Allerweltsaussehen gab. Er war größer als ich, aber nur um einen halben Kopf. Dafür wirkte er sehr muskulös und stark. Unter seiner lockeren Kleidung konnte ich es nur erahnen, aber er schien regelmäßig Sport zu machen. Bestimmt hatte er einen Sixpack.
Ein kleines Kraftpaket, durchfuhr es mich.
„Ich bin …“, begann ich mich vorzustellen.
„… Remedy“, beendete er den Satz für mich. „Ich weiß, wir haben dich schon erwartet. Es tut mir leid, dass ich zu spät bin.“
Ich zwang mich zu einem Lächeln, auch wenn seine Worte Nathans Aussage bestätigten. Chris musste in meinem Alter sein, also konnte ich mich nicht einmal der Vorstellung hingeben, dass mich ein älterer Schüler in Empfang nahm.
Er kramte in seiner Jogginghose nach einem Schlüssel. „Ich wollte nur kurz Laufen gehen und habe nicht auf die Zeit geachtet. Aber willkommen in London! Ist es dein erstes Mal hier?“
Er ließ mich in die dunkle Vorhalle und nahm meine beiden Koffer ungefragt in die Hände, um sie mir hinterherzutragen. Kurz wollte ich protestieren, dass ich meine Koffer auch allein tragen konnte, aber meine Hände brannten davon, die beiden durch die Stadt geschleppt zu haben.
Er führte mich eine steile Treppe nach oben in den zweiten Stock. Die 4 an der Wohnungstür hatte bereits einen Teil des ehemaligen Goldüberzugs verloren, und ich runzelte die Stirn.
„Es tut mir leid, es ist vielleicht etwas chaotisch. Wir sind in den letzten Tagen nicht zum Aufräumen gekommen“, meinte Chris mit einem entschuldigenden Blick.
Ich musste schlucken. Nun teilte ich mir offenbar die Wohnung nicht nur mit einem Mitschüler, sondern gleich mit einem ganzen Haufen von Chaoten.
„Wie viele Leute wohnen hier?“, fragte ich, um auch den letzten Funken der aufkeimenden Hoffnung in mir zu zerstören.
„Mit dir sind wir zu viert!“
Es erwies sich als schwierig, Chris‘ Lächeln mit der gleichen Freude zu begegnen, die er ausstrahlte.
„Und sind alle …“
„… an der Akademie?“, vollendete Chris meinen Satz. „Ja, natürlich.“
Er stieß die Tür auf und ein paar herumliegende Schuhe zur Seite. Es sah nicht so schlimm aus, wie ich befürchtet hatte. Mein Zimmer zu Hause hatte schlimmer ausgesehen, musste ich mir eingestehen.
Auch der Geruch war nicht unangenehm. Ein leichter Zitrusduft lag in der Luft und ließ die Wohnung heller wirken, als sie war. Er schien aus der immerhin geputzten Toilette zu kommen. Was für ein Empfang.
„Hereinspaziert in das Reich der ersten Klasse“, verkündete Chris und breitete die Arme aus. Dann fügte er verwirrt hinzu: „Ich weiß nicht, wo die anderen sind, aber sie müssten auch bald zurückkommen.“
Durch den schmalen Flur, in den sich die Wohnungstür öffnete, führte er mich in ein etwas abgenutztes, aber sehr gemütliches Wohnzimmer. Zwei Couches standen um einen kleinen Tisch, und an der Wand hing ein großer Flachbildfernseher. Eine sehr altmodisch wirkende Stereoanlage stand daneben, und sie ließ mich an das kaputte Monster denken, das meine Mutter jahrelang nicht hatte aufgeben wollen, weil es sie an ihre Jugend erinnerte.
Mehrere Kaffeetassen standen herum, und ich entdeckte einige Bücher, die sich auf der Couch stapelten, aber das erwartete Chaos suchte ich vergebens.
„Hier ruhen wir uns aus, quatschen und schauen ab und zu mal was. Magst du Serien?“, fragte Chris, der die Stille keine zwei Sekunden zu ertragen schien.
Ich zuckte mit den Schultern. „Schon, aber ich lese lieber Bücher.“
„Ah, dann wirst du dich gut mit Summer verstehen, sie ist auch ein totaler Bücherwurm!“ Chris‘ dunkle Augen strahlten in seinem runden Gesicht.
Ich hoffte, dass er recht behalten sollte – mit meiner Lesesucht war ich außer bei Kyle in meiner alten High School nicht auf viel Verständnis gestoßen.
Rechts an das Wohnzimmer schloss sich ein Essbereich an, wobei der schwere Holztisch mit Papieren und weiteren Büchern übersät war. Hastig klaubte Chris sie zusammen.
„Sorry“, meinte er mit einem Schulterzucken, „wir wollten uns schon mal auf den ersten Schultag vorbereiten, damit wir nicht wie die letzten Trottel dastehen.“
Das würde dann wohl meine Aufgabe sein. Wieder einmal verfluchte ich meinen Vater dafür, sich so früh aus dem Staub gemacht zu haben.
„Sind deine Eltern auch, äh, Jäger?“, fragte ich. Es fühlte sich merkwürdig an, einem fast komplett Fremden gegenüber dieses Geheimnis auszusprechen, nachdem ich es mein Leben lang hatte hüten müssen.
„Natürlich. Die ganze Familie. Meine drei Schwestern, mein Vater und …“ Er sprach den Satz nicht zu Ende. Ein kurzer Schatten schien sich über sein sonst so fröhliches Gesicht zu legen, und er wechselte sofort das Thema: „Hast du Geschwister?“
„Leider nicht“, meinte ich mit ehrlichem Bedauern. Nur zu oft hatte ich mir vorgestellt, wie es wäre, jemanden um mich zu haben, der ebenfalls Magie wirken konnte. Wir hätten viel Spaß gehabt und es wäre weniger … einsam gewesen. „Mein Vater ist zu früh für Geschwister abgehauen“, fügte ich dann hinzu, und ich konnte die Bitterkeit nicht aus meiner Stimme verbannen.
Chris legte mir eine Hand auf die Schulter. „Das tut mir leid“, sagte er mit echtem Bedauern in der Stimme. „Ich könnte mir gar nicht vorstellen, was ich ohne meine Familie gemacht hätte.“
Wieder ging sein Blick in die Ferne, als dachte er an etwas Bestimmtes.
Ich zuckte mit den Schultern, auch, um die Berührung zu lösen. „Es ist in Ordnung. Mit meiner Mom verstehe ich mich super.“
Das erinnerte mich daran, ihr eine Nachricht zu schicken.
Bin heil angekommen, aber ich wohne in einer WG und nicht allein!
Ihre Antwort folgte sofort: Das ist doch schön! Dann muss ich mir keine Sorgen darum machen, dass du einsam bist.
Am liebsten hätte ich das Handy auf die Couch gepfeffert oder ihr in deutlichen Worten klar gemacht, wie sehr ich mich auf mein eigenes Reich gefreut hatte. Aber Chris stand noch immer neben mir, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, als wäre er ein Butler und nicht jemand in meinem Alter.