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Der römische Herumtreiber Giovanni Beri tut sich gerade an einem Teller Makkaroni gütlich und träumt von seinem nächsten Glas Wein. Da fällt ihm ein Reisender auf. Der sonderbare Herr gestikuliert mitten auf der Piazza del Popolo, als hätte ganz Rom auf ihn gewartet. Wer ist dieser Mann, ein adeliger Spinner, ein Advokat oder gar ein Spion? Beri, der neben seinen Gelegenheitsarbeiten auch den Patres des Vatikans mit Informationen zu Diensten ist, beschließt, den merkwürdigen Fremden näher unter die Lupe zu nehmen. Doch bevor er sich's versieht, verliert Beri nicht nur den Überblick, sondern auch seine Geliebte Faustina, und zwar ausgerechnet an den Mann, den er observiert, den berühmtesten aller Italienreisenden: Goethe.
„Am 3. September 1786, morgens oder vielmehr nachts um drei, damit niemand die Abreise bemerkt, stiehlt sich Goethe in der Postchaise davon, nur einen Jagdranzen und Mantelsack als Gepäck“, so beschreibt Richard Friedenthal in seiner Goethe-Biographie die heimliche Ausreise aus Weimar. Was hier so geheimnisvoll angedeutet ist, hat Hanns-Josef Ortheil zum Anlaß genommen, eine höchst amüsante Geschichte um den Besuch des Dichtervaters in der ewigen Stadt zu spinnen.
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Seitenzahl: 509
Der römische Herumtreiber Giovanni Beri tut sich gerade an einem Teller Makkaroni gütlich und träumt von seinem nächsten Glas Wein. Da fällt ihm ein Reisender auf. Der sonderbare Herr gestikuliert mitten auf der Piazza del Popolo, als hätte ganz Rom nur auf ihn gewartet. Wer ist dieser Mann, ein adeliger Spinner, ein Advokat oder gar ein Spion? Beri, der neben seinen Gelegenheitsarbeiten auch den Patres des Vatikans mit allerlei Informationen zu Diensten ist, beschließt, den merkwürdigen Fremden näher unter die Lupe zu nehmen. Doch bevor er sich’s versieht, verliert Beri nicht nur den Überblick, sondern auch seine Geliebte Faustina, und zwar ausgerechnet an den Mann, den er observiert, den berühmtesten aller Italienreisenden: Goethe.
»Am 3. September 1786, morgens oder vielmehr nachts um drei, damit niemand die Abreise bemerkt, stiehlt sich Goethe in der Postchaise davon, nur einen Jagdranzen und Mantelsack als Gepäck«, so beschreibt Richard Friedenthal in seiner Goethe-Biographie die heimliche Ausreise aus Weimar. Was hier so geheimnisvoll angedeutet ist, hat Hanns-Josef Ortheil zum Anlaß genommen, eine höchst amüsante Geschichte um den Besuch des Dichtervaters in der ewigen Stadt zu spinnen.
Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Für seinen Debütroman Fermer erhielt er 1979 den aspekte-Literatur-Preis. Es folgten die Romane Hecke, Schwerenöter, Agenten und Abschied von den Kriegsteilnehmern. Neben zahlreichen Essaybänden (u.a. Mozarts Sprachen) veröffentlichte er Das Element des Elefanten. Wie mein Schreiben begann (1994) und das literarische Tagebuch BlauerWeg (1996).
Am frühen Abend des 29. Oktober 1786 sah der junge Giovanni Beri, der eben auf einem herbeigerollten Stein Platz genommen hatte, um in Ruhe einen Teller Makkaroni zu verzehren, einen Fremden dem aus nördlicher Richtung auf der Piazza del Popolo eingetroffenen Reisewagen entsteigen. Beri hatte gerade die Finger seiner Rechten in die noch heißen Nudeln getaucht, um sie bündelweise, wie weiße Würmer, in den Mund zu schieben, als der Fremde seinen Reisehut lüftete und ihn immer wieder hoch in der Luft schwenkte, sich dabei im Kreise drehend, als wollte er sich der ganzen Stadt Rom als Liebhaber und Freund präsentieren.
Der junge Beri hatte schon viele Reisende aus dem Norden auf diesem ehrwürdigen Platz ankommen sehen, doch noch selten hatte sich einer so merkwürdig benommen wie dieser stattlich gewachsene Mann in weitem Überrock, dem sich jetzt eine Gruppe von Wachbeamten näherte, um seinen Namen in die dafür vorgesehenen Listen einzutragen. Das Betragen des Fremden ähnelte einem Auftritt im Theater, es hatte etwas von Leidenschaft und großer Aktion und doch fehlten ihm auf dem weiten Platz, der durch die Parade der Kutschen beinahe vollgestellt war, die passenden Zuschauer.
›Mach weiter so, mach nur weiter!‹ dachte Beri, insgeheim belustigt, während er mit Daumen und Zeigefinger nach den entwischenden ölgetränkten Nudeln griff und sie langsam durch den über den Teller verstreuten Käse streifte. Jetzt riß sich der Fremde den Überrock vom Leib, warf den Hut auf den kleinen Koffer, breitete die Arme aus und dehnte den ganzen Körper wie eine gespannte Feder. Beri grinste, vielleicht hatte man es mit einem Schauspieler zu tun! Doch das Grinsen verschwand augenblicklich, als er bemerkte, daß ihn das merkwürdige Gebaren zur Unachtsamkeit verführt hatte. Für einen Moment hatte sich der Teller offensichtlich in Schräglage befunden, ein kleinerer Haufen der köstlichen Makkaroni lag schon auf dem Boden.
»Daran bist Du schuld!« entfuhr es Beri, der sich jedoch gleich darüber wunderte, wie brüderlich er den Fremden insgeheim anredete. Irgend etwas Anziehendes hatte dieser Tänzer, irgend etwas, das einen noch schlummernden Teil seiner Seele berührte! Beri hielt den Teller für einen Augenblick mit der Rechten und fuhr sich mit der Linken durchs Gesicht. Träumte er? Hatte ihm das Glas Weißwein zugesetzt, das er an diesem warmen Nachmittag getrunken hatte?
Der Fremde ließ die Wachbeamten einfach stehen. Er durchmaß den weiten Platz mit großen Schritten, stemmte dann und wann die Hände in die Hüften, ging in die Hocke, drehte sich plötzlich nach allen Seiten und warf immer wieder die Arme in die Höhe, als wollte er die ganz fernen Abendwolken herbeilocken, zu seinem Auftritt tanzend zu wirbeln. ›Warte nur‹, dachte Beri, ›das geht nicht lange gut‹, doch die beiden Wachbeamten, die den Mann endlich erreicht hatten, wurden dadurch überrascht, daß der Fremde sich nun rasch in Bewegung setzte, zunächst quer über den Platz, dann, langsamer werdend, im Kreis um den hohen Obelisken, der etwa auf der Mitte des Platzes stand.
Immer dann, wenn die hinter dem Fremden herhastenden Beamten ihr Opfer gestellt zu haben schienen, brach der Herumeilende wieder nach einer anderen Seite aus, so unerwartet, so gewitzt, als wollte er mit den beiden atemlos werdenden Verfolgern seinen Spaß treiben. Beri lächelte, dann aber begann er immer lauter zu lachen; er hielt den warmen Teller krampfhaft in der Rechten, um nichts von der wertvollen Speise zu verschütten, doch das Lachen rüttelte ihn so durch, daß die weißen Nudelkäsewürmer auf dem Teller zu tanzen begannen. Immer wilder hüpften sie umeinander, sprangen über den Rand, warfen sich übermütig auf das Pflaster, so daß Beri, lauthals lachend, den Tränen nahe, sie in einem Gefühl plötzlichen Überschwangs in einem großen Bogen durch die Luft fliegen ließ.
Was tat er? Warum war er so außer sich? Der Fremde schien das üble Spiel, das er mit den beiden Wachbeamten trieb, gar nicht zu bemerken, jetzt hatten sie ihn eingeholt, an der kleinen Wasserstelle neben dem Obelisken, einer von ihnen hatte ihn fest zu packen bekommen, oben, an der Schulter, so daß er sich heftig herumdrehte.
Was für eine Nase! Beri grinste, ruhiger werdend. Was für ein unruhiger Mund, die Lippen zuckten unaufhörlich, als hätten sie sich an den heißen Würmern verbrannt! Nun hatten sie ihn also gestellt, nun würde er niemandem mehr entkommen!
Beri saß da mit offenem Mund, der leere, ölverschmierte Teller glitt ihm aus der Hand und zersprang auf dem Pflaster. Der Fremde umarmte die beiden Beamten. Er drückte sie an sich, als sei er guten Freunden begegnet, er hakte sich bei ihnen ein und ging mit ihnen langsam, schlendernd, als habe er sie nie düpieren wollen, zu seinen Koffern zurück. Jetzt hatte er beide Arme um ihre Schultern gelegt, sie lachten sogar, sie ließen es sich gefallen, offenbar machte er einige Scherze, offenbar unterhielt er sie gut.
Beri hustete. Der Teller war zersprungen, über die Nudein machten sich die Katzen her. ›Du bist mir was schuldig‹, dachte er und wischte sich mit der Linken über den Mund. Dann stand er langsam auf, streckte sich, scharrte die Scherben des Tellers mit der Fußspitze zusammen und ging quer über den Platz, dem Fremden seine Dienste anzubieten.
Der aber gestikulierte noch vor den Wachbeamten, als Beri sich der Gruppe mit einem der hölzernen Karren näherte, die auf dem weiten Platz zu jedermanns Gebrauch abgestellt waren. Jetzt hörte er den Fremden sprechen, er sprach ein fehlerhaftes, aber frisch daherfließendes Italienisch, das sich aus lauter aufgeschnappten Wendungen zusammenzusetzen schien. Auch auf die Beamten schien er einigen Eindruck zu machen, denn immerhin hatten sie sich auf eine kurze Verhandlung darüber eingelassen, ob er den Reisewagen wieder besteigen müsse oder den Weg zum Packhof auf eigenen Wunsch zu Fuß zurücklegen dürfe.
Als der Mann den jungen Beri mit seinem Karren gewahr wurde, geriet die Szene gerade zu einer kleinen Debatte. Die Wachbeamten bestanden darauf, daß er mitsamt seinem Gepäck wieder einsteigen müsse, während er Beri als einen guten Geist vorstellte, der das Gepäck auf dem kleinen Karren rasch zum Packhof befördern werde.
Die Widerreden schienen sich immer mehr zu beschleunigen, als der Neuankömmling plötzlich ruhig wurde, sich sammelte, den Blick starr in die Richtung der langen Meilen des Corso richtete und mit wiederum verblüffender Hingabe davon sprach, wie schön der Abend sei. Die Wachbeamten schienen sich auch sofort zu besinnen, sie schauten seinen Blicken hinterher, der mit einem Male in beredten Worten den leuchtenden Abend schilderte, die sonntäglichen Paradefahrten der Kutschen hin zur Piazza Venezia, das Leben auf den Balkonen, das Rufen, Winken und Plärren aus den Fenstern, alles aber so freundlich und warm, als begrüßte er Szenen seiner Heimat.
Die Wachbeamten fragten denn auch sofort nach, ob der Fremde Rom schon früher einmal besucht habe, worauf er erwiderte, mit seiner Seele habe er die Stadt bereits Hunderte von Malen in Besitz genommen, während er nun bemüht sei, auch seinem Körper die Gegenwart dieses Paradieses zu gönnen.
Die unerwartete Erwähnung des Paradieses (»il paradiso«, sagte er, mit einem solchen Nachdruck auf dem langen ›i‹, als wollte er immerfort darin verweilen) in Verbindung mit der Stadt Rom ließ die Wachbeamten jedoch anscheinend umdenken. Durch ein knappes Zeichen verständigten sie sich darauf, daß der Fremde den eingetroffenen Postkutschen auf dem Weg zum Packhof zu Fuß folgen dürfe. Einer von ihnen setzte sich denn auch bald an die Spitze des Zuges, und so ging es den Corso hinab, die Kutschen voran, der große Mann hinterdrein und ganz am Schluß der junge Beri mit seinem Karren, auf dem man das Gepäck des Fremden untergebracht hatte.
Jetzt hatte Beri wieder Zeit, ihn zu beobachten. Hatte er ihn vor wenigen Minuten noch für einen Schauspieler gehalten, so war er sich längst nicht mehr sicher. Denn nun, auf dem Weg zum Packhof, wirkte er inmitten der großen Menschenmenge, die den Corso entlang flanierte, plötzlich wie einer der Vielen, nicht fremd, nicht herausgehoben, sondern..., wie, ›ja, wie ein Sohn, der nun heimkommt‹, dachte Beri, als er bemerkte, daß der Neuankömmling den Menschen auf den Balkonen zuwinkte. ›Er tut so, als hätten sie gerade auf ihn gewartet‹, dachte Beri weiter und lächelte vor sich hin, als sich der Fremde unerwartet zu ihm umdrehte und wartete, um neben ihm hergehen zu können.
»Du bist von hier?« fragte er, und Beri beeilte sich zu bestätigen, daß er ein Römer sei.
»Wie alt bist Du?«
»Zweiundzwanzig«, antwortete Beri.
»Leben Deine Eltern noch?«
»Nein, Signore«, antwortete Beri, »meine gute Mutter ist vor einem Jahr, mein Vater vor acht Jahren verstorben.«
»Und Du, wovon lebst Du?«
»Ich arbeite mal hier, mal dort, wie es sich so ergibt.«
»Hast Du kein Handwerk gelernt?«
»Nein, Signore. Mein Vater war Fährmann auf dem Tiber, und ich erhielt später keine Lizenz, da ich zu jung war, als er starb.«
»Hast Du noch Geschwister?«
»Einen jüngeren Bruder, Signore, der sich nach dem Tod unserer guten Mutter davongemacht hat. Ich hatte ihr versprochen, für ihn zu sorgen, doch er...«
Beri kam nicht weiter, denn der fremde Mann war inmitten des Getümmels plötzlich stehengeblieben. »Schau!« rief er und deutete auf die nahe Fassade einer Kirche.
»Was ist?« fragte Beri.
»Das ist außerordentlich«, sagte der Fremde.
»Pah«, entfuhr es Beri, »von solchen Kirchen haben wir in Rom Tausende.«
Beri tat der leichtfertig hingesagte Satz sofort leid, als er bemerkte, daß ihn der andere als hochmütig zu verstehen schien. Nun wollte er sich nicht weiter unterhalten, sondern ging schnelleren Schrittes wieder voraus, still, in sich gekehrt, als habe Beris Bemerkung ihn in seinem Überschwang gebremst. Beri bemühte sich, mit seinem Karren Schritt zu halten.
»Dort«, rief er dem Mann hinterher, »dort... schauen Sie, Signore, San Carlo al Corso!«
Anstatt sich umzudrehen und seinen Hinweis zu beachten, schaute er sich jedoch kein einziges Mal mehr um. Beri hatte es jetzt schwer, ihm zu folgen, so eilig blieb er hinter den Kutschen. Erst als man auf dem Packhof ankam, würdigte der Fremde ihn wieder eines Blickes.
»Wenn das hier vorbei ist, wird er mich zur Locanda begleiten«, sagte der Fremde.
»Zum Spanischen Platz, wo die Fremden ihr Quartier nehmen?« fragte Beri.
»Ich gebe ihm schon Bescheid«, wich der Fremde aus und bedeutete Beri, wohin er das Gepäck zu bringen habe.
Im Packhof mußte man einige Zeit warten, endlich war auch der Fremde an der Reihe. Die beiden kleinen Koffer wurden geöffnet, allerhand Bücher kamen zum Vorschein, sogar eine Sammlung von Steinen, dazu Papiere und Hefte, Kleidung obenauf, auch der Mantelsack und ein kleiner Dachsranzen wurden geleert. Die Bücher wurden zur Kontrolle über Nacht einbehalten, der Fremde erhielt eine Marke und konnte den Packhof mit seinen übrigen Sachen wieder verlassen.
Sofort war Beri mit seinem Karren zur Stelle.
»Zur Locanda dell’orso!« entschied der Fremde.
»Die Locanda, Signore, liegt nicht am Spanischen Platz, sie liegt abseits, am Tiber«, sagte Beri.
»Zur Locanda dell’orso!« wiederholte der Fremde, lauter als zuvor, und Beri nickte.
Jetzt ging er wieder hinter ihm her. Mit einem Mal hatte der Mann aus dem Norden etwas Stolzes, Unnahbares, als wollte er sich kein zweites Mal mit Beri gemein machen. ›So sind sie, die hohen Herren!‹ dachte Beri erbost, fragte sich dann aber sofort, warum er ihn nun für einen hohen Herrn hielt. Seine beinahe abenteuerliche Kleidung, die lose Weste mit den verschmutzten Ärmeln, die halblange, schäbige Hose und die leinenen Strümpfe machten ihn jedenfalls nicht zum hohen Herrn, höchstens sein jetzt fester, abweisender Blick.
Vor der Locanda setzte Beri den Karren mit einem leichten Stöhnen ab. Der Mann wollte den Gasthof schon betreten, als er zur Linken den Tiber gewahr wurde und sich umdrehte. »Mein Gott!«entfuhr es ihm, und Beri folgte seinem Blick, der sich nun auf die nahe Engelsburg und die große Kuppel von Sankt Peter richtete, die hinter der Tiberschleife im weichen Abendlicht auftauchten.
»Sankt Peter«, sagte Beri, »die Stätte des Heiligen Vaters!«
Doch der Fremde schien ihn nicht mehr zu hören. Er starrte hinüber auf das über den Wassern aufschimmernde Bild, ohne sich noch zu regen. Die Lippen waren straff zusammengespannt, der Kopf lag beinahe im Nacken, und die Augenbrauen schienen ein wenig zu zucken, als müßten sie eine aufdringliche Erscheinung verscheuchen und abwehren.
Beri wartete, minutenlang. Er trat auf der Stelle und traute sich nicht, noch etwas zu sagen. Was war mit dem Mann? Fühlte er sich nicht wohl? Beri betrachtete ihn verstohlen von der Seite, um Anzeichen von Übelkeit zu entdecken. Die Nase erschien ihm noch gewaltiger als zuvor. Die Stirn war breit und von roten Flecken überzogen.
Beri räusperte sich.
»Kann Er warten?« fragte der Fremde.
»Solange der Signore befiehlt«, antwortete Beri.
»Ich werde Ihn mit einer Botschaft beauftragen, in einer halben Stunde«, sagte der Fremde.
»Ich werde zur Stelle sein«, sagte Beri, trug das Gepäck in die Locanda und schlenderte wieder nach draußen, um sich ans Ufer des Tiber zu setzen.
Dort, drüben, stromaufwärts, ganz nahe, am Porto di Ripetta, hatte sein Vater als Fährmann gearbeitet. Dort hatten sie gewohnt und ein sparsames Leben geführt. Der Vater hatte gut zu tun gehabt, und er, Giovanni, hatte sich auf die Fremden verstanden. Schon als Kind hatte er dem Vater helfen dürfen, sogar des Nachts, wenn die Überfahrt schwierig gewesen war, da die meisten Fahrgäste dann reichlich getrunken und sich manchen Spaß erlaubt hatten. Er, Giovanni, hatte ihre Sprachen gesprochen, etwas Englisch, etwas Französisch und sogar das knarrende Deutsch!
›Ob er ein Deutscher ist?‹ fragte sich Beri und schaute zur Locanda hinauf, in der der Fremde Quartier bezogen hatte. ›Vielleicht ist er aber auch ein Engländer, ein Herr vom englischen Land, wie die Vielen, die oft schon frühabends schläfrig waren vom heimischen Bier und nicht mehr zurückfanden und sich von Vater hin und her fahren ließen, weil sie vergessen hatten, auf welchem Ufer sich ihr Hotel befand...‹
Beri lachte kurz auf, dann saß er still. Es war ein herrlicher Abend, mildwarm, in den Weinbergen am anderen Ufer schien die Erde zu summen. Beri schaute hinüber nach Sankt Peter. Nur zu gern hätte er gewußt, was den merkwürdigen Fremden so beschäftigte. ›Ich werde es schon erfahren‹, flüsterte er vor sich hin und schnitzte mit dem Messer an einem Stück Holz. ›Zeit habe ich genug.‹
Als ihm das Warten lästig wurde, ging er schlendernd zur Locanda zurück. Enrico, der Wirt, begrüßte ihn, doch von dem Fremden war nichts zu sehen.
»Wie heißt er?« fragte Beri unschuldig.
»Miller«, antwortete Enrico, »Filippo Miller, er ist ein Maler aus Deutschland.«
»Was Du nicht sagst«, lächelte Beri.
»Aber bitte, schau her«, sagte der Wirt und schob ihm das Buch mit den Eintragungen der Gäste hin. Beri beugte sich über die Schrift.
»Sehr schön...«
»Was?«
»Schöne Buchstaben, eine schöne Schrift...«
»Filippo Miller..., Maler, da steht es...«
»Was Du nicht sagst«, lächelte Beri wieder.
»Eh«, sagte Enrico, »suchst Du Streit? Du hältst einen zum Narren!«
»Du hast recht«, beschwichtigte Beri, »er heißt Miller, da steht es, ganz deutlich.«
»Na bitte!« sagte Enrico.
Beri wollte den alten Freund mit weiteren Fragen beschäftigen, als er jemanden die kleine Treppe herunterkommen hörte. War das der Filippo Miller, der Maler aus Deutschland? Beri schaute erstaunt auf. Der Fremde trug einen grünen, eleganten Rock, tadellos, darunter ein weißes, offenes Hemd. In diesen wenigen Minuten hatte er sich erneut verwandelt. ›Ich habe es geahnt‹, dachte Beri, ›er ist ein Advokat, er ist in geheimer diplomatischer Mission unterwegs. Warte nur, ich werde es schon herausbekommen.‹
Er ging einige Schritte auf den Mann zu und sprach ihn auf deutsch an.
»Sprich Er Italienisch mit mir!« unterbrach ihn der Fremde barsch.
»Verzeihung, Signore, nichts als eine Höflichkeit. Wir Römer verstehen uns auf die Sprachen der Fremden.«
»Hier, diese Nachricht ist für Signore Tischbein bestimmt. Er wohnt am Corso, gegenüber dem Palazzo Rondanini. Signore Tischbein soll sie sofort erhalten!«
»In fünf Minuten wird er sie lesen können.«
»Ich danke Ihm. Und hier, das ist sein Lohn für den Transport und für das Überbringen des Briefes.«
Beri griff nach dem kleinen versiegelten Briefchen, er steckte es in seine Tasche und wog mit den Fingern die Münzen, die der Fremde dem Brief beigegeben hatte. Er hatte ihn gut entlohnt, sehr gut sogar, gewiß war er ein vermögender Advokat oder gar ein Kaufmann, der aus Rom auf geheimen Wegen Waren in den Norden expedieren ließ.
Beri verneigte sich und wollte sich zurückziehen, als der Fremde ihm noch ein Abschiedswort zurief
»Vergiß Er seinen Bruder nicht!«
»Signore meinen...?«
»Vergiß Er nicht, weiter nach ihm zu suchen!«
»Gewiß nicht, Signore! Ich danke, mein Dank für Ihre Anteilnahme!«
Jetzt stand er draußen, vor der Locanda. Die Kuppel von Sankt Peter verschwand schon in der Dunkelheit, wie eine schwere Blüte, die sich langsam zu schließen begann. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Warum hatte der Fremde ihn an seinen Bruder erinnert? Er, Beri, glaubte ja selbst nicht mehr an die Gegenwart dieses Bruders. Lange Jahre waren sie unzertrennlich gewesen, erst nach dem Tod der Mutter hatten sich ihre Wege getrennt, und Roberto, der Jüngere, war nicht mehr zu halten gewesen. Nein, er hielt sich nicht mehr in Rom auf, das war ausgeschlossen, er, Giovanni, hätte davon erfahren. Seit Roberto weg war, fühlte er sich einsamer denn je; er hatte keine Freunde, keine, die ihm so nahe waren, wie Roberto es gewesen war. So trieb er sich meist allein herum, unruhig, unzufrieden, einer, der nahe dran war, das Gleichgewicht zu verlieren. Noch war es nicht soweit, noch lebte er von den guten Erinnerungen, manchmal glaubte er sogar, die mahnende Stimme seiner Mutter zu hören, die ihm aufgab, nach Roberto zu suchen. Das alles bedrückte ihn, es machte ihn manchmal jähzornig und heftig, außerdem war es an der Zeit, daß er eine gut bezahlte Arbeit fand. Der Fremde kam da gerade recht, vielleicht war der Fremde in Geld zu verwandeln!
Beri eilte durch die schmalen Gassen zurück zum Corso. Die Parade der Kutschen war zum Glück vorbei. Aus den Osterien hörte man jetzt die Stimmen der Zecher, auch Beri dachte an ein Glas Wein, das er sich bald würde erlauben können. Er schaute noch einmal auf den Brief: ›Al Signore Tischbein, pittore tedesco, al Corso, incontro del Palazzo Rondanini‹...
Der Palazzo Rondanini befand sich nicht weit von der Piazza del Popolo entfernt. Das Haus gegenüber war ein unauffälliger Bau, keineswegs herrschaftlich. Als er durch die offen stehende Tür ins Innere trat, begegnete er sofort einer älteren Frau, die sich nach seinen Wünschen erkundigte. Beri fragte, ob ein Signore Tischbein im Haus wohne. Die Alte nickte. Und Signore Tischbein sei ein Maler? Auch das bestätigte die Frau.
Beri war vorerst damit zufrieden. Er zog den Brief aus seiner Tasche und händigte ihn aus. Dann winkte er der Alten noch einmal zu und ging ins Freie.
›Signore Miller und Signore Tischbein‹, dachte Beri, ›zu gern hätte ich gewußt, was in dem Briefchen steht. Tischbein scheint also wahrhaftig ein Maler zu sein, aber ich wette, daß Filippo kein Maler ist. Er ist ein Advokat, ein Dottore, er ist ein Gott-weiß-nur-Was, aber er ist kein Maler und auch sonst kein Künstler. Die Künstler haben nicht dieses Bestimmte, diesen Willen, sie sind wechselhaft wie das Wetter, und sie verwandeln sich nicht in wenigen Minuten vom Herumtreiber in einen Mann von Stand.‹
Beri lächelte, dieser Tag war ein Glückstag, er spürte es jetzt. Anfangs hatte er den Fremden noch für eine Unglück bringende Gestalt gehalten, das war vor wenigen Stunden gewesen, als er ihn um seine Abendmahlzeit gebracht hatte. Doch er war ihm, Beri, wahrhaftig nichts schuldig geblieben. Nun hatte er mehr Geld in der Tasche als in den letzten vier Wochen zusammen. Noch viel mehr als dieses Geld aber wog das Geheimnis des Fremden. ›Und dieses Geheimnis wird man mir teuer bezahlen!‹ dachte Beri und reckte sich.
Wohin? Beri überlegte kurz. Er wollte seine Neuigkeiten möglichst bald loswerden, doch die Sache mußte gut durchdacht sein. Nichts übereilen, jetzt kein falsches Wort, es würde auf jede Wendung ankommen! Zunächst mußte er seinen Hunger stillen, das war er sich schuldig. Er würde seinen Lieblingsplatz aufsuchen, den Platz vor dem Pantheon, dort gab es viele Stände mit Gesottenem und Gebratenem, da würde er etwas essen und ein Glas Wein dazu trinken!
Beri machte sich langsam auf den Weg. Wie der Magen schon beim bloßen Gedanken an Nahrung sich regte, er spürte es förmlich. Ach, lange hatte er schon nichts Gutes mehr gegessen, nichts von dem, was an den Tischen der hohen Herren verzehrt wurde.
Nach dem Tod der Mutter hatte er eine Anstellung im Haushalt der alten, ruhmreichen Familie Borghese erhalten, auf Bitten des Pfarrers. Einige Monate hatte er als Botengänger und Laufbursche arbeiten dürfen, wie ihm das doch gefallen hatte! Da war er den hohen Herren ganz nahe gewesen, den Kammerdienern und Kellermeistern, den Verwaltern und Buchhaltern, den Kaplänen und Vorlesern. An Festtagen und bei Empfängen hatte er eine Livree tragen dürfen, eine leichte im Sommer und im Winter eigens eine kostbare, wärmere. Er hatte einen guten Mantel erhalten und leinene Hemden, überall war er als Corriere in Erscheinung getreten. Damals hatte er gehofft, im Haushalt der Borghese bald weiter aufsteigen zu können, auf leichte Art war er ja mit allen dort in Verbindung gekommen, sogar in der Bibliothek hatte er arbeiten und die langen Bücherreihen abstauben dürfen!
Wer einmal in einen solchen Haushalt aufgenommen war, dem ging es gut! Er erhielt nicht nur seinen monatlichen Lohn, sondern noch allerhand Zuwendungen: Trinkgelder, Kleidung, einen kleinen Zuschuß zur Miete, vor allem aber viel von dem, was im Haus und in der Küche übrigblieb ...
Beri schloß die Augen, das Wasser lief ihm auf der Zunge zusammen. Wasser..., selbst das Wasser, das an den Tischen der hohen Herren serviert worden war, war ein ganz besonderes Wasser gewesen, kristallklar, kalt, ja diamanten, ein Edelwasser, die Tropfen wie Perlen! Ganz zu schweigen vom Wein... An nichts hatten seine, Beris, Blicke so sehr gehangen wie an den schweren Karaffen mit Wein, diesen prallen, verborgenen Rotstoffen, manche wie schwerer Samt, andere wie flatternde, durchsichtige Tücher. Oft war er mit dem Kellermeister in die langen Gewölbe gestiegen, um die edlen Flaschen ans Licht zu tragen, an ihnen hatte er sich nicht satt sehen können, denn es war ihm oft so vorgekommen, als ginge von diesen Flaschen ein geheimes Leuchten, eine besondere Magie aus, die seine Zunge schon erwiderte, bevor sie überhaupt gekostet hatte.
Natürlich war es verboten gewesen, von all diesen Weinen zu trinken, und selbst dem Kellermeister unmöglich, eine Flasche verschwinden zu lassen, schließlich hatte er täglich Buch führen müssen. Doch manchmal hatten die geleerten, schweren Karaffen noch kleine Restessenzen enthalten, und Beri hatte sie mit der weit ausgestreckten Zunge tropfenweise aufgefangen wie ein Verdurstender. Wie viele Karaffen hatte er auf diese Weise geleert, meist heimlich! Mit der Zeit hatte er bestimmte Aromen und Nuancen zu unterscheiden gelernt, ja, er hatte sich sogar die Namen der Weine gemerkt und sich Hoffnungen gemacht, in ferner Zeit einmal am Tisch der hohen Herren bedienen zu dürfen.
Eine gute Zeit war es gewesen, in den Diensten der Familie Borghese, eine himmlische, doch der Teufel hatte ihn, Beri, in Gestalt der rubinroten Tropfen versucht, und einmal, ja, schon beim ersten Mal, als er in den Kellern des Palazzo eine Flasche besten Piemonter entkorkt hatte, um sie heimlich zu leeren und mit angesetztem rotem Weinessig wieder zu füllen, hatte ihn ein Aufseher, der einen silbernen Flaschenuntersatz vermißt hatte, zu fassen bekommen.
Beri öffnete die Augen, ein strenger Duft von Öl und Gebratenem schlug ihm entgegen, er hatte den Vorplatz des Pantheon erreicht. Noch am Tage des Mißgeschicks war er entlassen worden, beschimpft und entehrt, ohne eine Abfindung, ja sogar ohne Auszahlung des monatlichen Gehaltes! In den dunkelsten Ecken der Kirche San Luigi dei Francesi hatte er Abbitte geleistet, eine Stunde lang unter vielen Gebeten, doch in der Nacht dieses Tages war ihm seine tote Mutter im Traum erschienen und hatte ihn verflucht. Siebenmal hintereinander war sie ihm erschienen, jede Nacht, und jedesmal waren die Flüche noch furchtbarer und lauter geworden. Beri schüttelte sich, er hatte sein erstes großes Glück leichtfertig vertan, jetzt lebte er in einem winzigen Zimmer unter dem Dach, in demselben Haus, in dem auch seine Eltern gelebt hatten, direkt am Hafen. Hätte er der Versuchung widerstanden, so hätte er vielleicht längst in den prächtigen Palazzo übersiedeln dürfen, selbst die Zügelhalter der hohen Herren schliefen ja nachts in den Vorzimmern, ganz zu schweigen von den Dienern, die sich um die Kerzen oder das Brennholz kümmerten, den Hof fegten und die Straße, selbst sie hatten ihr Zimmer in den weiten Fluchten des Palazzo, hohe, helle Zimmer, die im Winter gut geheizt wurden, denn die Borghese sorgten sich um das Wohl der Familie, zu der auch die Allergeringsten unter den Dienern gehörten, selbst die, die für die Pferde und die Kutschen zuständig waren.
Beri schlug sich leicht mit der Rechten gegen die Stirn, um die unliebsamen Erinnerungen zu vertreiben. Es war nun einmal nicht zu ändern, er hatte gesündigt, doch inzwischen war ihm wahrscheinlich sogar im Himmel verziehen worden, jedenfalls war ihm seine Mutter nicht mehr fluchend erschienen.
Er kaufte sich eine Portion fritierter Fische und setzte sich an den Brunnen. Fritierte Fische waren besser als Makkaroni, fritierte Fische schmeckten salzig, körnig, nach Meer und nach Leben! Vor allem aber erinnerten sie ihn, Beri, an das Wasser, er liebte das Wasser, nichts liebte er auf der Welt so wie das Wasser! Als Kind hatte er viele Tage im Wasser zugebracht, mit den Füßen immer im Wasser, und später hatte er auf den Planken der Barke des Vaters gelegen, in der Sonne, auf Kundschaft wartend, manchmal auch nachts, versteckt, um dort zu schlafen. ›Giovanni!‹ hatte die Mutter geschrien, aber er hatte in der tiefen Dunkelheit allein in der Barke des Vaters geschlummert, von den Tiberwellen leicht auf und nieder geschaukelt, in einem wunderbaren Versteck, ganz für ihn gemacht!
Dort, dort fuhren jetzt einige Kutschen mit Fremden vor! Sie hielten kurz vor dem mächtigen, düsteren Bau des Pantheon, schauten für einen Moment hinaus und ließen sich weiterkutschieren. Was verstanden sie schon von alledem! Und doch wollten sie an den acht schweren Säulen vorbeigefahren werden, als könnte ihnen der Anblick helfen, etwas von dieser Stadt zu verstehen. Die meisten Fremden sagten so etwas, sie sagten, sie wollten diese Stadt verstehen, das hatte er immer wieder gehört. Die Fremden hätten sich hersetzen sollen, um fritierte Fische zu essen, dann hätten sie mehr verstanden, mehr von Roms Wassern und Brunnen und unterirdischen Verliesen, mehr von Roms Meeresnähe, die ihm, Beri, in die Kinderseele gebrannt worden war...
Er leckte seine Finger und warf das Papier, in das man die Fische gegeben hatte, in hohem Bogen zur Seite. Das war getan, nun fühlte er sich besser. Noch einen kleinen Schluck Wein! Er ging hinüber zu einem Ausschank und ließ sich ein Glas geben. Herunter damit! Der Wein würde das Salz fortspülen, zu nichts anderem war er gut, nicht zu vergleichen, nicht im mindesten zu vergleichen mit den Weinen, die er, Giovanni Beri, einmal getrunken hatte, in den herrlichen Tagen als Corriere der Familie Borghese, bestimmt zu Höherem und gefallen ins Niedrigste...
Jetzt aber, das ahnte er, bot ihm der Himmel zum zweiten und vielleicht letzten Mal das Glück an. Signore Miller und Signore Tischbein, diese Geschichte wollte nun auf leichte und elegante Weise in Geld verwandelt werden. Beri setzte sich wieder an den Brunnenrand und dachte nach. Jedes Wort mußte er bedenken, vor allem durfte er auf Fragen nicht so heftig und schnell antworten, wie er es gewohnt war. Gut, daß er nicht zuviel getrunken hatte, meist hatte er sich dann nicht in der Gewalt und geriet ins Reden und Schwadronieren. So etwas mochte Seine Heiligkeit nicht, das Reden und Schwadronieren, vor allem aber das Trinken hielt Seine Heiligkeit für eine Sünde. Irgendwer hatte ihm, Beri, sogar einmal zugeflüstert, daß Seine Heiligkeit geäußert hätte, das Reden sei eine Entweihung des Schweigens...
Was für ein tiefsinniger Satz, ein Satz, der ganz zu der verschwiegenen Art Seiner Heiligkeit paßte. Daran also mußte man sich halten, um Seiner Heiligkeit zu gefallen, scheu, zurückhaltend, aber wissend und deutlich mußte man auftreten, wie ein Schauspieler, der sein Mienenspiel beherrschte.
Beri saß noch eine kleine Weile. Er schaute starr auf die acht Säulen der Vorhalle des Pantheon. Einmal begann er sie von links nach rechts, dann wieder von rechts nach links zu zählen. So etwas half ihm, diese acht Säulen ordneten seine Gedanken. Dann stand er auf und machte sich auf den Weg, endlich sein Glück wiederzufinden.
In dem kleinen Weinausschank in der Nähe der Kirche Il Gesù drängten sich die Trinker. Beri schlich hinein, bestellte ein Glas und verhielt sich ruhig. Wie viele Diener Seiner Heiligkeit hier wohl sein mochten? Er musterte die anderen verstohlen, die meisten waren schon betrunken und redeten mit großen Gebärden aufeinander ein. Ob sich einige verstellten? Beri versuchte, ihr Mienenspiel zu ergründen, doch er kam nicht weit mit seinen Beobachtungen. Die meisten hier sind arme Teufel‹, dachte er, ›sie haben keine Ahnung, welcher Künste es bedarf, die Geheimnisse der Fremden zu erforschen! ‹ Er, Beri, glaubte sich darauf zu verstehen, doch bisher hatte Seine Heiligkeit ihn noch nicht mit einem Auftrag bedacht. Mehrere Male hatte er schon versucht, einen solchen Auftrag zu erhalten, aber Seine Heiligkeit hatte es sich nach kurzer Bedenkzeit meist anders überlegt.
Tausende von Spionen waren im großen Rom für den Heiligen Vater unterwegs, manche seit Jahren oder gar Jahrzehnten, die besten erhielten sogar ansehnliche Pensionen und lebten gut von den Nachrichten, die sie gesammelt hatten. Das Ausspionieren war ein eigenes rentables Geschäft, man mußte die Eigenarten der Fremden begreifen, zumindest einige Worte ihrer Sprache beherrschen und jeden Winkel des großen Rom kennen, um sich jederzeit verbergen zu können.
Ecco..., gab es für solche Dienste einen, der besser geeignet gewesen wäre als er, Giovanni Beri? Und doch hatte man ihn bisher übersehen. Aus seiner Zeit als Corriere kannte er die Stadt wie kaum ein anderer, kaum einen Palazzo gab es, den er nicht betreten hatte, kaum eine Gasse, in der er nicht ein paar Treppenstufen und Seitentüren wußte, um sofort aus dem Blickfeld zu verschwinden. ›Iich eiße Filippo Millär...‹, dachte Beri lächelnd auf deutsch, ›iich koome auss Deutschlaand.‹ Solche Sätze beherrschte er mühelos und noch viele andere, schwierige, in dieser holprigen, unmöglichen Sprache, deren Laute so klangen, als habe sie ein verstimmter Kontrabaß zusammengeschrummt.
Gut, jetzt kam es darauf an! Dieser Ausschank hier war eine der bekanntesten Anlaufstellen für solche, die ihre Nachrichten loswerden wollten. Die meisten Römer wußten von ihr. Hier befand man sich auf dem untersten Niveau, der untersten Sprosse der Leiter, die weit hinauf führte, bis zu den geheimen Zimmern Seiner Heiligkeit drüben in den vatikanischen Gemächern. Jeder wußte, wie mißtrauisch und vorsichtig Seine Heiligkeit war, alles, was in Rom vor sich ging, wollte er wissen, Tag und Nacht. Die besten seiner Spione setzten lange Schriftsätze auf, Seite um Seite, wahre Wunder an Beobachtungsgabe und Scharfsinn, die Seine Heiligkeit über alle Vorgänge in Europa in Kenntnis setzten, so daß er die Staatsgeschäfte der Völker jederzeit vorauszuberechnen wußte. Daher stand er in dem Ruf, der bestinformierte Mann des Erdkreises zu sein, wie es sich für einen Stellvertreter Christi gehörte.
Beri grinste, als er sich die geheimen Gemächer Seiner Heiligkeit ausmalte. Überall lagen stapelweise ausführliche Berichte und Aufzeichnungen herum, nach Ländern und Erdkreisen sortiert. Die vielen Zimmer Seiner Heiligkeit versanken allmählich in diesen Botenmeldungen, sie überschwemmten Möbel und Fußböden, sie wuchsen an den Wänden hinauf wie gierige Pflanzen, die von immer neuen Stapeln gestützt und genährt wurden.
Schluß damit, er durfte sich solche Phantasien jetzt nicht erlauben. Langsam, Schritt für Schritt, arbeitete er sich zu den Holzfässern vor, mit deren Wein unaufhörlich die Karaffen gefüllt wurden. Dann beugte er sich hinüber zu dem Schankwirt, der sein Näherkommen bemerkt zu haben schien.
»Ich möchte mit dem Padre sprechen«, flüsterte Beri ihm zu.
»Wie heißt Du?«
»Giovanni Beri.«
»Gedulde Dich etwas, ich sage dem Padre Bescheid.«
Der Schankwirt verschwand in einem Durchgang zum hinteren Teil des Gebäudes. ›Jetzt werden sie versuchen herauszubekommen, wer Giovanni Beri ist‹, dachte Beri, und er spürte, wie ein eigentümlicher Stolz ihn bei diesem Gedanken beinahe durchquoll. ›Ob sie von meinen Sünden wissen? Sicher wissen sie von meinen Sünden, sie wissen ja alles. Ich werde nicht darauf zu sprechen kommen, ich werde vorsichtig sein, davon hängt alles ab.‹
Nach einer Weile kam der Schankwirt zurück und wies Beri den Weg, die letzte Tür dort hinten, ganz links, er solle hineingehen und Platz nehmen. Beri nickte, sein Herz schlug jetzt rascher, das machte ihm Angst. Immer wenn sein Herz so schlug, bedeutete das nichts Gutes, er verlor seine Ruhe, sein ganzer Körper verlor etwas von seiner Gefaßtheit.
Der Raum, den er betrat, war erschreckend kahl. Ein Stuhl, ein Tisch, auf dem Tisch eine gut gefüllte Karaffe mit Wein, ein einfaches Glas, einige Blätter, ein Tintenfaß mit einer Feder. Und, ja, über der Tür hing ein Kruzifix, der gepeinigte Leib, schmerzgekrümmt. In einer Ecke befand sich eine Spanische Wand, es war nicht zu erkennen, was sich dahinter befand. Doch Beri wußte, daß der, den man den ›Padre‹ zu nennen hatte, jetzt dort saß. Alle, die eine Nachricht loswerden wollten, überbrachten sie einem Padre, Hunderte solcher Padres mochte es in Rom geben, man wußte es nicht genau. Sie blieben unsichtbar, man hörte nur ihre Stimme, und nur dieser Stimme vertraute man sich an.
Beri wartete.
»Setz Dich«, sagte die Stimme, und Beri bemerkte, daß er ruhiger wurde. Die Stimme war gut, das spürte er sofort, es war eine sonore, gesetzte Stimme, die ihm Vertrauen einflößte. Vor allem aber zählte, daß er diese Stimme noch nie gehört hatte. Noch nie, da war er sich sicher! Denn er, Giovanni Beri, hatte ein fabelhaftes Gehör, ein Gehör, das sich selbst auf das Wasser verstand.
»Setz Dich, Giovanni«, sagte die Stimme, »und schenk Dir ein!«
Beri nahm Platz, langsam zog er den Stuhl näher an den Tisch. Dann goß er das Glas halbvoll.
»Mehr, Giovanni, mehr!«
»Ich mache mir nicht viel daraus, Padre«, sagte Beri und spürte, wie er der Lüge wegen rot wurde.
»Du machst Dir sehr viel daraus, Giovanni«, sagte die Stimme. »Weil Du Dir soviel daraus machst, hast Du eine gute Stelle verloren. Trink also!«
»Sie haben recht, Padre«, antwortete Beri, »früher bedeuteten die Freuden des Weins mir sehr viel, ich war ein unwissender Kerl, doch jetzt ist das anders, ganz anders!«
Beri nippte an dem Wein, Gott, es war ein vorzüglicher, schwerer Wein, wie er seit Monaten keinen mehr getrunken hatte! Er bemühte sich, gleichgültig zu bleiben.
»Warum kommst Du hierher, Giovanni, sprich!«
»Mir ist ein Fremder aufgefallen, der heute, am frühen Abend, hier eingetroffen ist, in der Postkutsche, vom Norden her.«
»Hast Du gesehen, wie er hier eingetroffen ist?«
»Ich habe ihn gesehen. Er sprang aus der Kutsche und gebärdete sich wie einer, der nicht recht bei Sinnen ist.«
»Inwiefern?«
»Er lief über die Piazza del Popolo, als wollte er..., als versuchte er..., die Stadt zu umarmen.«
»Wie hast Du Dir sein Benehmen erklärt?«
»Ich dachte, er sei ein Schauspieler.«
»Und weiter?«
»Ich ging ihm hinterher, er ist kein Schauspieler.«
»Nein?«
»Nein, denn als ich hinter ihm herging, kam es mir plötzlich so vor, als sei der Fremde schon viele Male in Rom gewesen.«
»Warum sollte er auch nicht schon einmal in Rom gewesen sein?«
»Den Wachbeamten der Porta del Popolo hat er gesagt, daß er zum ersten Mal in Rom sei.«
»Das hast Du gehört?«
»Ganz deutlich, ich hatte mich herangeschlichen.«
»Und weiter?«
»Der Fremde ging zum Packhof und ließ sein Gepäck visitieren. Ich konnte erkennen, daß er sehr viele Bücher dabei hatte, schöne, edle, mit bestem Leder gebundene. Außerdem hatte er eine große Kiste mit kostbaren Steinen dabei.«
»Auch diese Steine hast Du gesehen?«
»Ganz aus der Nähe, er konnte mich nicht erkennen.«
»Und weiter?«
»Vom Packhof ging der Fremde zur Locanda dell’orso, dort bezog er Quartier.«
»In der alten Locanda am Tiber?«
»Genau dort, Padre. Warum ging er nicht dorthin, wohin es alle Fremden zieht, zu einem Hotel am Spanischen Platz?«
»Ja, warum nicht, Giovanni?«
»Weil er kein Hotel suchte, sondern ein Versteck!«
»Warum sollte der Fremde sich denn verstecken?«
»Es ist ein großer, stattlicher Mann, ich halte ihn für einen Advokaten oder einen Kaufmann oder einen Dottore, der in geheimer Mission unterwegs ist.«
»In welcher geheimen Mission?«
»Ich weiß es noch nicht, Padre. Aber ich könnte mich bemühen, es herauszubekommen.«
»Weißt Du den Namen des Fremden, Giovanni?«
»Ja und nein, Padre.«
»Sprich nicht in Rätseln, Giovanni!«
»Verzeihung, Padre. Der Fremde hat sich in die Gästelisten der Locanda eingetragen. Er hat geschrieben: Filippo Miller, Maler.«
»Du hast diese Eintragung gelesen?«
»Ich habe sie mit eigenen Augen gelesen, Padre.«
»Und weiter?«
»Ich glaube nicht, daß es der richtige Name des Fremden ist.«
»Warum glaubst Du das nicht?«
»Ich sah ihn später, nachdem er seine Reisekleidung abgelegt hatte, noch einmal in der Locanda. Der Fremde trug einen prächtigen, grünen Rock, er sah aus wie...«
»Sag es, Giovanni!«
»Wie ein hoher Herr!«
»Hat Dich der Fremde bemerkt, Giovanni?«
»Aber nein, Padre. Ich habe ihn ganz heimlich beobachtet.«
»Und warum hast Du das getan?«
»Ich möchte Seiner Heiligkeit dienen, Padre! Ich werde Seiner Heiligkeit alles über den Fremden berichten.«
Beri nahm einen zweiten Schluck. Die Ohren brannten ihm, jetzt würde es sich entscheiden.
»Nimm eines der Blätter, die vor Dir liegen, Giovanni!« sagte die Stimme. »Schreib oben das Datum des heutigen Tages darauf, daneben die Uhrzeit. Schreib den Namen des Fremden auf und darunter, wo er abgestiegen ist. Und zeichne das alles mit deinem Namen..., Giovanni Beri, treuer Diener Seiner Heiligkeit!«
Beri rutschte auf dem Stuhl nach vorn. Er nahm die Feder aus dem Tintenfaß und versuchte, ganz ruhig zu bleiben. Er notierte, was von ihm verlangt worden war, dann schaute er auf.
»Trink Dein Glas leer, Giovanni, jetzt kannst Du es leer trinken.«
»Danke, Padre!«
»Du wirst den Fremden eine Woche lang beobachten, Tag und Nacht! Du wirst aufzeichnen, was von Bedeutung ist, damit Dir nichts Wichtiges entfällt. Nach einer Woche wirst Du berichten, hier, zu derselben Stunde.«
»Oh, ich danke Ihnen, Padre.«
»Knie nieder, Giovanni!«
Beri kniete sich hin. Er beugte den Oberkörper so tief er konnte. Irgendein Körperteil zitterte, irgendein Teil zwischen Magen und Lunge, tief im Innern, irgendein Teil bekam es jetzt wohl mit der Angst zu tun. Der Padre sprach den Segen, Beri bekreuzigte sich.
»Seine Heiligkeit rechnet mit Dir, Giovanni!« sagte die Stimme.
»Ich werde alles tun, was ich kann, Padre!«
»Auf Wiedersehen, Giovanni!«
Beri wollte durch die Tür verschwinden.
»Giovanni?«
Beri drehte sich noch einmal um.
»Giovanni, wie geht es Deinem Bruder?«
»Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen, Padre. Er ist verschwunden, zu meinem großen Kummer!«
»Es ist gut, Giovanni, Du kannst jetzt gehen!«
Beri beeilte sich, nach draußen zu kommen. Warum hatte man ihn auch hier nach seinem Bruder gefragt? Schon zum zweiten Mal war er an diesem Tag auf Roberto angesprochen worden. Beri schüttelte den Kopf, nein, es konnte kein Zufall sein, aber was konnte es bedeuten?
Wie auch immer, Roberto spielte jetzt keine Rolle. Wichtiger war, daß er, Giovanni Beri, Seiner Heiligkeit Eindruck gemacht hatte. Jetzt stand er in ihren Diensten, zumindest für eine Woche. Auch für eine Woche erhielt man schon einen beachtlichen Lohn, wenn die Berichte gut und vielversprechend waren! Und er würde gute Berichte schreiben, da war er ganz sicher!
Beri ging langsam zur Locanda zurück. Gut, daß er verschwiegen hatte, wie nahe er dem Fremden bereits gekommen war! Hätte er erzählt, daß er ihm das Gepäck auf dem Karren transportiert hatte, wäre er nicht in Betracht gekommen! Ein Spion durfte sich dem Fremden nicht zeigen, unter keinen Umständen! Er durfte nie auffallen, kein Wort mit ihm wechseln, er war sein unsichtbarer Geist, immer gegenwärtig und doch nicht erkennbar! Gut auch, daß er Signore Tischbein nicht erwähnt hatte. So besaß er einen kleinen Nachrichtenvorsprung. Außerdem wußte er noch nicht, was die Sache mit Signore Tischbein zu bedeuten hatte.
Beri betrat die Locanda dell’orso, fuhr jedoch sofort ins Dunkel des Eingangs zurück, als er den Fremden in seinem grünen Rock am Kamin sitzen sah. ›Iich eiße Filippo Millär‹, dachte Beri, als er die deutschen Laute hörte. Der Fremde unterhielt sich angeregt, sein Gegenüber lachte immer wieder auf. Die beiden tranken Wein, sie schienen sich wohl zu fühlen. Irgend etwas schienen sie zu planen, Filippo und Signore Tischbein..., bald würde er, Beri, es herausbekommen.
Er schlich sich aus der Tür und setzte sich ans Ufer des Tiber. Was für ein Glückstag! Beri lehnte sich zurück und lauschte den Wellen. Manchmal kam es ihm so vor, als seien in ihnen geheime Stimmen verborgen, seltsame, tiefgründige Harmonien, die ein guter Musiker würde aufzeichnen können. Ganz in der Tiefe rumorte etwas Sonores, Fernes, ›Giovanni‹, schien es zu murmeln, ›Giovanni, gib acht!‹
Beri wollte aufmerken, doch die Augen fielen ihm zu. Langsam rollte sein müder Körper sich zusammen, dann schlief er ein.
Am Morgen des nächsten Tages verließ der Fremde mit all seinem Gepäck die Locanda dell’orso und quartierte sich, nachdem er die zurückbehaltenen und geprüften Bücher am Packhof abgeholt hatte, im Haus des Signore Tischbein am Corso ein. Beri beobachtete, daß er ein kleines Zimmer im ersten Stock bezog, dessen Fenster auf eine schmale Gasse ging. Dort jedenfalls öffnete die ältere Frau, der Beri tags zuvor die Botschaft übergeben hatte, die Läden, schüttelte ein Tuch aus und richtete anscheinend alles für den neuen Mieter.
Beri nahm sich vor, das Haus bei passender Gelegenheit genau zu inspizieren und eine Liste der Mitbewohner anzufertigen. Signore Tischbein, den er schon kannte und der auch jetzt wieder in Erscheinung trat, lehnte sich mit dem Fremden zum Fenster hinaus, sprach laut auf ihn ein und tat ganz so, als sei er in diesen Räumen seit Ewigkeiten zu Haus.
Der Fremde selbst hielt sich jedoch gar nicht lange in seinem neuen Quartier auf, sondern machte sich schon bald allein auf den Weg. Beri hatte Mühe, ihm zu folgen, so schnell war er unterwegs. Kaum war er den Corso entlanggeeilt, stand er schon auf der Höhe des Kapitolhügels und schaute minutenlang hinüber zum Kolosseum. Vom Kapitolhügel sprang er eilig hinunter, hastete zum Tiber und lief mit großen Schritten nach Sankt Peter.
Ja, so wie er gingen die meisten Fremden die Bekanntschaft mit der Ewigen Stadt an. Sie waren gierig darauf, alles zugleich zu erleben, und sie gönnten sich nicht einmal eine Pause, um von den Strapazen des Weges auszuruhen. Beri schüttelte den Kopf, unglaublich! Kein Römer wäre gerade zur Mittagszeit auf dem großen Platz vor Sankt Peter umhergeeilt, um die Kolonnaden zu betrachten. Und erst recht wäre kein Römer nach einem einstündigen Rundlauf durch die Kirche des Heiligen Vaters auf den Gedanken gekommen, zur Engelsburg zu eilen, um gerade dieses finstere Bauwerk beinahe viermal ruhelos zu umkreisen.
Der Fremde hatte sich einen Stadtplan beschafft, aber anstatt sich mit seiner Hilfe zu orientieren, lief er anscheinend blind darauf los, ließ sich von den Fährleuten immer wieder über den Tiber setzen, bald auf die eine, dann, ganz willkürlich und unerwartet, wieder auf die andere Seite. Er erreichte die Piazza del Popolo, durchlief die Strada del Babuino hin zum Spanischen Platz, nahm die Spanische Treppe in schnellen Sprüngen und verweilte dann gerade, als er, Beri, die vielen Stufen hinauf ebenfalls geschafft hatte und der Erschöpfung wegen beinahe allzu laut aufgeseufzt hätte, dort oben, wieder unbeweglich, minutenlang, als sei er von einem Starrkrampf befallen.
Es kam Beri so vor, als suchte der Fremde in seiner Unruhe etwas ganz Bestimmtes und als könnte er, Beri, ihm dieses Gesuchte ganz leicht besorgen oder vermitteln. Wenn er nur gewußt hätte, was es war! Dann wieder meinte Beri, der Fremde sei sich selbst nicht im klaren darüber, was er suchte, so konfus und aufgeregt gab er sich.
Jedenfalls redete der Fremde den ganzen Tag mit keinem anderen Menschen. ›Schlimm‹, dachte Beri, ›entsetzlich, er ißt nichts, trinkt nichts, spricht nichts, er frißt sich voll mit Straßen, Treppen, Kirchen und Plätzen, er hat die Fremdenkrankheit! Jetzt glaube ich nicht mehr, daß er schon einmal in Rom war, nein, er sieht alles gewiß zum ersten Mal, sonst zappelte er nicht so herum wie ein Kind. Schade nur, daß ich ihm nicht zur Seite sein kann, ich würde ihn gewiß beruhigen und einiges tun, seine Krankheit zu heilen!‹
Was würde er tun? Beri schloß die Augen, während der Fremde oberhalb der Spanischen Treppe länger als sonst ins Träumen und Schauen geraten zu sein schien. Oh, er würde ihn auf die andere Tiberseite führen, hinauf in die Weinberge, von denen aus man einen herrlichen Blick auf die Stadt hatte. Oder er würde mit ihm den Gianicolo besteigen, um ihm von dort die Albaner Berge zu zeigen, das ganze hügelige Land ringsum! Von der Höhe und aus der Ferne betrachtet, war Rom erst eine schöne Stadt, hier aber, in den Straßen und Gassen, lungerte zuviel Volk herum, es stank nach Urin und Abfall, und die herumstreunenden Katzen und Hunde taten ein übriges, die Stadt zu verschmutzen. Wenn er, Beri, das Sagen gehabt hätte, hätte er die ganze Stadt für eine Woche im Wasser ertränkt, die ganzen Niederungen, so wie man an manchen Tagen im Sommer die Piazza Navona unter Wasser setzte, daß selbst die Kutschpferde ihren Spaß daran hatten und gravitätisch durch das Naß stolzierten.
Beri öffnete die Augen, Gott, der Fremde war schon wieder weitergeeilt, unfaßbar, mit welch weiten Schritten er eine Straße durchmaß. So, wie er sich durch die Stadt bewegte, konnten ihn diese Wege unmöglich erfreuen! Beri schwitzte, ließ aber nicht ab, dem Fremden in gebührendem Abstand zu folgen. ›Vielleicht sucht er ein stattlicheres Quartier oder ein Versteck‹, dachte er, ›nur so ließe sich seine Hast erklären. Aus irgendwelchen Gründen hat er es jedenfalls sehr eilig, wenn es sich nicht um das übliche Fieber handelt, das die meisten Fremden befällt, wenn sie Rom betreten. Sie können sich einfach nicht gedulden, sie wollen alles auf einmal sehen!‹
Schließlich war Beri erleichtert, als der Fremde am frühen Abend, langsamer jetzt, mit doch deutlichen Anzeichen von Ermüdung, wieder sein Quartier aufsuchte. ›So viele Schritte habe ich noch nie an einem Tag gemacht‹, dachte Beri und setzte sich dem zweistöckigen Haus gegenüber in den Eingang des Palazzo Rondanini. ›Für heute ist es genug, bleib oben, Filippo, ruh Dich aus und trink endlich ein Glas!‹
Das Ausspionieren war ein anstrengendes Geschäft, man verlor beinahe alles eigene Leben dabei. Nirgends durfte man verweilen, nirgends sich besinnen. Zur Hälfte lebte man mit Körper und Seele auch in einem anderen Menschen, man nahm schon beinahe seine Gedanken an! Beri lachte kurz auf, er wartete noch eine Weile, dann beschloß er, für diesen Abend darauf zu vertrauen, daß der Fremde sein Quartier nicht mehr verlassen würde. Er, Beri, hatte sich zwei, drei Gläser verdient und einen reichlich gefüllten Teller Makkaroni dazu!
An den darauffolgenden Tagen hielt sich der Fremde mit weiten Erkundungsgängen zurück. Das Wetter war häßlich geworden, der Scirocco durchwehte vor allem mittags die Stadt, fegte den Dreck zusammen und führte einen leisen, aber aufdringlichen Regen mit sich, der die kleinen Plätze unaufhörlich besprengte.
Beri hatte sich daran gemacht, die Mietverhältnisse im Quartier des Fremden genauer zu erforschen. Schon bald hatte er herausbekommen, daß im ersten Stock neben dem Fremden und Signore Tischbein zwei weitere deutsche Maler wohnten. Den einen nannten sie ›Giorgio‹ und mit Nachnamen ›Zicci‹, den anderen ›Federico‹ und mit Nachnamen ›Bir‹.
Das größte Hindernis, sich diesem Kreis zu nähern, waren die Wirtsleute: Serafino Collina, ein kauziger, meist schlecht ausgeschlafener Mann, lungerte beinahe den ganzen Tag in der Umgebung des Hauses herum. Mal setzte er sich auf einen Schemel in den Eingang, wo er sich einen Kaffee bringen ließ, mal lehnte er auch einfach mit dem Rücken gegen die Hauswand, spielte mit den Glaskugeln in seiner Rechten und sprach jeden Zweiten an, der an ihm vorbeiwollte. Aus den Fenstern der oberen Räume rief ihm seine Frau Piera manchmal ein paar Brocken zu, aber er antwortete meist nur mit einem Grunzen oder einem Fluch, um zu zeigen, daß ihm gerade diese Ansprache lästig war.
Die meiste Arbeit schien denn auch ihr Sohn Filippo zu tun, der alles für die Küche besorgte, mehrmals am Tag die Treppe fegte und auch sonst alle Botengänge ausführte, mit denen ihn die Malergesellschaft beauftragte.
Beri hatte schon daran gedacht, sich Filippo zu nähern, um ihn auszufragen; dann hatte er den Gedanken jedoch schnell wieder fallengelassen. Filippo Collina war ein Bursche von jener Sorte, die er, Beri, nicht mochte. Er paßte sich leicht den Fremden an, dienerte um sie herum, machte den halben Tag den Buckel krumm und rannte auch des geringsten Trinkgeldes wegen durch die halbe Stadt, um einem dieser Angereisten sein geliebtes Bier zu besorgen. Pah, und was machte er mit all seinen Trinkgeldern? Nie ließ er sich in einer Osteria sehen, nie kaufte er sich irgendwo eine Kleinigkeit, um vielleicht seine Liebste damit zu beglücken! Nein, Filippo Collina war kein echter Römer, er war weder stolz noch ein richtiger Mann, er war das Bübchen seiner Eltern und ein Fremdenliebling dazu!
Beri kniff verächtlich die Augen zusammen. So einen wie diesen Filippo Collina hätte er gerne einmal verprügelt, er mußte sich ja beinahe schon zurückhalten, es nicht wirklich zu tun! Ihm zwei, drei drübergeben, damit ihm sein Rückenkrümmen einmal richtig weh tat und Mamma Piera ihren Zögling nicht wiedererkannte! All das, was die fremden Maler des Nachts in ihrem ersten Stockwerk besprachen, hätte dieser Filippo mitbekommen können, wenn er gelauscht hätte! Doch daran dachte der Kerl nicht mal im Traum, statt dessen kroch er die Treppe hinab und hinauf, brachte dem Pappa einen Teller Suppe, wenn der es befahl, und half der Mamma dabei, die schweren Eimer mit Putzwasser zu leeren!
Inmitten dieser Collinas aber, die sich kaum eine Minute aus den Augen zu lassen schienen und dabei noch unaufhörlich um das Wohl der Fremden besorgt waren, strich eine Katze umher, ein schnelles, meist unsichtbar bleibendes Wesen, das jedoch immer dann auftauchte, wenn er, Beri, sich allzu sehr dem Haus näherte. Es war wie verhext! Kaum hatte der alte Collina einmal für Sekunden seinen Stammplatz geräumt, tauchte das Tier mit drohend gekrümmtem, häßlichem Schwanz in der Tür auf, fauchte, strich miauend an der Mauer entlang, duckte sich wie ein böser, sprungbereiter Geist auf den Boden und spielte im nächsten Moment, wenn der Kopf Piera Collinas oben in einem Fenster erschien, das schüchterne, friedliche Tier, das sich die Pfoten leckte.
›Verdammtes Wesen‹, dachte Beri, ›auch Dich hat keine römische Mamma geboren, denn die in Rom Geborenen erkennen einander und fauchen sich niemals an! Wahrscheinlich kommst Du irgendwoher aus der Campagna, aus einem stinkenden, armseligen Bauerngehöft, wo Du zu lahm warst für die Mäuse und zu feige, den Hühnern mal zuzusetzen. Biest! Du paßt ganz zu diesen Collinas, die mir das Leben schwermachen, Du hast Dich mit ihnen zusammengetan, Ihr seid von einem Stamme, dem Stamme der Duckmäuser, Aufjauler und Trinkgeldbewahrer!‹
Beri drohte dem Tier und begab sich auf die andere Straßenseite. Drei Tage hatte er gebraucht, die Lebensverhältnisse in dem Quartier des Fremden zu erforschen, aber jetzt wußte er genau Bescheid! So sehr die Collinas ihn auch behindert hatten, er, Beri, hatte sich nicht von seiner Aufgabe abbringen lassen. Wie er es nur schaffen könnte, das Haus unbemerkt zu betreten, um endlich herauszubekommen, worüber die Fremden sich Nacht für Nacht unterhielten?
Jeden Abend suchte er sich einen anderen Platz im Verborgenen, um zu den erleuchteten Fenstern im ersten Stock hinaufschauen zu können. Giorgio Zicci, Federico Bir, Signore Tischbein, Signore Miller – meist aßen sie abends zusammen, ließen sich von Filippo Collina frisches Bier bringen und verbrachten dann viele Stunden mit langen Gesprächen. Warum gingen sie in diesen schönen Nachtstunden, wenn der Regen nachließ, nicht hinaus? Warum nahmen sie sich nicht eine Kutsche, um wie viele andere abends vor die Porta del Popolo zu fahren, an den Villen und Landhäusern entlang?
Irgend etwas Wichtiges gab es dort oben zu besprechen, irgend etwas heckten sie aus. Und es kam ihm, Beri, so vor, als hielte der neu angekommene Fremde die Fäden der geheimen Sache zusammen. Daß er kein Maler war, wie er in der Locanda angegeben hatte, da glaubte Beri sich jetzt ganz sicher zu sein. Dieser Fremde redete viel, er gestikulierte wie ein Schauspieler, manchmal schien er sogar etwas zu rezitieren, wenn er oben, im ersten Stock, in einem Fenster mit den großen Gebärden seiner Rechten zu sehen war. All dieses Reden und Schwadronieren war nicht die Sache der Künstler; die meisten von ihnen waren schweigsame, nur an den Abenden beim Wein aufbrausende Leute. Diesem Fremden aber lag viel an den Worten.
Gott, er hatte ja ein unendliches Mitteilungsbedürfnis! Wenn er nicht auf seine Malerfreunde einsprach (manchmal schien er beinahe zu unterrichten, aber was, was nur...), widmete er sich seinen Briefen. Beinahe täglich schrieb er gleich mehrere! Beri beobachtete ihn, wenn er in einem der Kaffeehäuser in der Nähe des Spanischen Platzes saß. Husch, husch – so sauste ihm die Feder über das Blatt! Keinen Moment nachgedacht, kein Sekündchen verweilt – der Fremde schien alles Erlebte sofort in wohlgesetzten Worten auf seine Blätter zu bringen. So schnell, so gekonnt formulierten nur Advokaten!
›Und in der Tat‹, dachte Beri, ›es scheint um irgendwelche Rechtshändel zu gehen, um Abmachungen, eine Bittschrift, ein Dekret, ein Gesuch – da könnte ich wetten! Einer wie der schreibt keine Liebesbriefe, und Briefe an gute Freunde scheinen es auch nicht zu sein, dazu ist er viel zu ernst und zu streng. Nein, er betreibt und verhandelt etwas, da bin ich mir sicher!‹
Solche Vermutungen ergänzte Beri durch die weiteren Beobachtungen, die er bei der Verfolgung des Fremden gemacht hatte. In Begleitung des Signore Tischbein hatte der Fremde sich nämlich an zwei aufeinanderfolgenden Tagen auf den Weg gemacht, den Heiligen Vater zu sehen. Beim ersten Mal hatten sie einer Messe in den vatikanischen Gemäuern beigewohnt, beim zweiten Mal einem Gottesdienst in der Hauskapelle Seiner Heiligkeit auf dem Quirinal.
Wie edel und würdig der Heilige Vater dort aufgetreten war, umgeben von seinen Kardinälen! Wie bescheiden und doch gebildet er dreingeschaut hatte, ohne viele Worte zu machen, getreu seinem Wahlspruch, das Reden sei eine Entweihung des Schweigens! Himmelsmusik war erklungen, leise murmelnd, die Gemeinschaft der Heiligen beschwörend, war der Heilige Vater um den Altar gekreist, sich bald nach dieser, bald nach jener Seite wendend, mit dem Ausdruck erhabenster Gesinnung!
Der Fremde jedoch – Beri hatte es voller Widerwillen bemerkt – hatte sich erlaubt, dazu allerhand Faxen zu machen. Selbst in der Hauskapelle des Heiligen Vaters hatte er sein Schwatzen und Wispern nicht unterdrücken können, unaufhörlich hatte er dem stilleren Signore Tischbein etwas ins Ohr gezischt, wahrscheinlich lauter Possen und Scherze, denn Signore Tischbein hatte sich mit der Zeit nicht mehr halten können, so schwer war es ihm gefallen, das Lachen zu unterdrücken!
Gelächter und Possenreißen – in Gegenwart des Heiligen Vaters! Doch nicht genug! Nach kaum zehn Minuten hatten beide die Kapelle verlassen, er, Beri, war ihnen voller Abscheu gefolgt und hatte sie beobachtet, wie sie sich draußen, in den Palasträumen Seiner Heiligkeit vor Lachen geschüttelt hatten. Der Fremde hatte damit begonnen, den Heiligen Vater zu imitieren, brummend, den Kopf wie ein altersblöder Greis hin und her wendend, war er durch die Gänge des Palastes geschlurft, und Signore Tischbein hatte so getan, als trüge er dem Heiligen Vater die Schleppe!
Sie hatten sich immerfort bekreuzigt und dabei allerhand Lateinisches geredet, sie hatten sogar die Himmelsmusik nachgeahmt, verquer, mit hohen, überkippenden Stimmen, ja, sie hatten sich betragen wie alberne Kinder, die es nicht wert waren, diesen Palast zu betreten!
›Das sind keine Gläubigen‹, hatte Beri gedacht, ›das sind Ketzer aus dem Norden, Klugscheißer, Besserwisser, die jedes Wort wenden und strecken, weil sie den einfachen, rechten Glauben verloren haben wie ihr Zuchtmeister Luther, der ihnen beigebracht hat, auf die Kanzeln zu klettern, um dort allerhand Gerede loszuwerden! Es fehlt nicht viel, dann werden sie auch dieses Gerede leid sein und sich ganz von den christlichen Lehren abwenden, denn so geht es meist mit den Ketzern aus dem Norden! Erst zweifeln sie, dann reden sie, dann studieren sie, und dann stehen sie im Dunkel der Nacht, gottlos und verlassen! Was wollen solche Existenzen in der Ewigen Stadt, man müßte ihnen hier den Teufel austreiben, man müßte sie bekehren, wie man es in den fernen Ländern mit den Primitiven und Unwissenden gemacht hat! Ich würde sie zur Fontana di Trevi bringen lassen, um sie dort ein zweites Mal zu taufen, tief müßten ihre nordischen, zweifelnden Köpfe untergetaucht werden in das sprühende Naß dieses herrlichen Brunnens! Hinab, den Kopf ins römische Wasser, auf daß ihr der Hölle noch einmal entkommt!‹
Beri schüttelte sich erleichtert, so sehr hatte ihn das Verhalten der Fremden in Rage gebracht. Vorsichtig war er ihnen durch die Säle des Palastes gefolgt. Allerhand Künstlervolk war an diesem Tag zugegen gewesen, in kleinen Gruppen hatte man den Palast durchwandert, die bedeutendsten Gemälde betrachtet und die Meisterstücke gewürdigt.
Da waren die Fremden denn plötzlich gar nicht mehr zu halten gewesen. Eine bischöfliche Gestalt, eine Heilige Jungfrau mit einer Palme in der Hand, Mönche, Kreuz und Lilie tragend, Engel mit goldenen Kränzen, hinauf und hinab schwebend – vor solchen Bildern waren sie in Lobrufe des Entzückens ausgebrochen, als seien all diese gemalten Gestalten ihnen ganz nahe! Immer wieder traten sie dicht an die Bilder heran, folgten anerkennend der Zeichnung, priesen das Kolorit, schilderten Szene und Ausdruck! Pah, waren diese Heiligen und Bischöfe also keine Zeugen des römischkatholischen Glaubens, waren es Schemen des Aberglaubens, von gläubigen Malern auf die Leinwand gebannt, um sie lächerlich zu machen?!
Beri wurde immer ungehaltener. Den Respekt, den die Fremden gegenüber dem Heiligen Vater hatten vermissen lassen, brachten sie nun in übergroßen Rationen für die gemalten Heiligen auf! Wie paßte das denn zusammen, wie konnte man den Heiligen Vater kränken und seine gemalten Heiligen derart schätzen?