Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Wir schwebten über der Stadt, und deutlich sah ich die Lichter Londons unter uns in der Finsternis. Der Turm von Big Ben und das Riesenrad an der Themse zeichneten sich gegen den Nachthimmel ab. In jedem anderen Augenblick hätte ich Angst gehabt zu fallen, aber die Hände, die mich hielten, ließen den Gedanken gar nicht erst aufkommen. "Lizzy", hörte ich ihn sagen, und seine tiefe Stimme klang warm und liebevoll. "Vertraust du mir?" Als die 21-jährige Lizzy ein Praktikum bei der größten Anwaltskanzlei von London anfängt, ist sie überglücklich. Doch ihr Boss Elias sieht nicht nur gefährlich gut aus, sondern ist auch streng und arrogant. Wieso erscheint er ihr also in ihren Träumen als sanfter Retter? Seltsame Dinge ereignen sich in der Kanzlei. Lizzy erfährt, dass sie eine Magierin sein soll – sogar die Prinzessin der weißen Magier, die seit Anbeginn der Zeit gegen die dunklen Magier Krieg führen. Und Elias ist ein dunkler Magier. Sie sind Feinde auf Leben und Tod. Lizzy befürchtet, er hat sie mit einem Fluch belegt. Wie wäre sonst zu erklären, dass sie sich magisch zu ihm hingezogen fühlt? Lizzy muss sich entscheiden – zwischen ihrem Gewissen und ihrer Liebe, zwischen Vertrauen und Verrat. Denn eines ist klar: Es kann nur eine Seite gewinnen im Kampf der Magier von London. Verbotene Liebe, magische Kämpfe und unvorhersehbare Wendungen – die rasante Fantasy Liebesgeschichte um Lizzy und Elias hat Leserherzen im Sturm erobert! Für alle, die Romantasy mit Spice mögen. Tropes: - Forbidden Love - Office Romance - He falls first
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 266
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
ANNA HEART
Magier von London
Buch eins
Titel: Magier von London: Buch 1
Autorin: Anna Heart
Verlag: Von Morgen Verlag
Stettiner Straße 20 13357 Berlin
Cover: Jenny-Mai Nuyen
Deutsche Erstveröffentlichung: Berlin 2022
© 2022 Von Morgen Verlag, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Nachwort und Verlosung
„Lizzy!“
Ich kuschelte mich tiefer in die Kissen und zog mir die Decke über den Kopf. Leider blendete es nicht das heftige Klopfen an meiner Zimmertür aus.
„Lizzy, steh auf, wir müssen in einer halben Stunde los!“
In einer halben Stunde?
Was im Halbschlaf nach einer Ewigkeit klang, drang plötzlich in mein Bewusstsein vor. Ich riss die Bettdecke von meinem Kopf und rief, während ich halb aus dem Bett stolperte: „Ich komme!“
Hastig sprang ich unter die Dusche in dem kleinen, kalten Bad, das ich mir mit meiner besten Freundin Jassy teilte. Wir waren zusammen nach London gezogen, sie für ein Semester an der London School of Economics, oder LSE, wie sie mit einem langgezogenen „iiii“-Laut am Ende gern betonte. Ich hatte ein Praktikum bei Jordans, Pfeiffer & Smith ergattert, einer der angesehensten Anwaltskanzleien Londons. Heute war mein erster Tag.
Vor Aufregung hatte ich die letzte Nacht kaum schlafen können. Normalerweise genoss ich meine morgendliche Dusche, doch der Wasserdruck in unserer kleinen Wohnung in Westminster brachte kaum mehr als einen Nieselregen zustande.
Noch unter der Dusche versuchte ich mich an meinen Traum zu erinnern. Es war wieder dieser Traum von dem Mann gewesen. Ich hatte ihn im echten Leben nie getroffen, dennoch kam er mir vertraut vor. Im Traum hob er mich hoch und trug mich, und seine Wärme gab mir das Gefühl, endlich in Sicherheit zu sein. Wovor? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass mich in seinen Armen nichts verletzen konnte. Um uns herum war es immer dunkel, wir waren ganz allein. Nie sah ich sein Gesicht, aber eines wusste ich bestimmt: Wenn ich ihn eines Tages treffen sollte, würde ich ihn erkennen.
„Du hast noch zehn Minuten“, rief Jassy von der anderen Seite der Tür und riss mich aus meinen Erinnerungen. Sie war immer die Organisierte, die morgens noch vor einer Tasse Kaffee eine halbe Stunde Yoga absolvierte, während ich jeden in Erstaunen versetzte, wenn ich pünktlich zu einem Treffen kam.
„Ich bin gleich fertig!“
Im Bademantel huschte ich zurück in mein Zimmer und zog die schwarze Hose und die weiße Bluse an, die ich mir klugerweise am Abend zuvor zurechtgelegt hatte. Dann hopste ich durch unseren schmalen, fensterlosen Flur in dem Versuch, meine Pumps anzubekommen. Bestimmt würden mir am Abend die Füße wehtun, aber das, meinte zumindest Jassy, war ein guter erster Eindruck wert.
Sie lugte aus der Küche und musste lachen, als sie mich mit meinen Schuhen kämpfen sah. „Hier“, sagte sie und hielt mir eine Tasse Kaffee entgegen. Natürlich war sie schon perfekt zurecht gemacht. Ihr dunkles Haar hatte sie zu einem lockeren Knoten gebunden, der ausreichend Professionalität ausstrahlte, dabei aber nicht zu streng wirkte. Ihre haselnussbraunen Augen waren mit Mascara und Eyeliner betont.
„Danke“, nuschelte ich, während ich den Kaffee hinunterkippte.
„Lass mich wissen, wie es läuft“, meinte sie und gab mir einen Klaps auf die Schulter. „Und ob irgendwelche heißen Typen bei euch arbeiten.“
Ich verdrehte die Augen. Seit ich mich vor einem halben Jahr von Vin getrennt hatte, war Jassys einziger Gedanke, dass ich wieder einen Typen brauchte. Dabei fühlte ich mich ohne Freund sehr wohl. Das war auch der Grund, warum ich ihr nie von dem Mann in meinen Träumen erzählt hatte – sie hätte es bloß als weiteres Zeichen dafür gedeutet, dass ich dringend ein romantisches Abenteuer brauchte. Dabei war Jassy in den zweieinhalb Jahren, die ich sie nun bereits kannte, stets Single gewesen, ohne auch nur ein einziges Mal ein Wort über jemanden zu verlieren.
„Ich warte eben auf den Richtigen“, pflegte sie mit einem Schulterzucken zu sagen. Wenn ich darauf hinwies, dass das auch für mich gelten konnte, lachte sie bloß. „Du bist noch jung, du musst rausgehen und deinen Spaß haben.“ Das war stets ihre Antwort, obwohl sie mit ihren zweiundzwanzig nur ein Jahr älter war als ich. Darauf angesprochen lächelte sie nur geheimnisvoll.
„Mach’s gut“, verabschiedete sie mich. „Und halt mich auf dem Laufenden!“
Ich warf ihre eine Kusshand zu und rannte die dunkle, steile Treppe nach unten, wobei ich mit meinen Pumps um ein Haar über meine eigenen Füße gestolpert wäre.
Unter normalen Umständen wäre ich den Weg zur Kanzlei gelaufen, der an Big Ben und der Themse entlangführte, doch es war bereits halb neun und meine Pumps machten das Vorhaben unmöglich. Noch dazu wehte mir ein für London so typischer Nieselregen ins Gesicht, und ich musste die Augen zusammenkneifen, um durch das Grau etwas zu sehen.
Vier U-Bahnhaltestellen später stand ich vor dem riesigen Kasten aus Glas und Stahl. Ich war gestern schon einmal hier gewesen, mit Jassy, damit ich abschätzen konnte, wie lange ich zu meiner neuen Arbeitsstelle brauchte. Am Sonntag hatte der große Platz aus gelbem Sandstein noch einschüchternd leer und weit gewirkt. Jetzt liefen Männer in Anzügen und perfekt gestylte Frauen in schwarzen Kostümen zwischen den Gebäuden herum.
Ich blieb einen Augenblick länger als nötig stehen, um das Kribbeln in meinem Bauch zu unterdrücken. Meine bisherige Berufserfahrung beschränkte sich darauf, in einer Eisdiele hinter der Theke zu stehen. Schließlich holte ich tief Luft und trat durch die Drehtür in das helle Foyer.
Eine blonde Frau, die kaum viel älter sein konnte als ich, lächelte mich hinter einem marmornen Tresen an. „Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie mit einem osteuropäisch klingenden Akzent.
„Ich soll mich bei, äh, Patricia Denham melden“, stammelte ich, während ich auf meinem Handy nach der E-Mail suchte, für den Fall, dass die Empfangsdame Patricia nicht kannte.
Doch sie nickte nur, wobei ihr blonder Pferdeschwanz auf und ab wippte. „Ich rufe sie an, bitte warten Sie hier.“
Sie deutete auf eine Lounge aus schwarzen Ledersofas, die teurer aussahen als die gesamte Einrichtung im Haus meiner Mutter.
Mit klopfendem Herzen nahm ich Platz und versuchte, nicht den Kaffeetisch umzustoßen, auf dem Magazine auslagen. Ich erkannte „Lawyer Monthly“ und „New Law Journal“, doch bevor ich eines davon in die Hand nehmen konnte, hörte ich bereits die metallenen Türen des Aufzugs hinter mir aufgehen.
„Elisabeth, Willkommen!“, sagte eine warme Stimme, der ich das Lächeln anhören konnte.
Ich fuhr herum und stieß dabei beinahe doch noch das Tischchen um. „Hallo“, brachte ich hervor. Ich war mir nicht sicher, ob ich Patricia Denham, immerhin eine der Seniorpartnerinnen der Firma, auch beim Vornamen ansprechen sollte.
Patricia Denham wirkte deutlich jünger, als ich es von jemandem in ihrer Position erwartet hätte. Ihre dunkle Haut und ihre Locken glänzten im Licht der Foyerlampen. Die rot geschminkten Lippen verzogen sich zu einem erstaunlich echt wirkenden Lächeln, und feine Grübchen erschienen in ihrem makellosen Gesicht.
Natürlich hatte ich ihr Foto bereits auf der Website gesehen, doch ihre Schönheit raubte mir für einen Augenblick den Atem. Ihr rotes zweiteiliges Kostüm traf genau die Mitte zwischen lässig und elegant und betonte ihre perfekte Figur an den richtigen Stellen, ohne aufdringlich zu wirken. Ein goldener Reif hing von ihrem schmalen Gelenk, als sie mir die Hand reichte.
Plötzlich kam ich mir in meiner H&M-Bluse billig angezogen vor.
„Willkommen“, sagte sie noch einmal, und ich ergriff ihre Hand.
„Danke“, hauchte ich, unsicher, was ich als nächstes sagen sollte.
Zu meinem Glück übernahm sie das Gespräch mit der Routine einer Frau, die schon lange – und sehr erfolgreich – von Worten lebte.
„Ich hoffe, du hast gut hergefunden? Wo bist du untergekommen?“, fragte sie, während sie mich zum Fahrstuhl dirigierte und eine Chipkarte vor den Kartenleser hielt.
Ich stammelte Antworten, die mir banal und unaufregend vorkamen, doch sie nickte höflich und fragte nach, ob es mein erstes Mal in London wäre, ob ich allein gekommen wäre, und ob ich nicht mein Zuhause vermisste.
Auf die letzte Frage wusste ich keine Antwort. Auch in Exeter wohnte ich mit anderen Leuten zusammen und schon seit Studienbeginn nicht mehr bei meiner Mutter. Aber trotzdem fühlte ich die Distanz stärker in der großen Stadt, die so anders war als das Dörfchen in Cornwall, in dem ich aufgewachsen war.
Inzwischen waren wir im elften Stock angekommen, und hinter zwei Glastüren sah ich das Logo der Firma prangen. Für einen Augenblick erlaubte ich mir davon zu träumen, auch eines Tages in ein Büro zu kommen, in dem mein Name an der Wand hing. Dann erinnerte ich mich schuldbewusst, dass es nicht der Name über der Tür sein sollte, der mich motivierte. Schließlich wollte ich Anwältin werden, um die Welt ein bisschen gerechter zu machen. Dafür war ich hier.
Patricia führte mich in eines der Büros, die rund um das Großraumbüro installiert worden waren. Auf dem penibel aufgeräumten Mahagonitisch befanden sich lediglich ein Laptop und ein Namensschild, auf dem „Patricia Denham“ stand. Ich setzte mich in den gemütlichen Sessel vor dem Schreibtisch. Die vom Boden zur Decke gehenden Fenster zeigten die Londoner City.
Und da sah ich ihn.
Es war nur eine Reflexion in der Scheibe, aber mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich fuhr herum. Jemand im Flur draußen verschwand um die Ecke. Ich hatte kaum mehr als einen Anzug gesehen, eine athletische Figur und schwarze Haare. Dennoch war ich mir sicher, dass es der Mann aus meinen Träumen gewesen war.
Es war mehr ein Gefühl als eine Gewissheit. Ich konnte mich nicht daran erinnern, im Traum jemals sein Gesicht gesehen zu haben, doch er war mir inzwischen so vertraut, dass ich ihn in einer Gruppe von hundert Leuten erkannt hätte.
Patricia räusperte sich, und ich drehte mich wieder zu ihr um. Jetzt war nicht die Zeit, um über irgendwelche Männer aus irgendwelchen Träumen nachzudenken.
„Du wirst eng mit mir zusammenarbeiten“, sagte sie mit einem Lächeln, und dann, etwas ernster: „Wir haben dich aus über zweihundert Bewerberinnen ausgewählt. Ich erwarte viel von dir.“
Ich wusste nicht, ob das ein Lob oder eine Drohung war.
„Danke“, sagte ich, weil mir nichts Besseres einfiel. Am liebsten hätte ich ihr die Frage gestellt, die mich schon seit dem Tag umtrieb, als ich den Anruf aus London mit der Zusage erhalten hatte: Warum ich? Meine Noten waren gut, aber nicht herausragend. Und im Gegensatz zu vielen meiner Kommilitonen hatte ich keine Eltern in den angesehensten Anwaltskanzleien Großbritanniens vorzuweisen. Wenn Jassy mich nicht dazu gezwungen hätte, hätte ich mich nicht einmal beworben.
Aber anstatt die Frage zu stellen, hielt ich den Mund und hörte zu, wie Patricia mir meine Aufgaben erklärte, mich durch den Onboarding-Prozess führte und mich dann in die Hände eines kompetent aussehenden IT-lers übergab. Der Mann setzte geduldig mit mir meinen Computer auf. Dann wartete er, bis ich alle meine Passwörter kreiert hatte, und übergab mir am Ende feierlich meine Karte für den Eingang. Das Logo der Firma prangte darauf, und darunter stand mein Name: Elisabeth Davis. Ich konnte mir ein stolzes Lächeln nicht verkneifen – mein Name auf einer Zugangskarte zu Jordans, Pfeiffer & Smith!
Ich saß einige Minuten auf meinem Platz im Großraumbüro und starrte diese Karte an, bis mich eine sanfte Stimme unterbrach: „Als ich angefangen habe, saß ich genauso da.“
Ich drehte mich um und sah eine junge Frau auf dem Platz neben mir. Sie lächelte, ihr rundes, braunes Gesicht erhellt von der Freude, dass es jemandem genauso ging wie ihr. Im Gegensatz zu den meisten Frauen hier trug sie keinen Rock, sondern einen Hosenanzug, der ihr auf den Leib geschneidert schien.
Sie streckte die Hand aus. „Mary“, stellte sie sich vor. „Ich bin eine der Anwaltsgehilfinnen hier.“
„Elisabeth. Aber du kannst mich Lizzy nennen“, beeilte ich mich zu sagen.
Ihre dunklen Augen blitzten freundlich auf. „Sehr gut, willkommen, Lizzy. Wie lange bleibst du?“
„Ein halbes Jahr. Ich mache ein Praktikum im Rahmen meines Studiums.“
Überrascht zog sie die dichten Augenbrauen hoch. „Ich wusste gar nicht, dass wir Praktikanten für ein halbes Jahr nehmen.“
Das mulmige Gefühl, dass ich bereits im Gespräch mit Patricia gehabt hatte, kehrte zurück. War ich nur aufgrund einer Verwechslung an dieses Praktikum gekommen?
Mary schien meine Sorge zu erraten und klopfte mir freundlich auf die Schulter. „Wahrscheinlich eine Änderung in der Firmenrichtlinie, von der ich nichts wusste.“
Den Rest des Tages verbrachte ich damit, eine Reihe Trainings zu machen, unter anderem über Belästigung am Arbeitsplatz, auch wenn ich mir in der konzentrierten Stille des Büros kaum vorstellen konnte, dass irgendjemand mich belästigen würde.
Auch Mary starrte auf ihren Bildschirm, tippte mit ihren rot lackierten Fingernägeln auf ihre Tastatur ein und schien komplett versunken in ihre Arbeit.
Patricia nahm mich mit zum Mittagsessen und redete die gesamte Zeit über ihren neusten Fall, bei dem es um Wirtschaftsbetrug ging. Ich versuchte, kluge Kommentare einzuwerfen und quälte mir die besten Gedanken aus dem Gehirn.
Es fing schon an, dunkel zu werden, als Mary neben mir den Laptop zuklappte und sagte: „So. Jetzt auf ein Feierabendbier – bist du dabei?“
Ich war nur zu froh, das siebte Training darüber zu beenden, wie man seine Reisekostenabrechnungen korrekt einreichte, und nickte. „Sehr gern!“
Auf dem Weg nach draußen warf ich einen Blick in jedes Büro in der Hoffnung, noch einmal den Mann aus meinen Träumen zu sehen. Als ich ihn nicht entdeckte, schüttelte ich über mich selbst den Kopf.
Vielleicht hatte Jassy recht und ich brauchte wirklich ein romantisches Abenteuer.
Eine Gruppe von Angestellten sammelte sich im Foyer und brach zu einem Pub in der Nähe auf. Der Pub erwies sich als typische englische Kneipe mit niedrigen Decken, dunklen Holzmöbeln und einem grünen Teppichboden, der schon viele verschüttete Drinks aufgesogen haben musste. Laternen an der Wand tauchten alles in eine schummerige Atmosphäre. Wir setzten uns an einen der wackeligen Ecktische, während zwei meiner neuen Kollegen zur Bar gingen, um unsere Getränke zu besorgen.
Ich tippte noch eine Nachricht an Jassy, damit sie sich nicht wunderte, wo ich blieb.
Hi Darling, ich bin noch mit Kollegen was trinken. Komme so in ein, zwei Stunden.
Sie antwortete sofort, was etwas ungewöhnlich für sie war. Normalerweise sah ich die beiden blauen Haken hinter der Nachricht, aber hörte dann mehrere Stunden nichts von Jassy.
Das ist schön – in welcher Kneipe seid ihr?
Der Pub heißt „Great Expectations“, glaube ich.
Ich wollte das Handy schon wieder in meine Handtasche stecken, weil auf die beiden blauen Haken wie üblich nichts folgte, doch dann vibrierte mein Telefon.
Okay. Bleib, wo du bist, ich hole dich in einer Stunde ab. Bitte geh nicht allein nach Hause, es ist schon dunkel.
Ich lächelte amüsiert. Jassy führte sich manchmal wie meine Mutter auf – wenn meine Mutter überfürsorglich gewesen wäre.
Keine Sorge, ich nehme die U-Bahn, es wird schon nichts passieren.
Bitte warte auf mich. Ich hole dich ab. Bis später!
Auf meine beschwichtigende Nachricht und meine erneute Versicherung, dass ich auch allein nach Hause finden würde, kam keine Antwort mehr. Ich zuckte mit den Schultern und wandte mich wieder meinen Cider und meinen neuen Kollegen zu, die gerade vom größten Fall von Jordans, Pfeiffer & Smith erzählten. Natürlich kannte ich die Geschichte, aber ich hörte sie mir gern noch einmal an. Vor zwei Jahren hatte es einen Doppelmord gegeben, und Elias Jordans, einer der Mitbegründer der Firma, hatte den mutmaßlichen Mörder vertreten. In einer Beweisführung, die Sherlock Holmes alle Ehre gemacht hatte, hatte er nicht nur die Unschuld seines Klienten bewiesen, sondern auch den tatsächlichen Mörder überführt.
„Es war fast, als wäre er bei der ganzen Sache dabei gewesen“, sagte einer meiner Kollegen, der sich als Martin vorgestellt hatte. In seinem maßgeschneiderten Anzug und mit seiner Hornbrille erinnerte er mich an das Klischeebild eines Anwalts. „Wie er Schritt für Schritt durch den Fall durchgegangen ist, das war der Wahnsinn.“
Mein Bauch kribbelte bei dem Gedanken, dass ich den berühmten Elias Jordans eines Tages vielleicht auf dem Gang sehen würde. Ich stellte mir einen älteren Herrn vor, der ernst über die Gläser seiner Halbmondbrille in den Raum schaute, um zu überprüfen, dass jeder seiner Angestellten auch fleißig arbeitete. Im Gegensatz zu den anderen beiden Partnern war von ihm kein Foto auf der Website gewesen, und eine Google-Suche hatte mich auch nicht weitergebracht. Selbst von dem berühmten Fall gab es nur Zeichnungen vom Klienten, keine von seinem Anwalt, obwohl sein Name in jedem Zeitungsartikel auftauchte.
„Wie ist er so, dieser Mr. Jordans?“, fragte ich Mary, die neben mir saß.
Sie zuckte nur mit den Schultern. „Man sieht ihn kaum, die meiste Zeit ist er entweder auf Reisen oder in seinem Büro. Scheint ganz nett zu sein, aber er meidet andere Menschen im Allgemeinen.“ Sie überlegte. „Aber das heißt nicht, dass er nicht gut mit Menschen klarkommt. Im Gerichtssaal schafft er es, jede Jury um den Finger zu wickeln.“
Ich nickte und versuchte, meine Hoffnung zu unterdrücken, unseren berühmten Chef eines Tages zu treffen.
Gerade wollte ich etwas sagen, als Mary an mir vorbeischaute und die Stirn runzelte. Ich folgte ihrem Blick und sah einen Mann allein an einem der Tische in der Ecke sitzen, ein unberührtes Bier vor sich. Der Mann wandte schnell den Kopf ab, aber ich hatte keine Zweifel, dass er uns beobachtet hatte.
Fragend sah ich zu Mary, die bloß mit den Schultern zuckte. „Irgendein Weirdo.“
Aus den Augenwinkeln beobachtete ich den Mann weiter. Kaum hatte Mary ihren Blick abgewandt, starrte er wieder zu mir herüber. Als würde er versuchen, sich zu erinnern, woher er mich kannte.
Er schien nur wenig älter als ich zu sein und erweckte nicht den Eindruck, als wäre er ein heruntergekommener Spinner. Im Gegensatz zu den meisten Anzugträgern in der Kneipe hatte er ein Hemd und eine Jeans an, die jedoch sauber und gepflegt wirkten. Seine Armmuskeln spannten sich unter dem Shirt, als er sich nach vorne beugte und meinen Blick erwiderte.
Ich ignorierte ihn und wandte mich wieder der Unterhaltung zu.
Früher als erwartet begann die Runde, sich aufzulösen, mit der vielfach gemurmelten Entschuldigung, am nächsten Tag viel zu tun zu haben.
Ich verabschiedete mich von meinen neuen Kollegen. Draußen wehte mir der Wind ins Gesicht, eine willkommene Abwechslung nach der stickigen Luft in der Kneipe. Ich schaute auf mein Handy und sah, dass Jassy mir nicht geantwortet hatte.
Ich komme jetzt nach Hause, hat doch nicht so lange gedauert. Bis gleich!
Sofort vibrierte mein Telefon.
Nein, warte auf mich! Ich bin gleich da. Fünfzehn Minuten!
Unschlüssig stand ich vor der Eckkneipe und sah in beide Richtungen. Ein Taxi fuhr vorbei, aber ansonsten war die Straße menschenleer. Die Laternen malten Kreise aus Licht in die Dunkelheit. Es hatte wieder zu nieseln begonnen, und die Vorstellung, mit meinen von den Pumps schmerzenden Füßen eine Viertelstunde lang einfach nur herumzustehen, erschien mir nicht sonderlich verlockend.
Neben mir hörte ich das Klacken der Tür des Pubs. Mein Atem stockte. Es war der Mann, der mich beobachtet hatte.
Seine hellgrauen Augen fixierten mich. „Lizzy“, sagte er leise, doch seine Stimme fuhr durch meinen Körper, als hätte er mich in ein Eisbad geworfen.
„Woher …“, begann ich, doch er hatte schon die Hände gehoben. Irritiert starrte ich auf seine ausgestreckten Finger, die einen halben Meter von mir entfernt in der Luft schwebten, bevor er sie zu einer Faust schloss. Im selben Moment schnürte sich mir die Kehle zu.
Ich versuche verzweifelt einzuatmen, aber es war, als würde mir jemand den Hals zudrücken.
Meine Hände gingen zu meiner Kehle, versuchten vergeblich, ein Seil zu ertasten, aber da war nichts. Schwarze Punkte tanzten in meinem Sichtfeld. Ich starrte in die grauen Augen des Mannes und las meinen eigenen Tod darin. Verzweifelt schüttelte ich den Kopf, und Angst rauschte mir in den Ohren. Nein, nein, nein, dachte ich, aber kein Wort kam aus meiner zugeschnürten Kehle.
Ein Blitz erstrahlte. Der Mann flog rückwärts und krachte in die Steinwand.
Ich sank auf meine Knie und sog röchelnd die Luft ein. Noch immer spürte ich den Druck um meinen Hals, aber die Kraft, die mich gewürgt hatte, war verschwunden. Alles drehte sich um mich herum, und ich sah, wie der Mann auf die Füße sprang, die Hände zum Kampf erhoben. Ein weiterer Blitz sauste durch die Luft und traf ihn in die Brust.
Langsam drehte ich mich um, doch bevor ich sehen konnte, woher die Blitze stammten, wurde mir schwarz vor Augen. Ich spürte, wie ich zu Boden sackte.
Doch dann hob mich jemand auf. Ein fremder und doch vertrauter Geruch nach Meer und Holz stieg mir in die Nase, und er erfüllte mich mit einer wohligen Wärme.
Aus weiter Ferne glaubte ich Jassy zu hören, die aufgeregt fragte: „Was ist passiert? Geht es dir gut?“
Eine Antwort brachte ich nicht zustande. Alles versank im Dunkeln.
Der Mann aus meinen Träumen trug mich durch die Dunkelheit und ich wusste, dass mich nichts verletzten konnte. Ich spürte seine starken Arme um mich, spürte, wie sich die Muskeln in seiner Brust bei jedem Schritt bewegten. Ich versuchte die Augen zu öffnen, um sein Gesicht zu sehen, doch meine Lider waren zu schwer.
Erschrocken fuhr ich hoch und wusste für einen Augenblick nicht, wo ich war. Verwirrt sah ich mich um, entdeckte einen Schreibtisch und einen Stuhl, über dessen Lehne ein Pyjama hing, und erkannte schließlich mein Zimmer.
Ich versuchte aufzustehen, doch meine Kraft reichte nicht aus. Ich wollte nach Jassy rufen, aber brachte nur ein Krächzen zustande. Meine Kehle schmerzte noch immer. Also war der Angriff kein Traum gewesen … Es war wirklich passiert.
„Lizzy?“ Jassy öffnete die Tür und stürzte herein, als sie sah, dass ich wach war. „Wie geht es dir?“
Vorsichtig, als wäre ich ein zerbrechlicher Gegenstand, ließ sie sich neben mir auf dem Bett nieder und strich mir die Haare aus der Stirn. Besorgnis stand ihr ins Gesicht geschrieben.
„Was … was ist passiert?“, fragte ich schwach.
„Du bist von einem Mann angegriffen worden. Ich konnte ihn gerade noch vertreiben, bevor ...“
Verwirrt schüttelte ich den Kopf. „Er hat … Er hat etwas mit seinen Händen gemacht, aber er hat mich nicht berührt, wie … Und dann war da dieser andere Mann, der Mann aus meinen Träumen, und Lichtblitze …“
Beruhigend strich mir Jassy über die Stirn. „Kein Wunder, dass du verwirrt bist, nach dem, was du hast durchmachen müssen. Dieser verrückte Typ hat versucht, dich zu erwürgen. Zum Glück ist er weggerannt, als ich kam.“
Heftig schüttelte ich den Kopf. „Nein, da waren Lichtblitze, die ihn zurückgeworfen haben, und dann …“
Sie lächelte gequält. „Das muss der Luftmangel gewesen sein, der dir das vorgegaukelt hat. Da waren keine Lichtblitze und auch kein anderer Mann, glaub mir.“
Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, mich an die Details zu erinnern. Was Jassy sagte, war nicht die ganze Wahrheit. Der Mann aus der Bar hatte meinen Namen gesagt, und dann die Hände gehoben, und dann …
Aber das konnte nicht sein.
Ich lächelte mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte. „Na gut, es klingt auch ein bisschen verrückt, was ich da erzähle.“
Jassy lachte, aber es klang nicht froh. „Du bist jetzt in Sicherheit, das ist das Wichtigste. Und“, sie hob streng ihren Zeigefinger, „wenn ich dir das nächste Mal sage, dass du auf mich warten sollst, dann wartest du drinnen, okay?“
Ich nickte. Dann fiel mir etwas anderes ein. „Hat die Polizei den Typen geschnappt?“
Jassy sah erstaunt aus, dann schüttelte sie den Kopf. „Nein.“
Ihre Antwort überraschte mich. „Hast du nicht … Hast du nicht die Polizei gerufen?“
Sie öffnete den Mund, dann schloss sie ihn wieder. „Ich habe nicht daran gedacht“, gab sie schließlich zu.
„Aber wir müssen die Polizei informieren! Was, wenn dieser Verrückte noch mehr Leute angreift? Und er kannte meinen Namen, was …“ Was, wenn ihn jemand auf mich angesetzt hatte, wollte ich sagen, aber es klang zu absurd, um es auszusprechen.
Jassy schüttelte heftig den Kopf. „Wahrscheinlich hat er ihn einfach aufgeschnappt, als du dich mit deinen Kollegen unterhalten hast. Mach dir keine Gedanken, ruh dich jetzt am besten aus, und morgen informieren wir die Polizei.“
Ich wollte noch etwas einwenden, aber sie stand auf, zog energisch die Decke über mich und schaltete dann das Licht aus. „Gute Nacht. Und ruf einfach nach mir, wenn du etwas brauchst.“
Ich lag lange im Dunkeln und ging die Ereignisse des Abends immer wieder in meinem Kopf durch. Je länger ich darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher kam es mir vor, dass der Mann versucht hatte, mich mit magischen Kräften aus der Ferne zu erwürgen. Jassys Version der Ereignisse klang plausibel, auch wenn es nicht weniger beruhigend war, dass ein komplett Fremder versucht hatte, mich umzubringen.
Nebenan hörte ich Jassy aufgeregt mit jemandem telefonieren, aber ich konnte kein Wort verstehen.
Langsam driftete ich in einen unruhigen Schlaf. Immer wieder träumte ich denselben Traum von dem Mann, der mich aufhob und in den Armen trug, und immer wieder erwachte ich beruhigt, bis mir der Angriff wieder in den Sinn kam. Schon früher hatte ich diesen Traum gehabt, doch seit wir nach London gezogen waren, träumte ich ihn fast jede Nacht. Unruhig wälzte ich mich hin und her. Jassy hatte mir versichert, dass da kein anderer Mann gewesen war, doch dieses Gefühl von Geborgenheit überkam mich immer wieder, sobald ich die Augen schloss.
Schließlich klingelte mein Wecker, und ich stellte fest, dass ich die ganze Nacht in meiner Arbeitskleidung im Bett gelegen hatte. Übermüdet ging ich duschen und versuchte, im warmen Wasser die Erinnerung an den Angriff loszuwerden.
Wie eine Schlafwandlerin ging ich zur Arbeit. Meine Vorfreude darauf, die Karte mit meinem Namen vor das Lesegerät zu halten und das Licht daneben grün aufleuchten zu lassen, war verflogen. Ich konnte mir kaum vorstellen, mich an diesem Tag auf die Arbeit zu konzentrieren. Als Mary mich fragte, ob ich gestern gut nach Hause gekommen war, nuschelte ich nur eine unverständliche Antwort.
Patricia grüßte mich mit dem offenen Lächeln, das ich inzwischen mit ihrem Gesicht verband.
„Guten Morgen“, sagte sie, nachdem sie mich in ihr Büro gerufen hatte. „Diesen Freitag wird der neue Fall vor Gericht verhandelt, und ich möchte, dass du ein bisschen Recherche zu ähnlichen Fällen machst. Ich brauche eine Übersicht über die Verteidigung, die in solchen Fällen üblicher Weise vorgebracht wird. Kannst du das bis heute Nachmittag erledigen?“Enthusiastisch nickte ich – mein erster Fall! Auch wenn es nicht wirklich mein eigener war, so war es doch aufregend, endlich in die Welt der Anwälte einzutauchen.
Den Tag verbrachte ich mit der Recherche in allen Zeitungen und Fachzeitschriften, die mir zur Verfügung standen. Dann fasste ich die Fälle zusammen und schickte sie mit klopfendem Herzen in einer E-Mail an Patricia. Keine zwei Minuten später kam eine Mail zurück: Vielen Dank.
Mehr nicht. Was hatte ich erwartet? Überschwängliches Lob? Die Aussage, dass noch nie eine Praktikantin derart Großartiges an ihrem zweiten Tag vollbracht hatte?
Ich erinnerte mich an Marys Bemerkung, dass die Firma normalerweise keine Studenten für Praktika aufnahm, und fürchtete wieder, dass ich aufgrund eines Missverständnisses hier war. Dann beschloss ich, dass es keinen Sinn hatte, mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Ich war hier, und nur das zählte.
Am Ende des Tages lud mich Mary wieder in den Pub ein, doch ich schüttelte den Kopf.
„Ich habe noch Pläne für heute Abend“, log ich.
Sie zwinkerte mir zu. „Oh, ein Mann? Dann will ich dich natürlich nicht aufhalten!“
„Nein, nein“, wehrte ich ab. „Ich bin mit einer Freundin verabredet.“ Gewissermaßen stimmte das sogar, schließlich erwartete Jassy mich zu Hause und wir könnten uns einen gemütlichen Abend mit Filmen und Mikrowellenpopcorn machen.
Auf dem Weg zur U-Bahn und während der Fahrt sah ich mich immer wieder um, doch alle starrten bloß auf ihre Smartphones. Niemand beobachtete mich oder sah so aus, als würde er mich im nächsten Moment angreifen.
Zu Hause wartete Jassy bereits auf mich.
„Wie geht es dir?“, fragte sie und schloss mich besorgt in ihre Arme.
Es fiel mir schwer, auf diese Frage zu antworten. „Gut“, log ich, auch wenn das angespannte Gefühl in meinem Bauch, das sich auf dem Rückweg eingestellt hatte, noch immer da war.
Wir kuschelten uns in Pyjamas auf die Couch im überfüllten Wohnzimmer. Jeder vorherige Bewohner hatte etwas zurückgelassen, und so stapelten sich Bücher in allen möglichen Sprachen, hässliche Figürchen aus Andenkenläden und längst verstorbene Zimmerpflanzen auf den zwei Regalen, die den Fernseher umrahmten.
„Was wollen wir schauen?“, fragte Jassy, aber sah dann den Ausdruck auf meinem Gesicht und legte die Fernbedienung auf den Couchtisch zurück. „Sicher, dass alles in Ordnung ist?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich muss immer noch an das denken, was gestern Nacht passiert ist“, gestand ich schließlich. Mir fiel wieder ein, dass wir die Polizei informieren sollten, aber es nicht getan hatten. Nun kam es mir dafür zu spät vor.
Jassy legte einen Arm um mich. „Es tut mir so leid, dass dir das passiert ist“, sagte sie und strich mir über den Kopf. „Was für ein schreckliches Erlebnis. Aber ich hoffe, du wirst bald einfach nicht mehr daran denken.“
„Das ist es nicht“, meinte ich, aber wollte auch nicht wieder die Geschichte der magischen Kräfte meines Angreifers aufbringen. In meiner Erinnerung verschwamm bereits alles, die kräftigen Arme des Mannes, der mich aufhob und trug, wurden zu Jassys schlanken Armen, auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, wie sie mich hätte halten sollen. Besonders stark wirkte sie auf mich nicht, auch wenn sie beim Bouldern jeden Fitnessstudiopumper in die Tasche steckte.
„Wie hast du mich überhaupt nach Hause bekommen?“, fragte ich neugierig.
„Ich habe ein Taxi gerufen“, sagte sie sofort und für meinen Geschmack etwas zu schnell. „Das hat uns nach Hause gefahren.“
„Ah“, machte ich und verkniff mir die Frage, ob der Taxifahrer sich nicht Sorgen gemacht hatte, einen bewusstlosen Körper auf dem Rücksitz zu transportieren. Dann wiederum war es London, nicht Exeter, und keiner interessierte sich hier für die Belange anderer Menschen, dafür liefen zu viele Verrückte auf den Straßen herum.
Verrückte wie der Mann, der versucht hatte, mich umzubringen.
Ein Frösteln stieg in mir auf und ich zog die Knie näher an meinen Körper.
„Mach dir keine Sorgen, du wirst ihn nicht wiedertreffen“, meinte Jassy, und die Bestimmtheit in ihrer Stimme klang tatsächlich beruhigend. „Dafür ist die Stadt zu groß“, fügte sie schnell noch hinzu.
„Du hast recht“, sagte ich und lehnt den Kopf an ihre Schulter. „Lass uns irgendeinen dummen Film schauen, damit ich es vergesse.“
In der Nacht träumte ich wieder von dem Mann. Wir schwebten erst über dem Boden, dann über der Stadt. Deutlich leuchtete London unter uns in der Finsternis. Der Turm von Big Ben zeichnete sich gegen den Himmel ab, und das Riesenrad an der Themse war eine feine weiße Struktur vor dem Schwarz des Flusses.
In jeder anderen Situation hätte ich Angst gehabt zu fallen, aber die Hände, die mich hielten, flößten mir Ruhe und Geborgenheit ein.
„Lizzy“, hörte ich ihn sagen, und seine tiefe Stimme klang warm und liebevoll. „Du kannst mir vertrauen.“
Ich wollte seinen Namen aussprechen und mir wurde bewusst, dass ich ihn nicht kannte. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass er mir auf der Zunge lag, als könnte ich mich daran erinnern, wenn ich mich nur genug anstrengte.
„Lizzy!“, schreckte mich eine andere, strengere Stimme aus dem Schlaf. Jassy stand an meinem Bett und zog mir die Decke weg. „Du musst aufstehen, es ist schon viertel nach acht!“
Seufzend kletterte ich aus dem Bett, obwohl ich mich lieber zurück in die Wärme des Bettes und die Arme meines Retters begeben hätte.
Der Traum ließ mich nicht los, auch als ich wieder an meinem Arbeitsplatz saß.
„Was ist denn los mit dir? Du wirkst so … abwesend“, stellte Mary fest, und ich nickte erst und schüttelte dann den Kopf. „Ich brauche nur einen Kaffee.“
„Hat Patricia dir noch nicht die Küche und die Kaffeemaschine gezeigt? Komm mit!“
Dankbar trottete ich hinter Mary her, die mich in eine große, einladende Küche führte. Neben dem Kaffeeautomaten gab es auch eine Box mit Snacks, und ich griff mir einen Müsliriegel.