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Wenn sie die Augen schließt, beginnt Alice zu träumen - von Lavendelfeldern, Olivenbäumen und dem glitzernden Mittelmeer der Côte d’Azur. Seit ihrer Scheidung quält sie die Sehnsucht nach ihrer Heimat, und sie fühlt sich in Deutschland wie gefangen. Denn ihr Plan, gemeinsam mit ihrem achtjährigen Sohn Elias in die Provence zurückzukehren, wird von ihrem Ex-Mann, der das Sorgerecht mit ihr teilt, torpediert. Er will um keinen Preis, dass sein Sohn so weit von ihm fort geht.
Als Alice den charmanten Familienanwalt Martin Franz kennenlernt, fahren ihre Gefühle auf einmal Achterbahn. Martin soll ihr zwar eigentlich helfen, ihren Traum vom Leben in Frankreich juristisch durchzusetzen, aber am Ende könnte er auch derjenige sein, der das Leben in Deutschland für sie wieder äußerst attraktiv macht ...
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Seitenzahl: 137
Cover
Wo wir zwei zu Hause sind
Vorschau
Impressum
Wo wir zwei zu Hause sind
Alice und ihr Sohn suchen einen Ort zum Glücklichsein
Von Marlene Menzel
Wenn sie die Augen schließt, beginnt Alice zu träumen – von Lavendelfeldern, Olivenbäumen und dem glitzernden Mittelmeer der Côte d'Azur. Seit ihrer Scheidung quält sie die Sehnsucht nach ihrer Heimat, und sie fühlt sich in Deutschland wie gefangen. Denn ihr Plan, gemeinsam mit ihrem achtjährigen Sohn Elias in die Provence zurückzukehren, wird von ihrem Ex-Mann, der das Sorgerecht mit ihr teilt, torpediert. Er will um keinen Preis, dass sein Sohn so weit von ihm fort geht.
Als Alice den charmanten Familienanwalt Martin Franz kennenlernt, fahren ihre Gefühle auf einmal Achterbahn. Martin soll ihr zwar eigentlich helfen, ihren Traum vom Leben in Frankreich juristisch durchzusetzen, aber am Ende könnte er auch derjenige sein, der das Leben in Deutschland für sie wieder äußerst attraktiv macht ...
Alice Menard drückte auf den roten Hörer ihres Telefons und seufzte wehmütig. Die Stimme ihrer Mutter Marie hatte ihr gutgetan. Sie merkte in solchen Momenten, wie sehr sie doch ihre Familie vermisste.
»Maman?«, rief ihr Sohn Elias aus dem Nebenzimmer. Mal redete er Deutsch, mal Französisch, weil er mit beiden Sprachen aufgewachsen war. »Maman, kommst du?«
Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und ging nach nebenan in sein Kinderzimmer.
Stolz präsentierte er ihr den Turm, den er aus Bauklötzen erschaffen hatte.
»Wow, ist der groß!« Alice verdrängte ihre Trauer sofort, als sie ihrem freudestrahlenden Sohn in die dunkelblauen Augen sah, die er von ihr hatte. Auch sein dunkelblondes Haar war dem ihren ähnlich, allerdings hatte er Locken wie sein Vater.
»Schmeißt du ihn mit mir um?« Er grinste breit.
Alice stellte sich neben den Turm, der ihr bis zum Kinn reichte und Elias weit überragte. Das würde einen Höllenlärm für die Nachbarn unter ihnen geben, aber den Spaß war es ihr wert. Elias glücklich zu sehen, war ihr einziges Bestreben, seit er unter der Trennung seiner Eltern litt und ständig hin und her geschoben wurde.
Sie warfen das Bauwerk zusammen um und lachten dabei. Die Bauklötze polterten auf das alte Parkett, aber schon nach wenigen Sekunden war der Spaß vorüber.
Alice wuschelte Elias durch die Lockenpracht und zog ihn an sich. »Weißt du, dass ich dich lieb habe?«
»Na klar!«, rief er und sah zu ihr auf. »Was hast du, Maman?«
Alice schluckte. Elias war sensibel und erkannte immer, wenn sie etwas bedrückte. »Ach, weißt du, ich musste vorhin nur an Frankreich denken.«
»An dein altes Zuhause in der Provence?«, fragte er und sammelte von selbst die Klötze ein.
Seit Alice vermehrt darauf achtete, Elias nach französischem Vorbild zu erziehen, war der Junge wie verwandelt. Tobsuchtsanfälle oder Bockigkeiten waren zur Seltenheit geworden. Leider fuhr Alices Ex-Mann Peer ihr immer wieder in die Parade und brachte den Jungen ganz durcheinander. Sie würde bei Gelegenheit das Gespräch mit ihm suchen.
»Ja, an die Provence«, sagte sie mit kehliger Stimme und räusperte sich. »Es wird Zeit, dass wir wieder hinfahren. Du hast die Lavendelfelder nur als Kleinkind gesehen.«
Elias nickte. »Ich weiß, ich habe Bilder gesehen. Da waren du und Papa noch zusammen.«
Wieder entstand ein Kloß in ihrem Hals. Elias wirkte zwar fröhlich und glücklich, aber wie es wirklich in ihm aussah, konnte auch sie als Mutter nicht wissen. Kinder hatten die Gabe, viel Schmerz herunterzuschlucken und still zu ertragen.
Sie zog ihn noch einmal in eine Umarmung. Er war zum Glück in einem Alter, in dem er sich noch umarmen ließ. Das würde mit der Pubertät wahrscheinlich enden.
»Alles okay?«, fragte er verunsichert. Heute war sie aber auch extrem anhänglich! »Hast du geweint?«
»Nein, alles gut, mon chéri.« Alice küsste ihn auf den Scheitel und half ihm beim Aufräumen.
Im Anschluss stellte sie das Essen auf den Tisch, das im Ofen fertig gegart hatte. Elias' Lieblingsessen, das er nur bei ihr bekam. Das Gratin Dauphinois war eine französische Spezialität mit Kartoffeln, Butter und Sahne. Das Besondere daran war, dass das Gratin, obwohl es so hieß, keinen Käse hatte.
Elias liebte das Essen seiner Mutter, aber ganz besonders das Gratin Dauphinois, das ihm Peer nicht kochte. Alices Ex-Mann stellte Elias meistens einen lieblosen Kartoffelsalat aus dem Supermarkt und ein paar Bockwürste vor die Nase. Er hätte keine Zeit zum Kochen, betonte er jedes Mal, wenn sie ihn darauf ansprach.
Elias saß ruhig und ohne zu zappeln am Tisch, aß immer das, was sie ihm vorsetzte, und spielte nicht mit dem Essen, wie es andere Kinder häufig machten.
Erst letzte Woche war Alice bei einer Freundin zu Hause gewesen, deren Zwillinge Tomatensoße an den Wänden und Stuhllehnen verteilt hatten. So ein Verhalten hatte sie bei ihrem Sohn noch nie erlebt.
Nach dem Essen ging Elias wieder spielen, und Alice legte die Beine hoch und stellte den Fernseher an. Sie fand zufällig eine Dokumentation über die Provence und wurde beim Anblick der riesigen Lavendelfelder, die in der Sonne herrlich aussahen, noch sehnsüchtiger.
Es zerriss ihr beinahe das Herz, dass sie nicht dort sein konnte, wo ihre Eltern, Großeltern und ihre Schwester lebten. Sie war die Einzige, die in Deutschland ein Leben mit Mann und Kind aufgebaut hatte. Nun zog es sie seit einer Weile zurück in die Heimat.
Alice verhinderte, dass sie zu sehr jammerte. Erst recht wollte sie ihrem Sohn, ihrem größten Schatz auf Erden, nicht die Schuld für ihr Bleiben geben. Aber tatsächlich hatte sie keine andere Wahl, da sie sich das Sorgerecht mit Peer teilte. Und solang dieser nicht einlenkte, würde Elias dortbleiben, wo er geboren worden war.
Als die Kamera zur Côte d'Azur mit ihrem kristallklaren, azurblauen Wasser schwenkte, weinte Alice still und heimlich.
♥♥♥
»Beeil dich, Elias, dein Vater wartet sicher schon am Spielplatz!«, rief Alice und schlüpfte in die Schuhe. »Du weißt, wie pünktlich er immer ist!«
»Ich komme schon!«, war die Antwort darauf, und tatsächlich kam Elias keine Minute später aus seinem Zimmer. Er hatte ein selbstgemaltes Bild dabei. »Das ist für Papa.«
Alice sah darauf drei Personen, die sich an den Händen hielten. Es sollten eindeutig sie, Peer und Elias sein. Eine glückliche Familie, die bereits seit mehreren Jahren nicht mehr bestand. Elias wünschte sich also, dass seine Eltern wieder zusammenkamen.
Alice unterdrückte ein Seufzen. Peer und sie würden niemals ein Liebes-Comeback haben. Dafür hatte es in der Vergangenheit zu viel Streit und Diskussionen gegeben. Sie waren einfach zu verschieden und hatten viel zu früh in ihrer Beziehung ein Kind in die Welt gesetzt. Alice sagte Elias natürlich nicht, dass Peer und sie nur geheiratet hatten, weil er auf dem Weg gewesen war. Und dass er nicht geplant gewesen war, auch nicht. Außerdem merkte sie jeden Tag aufs Neue, dass sie ihren Sohn niemals hätte missen wollen.
Sie steckte sein gemaltes Bild sorgfältig weg und half Elias mit der Jacke. Danach gingen sie zu Fuß zum zehn Minuten entfernten Spielplatz.
Wie erwartet war Peer bereits da und begrüßte Alice mit einer kurzen Umarmung und einem Küsschen pro Wange. Das hatte sie ihm angewöhnt, weil la bise in Frankreich gang und gäbe war. Sich damit zu begrüßen, war ganz normal.
Peer umarmte auch seinen Sohn, ließ bei ihm aber die Küsschen weg. Wahrscheinlich fand er diese nicht deutsch genug und hielt sich mit Liebkosungen bei einem Jungen lieber zurück. Am liebsten hätte Alice mit den Augen gerollt, aber für Elias riss sie sich zusammen.
Peer hatte immer schon einen »richtigen Mann« aus ihm machen wollen. Noch ein Grund, weshalb es gut war, dass die beiden nicht zusammen wohnten.
Die Eltern setzten sich auf eine Bank und sahen den Kindern beim Spielen zu. Jede Altersklasse war vertreten, und das Miteinander war gewohnt friedlich. Manche beschäftigten sich mit Sandförmchen und bauten Burgen, andere kletterten auf Gerüste wie Elias oder schaukelten. Überall hörte man Kinderstimmen und das Gemurmel der Eltern, die die Auszeit für einen Plausch mit der besten Freundin oder einem Nachbarn nutzten.
»Hast du dir die Sache noch einmal überlegt?«, fragte Peer, als Elias außer Hörweite war, und fuhr sich durch die hellbraunen Locken. Seine braungrünen Augen waren fest auf seinen Sohn gerichtet. Es war eindeutig, was er meinte.
»Du weißt, dass das keine einfache Entscheidung für mich ist«, meinte Alice leise. Ihr Blick war verhangen, und sie kämpfte schon wieder mit ihren Gefühlen. Sie sah Peer ins Gesicht und bemühte sich um eine sichere Stimme. »Elias würde es in Frankreich gut gehen.«
»Das denkst du, aber er hat hier seinen Vater, seine Freunde und seine gewohnte Umgebung. Es wäre fatal, ihm nach der Scheidung nun auch noch einen Umzug zuzumuten.«
Sie nickte und wandte sich wieder ihrem Sohn zu, der von der obersten Sprosse einer Leiter aus winkte. Lächelnd erwiderte sie die Geste und atmete durch.
»Ich weiß, aber er würde sich daran gewöhnen und neue Freunde finden. Außerdem kann er meine Sprache fließend. Denkst du nicht, dass er in der Provence glücklicher wäre? Dort gibt es viel mehr Natur als hier in der Stadt.«
Peer schüttelte den Kopf. Er verschränkte die Arme, was er immer tat, wenn er getroffen war.
»Dann könntet ihr genauso gut hier aufs Land ziehen, in Deutschland. Brandenburg und Schleswig-Holstein sind zum Beispiel wunderschöne Bundesländer mit vielen Feldern und Wäldern. Ich weiß, dass du nur Gründe vorschiebst, weil es dir in Wahrheit einzig um dich geht, Alice. Du hast Heimweh und willst zurück. Das hat überhaupt nichts mit Elias' Leben zu tun. Ihm geht es nämlich gut hier.«
Sie ballte die Fäuste. »Wie kannst du so etwas sagen?« Insgeheim wusste sie, dass er recht hatte, wollte es aber nicht zugeben. »Ich sorge mich um mein Kind wie jede liebende Mutter«, zischte sie. »Er soll seine Familie kennenlernen. Und etwas Abstand zu dieser schmutzigen Stadt würde ihm dabei helfen. Elias hat mir vor Kurzem selbst gesagt, dass er unbedingt einmal das glitzernde Mittelmeer sehen und darin schwimmen will.«
Peer runzelte die Stirn. Seine verschränkten Arme spannten sich merklich an. Dabei bauten sich seine Muskelberge noch weiter auf. Er war stets ein kräftiger, attraktiver Mann gewesen, aber heutzutage würde Alice nicht mehr auf seine äußerlichen Vorteile hereinfallen.
»Er hat deine Familie doch kennengelernt. Was willst du denn noch?«
»Das war vor vielen Jahren, und er kann sich kaum daran erinnern. Meine Maman wäre froh, ihren Enkel endlich einmal zu sehen. Sie vermisst uns.«
Peer zuckte mit den Schultern. »Na, dann fahrt doch in den Sommerferien für zwei Wochen hin. Aber ich werde niemals zulassen, dass du mir Elias wegnimmst und mit ihm auswanderst. Vergiss es, Alice. Wir haben das gemeinsame Sorgerecht, also akzeptiere, dass Elias dortbleibt, wo er geboren wurde und hingehört, nämlich nach Deutschland.«
Wieder einmal hatte er sie in Grund und Boden argumentiert. Alice waren die Hände gebunden. Elias würde sich sicher schnell an eine neue Umgebung gewöhnen, daran würde es nicht scheitern. Ganz im Gegenteil: Alice machte sich Sorgen, dass es Elias irgendwann schlecht ging, wenn er noch länger in Deutschland blieb und ständig zwischen die Fronten seiner zerstrittenen Eltern geriet.
Alice drehte aus Gewohnheit an ihrem Ringfinger, an dem schon seit Langem kein Schmuck mehr steckte. Ein weißer Abdruck erinnerte an ihre verflogene Ehe.
»Und ich glaube, du stellst dich nur quer, weil du mir eins auswischen willst. Immerhin habe ich damals die Scheidung eingereicht«, setzte sie nach.
»Nicht das schon wieder. Das haben wir jetzt lange genug durchgekaut. Ich möchte einfach nicht, dass Elias zu einem Franzosen erzogen wird. Ist das denn so schwer zu verstehen?«
Empört drehte sie sich ihm zu, drosselte die Lautstärke jedoch. »Was willst du damit andeuten? Zu einem Franzosen? Früher haben dich meine Erziehungsmethoden doch auch nicht gestört.«
Peer lächelte verbissen. Sein Gesicht wurde schattig. »Ja, früher waren wir auch noch verliebt und schwebten auf Wolke sieben. Wir haben uns am Altar ein Versprechen gegeben, es aber gebrochen. Die Zeiten haben sich seitdem geändert. Nun möchte ich lieber, dass Elias ganz normal aufwächst wie andere Kinder. Er braucht eine klare Linie in seinem Leben.«
»Und genau bei mir bekommt er sie. Er ist viel disziplinierter und reifer als seine Klassenkameraden. Ich bin eben nicht so inkonsequent wie viele deutsche Eltern. Du machst dir selbst etwas vor, Peer.« Sie schnaufte genervt und suchte nach ihrem Sohn, den sie nicht sofort fand.
Erst als sie den Blick hob, sah sie Elias mit den Beinen baumelnd auf einem Gerüst sitzen. Er beobachtete sie ganz genau. Seinem enttäuschten Gesicht nach zu urteilen, hatte er längst verstanden, wegen was sie sich stritten.
»Nun sieh dir an, was du angerichtet hast«, flüsterte sie ungehalten und versuchte sich an einem entspannten Lächeln für Elias, doch ihre Mundwinkel schmerzten, weil sie so verkrampft war.
Er verschwand mit hängendem Kopf auf der anderen Seite des Klettergerüsts, von der eine Rutsche in den Sand führte.
»Was heißt denn hier ich?«, rief Peer nun etwas lauter. Sofort drehten sich die Köpfe der anderen Mütter und Väter in ihre Richtung. Er lief rot an. »Du hast doch mit dem Thema angefangen und gibst einfach keine Ruhe, weil du meine Entscheidung nicht akzeptierst!«
Alice lächelte die anderen entschuldigend an. »Alles in Ordnung, wir haben nur eine kleine Meinungsverschiedenheit zum Thema Haushalt«, behauptete sie.
Manchmal trafen sie noch argwöhnische Blicke, aber die meisten fokussierten sich wieder auf eigene Gespräche oder ihren Nachwuchs.
Alice öffnete gerade den Mund, um leise mit Peer zu reden, der endlich einsehen musste, dass ihr Wunsch nicht aus der Luft gegriffen oder eine Attacke gegen ihn als Vater war, als sie laute Kinderstimmen hörte.
Es wurde gestritten, und Elias war mittendrin. Ein kleines Mädchen wollte ihm seine Sandschaufel wegnehmen. Beide rissen daran. Das Mädchen schrie.
Alice blieb sitzen, beobachtete die Situation aber genau, bereit einzugreifen, falls es nötig wurde.
Peer wollte bereits aufstehen, um zu helfen. »So geht das doch nicht«, sagte er und machte einen Schritt auf Elias zu.
Alice hob eine Hand, um ihn zu stoppen. »Warte, Peer. Elias weiß, wie er sich am besten verhält.«
Peer blieb stehen, wirkte aber unruhig. »Er ist noch ein Kind, Alice. Natürlich will er die Schaufel für sich beanspruchen. Ich wollte nur vorschlagen, dass sie sich ja abwechseln oder gemeinsam nach einem weiteren Spielzeug suchen könnten. Irgendein Kompromiss lässt sich doch finden.«
Alice schüttelte den Kopf und sprach mit fester Stimme. »Er weiß, dass das Spielzeug ihm gehört. Er muss lernen, sich durchzusetzen, ohne dass wir ständig dazwischengehen. Regeln sind wichtig, und er kennt sie. Jetzt muss er sie selbst anwenden.«
Peer setzte sich wieder auf die Bank, seine Stirn in Falten gelegt. »Aber in einer Gemeinschaft geht es nicht immer nur ums Durchsetzen, sondern darum, wie man miteinander auskommt.«
Alice warf ihm einen scharfen Blick zu. »Das mag sein, aber er muss auch wissen, wann er für sich einstehen muss. Wenn er immer nur nachgibt, wird er lernen, sich unterzuordnen. Kinder müssen lernen, in einem klaren Rahmen selbstständig zu handeln. Das bedeutet nicht, dass wir jedes Mal eingreifen, wenn es schwierig wird. Es bedeutet, dass wir ihnen zutrauen, dass sie es schaffen.«
Elias stand still und sah das Mädchen an, das an seinem Spielzeug zerrte. Er zog es zu sich und sagte deutlich: »Das gehört mir. Du kannst ein anderes nehmen.«
Das Mädchen zögerte, ließ dann aber das Spielzeug los und ging weg. Elias blickte kurz zu seiner Mutter, die ihm mit einem strengen, aber stolzen Nicken bedachte.
»Gut gemacht«, sagte Alice ruhig, ohne sich zu ihm zu bewegen.
Ihre Autorität war deutlich zu spüren, und Elias kehrte wieder zu seinem Spiel zurück.
Peer war immer noch skeptisch. »Er hat sich durchgesetzt, ja, aber er hat sich damit auch die Chance genommen, mit dem Mädchen ein gemeinsames Spiel zu beginnen.«
Alice sah ihn fest an. »Vielleicht. Aber es geht auch darum, zu erkennen, wann es wichtig ist, für etwas einzustehen. Elias muss wissen, dass wir klare Regeln haben und dass er sie verteidigen darf.«
Peer schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, bei dir stehen die klaren Regeln immer an erster Stelle. Dabei bietet jede Situation doch ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten.«
»Ein Kind lernt viel leichter, in einem festen Regelkonstrukt Entscheidungen zu treffen. Es gibt Elias Selbstsicherheit. Er wird irgendwann davon profitieren. Wir tun ihm keinen Gefallen, wenn wir ihm immer tausend Möglichkeiten aufzeigen. Dann verliert er doch die Orientierung und braucht uns ständig als Richtungsweiser.«
Peer stand auf und zuckte mit den Schultern. »Ich hoffe nur, dass er dabei kein rücksichtsloser Macho wird«, grollte ihr Ex-Mann. »Deinetwegen.«
Das letzte Wort spie er förmlich aus. Es hätte bloß noch gefehlt, dass er vor Alices Füße spuckte.