Ferienhaus für eine Leiche - Franziska Steinhauer - E-Book

Ferienhaus für eine Leiche E-Book

Franziska Steinhauer

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Beschreibung

Als Gunnar Hilmarström sein Ferienhaus auf den Winter vorbereitet, macht er eine ebenso unerwartete wie schockierende Entdeckung: In der Aussteuertruhe auf dem Dachboden liegt eine unbekleidete, teilweise mumifizierte Frauenleiche! Schnell stellt sich heraus, dass die Unbekannte keines natürlichen Todes gestorben ist. Wer ist die Tote? Und wer hat sie in der alten Truhe versteckt? Womöglich eine der Sommerfamilien, die in dem Häuschen Urlaub machten? Aber wann ist das geschehen? In dieser Saison oder schon vor längerer Zeit? An Antworten auf diese Fragen sind nicht nur Gunnar und die schwedische Öffentlichkeit brennend interessiert. Hauptkommissar Sven Lundquist nimmt mit seinem Team die Ermittlungen auf, spürt die Mieter auf, forscht in den Familien nach vermissten Angehörigen. Als plötzlich Inga, Gunnars Ehefrau und Hobbydetektivin, spurlos verschwindet, bleibt Lundquist nur noch wenig Zeit, sie aus den Klauen des Mörders zu retten.

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Franziska Steinhauer

Ferienhaus für eine Leiche

Schweden-Krimi mit Rezepten

Franziska Steinhauer

Ferienhaus für eine Leiche

Ein Fall für Sven Lundquist

Haftungsausschluss: Die Rezepte dieses Buchs wurden von Verlag und Herausgeber sorgfältig erwogen und geprüft. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Die Haftung des Verlags bzw. des Herausgebers für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen

© Oktober Verlag, Münster

Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung

des Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster

www.oktoberverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Anh Nguyen

Umschlag: Anh Nguyen und Linna Grage

unter Verwendung eines Fotos von Roberto Adrian

Rezepte: Franziska Steinhauer, Roland Tauber und Laura Wiebold

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund www.readbox.net

ISBN: 978-3-938568-73-6

Er stand am Fuß der Treppe und horchte in sich hinein.

Eigentlich hatte er mit Vielem gerechnet, mit einem schlechten Gewissen, quälenden Schuldgefühlen, bohrendem Skrupel oder aufgeregter Vorfreude.

Doch tatsächlich empfand er nichts dergleichen.

Nur eine unendliche Leere.

Noch konnte er umkehren, so tun, als habe er nie so etwas vorgehabt.

Sollte sein Plan scheitern und man ihn überführen, zöge das einen empörten Aufschrei der Scheinheiligen nach sich, er würde geächtet, von allen verteufelt.

Man würde ihn hassen.

Aber das werde ich zu verhindern wissen, dachte er selbstbewusst. Schließlich bekamen sie beide, was sie verdienten: sie den Tod und er die Freiheit!

Die verzogenen Stufen der alten Holztreppe knarrten vorwurfsvoll, als er vorsichtig zu ihrem Zimmer im Dachgeschoss schlich.

Nervös zuckte er zusammen.

Einen Moment wartete er angespannt, eingefroren in der Bewegung.

Er lauschte auf einen Ruf oder ein anderes Geräusch aus ihrem Zimmer, vielleicht ein verräterisches Husten oder eine Art Rascheln oder Zischen, hervorgerufen vom Reiben ihrer rauen und aufgerissenen Hornhautfersen auf dem kühlen glatten Bettlaken. Hatte sie ihn etwa doch kommen hören? Zum wiederholten Mal strich er sich die Haare aus der Stirn.

Würde sie jetzt, wie sonst, seinen Namen rufen? Leicht fragend, unsicher, so, als wisse sie nicht genau, ob er es war, der die Treppe herauf kam? Als ob sich in den letzten Jahren je ein Mensch hierher verirrt hätte!

Lächerlich!

Wer sollte schon das Bedürfnis haben, eine boshafte Alte und ihren idiotischen Sohn zu besuchen! Da kam doch nur, wer unbedingt musste. Der Arzt zum Beispiel – doch selbst der erschien nur noch sporadisch. Und am liebsten war ihm, wenn er die zänkische Nörglerin nicht leibhaftig zu Gesicht bekam, sondern sich von ihrem Sohn alle relevanten Informationen über ihren Gesundheitszustand geben lassen konnte. Danach händigte der Arzt ihm das Rezept aus und konnte aufatmen.

Zornig ballte er die Hände zu Fäusten und rammte sie dann kraftvoll in die Hosentaschen. Schwindel ließ ihn für einen Moment taumeln.

Das ist der Hass, der mir schwarz vor Augen werden lässt!, dachte er und es erfüllte ihn fast mit Stolz.

Es steckte doch noch Gefühl in ihm!

Als alles ruhig blieb, wagte er sich vorsichtig ein paar Stufen weiter.

Das hättest du nicht gedacht, begann er einen imaginären Dialog mit ihr, dass ich dazu fähig wäre! Oh, nein. Du hast mich eben völlig falsch eingeschätzt!

Typisch für dich!

Nie hast du meine Fähigkeiten erkannt!

Nie hast du dich für deinen einzigen Sohn interessiert!

Nun konnte er schon die Tür zu ihrem Zimmer sehen.

»Ach, du bist es nur«, begrüßte sie ihn üblicherweise mit unverhohlener Enttäuschung.

Nur! Als wäre er ein Nichts! Ein Stück Dreck! Und, während er noch damit beschäftigt war, seine Wut hinter einem milden Lächeln zu verbergen, um ihr nicht zu zeigen, dass es ihr gelungen war ihn zu verletzen, fuhr sie schon fort:

»Tja, so ist der Lauf der Dinge. Wenn man alt ist, wird man von allen gemieden und die anderen wünschen einem dann nur noch den Tod, lauern darauf, dass man nun endlich stirbt.« Diese mit leicht zitternder Stimme vorgebrachten Äußerungen waren fester Bestandteil ihres Psycho-Spiels, das einzig dazu diente ihn zu erniedrigen. Regelmäßig rang sie ihm dadurch Sätze ab wie »Ach Blödsinn, wie kannst du so etwas sagen, niemand wünscht sich deinen Tod« oder »Du wirst doch nicht gemieden! Die anderen sind nur auch unbeweglich geworden, aber beim Einkaufen fragen sie immer ganz freundlich nach dir«, die er sich nur mit Ekel sagen hörte und die ihm Schauer unbändigen Zorns durch den Körper jagten. Er wusste eigentlich gar nicht, wie es ihr gelang – er spürte immer einen so unbändigen Druck, so eine gewaltige Angst vor ihrer Reaktion, wenn er ihr die erwartete Antwort verweigerte, dass er jedes Mal brav wieder den gewünschten Text lieferte. Doch kaum hatte er seine Antwort gegeben, triumphierte sie höhnisch wie immer:

»Du lügst! Du traust dich nicht einmal jetzt, wo ich hier liege, mir die Wahrheit zu sagen! Du Schlappschwanz – wieso nur habe ausgerechnet ich so einen Blindgänger als Sohn! Aber es zeigt mir, dass ich noch immer die Hosen anhabe in diesem Haus«, und dann lachte sie ihn jedes Mal aus – lachte so lange, bis sie keine Luft mehr bekam und sich erschöpft in die Kissen sinken lassen musste, lachte, bis Tränen über ihre zerknitterten Wangen liefen. Überall, wohin er auch ging, verfolgte ihn dann ihr schrilles, wahnsinniges Hohngejohle.

Er war ein Versager, ein alberner Schwächling – sie hatte recht!

Jemand wie er, der sich immer aufs Neue demütigen ließ, sich nie zur Wehr setzte, verdiente nur Verachtung.

Während der Arbeit auf dem Hof flüsterte er später die Antworten vor sich hin, die er hätte geben wollen, berauschte sich an hasserfüllten Sätzen voller Boshaftigkeit, übte sie und nahm sich vor: Beim nächsten Mal!

Wie jedes Mal!

Ihr Machtbereich reichte weit über ihr Zimmer oder den Hof hinaus. Über Telefon war sie in Windeseile mit den tratschenden Weibern im Dorf verbunden. Sie streute falsche Behauptungen aus, wie andere Leute Rasensamen – und er konnte sich nicht einmal wehren. Einmal hatte sie behauptet, er habe sie beinahe verhungern lassen, ein anderes Mal beschuldigte sie ihn, sie misshandelt zu haben. Nicht, dass etwa eine der alten Damen zu Besuch gekommen wäre, um die Zustände in ihrem Haus zu kontrollieren. Im Grunde wussten alle, was für ein Drachen seine Mutter war, aber ihn auf die Vorwürfe anzusprechen wagte auch niemand. Schließlich hätten sich daraus weitreichende Konsequenzen ergeben können, und das galt es zu vermeiden. Wer wollte schon in solch intime Familienangelegenheiten verwickelt werden, da hielt man sich besser bedeckt!

Scheinheiliges Pack! Tuschelte lieber hinter seinem Rücken!

Andererseits erfuhr sie alles von den Tratschtanten im Ort – über jeden seiner Schritte.

Doch damit war nun endgültig Schluss!

Im Laufe der Zeit hatte er sich eine fast geräuschlose Art der Bewegung angewöhnt, damit sie wenigstens nie mit Gewissheit sagen konnte, wo auf dem weitläufigen Gelände er sich gerade befand. Es gelang ihm nie, sich auf längere Zeit ihrem Einfluss zu entziehen.

Er atmete tief durch und probierte vorsichtig die nächste Stufe. Gab es etwas Unberechenbareres als Holztreppen? Völlig ungewiss, welche der Stufen heute knarzen würde. Endlich hatte er das obere Stockwerk erreicht. Stand einen Moment unschlüssig vor ihrer Tür. Die einzigen Geräusche, die er wahrnahm, waren sein eigener Herzschlag und das Rauschen des Bluts in seinem Kopf. Seine schweißnassen Hände umklammerten die geschwungene, kühle Messingklinke.

Langsam, ganz langsam drückte er sie hinunter und schob zögernd die Tür auf.

Das Licht des Treppenhauses warf ein fahlgelbes Dreieck auf die alten, dunklen Dielen ihres Zimmers. Er wartete mit angehaltenem Atem. Rechnete fest damit, dass sie anfangen würde zu jammern und zu zetern. Seine Fingernägel bohrten sich schmerzhaft in die Handteller, als er nun angespannt lauschend im Flur stand.

Doch außer einem gleichmäßigen Atemgeräusch war nichts zu hören. Erleichtert seufzte er leise und strich sich mit zitternden Fingern die Haare aus der Stirn. Dabei registrierte er erstaunt, wie stark er schwitzte.

Lächerlich!, schalt er sich, das Schwerste war doch schon geschafft.

Alles reibungslos gelaufen, wie in dem Film, den er vor einiger Zeit im Fernsehen gesehen hatte! Der Rest würde jetzt ein Kinderspiel sein!

Bald bin ich frei!, frohlockte eine Stimme in seinem Kopf. Kein Gemecker, kein Streit mehr. Endlich ein eigenes Leben!

Der Geruch nach Alter, Vernachlässigung und Urin schlug ihm entgegen. Auch damit hätte es jetzt endgültig ein Ende! Er wusste es: Sie tat das mit Absicht, nur um ihn zu ärgern! Bestimmt war sie eigentlich noch ganz beweglich, er hatte schon lange den Verdacht, dass sie während seiner Abwesenheit durch das ganze Haus lief und herumspionierte. Er merkte es daran, dass Gegenstände nicht mehr an dem Platz lagen, an dem er sie abgelegt zu haben glaubte, sondern an den unwahrscheinlichsten Orten wieder auftauchten. Ihr Werk, bestimmt! Vielleicht sang sie sogar dabei und tänzelte durch die Räume – aber um ihm Arbeit zu machen, lag sie, wenn er im Haus war, einfach bloß noch im Bett und ließ sich von ihm bedienen. Sie pinkelte sogar ins Bett, um ihm danach triumphierend dabei zusehen zu können, wie er es dann abziehen und die stinkende Bettwäsche waschen musste. Und er – er durfte nicht zeigen, wie sehr er sich ärgerte. Abhängigkeit, das war ihm deutlich bewusst, Abhängigkeit war das Zauberwort.

Wann hatte das eigentlich alles angefangen?

So genau wusste er das gar nicht mehr.

Immer öfter war sie, von einem Moment auf den anderen, von einer gewaltigen Lustlosigkeit erfasst worden. In solchen Zeiten beschloss sie, im Bett liegen zu bleiben und nichts mehr tun zu können. Und diese – sie nannte es ›Pflegephase‹, damit er glauben konnte, die Situation würde sich nach einiger Zeit wieder bessern – hielt nun schon eindeutig viel zu lange an!

»Altersdepression und fortschreitende Demenz« lautete lapidar die Diagnose des Quacksalbers, der anfangs seine Mutter in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen besucht hatte. Das wäre durchaus nicht so selten, er müsse sich eben damit abfinden, und die Pflege seiner Mutter sei doch nun wirklich kein unlösbares Problem, hatte er noch hinzugefügt. Was hatte dieser Pseudopsychodoktor schon für eine Ahnung!, dachte er verächtlich, der musste ja schließlich nicht diese Hexe versorgen!

Auf Zehenspitzen schlich er an das große Bett heran, das in der Mitte des Raumes stand. Die alte Frau sah darin zart und zerbrechlich aus, war zwischen den vielen Decken und Kissen kaum auszumachen. Sensibel und freundlich!

Auf Fremde mochte sie diesen harmlosen Eindruck machen.

Ihn jedoch konnte sie nicht täuschen.

Hasserfüllt starrte er lange auf das runzlige Gesicht, hinter dessen Fassade er den teuflischen Dämon zu erkennen glaubte.

Seine Fäuste öffneten und schlossen sich rhythmisch.

Dann, mit einem plötzlichen Ruck, beugte er sich weit über die verhutzelte Gestalt und riss das größte der Kissen an sich. Triumphierend hielt er es einen kurzen, allmächtigen Augenblick über seinen Kopf, holte Schwung und presste es wild entschlossen auf das kleine Gesicht.

»Hexe! Hexe!« Mit seinem gesamten Gewicht drückte er das Kissen auf sie nieder. Die Haare fielen ihm ins Gesicht, er hatte keine Hand frei, um sie zurückzustreichen. »Hexe! Hexe!«

Immer wieder holte er aus, um den Druck zu verstärken. Das Bett quietschte dabei in einem obszönen Rhythmus, was ihn zusätzlich in Erregung versetzte.

Sein Gesicht verzerrte sich vor Anstrengung.

In diesem albtraumhaften Moment, als er schon glaubte, sein Ziel mit Leichtigkeit erreicht zu haben, begann zu seinem blanken Entsetzen der ausgemergelte Körper zu strampeln! Dünne Arme zuckten unter der Bettdecke hervor und faltige Finger mit langen, scharfen Krallen versuchten seine Handgelenke zu umfassen! Er spürte, wie sie seine Arme zerkratzten, wie Blut über seine Handrücken zu laufen begann. Er schluchzte laut auf, verstärkte den Druck! Sie musste doch einsehen, dass es so nicht weitergehen konnte!

Ihre Zeit war abgelaufen!

Sie musste jetzt endlich sterben!

Einige Kissen fielen zu Boden, Tablettenröhrchen und Fläschchen mit allerlei Tropfen wurden von ihren wedelnden Armen vom Nachttisch gefegt und zerbrachen auf dem Boden. Der intensive Duft ätherischer Öle mischte sich unangenehm unter die anderen Gerüche.

»Mein Gott, wie lange soll das dauern? Nun stirb doch endlich!«, kreischte er die Frau unter dem Kissen verzweifelt an. In dem Film war von Gegenwehr des Opfers keine Rede gewesen! Sie hätte ihren unfreiwilligen Tod verschlafen sollen! Stattdessen kämpfte sie jetzt um diesen auflodernden Funken Leben, der in ihrem alten, wohl doch nicht so geschwächten Körper gewohnt hatte.

Sie rammte ihr Knie gegen seine Lende, wand sich unter dem Kissen.

»Stirb!« Seine Stimme überschlug sich hysterisch, er presste noch fester, noch entschlossener. »Na, mach schon!«

Dann, nach einer Unendlichkeit, spürte er, wie die Gegenwehr langsam schwächer wurde, die Arme nur noch fahrig über das Laken zuckten. Der Körper schlaff wurde. Ihre Klauen widerstrebend von seinen Armen und Händen abfielen.

Es dauerte noch einige Sekunden, bis er es schließlich wagte, das Kissen loszulassen. In dem winzigen Zimmer war es plötzlich völlig still, selbst von draußen drangen keine Geräusche mehr herein. Es schien, als ob sogar die Vögel, die sonst den ganzen Tag geschwätzig um das Haus herumflatterten, abwarteten, was nun geschehen würde.

Erschöpft, nach Atem ringend, stand er neben ihrem Bett und starrte auf die zerwühlte Decke und das Kissen, das noch immer auf dem Gesicht der Toten lag. Seine Knie zitterten und sein Atem ging stoßweise. Die Nase lief, von der Stirn lösten sich Schweißtropfen und rannen ihm über die Schläfen. Sein Shirt klebte nass an seinem Rücken.

»Nicht einmal sterben kannst du, ohne Schwierigkeiten zu machen!«, zischte er keuchend. »Wieso hast du nicht geschlafen? He? Ich kann dir sagen warum! Weil du nie tust, was andere tun, weil du immer nur für Probleme sorgst, weil es dir teuflische Freude bereitet andere zu quälen! Darum!«

Tränen liefen nun ungehemmt über sein Gesicht, tropften auf sein T-Shirt. An die Wand gelehnt ließ er sich zu Boden sinken.

Er zog die Knie an und legte seinen Kopf darauf.

Starrte auf seine Hände.

Die Hände eines Mörders.

In dem Fernsehkrimi hatte sich die alte Frau bereitwillig ermorden lassen. Es hatte keine Kampfszene gegeben. Was für ein Albtraum! Wer hätte auch ahnen können, dass sie nicht ausreichend betäubt sein würde? Wahrscheinlich war die Dosis des Schlafmittels doch zu gering gewesen. Aber er hatte sich nicht getraut, mehr von den Tabletten in ihrem Kakao aufzulösen, aus Angst, sie könne den eigenartigen Geschmack sonst bemerken. Er mochte sich lieber nicht ausmalen, was wohl passiert wäre, wenn sie gemerkt hätte, was er plante!

Es war ohnehin alles ihre eigene Schuld, dachte er trotzig.

Sie hatte es ja so gewollt!

Die Hexe hatte letztlich nur bekommen, was ihr zustand! Dieser Gedanke hatte etwas ungemein Tröstliches und er beschloss, ihn gut festzuhalten.

Seine Hände zitterten noch zu sehr für das, was nun zu tun war. Er schüttelte sich. Hoffentlich waren ihre Augen geschlossen, wenn er das Kissen von ihrem Gesicht nahm, überlegte er. Die Vorstellung, dass sie ihn womöglich direkt ansehen würde, ließ Wellen der Panik durch seinen Körper schwappen.

Eine Viertelstunde später rappelte er sich mühsam auf, testete durch sanftes Wippen die Tragfähigkeit seiner Knie.

Die Zeit würde ihm davonlaufen, wenn er nicht endlich anfing! Er beschloss, mit ihrer unteren Körperhälfte zu beginnen und schlug die Bettdecke zurück. Der beißende Geruch nahm ihm fast den Atem.

»Das hast du nur aus Gemeinheit getan! Weil du weißt, wie sehr ich das hasse, wenn du dein Bett verdreckst! Warum hast du nicht den Nachttopf benutzt? Weil du lieber zusehen wolltest, wie ich dein Bett neu beziehe, wie ich alles wieder in Ordnung bringen muss!« Er hörte, wie seine Stimme sich entgleist überschlug. Nur ruhig Blut!, versuchte er sich zu beruhigen, sie wird es nie wieder tun. Nie wieder! Es ist vorbei!

Angewidert warf er die nasse, gelb-braun verfärbte Bettdecke auf den Fußboden. Dann zog er dem leblosen Körper das nasse Nachthemd aus und schleuderte es auf die Bettdecke. Er würde das später waschen. Aus der Kommode nahm er neue Unterwäsche und aus dem Schrank eines ihrer altmodischen Kleider für ›besondere Anlässe‹, schwarz mit Spitze am Dekolleté.

»Na, so eine letzte Reise ist doch wohl ein besonderer Anlass, findest du nicht?«, fragte er höhnisch und legte das Kleid über den einzigen Stuhl im Raum.

Er registrierte zufrieden, wie er sich zunehmend erholte. Fast schon gut gelaunt kehrte er zum Bett zurück und meinte zynisch: »Ich hole nur ein feuchtes Tuch. Steh nicht auf, bleib nur ruhig liegen.« Und nach einer Pause, in der er auf ihre angenommene Antwort lauschte, fügte er noch in süßlichem Ton heuchlerisch hinzu: »Aber nein! Das macht mir gar nichts aus. Du bist doch meine Mutter und da ist es ja wohl selbstverständlich, dass ich solche Dinge für dich erledige. Diese Auffassung vertrittst du doch sonst auch immer!« Den letzten Satz schleuderte er über die Schulter in Richtung Bett, während er schon auf dem Weg ins Badezimmer war.

Als sein Blick zufällig in den Spiegel über dem Waschtisch fiel, fuhr er erschrocken zurück.

»Um Jahre gealtert. Verdammt noch mal! Wer hätte auch gedacht, dass die Alte noch so kämpfen kann!« Schnell wusch er sich das verschwitzte Gesicht mit Sturzbächen kalten Wassers, bis seine Haut zu brennen begann, brachte dann seine Frisur mit einigen Bürstenstrichen wieder in Ordnung, reinigte vorsichtig seine Unterarme. Nachdenklich betrachtete er die vielen Verletzungen. Er würde sich wohl besser noch eine geeignete Erklärung für die vielen Kratzwunden zurechtlegen. Vielleicht sprach ihn jemand darauf an.

»Schon besser«, stellte er dann fest. »Schließlich darf man ja auch etwas angegriffen aussehen, wenn die eigene Mutter eine Seniorenreise macht und plötzlich verloren geht.« Er feixte und zwinkerte seinem Spiegelbild zu.

Dann stieg er langsam wieder zu ihrem Zimmer hinauf.

Vor ihrer Tür erfasste ihn eine unerwartete Schwäche.

Er lehnte sich schwer gegen den Türrahmen.

Was, wenn sie nun doch noch nicht tot gewesen sein sollte? Wie in dieser Kurzgeschichte, die er vor ein paar Wochen im Wartezimmer des Arztes gelesen hatte. Da hatte der Mörder auch nicht lange genug gewürgt und sein Opfer hatte das Ganze überlebt.

Schließlich hatte er noch keinerlei Erfahrung in diesen Dingen.

Es war sein erster Mord.

Eine unerhörte Tat!

Sein Herz flatterte.

Würde sie jetzt vielleicht doch wieder ganz lebendig im Bett sitzen und ihn einfach nur etwas heiser für seine Mordabsichten zur Rechenschaft ziehen? Das wäre ein willkommener Anlass für sie, ihn ab sofort noch viel mehr zu schikanieren – wenn eine Steigerung überhaupt noch vorstellbar war! Wieder begann er heftig zu schwitzen, seine Hände zitterten. Eine zweite Chance sich ihrer zu entledigen gäbe es mit Sicherheit nicht. Er zweifelte auch daran, dass er für einen zweiten Versuch je den Mut aufbrächte.

Er wäre ihr völlig ausgeliefert!

»Bis dass der Tod uns scheidet«, flüsterte er sich beschwörend zu. »Nein! Es wird nicht mein Tod sein, sondern es ist deiner! Du bist tot, tot, tot! Ich habe in diesem Dasein noch nicht eine Stunde wirklich gelebt! Du wirst mich nicht mehr aufhalten!«

Unsicher sah er um den Türrahmen auf ihr Bett – und atmete erleichtert auf.

Sie lag genau so, wie er sie verlassen hatte! Schnell trat er neben die Tote und begann mit sicheren geübten Handgriffen den Körper zu reinigen. Am Rücken war eine wunde, offene Stelle. Ärgerlich grunzte er vor sich hin. Das war nun nicht zu ändern. Blieb nur zu hoffen, dass niemand dieser Wunde besondere Beachtung schenkte, wenn man sie später fand. Er ging davon aus, dass sie dann in einem Zustand sein würde, der es dem Rechtsmediziner kaum erlauben würde, Schlüsse auf alte Verletzungen zu ziehen.

»Du Hexe! Selbst jetzt, wo du tot bist, jagst du mir noch Angst und Schrecken ein! Dabei bist du ganz allein an allem Schuld! Nur du allein!«, beschimpfte er sie, während er sie sorgfältig abtrocknete. »Mit welchem Recht glauben Mütter eigentlich immer, dass sie über das Leben ihrer Kinder einfach so bestimmen können? Dass sie sich ständig einmischen dürfen? Dass ihre Kinder ihnen auf Ewigkeit hörig sein müssen? Kinder sind doch kein Besitz!«

Gunnar Hilmarström parkte seinen schwarzen Volvo auf der Graszufahrt zu seinem Ferienhaus, das er in den Sommermonaten an Touristen vermietete, um seine Rente aufzubessern, seufzte schicksalsergeben und stieg aus. Jedes Jahr dasselbe, dachte er mürrisch.

Damit meinte er das Großreine- und Winterfestmachen am Ende der Feriensaison. Lustlos stapfte er um das Auto herum, öffnete brabbelnd den Kofferraum und entnahm ihm einen leistungsstarken Staubsauger, mehrere Schwämme, Putztücher und eine Flasche mit scharfem Reinigungsmittel. Er beugte sich weit hinein, um in den Tiefen des Stauraums nach seinen Gummihandschuhen und dem großen Müllsack zu kramen, wobei sein beachtlicher Leibesumfang und die dadurch im Laufe der Jahre zu kurz gewordenen Arme ihn deutlich behinderten.

Bei dem ungeschickten Versuch, alles mit einem Mal ins Haus zu bringen fielen erst die Schwämme, dann der Müllsack zu Boden. Gunnar fluchte. Missmutig ließ er die Utensilien auf dem Rasen liegen. Er würde sie eben später holen.

Vor der klapprigen Holztür stellte er den Staubsauger ab und bückte sich schwerfällig nach dem Fußabtreter, unter den der letzte Mieter hoffentlich den Schlüssel gelegt hatte. Einmal hatte einer ihn aus Versehen im Gepäck mit nach Deutschland genommen und er musste Tage warten, bis der Schlüsselservice ihm einen neuen angefertigt hatte.

Aber das war Jahre her.

Seither hatte Gunnar immer einen Reserveschlüssel im Handschuhfach, denn er empfand es als furchtbar entwürdigend, vor der verschlossenen Tür des eigenen Häuschens zu stehen und sich dann durch irgendein ausgehebeltes oder eingedrücktes Kellerfenster zu quetschen wie ein Einbrecher, oder gar Hilfe holen zu müssen.

Der Schlüssel lag zu seiner Erleichterung tatsächlich unter der Fußmatte.

Stöhnend hob Gunnar ihn auf.

»Puh! Vielleicht wäre es doch besser ein bisschen abzunehmen? Doch wenn ich nicht einmal mehr essen darf, was mir schmeckt, wo bleibt dann der Spaß am Leben?«, philosophierte er leise brummelnd. Umständlich schloss er die verzogene Tür auf.

Der typische Ferienhausgeruch schlug ihm entgegen.

Gunnar konnte es sich nicht erklären, aber es stimmte, er hatte es bei vielen Urlaubsfahrten festgestellt: alle Ferienhäuser – ob in Schweden oder Dänemark – alle rochen sie gleich; es war wohl eine Mischung aus Schweiß, schmutziger Wäsche, altem Fett. Nicht einmal die Fliegen mochten den Mief, kaum eine verirrte sich in so ein Sommerhaus.

Zuerst riss er alle Fenster auf, um die letzte warme Luft dieses Bilderbuchsommers ins Haus zu lassen. Seine Gäste hatten in diesem Jahr allesamt Glück mit dem Wetter gehabt. Es hatte kaum geregnet, wochenlang hatte die Sonne für märchenhafte Temperaturen um 25°C gesorgt.

Da hier in Schweden dazu eigentlich immer ein angenehmer Wind wehte, wurde es nie so unerträglich schwül, dass man nur noch matt in der Ecke sitzen konnte. Vielleicht würde ein Teil seiner Familien nach dieser traumhaften Urlaubserfahrung im nächsten Sommer wiederkommen. Wäre nur gut für die gesamte Tourismusindustrie, wenn möglichst viele vom schönen Wetter in Skandinavien erführen, und sich das alte Vorurteil vom kalten Norden endlich ausmerzen ließe!

Immer noch maulig öffnete er die Türen der eingebauten Wandschränke in der Küche und begann das Geschirr zu überprüfen. Jemand hatte das bunt zusammengewürfelte Gläsersortiment um eine weitere Modellreihe erweitert. Na schön, dachte Gunnar, wenigstens hatten sie für Ersatz gesorgt. Bei jeder Endkontrolle gab es Verluste zu beklagen, aber das war bei Familien mit Kindern auch fast zu erwarten.

Das mochte der Grund dafür sein, dachte Gunnar, dass einige seiner Bekannten lieber an ältere Ehepaare oder erwachsene Allergiker vermieteten, ohne Kinder und ohne Haustiere.

Neben den unterschiedlichen Gläsern fanden sich auch Teller und Schüsseln mit den verschiedensten Dekoren. Er zählte oberflächlich die Teller, Tassen und Gläser, sowie Gabeln, Messer, Teelöffel und Suppenlöffel. Schließlich wurde sein Haus für sechs Personen vermietet. Da musste natürlich auch für jeden ausreichend Geschirr und Besteck vorhanden sein!

Dann holte er den Müllsack und die Schwämme von draußen und klaubte angewidert die vielen Nahrungsmittelreste aus den Vorratsfächern. Angefangene Mehl- und Zuckertüten, klebrige Keksreste, feuchte, pampige Cornflakes, diverse Fertiggerichte in Dosen und Tüten mit italienischer, deutscher und dänischer Aufschrift.

»Dass die immer irgend etwas für die Nachmieter zurücklassen müssen!«, schimpfte er. »Das Zeug wird von den Neuen sowieso nie angerührt, und schließlich bleibt die Entsorgung immer an mir hängen!« In anderen Familien machten so was in der Regel die Ehefrauen, aber seine Inga hatte sich von Anfang an geweigert, ihm bei der Betreuung des Sommerhäuschens zu helfen. Es sei schließlich seine Idee gewesen, das kleine Haus seiner Eltern nach deren Tod auszubauen und an Fremde zu vermieten. Da solle er auch die Konsequenzen allein ›genießen‹ dürfen! Gunnar legte die Stirn in Falten, wenn er daran dachte, wie seine Freunde ihn wegen Ingas Putzweigerung regelmäßig aufzogen. Für die anderen sah es immer so aus, als könne Gunnar seiner Rolle als Familienoberhaupt nicht gerecht werden, und manchmal musste er sich tatsächlich eingestehen, dass er bei Inga ganz schön unter dem Pantoffel stand. Aber diese Sache mit dem Ferienhaus war ein echter Zankapfel zwischen ihnen geworden und sorgte in regelmäßigen Abständen für Missstimmung, nicht nur der Hänseleien wegen.

›Fremde‹ – Inga mochte Menschen aus anderen Ländern einfach nicht. Zunächst hatte er ja noch geglaubt, das werde sich mit der Zeit legen. Doch das Älterwerden hatte ihre unbestimmten Befürchtungen und Vorurteile zu fest gefügten Überzeugungen verbacken. Gegen die zusätzlichen Einnahmen hatte sie natürlich nichts. Das Geld der Fremden war ihr immer willkommen gewesen! Keine Rede davon, dass Gunnar es etwa für sich behalten und nach seinem eigenen Gutdünken damit verfahren durfte! Zweierlei Maß, wohin man schaut! Gunnar knurrte ärgerlich.

Er war in der Küche fertig, ging ins Bad und sammelte dort halb leere Shampooflaschen ein, vergessene Zahnbürsten und eine kleine gelbe Quietschbadeente. Er drückte sie ein paar Mal und grinste.

»So eine durfte auch mit mir in meiner Badewanne schwimmen, als ich noch ein Kind war!«, murmelte er.

Er versuchte sich zu erinnern – meine Güte!

»Das muss jetzt auch schon weit über 60 Jahre her sein!« Gunnar war betroffen. »Manche Dinge kommen eben nie aus der Mode, tauchen in jeder Generation wieder auf!« Er seufzte noch einmal, diesmal etwas wehmütig.

Nicht, dass er wirklich bedauerte, nicht mehr ganz jung zu sein. Nein! Aber das Älterwerden hatte so seine unübersehbaren Schattenseiten. Er wurde haarloser und litt unter einer Vielzahl von Beschwerden und Wehwehchen. Seine zunehmende Arthrose ließ die Gelenke unbeweglich werden, machte jeden Schritt zur Qual. Die Augen wurden schlechter, genauso wie das Gehör. Für viele Arbeiten, die er früher im Vorbeigehen erledigte, brauchte er heute die Hilfe seines Sohnes. Aber der hatte leider nicht immer Zeit und so musste Gunnar seine Wünsche frühzeitig anmelden, damit sein Sohn ihn in seinem Terminkalender vermerken konnte.

Darüber ärgerte er sich schon manchmal.

Andererseits war er sehr stolz darauf, einen gefragten Wissenschaftler zum Sohn zu haben: Prof. Dr. Klaus Hilmarström. Das klang gut, fand Gunnar, obwohl es natürlich noch besser gewesen wäre, wenn Klaus Medizin studiert hätte. Aber Dr. der Physik war auch ganz in Ordnung.

Als er durch den Wohnraum kam, schaltete er das Radio so laut ein, dass er die Musik in allen Zimmern hören konnte und es nicht mehr so unheimlich still im Haus war. Keine direkten Nachbarn zu haben, hatte eben auch seine Vorteile. Immerhin lag das nächste Haus fast einen Kilometer weit entfernt.

Diese Einsamkeit war es, die seine Feriengäste besonders schätzten. Schwedenurlaub war Natur pur. Wenn man es nicht direkt darauf anlegte, konnte man hier wochenlang wohnen, ohne überhaupt jemanden zu treffen.

Ein Hausfrauensender dudelte ein Wunschkonzert mit ›Hits from yesterday‹ und dazwischengeschalteten Kochrezepten.

»Genau das Richtige für mich. Die Texte kenn’ ich noch von früher«, murmelte Gunnar und machte sich etwas beschwingter wieder an die Arbeit.

In den Schlafräumen inspizierte er das Bettzeug, legte es dann ordentlich zusammen und verstaute die Einziehdecken und Kissen in den geräumigen Einbauschränken. Zufrieden sah er sich um. Die letzte Familie hatte die vertraglich vereinbarte Endreinigung offenbar sehr sorgfältig durchgeführt. Nichts deutete mehr auf die ehemaligen Bewohner hin. Selbst unter den Betten war alles sauber! Er grunzte anerkennend.

Mit einem reinigungsmittelgetränkten Tuch wischte er alle Türen und Oberflächen ab, rieb die Klinken, bis sie glänzten, trug japsend den Fernseher in sein Auto – man konnte ja nie wissen, und sicher ist sicher – und wischte dann die Böden gründlich feucht auf.

Dabei hörte er zu, wie eine junge Dame die Zubereitung ihres Lieblingsgerichtes erklärte: Janssons Frestelse*. Gunnar lief das Wasser im Mund zusammen. Inga kochte lieber leichte Kost, angeblich, weil Gunnar auf sein Cholesterin und seinen Blutdruck achten musste. Aber, war er fest überzeugt, in Wahrheit versuchte sie nur, Arbeit zu sparen. Ein grüner Salat und ein bisschen Pute dazu – nicht zu vergleichen mit Janssons Verführung! Nein, wirklich nicht!

Das Bad und die Küche mussten immer besonders intensiv gereinigt werden, damit es im Frühjahr, wenn er alles für die neuen Feriengäste vorbereitete, nicht aus den Abflüssen und der Toilette stank. Gunnar schraubte die Siebe auf, entfernte Haare und Seifenreste und goss zum Schluss einen ordentlichen Schuss Chlorreiniger in Waschbecken, Toilette und Spüle. Befriedigt hörte er die Flüssigkeit in der Tiefe der Rohre gurgeln und zischen.

Fast geschafft, dachte er, als er die Teppiche abgesaugt und die benutzten Tischdecken auf dem Küchentisch gestapelt hatte. Die Schmutzwäsche würde er beim Rausgehen zum Waschen mitnehmen. Auf der einen war ein unschöner roter Fleck, bestimmt Kirschsaft. Inga würde wahrscheinlich wieder ein Riesengezeter veranstalten. Aber wenigstens war sie bereit, die Wäsche aus dem Häuschen zu waschen, nachdem Gunnar einmal alle Bettbezüge mit einer übersehenen roten Socke rosa verfärbt hatte und sie mehrere neue Garnituren kaufen mussten.

Bei dem Gedanken an die zu erwartende Tirade zog er automatisch abwehrend die Schultern hoch.

Tja, erinnerte sich Gunnar versonnen lächelnd, natürlich war auch seine Inga einmal eine schöne, liebevolle Frau gewesen. Als sie vor gut vierzig Jahren geheiratet hatten, war sie fröhlich und lebenslustig gewesen. Doch mit den Jahren war ihr unbeschwertes Lachen vertrocknet und dann langsam ganz gestorben – geblieben waren ihre schreckliche Neugier, ihr energisches Gehabe und ihr unermüdliches Gerede.

Er seufzte melancholisch.

Ein Blick in den Kühlschrank – sauber ausgewischt.

Dann stieg er, eine Radiomelodie mitsummend, die enge finstere Wendeltreppe in den Keller hinunter und stellte Strom und Wasser ab.

Bei seiner Rückkehr war die Musik verstummt und Gunnar wieder ganz allein in seinem für den Winterschlaf vorbereiteten Sommerhaus. Schon seltsam, wie unheimlich Ruhe und Stille sein können, überlegte er, schalt sich albern und etwas senil und beschloss im selben Augenblick, in Zukunft sein batteriebetriebenes Radio von zu Hause mitzubringen, wenn er hier putzte.

Schon im Gehen begriffen, fiel ihm plötzlich siedend heiß der Dachboden ein!

Die meisten Familien hatten Kinder mitgebracht. Man konnte ja nie wissen, wo die überall nach Abenteuern gestöbert hatten. Gunnar erinnerte sich noch gut daran, dass eines der Kinder vor ein paar Jahren heimlich eine Katze als Haustier auf dem Dachboden versteckt und bei der Abreise vergessen hatte. Die Eltern riefen von einer Autobahnraststätte aus an und informierten ihn darüber, nachdem das kleine Mädchen ihnen unter Tränen alles gebeichtet hatte. Natürlich war er sofort losgefahren und hatte das inzwischen völlig verstörte, schreiende und fauchende Tier befreit.

Seither kontrollierte er noch gründlicher!

Der Stab mit Haken, mit dem er normalerweise die in die Decke eingelassene Klappe öffnete, war unauffindbar. Den würde er also auch noch suchen müssen! Zum Glück waren die Decken in den Sommerhäuschen niedrig und wenn man sich streckte, konnte man die Öse auch so erreichen. Also reckte er sich so hoch er konnte, schob schnaufend seinen kurzen, dicken Zeigefinger in die Öse und zog sie leicht zurück. Befriedigt hörte er das laute Schnappen des Mechanismus. Mit beiden Händen stützte er die Klappe, die ihm beim letzten Mal noch viel leichter vorgekommen war.

Als sie herunter schwang nahm Gunnar den Mief wieder stärker wahr.

Vielleicht müsste man doch die alten Matratzen entsorgen. Er würde das im Frühjahr in Angriff nehmen, nahm er sich fest vor, wenn er das Haus wieder für die Saison herrichtete.

Mit lautem Rumpeln glitten die Schienen übereinander und der Vermieter setzte die Stiege beinahe zärtlich im Flur auf. Dann kletterte er langsam hinauf, um sich hier oben umzusehen und bei der Gelegenheit die Matratzen zu zählen, die seit Jahren auf dem Dachboden lagerten.

»Was hier noch alles rumsteht. Wir werden den großen Anhänger zum Abtransport nehmen müssen«, murmelte er und ging gebückt zwischen den ausrangierten Möbelstücken umher. Staub wirbelte bei jedem Schritt um seine Füße und überzog seine Schuhe und die Hose mit einem flockigen, grauen Film. Flirrende Wolken tanzten im Sonnenlicht, das spärlich durch die beiden gegenüberliegenden Giebelfensterchen fiel, die das ganze Jahr über leicht geöffnet blieben, um das Dach gut zu lüften und der Entstehung von Feuchtigkeit vorzubeugen.

Der Schimmel würde sich sonst in den alten Matratzen und Decken ausbreiten.

Immer wieder wehten kleinere Windböen durch den niedrigen Raum und ließen neue Wollmäuse durch den Dachboden huschen. Spinnen hatten sich an den Dachsparren niedergelassen und weit gespannte Netze gebaut, die im Licht funkelten.

Kunstwerke besonderer Art, filigran und vergänglich.

In der Ecke, neben einem der Giebelfensterchen, stand ein alter Lehnstuhl, dessen Bezug verschlissen und von Mäusen angenagt worden war. Früher war es der Sessel seines Großvaters gewesen, entsann sich Gunnar, und niemand sonst durfte ihn benutzen. Gunnar konnte sich nicht daran erinnern, dass etwa ein Kind oder Enkel es gewagt hätte, sich heimlich in diesen Sessel zu setzen. Nach Opas Tod ließ seine Großmutter den Stuhl auf den Dachboden bringen, damit niemand ihn je wieder ›besitzen‹ konnte.

Als Gunnars Augen sich an das diffuse Licht gewöhnt hatten, trat er geduckt zu der Holztruhe, in der schon seine Urgroßmutter ihre Aussteuer aufbewahrt hatte.

Auch hier roch es deutlich nach Verfall und Verrottung.

»Vielleicht hat es im Winter reingeregnet. Da kommt es schon mal vor, dass die Feuchtigkeit sich irgendwo in dem Ding festsetzt und die Decken schimmeln«, sagte er zu sich selbst, während er das Dach nachdenklich betrachtete und nach einem Loch fahndete. »Dann sollte ich das Zeug besser gleich mitnehmen, bevor sich der Schimmel ausbreiten kann«, überlegte er laut.

Aber das Dach über ihm ließ kein Licht durchscheinen.

Gunnar drehte sich wieder um und fuhr mit der flachen Hand kosend über die Intarsienarbeit im Deckel der Truhe. Aus vielen unterschiedlichen Holztönen gelegt, zeigte sie das Bild eines Pärchens auf einer Bank. Auch nach vielen Jahren auf dem Dachboden waren keine Sprünge oder rauen Fugen zu spüren.

»Das ist noch echte Handwerksqualität!«, grummelte er anerkennend. »So was findet man heut’ ja gar nicht mehr. Aber die Leute kaufen ja nur noch Möbel von der Stange. Oder bei Ikea.«

Er bückte sich, um den Bügel am Schloss anzuheben und die Truhe zu öffnen.

»Puh! Wie das stinkt!«, stellte er fest und begann besorgt zwischen den Decken zu wühlen, um herauszufinden, woher der Gestank kam.

Als er die Quelle schließlich gefunden hatte, sträubten sich seine Nackenhaare und sein gesamter Körper verkrampfte sich.

Für einen Moment war er wie erstarrt und konnte seine Augen von dem grauenhaften Anblick nicht lösen. Seine Hand umkrallte die Wolldecke mit dem blau-weißen Streifenmuster, die er zuletzt angehoben hatte. Die Knie zitterten, die Augen traten ihm aus den Höhlen. Zusammen mit einem Schrei stieg eine Woge von Übelkeit in ihm hoch.

Fassungslos starrte er auf eine unbekleidete, von Verwesung entstellte Frauenleiche!

Er wollte nicht länger hinsehen, konnte den Blick dennoch nicht losreißen und wusste mit Sicherheit, dass das Bild des teilweise mumifizierten und aufgelösten Frauenkörpers, der nachlässig zwischen den Decken verborgen worden war, ihn bis an sein Lebensende verfolgen würde. Die Haare, lang und grau, waren zu einem dünnen Zopf geflochten und die knochigen Hände lagen mit nach oben zeigenden Handflächen neben den Oberschenkeln.

Panik erfasste ihn.

Für einen irrwitzigen Moment glaubte er, die Frau habe ihre klauenartigen Hände bewegt und raubvogelgleich versucht, ihn zu packen!

Das Herz schlug ihm bis zum Hals und endlich gelang es ihm, den Deckel wieder zuzuwerfen und sich umzudrehen. Dann schrie er laut und seltsam heiser auf, rannte zur Dachbodenklappe. Als er endlich keuchend vor dem Haus stand, konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wie es ihm gelungen war, die steile Stiege hinunter zu klettern und den Ausgang zu finden.

Er erbrach sich.

In heftigen Wellen rollte die Übelkeit heran und überspülte ihn, ohne dass er sich dagegen wehren konnte. Der Schweiß brach ihm aus. Hilflos stützte er sich mit beiden Händen an der Hauswand ab, während er sich immer heftiger übergeben musste.

Nach einer kleinen Ewigkeit spürte er, wie die Übelkeit langsam nachließ, und er wankte zu seinem Auto.

Jetzt lassen sie sogar ihre Leichen in meinem Ferienhaus zurück!

Unglaublich, einfach nicht zu fassen!, ging es ihm durch den Kopf.

Der Motor lief schon, als ihm sein Handy einfiel. Handy! Alle möglichen Leute hatten eins und telefonierten nun ständig beim Einkaufen, beim Spazierengehen, beim Sex. Unerträglich. Sein Sohn hatte ihm zum Geburtstag solch ein Wunderding geschenkt, damit er auch auf der einsamsten Straße Schwedens bei einem Notfall, einem Unfall oder einer Panne Hilfe holen konnte. Und da die Wege, also auch die Rettungswege, weit waren, hielt er es für sehr vernünftig, seinen Vater mit einem persönlichen ›Notrufmelder‹ auszustatten. Gunnar hatte diese Segnung des Kommunikationszeitalters bisher selten benutzt.

Doch nun fühlte er sich einsamer, als er je bei einer Panne auf den unendlichen schwedischen Straßen durch menschenlose Waldgebiete hätte sein können und fand, das sei genau der richtige Moment, das Ding zu testen.

Er griff ins Handschuhfach und wählte mit zitternden Fingern die Notrufnummer.

Als sich die sachliche, kompetente Stimme am anderen Ende meldete, fiel ihm ein Stein vom Herzen. Wirr, aber ruhig und geduldig von der fremden Stimme geleitet, berichtete er von seinem grausigen Fund. Es gelang ihm auch nach einiger Überlegung, sich auf seinen Nachnamen zu besinnen und sich an den Weg zu seinem Häuschen zu erinnern. Er möge dort bleiben und nichts berühren oder gar verändern, beschied ihm sein gesichtsloser Partner mit der angenehmen Stimme, die Polizei würde schnell eintreffen. Dann legte er auf.

Gunnar war wieder allein.

»Nichts berühren!«, zischte er sarkastisch. »Ich habe nur gerade das ganze Haus geputzt. Das wird der Polizei nicht so recht gefallen!« Er überlegte, was nun am besten zu tun sei.

Die Frau konnte doch nicht einfach von einer der Familien vergessen worden sein, wie damals die kleine Katze. Man würde doch wohl bei der Abreise bemerken, dass eine Person fehlte!

Unfall? Nein, das war doch sehr unwahrscheinlich! Alte Damen spielten nicht unbekleidet Verstecken auf Dachböden und gerieten dabei versehentlich in eine alte Truhe, um dort den Tod zu finden.

Nein, Gunnar schüttelte den Kopf, das schied mit Sicherheit aus.

Suizid vielleicht? Nein, das kam auch nicht in Frage. Er hatte schon viel über Suizidversuche in Ingas Frauenzeitschriften gelesen – aber sich in eine Truhe legen und zwischen Decken und Kissen abwarten, bis man entweder erstickte oder verdurstete? Nein. Wie hätte sie auch selbst den Riegel sichern können? Nein, das schied aus! Dann also musste wohl doch jemand die Tote mit Absicht in die alte Truhe gelegt haben! Gunnar fröstelte und rieb sich die Oberarme.

Kannte er die Frau?

Er kam immerhin alle vierzehn Tage zum Mähen vorbei. Bei der Gelegenheit konnte er sie getroffen haben! Vielleicht hatten sie sich unterhalten? Gunnar konnte gut Englisch und die Touristen meist auch. In dieser Saison war es häufig zu persönlichen Gesprächen mit den Feriengästen gekommen. Sie nutzten das schöne Wetter um sich zu sonnen oder mit den Kindern im Garten zu toben. Gut möglich, dass er mit ihr über das Wetter gesprochen hatte oder das schwedische Gesundheitssystem, über das er sich oft maßlos ärgerte. Und dabei hatten sie beide nicht geahnt, dass sie schon bald sterben würde. Gunnar versuchte diesen unangenehmen Gedanken abzuschütteln, aber manchmal erweisen sich gerade die unangenehmen als besonders klebrig. Wie eine Fliege an einem Fliegenband blieb er in seinem Kopf hängen und summte dort herum. Erschöpft lehnte er sich an die Nackenstütze und schloss die Augen.

Die Haut der Toten hatte eine eigenartig ungesunde Färbung gehabt und spannte sich pergamentartig über den Schädelknochen, kehrten seine Gedanken wieder zu seinem Fund zurück. Ihre Augen waren trübe und milchig. Vielleicht, dachte Hilmarström, waren sie früher blau, aber das konnte er nicht mit Sicherheit sagen. Wieder wurde ihm schlecht, er glaubte den süßlich-fauligen Gestank der Verwesung selbst hier in seinem Auto wahrnehmen zu können. Weil er fürchtete, sich wieder übergeben zu müssen, hielt er den Atem an, beugte sich weit aus dem Auto und zählte langsam bis zwanzig. Als er merkte, dass er sich wieder unter Kontrolle hatte, lehnte er sich ächzend zurück. Der Mund der Leiche war geöffnet gewesen und Gunnar hatte bemerkt, dass einige Zähne fehlten. Er überlegte, ob sie wohl vor ihrem Tod noch alle Zähne gehabt hatte und die Lücken erst danach entstanden waren – oder hatte sie vielleicht eine Prothese getragen?

Durch die nach dem Tod eingetretenen Veränderungen, war es ihm nicht möglich gewesen zu erkennen, wie alt die Frau geworden war. Gunnar konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie das Gesicht ausgesehen haben mochte, als es noch von Leben, Lachen, Zorn und Freude erfüllt war. Die Verwesung hatte dazu geführt, dass der gesamte Körper aufgedunsen wirkte. An einzelnen Stellen hatte sich das Gewebe von den Knochen gelöst, hing in Fetzen herunter. Eine schleimig wirkende Schicht überzog weite Bereiche des Leichnams, um die Mitte herum war er gallertartig verändert. Die Hände hatten auf ihn dagegen einen eingetrockneten Eindruck gemacht, doch jetzt war er sich nicht mehr sicher, ob das wirklich stimmte. Ich hätte mir vielleicht die Hände genauer ansehen sollen, dachte Gunnar, an den Händen konnte man einen Menschen auch ganz gut erkennen. Doch er wusste, dass er keinen noch so winzigen Moment länger auf diesen entstellten Körper hätte sehen können.

Es war schon zu lang gewesen!

Der Anblick der Toten würde ihn verfolgen, nächtelang in seinen Träumen heimsuchen.

Und obwohl er nur für Sekunden auf die Frau gestarrt hatte, waren erstaunlich viele Details in sein Gedächtnis eingegraben, registrierte er mit leichter Überraschung, mehr als ihm lieb sein konnte.

Ob er das Haus wohl je wieder betreten könnte?

Oder vermieten?

Was, wenn die Vermietungsagentur von der Leiche Wind bekam? Sie würden sein Haus womöglich aus ihrer Angebotsliste streichen! Wer will schon seine Ferien in einem Haus verbringen, in dem man eine Leiche entdeckt hatte?

Ihm wurde wieder schlecht.

»Nimm dich zusammen!«, schimpfte er leise.

Gunnar Hilmarström stieg aus dem Wagen und setzte sich auf die Holzbank im Garten, von der aus er den Eingang im Auge behalten konnte. Je mehr er darüber nachdachte, desto intensiver wurde die Überzeugung, er habe beim Rauslaufen Schritte hinter sich gehört – vielleicht war noch jemand im Haus, hatte in einem der alten Schränke gelauert?

Er lauschte angespannt, sah sich ein paar Mal hektisch um.

War der Mörder noch hier?

Und er, Gunnar, sein nächstes Opfer?

Energisch schüttelte er den Kopf und zwang sich zur Ruhe. Wenn eines klar war, dann doch wohl die Tatsache, dass die Frau nicht gerade eben erst ermordet worden war! Bestimmt sehe ich mir einfach zu viele Krimis im Fernsehen an, überlegte er, während er so sehnsüchtig wie nie zuvor auf das Eintreffen der Polizei wartete.

Woran mochte sie gestorben sein und welche seiner Sommerfamilien hatte ihm wohl diese unangenehme Überraschung hinterlassen? In diesem Jahr waren viele ältere Damen unter den angemeldeten Gästen.

So etwas passiert eigentlich gar nicht wirklich!

Gunnar stützte seinen Kopf in die Hände und rieb sich die Augen.

Man fand keine wildfremden Leichen in einer Truhe auf dem Dachboden!

Das war doch einfach absurd! Und im höchsten Maße unfair!

Vielleicht war sie während der Ferien einfach gestorben und die Familie hatte Angst gehabt, mit den Behörden zu verhandeln, weil sie kein Schwedisch sprechen konnte?

So könnte es gewesen sein!

Seine letzte Familie war vor vier Tagen abgereist. Konnte eine Leiche sich in so kurzer Zeit derart verändern? Gunnar rieb die Hände aneinander. Er fror trotz der Sonne. Rastlos fuhr er sich mit der immer noch zitternden rechten Hand übers Gesicht.

Am ehesten kamen wohl die Deutschen dafür in Frage, entschied er dann vorurteilstreu.

»Dabei waren die Kinder so freundlich. Wer hätte an so was gedacht? Man soll sich eben nicht von einem lächelnden Gesicht täuschen lassen!«, sagte er laut zu sich, um eine Stimme in der Einsamkeit hören zu können und hob den Kopf, um die Straße ein Stück weiter einsehen zu können. Wo blieb nur die Polizei? Wenn man zu schnell fuhr oder in einer Ausfahrt parkte, waren sie immer sofort zur Stelle. Selbst an den verlassensten Orten lauerten sie mit ihrer Laserpistole – aber wenn man sie mal wirklich brauchte, ließen sie sich Zeit.

Als er, wie es ihm schien, nach endlosem Warten endlich Motorengeräusche hörte, sprang er erleichtert auf und stand schon in der Zufahrt, als der weiß-blaue Streifenwagen einbog. Der Himmel hatte sich in den letzten zwanzig Minuten zunehmend bewölkt und eine dicke graue Wolke drohte mit Regen. Gunnar zitterte am ganzen Körper. Er war sich allerdings nicht sicher, ob die Kälte, die er so deutlich empfand, wirklich nur mit der gesunkenen Temperatur zu erklären war.

Ungeduldig beobachtete er, wie die beiden Polizisten aus dem Wagen stiegen. Jeder in Hjortronbakken kannte die beiden, Knut und Jan. Hilmarström war erleichtert, jetzt nicht völlig fremden Menschen von seinem schockierenden Erlebnis berichten zu müssen. Bei den beiden fühlte es sich fast so an, als erzähle er es seinem Sohn.

Mit dem typischen Wiegeschritt junger Männer, die sich ihrer eigenen Bedeutung und Wichtigkeit sehr bewusst sind, kamen sie auf ihn zu.

»Hej, hej, Gunnar. Hast du wirklich eine Leiche auf deinem Dachboden gefunden, oder hat die Zentrale sich da einen Scherz mit uns erlaubt?«, fragte Knut gut gelaunt im Näherkommen. Er war groß und stark wie ein Bär, hatte ein gutmütiges Gesicht, schwarze Locken und braune, sanftmütige Augen.

Als Gunnar nickte, verdorrte das breite, nachsichtige Grinsen auf dem Gesicht des Anderen, mit dem ältere Menschen bedacht wurden, bei denen man vermutete, die Demenz mache dramatische Fortschritte.

»Wo?«, wollte er nun knapp wissen.

»Oben. Auf dem Dachboden. In Omas Aussteuerkiste. Ihr könnt sie gar nicht verfehlen«, brachte Gunnar mühsam hervor. Jetzt, wo der Fund nicht mehr seine Privatangelegenheit war, erschien er in seinen Augen viel realer; es war ihm, als stünde erst jetzt wirklich fest, dass er die tote Frau gefunden hatte, ja mehr noch, als sei sie durch die Erzählung erst wirklich tot.

Die Schwäche, die er in den Knien spürte und die sich rasch über den ganzen Körper auszubreiten drohte, ließ ihn einen Moment leicht schwanken. Jan griff schnell stützend nach Hilmarströms Ellbogen und führte ihn zu der kleinen Bank im der Nähe des Eingangs zurück. Die Sonne war nun völlig hinter dunklen Wolken verschwunden.

Ein kühler Wind kam auf.

»Bleib ruhig hier. Wir sehen uns das Ganze schnell an«, sagte er noch und schon waren die beiden im Haus verschwunden.

Kurze Zeit später kam Knut wieder aus der Tür, blass, grünlich im Gesicht und ohne seine gewohnte jugendliche Forschheit. Hastig lief er zum Einsatzfahrzeug und setzte sich hinein. Durch die Windschutzscheibe konnte Gunnar sehen, dass er aufgeregt in sein Funkgerät sprach.

»Es stimmt also. Du hast tatsächlich eine Tote gefunden!«, stellte Jan fest, als er sich zu ihm auf die Bank setzte. Hilmarström glaubte fast so etwas wie Anerkennung in seinem Ton ausmachen zu können. Typisch, dachte er, die jungen Leute finden das spannend und aufregend.

»Das ist die erste Leiche, die ich je gesehen habe! Und ich hoffe inständig, dass mir so etwas nie wieder passiert! In Omas Aussteuertruhe!«, jammerte Gunnar.

Knut kam zu ihnen hinüber und meinte ein bisschen großspurig:

»Die Frau ist wohl schon älter, würde ich sagen. Der Tod muss schon vor ein paar Wochen eingetreten sein, so wie die aussieht. Bestimmt hat eine der Ferienfamilien ›vergessen‹, sie mitzunehmen. Die Zentrale schickt die Spurensicherung vorbei und informiert die Kriminalpolizei.« Dann wandte er sich an Gunnar: »Du wirst leider hier warten müssen, bis die Kollegen da sind. Bestimmt haben sie Fragen an dich.«

Mitfühlend fragte er dann: »Soll ich Inga Bescheid sagen lassen? Sie wird sich doch bestimmt Sorgen machen, wenn du nicht bald nach Hause kommst.«

»Inga!« Gunnar hatte sofort ein schlechtes Gewissen, weil er sie wegen der ganzen Aufregung einfach vergessen hatte. »Du lieber Himmel! Sie wartet ja mit dem Essen auf mich! Jetzt ist sie sicher schon ziemlich wütend, weil ich mich so verspätet habe! Sie weiß ja nicht …« Er nickte Knut dankbar zu, der daraufhin wieder zu seinem Wagen zurückging.

Jan, der eher zart neben Knut wirkte, wuschelte sich durch die dichten blonden Haare und strahlte den Hausbesitzer aus unglaublich blauen Augen an. Mit einer erstaunlich kräftigen Hand schlug er ihm anerkennend auf den Oberschenkel

»Da hast du ja mal wirklich einen Superfund gemacht, mein lieber Gunnar. Inga wird begeistert sein. Alle Achtung!«

Den schlimmsten Moment hatte er bis zum Schluss vor sich hergeschoben: Das Abnehmen des Kissens! Wie er es schon erwartet hatte: Ihre Augen waren weit aufgerissen, etwas aus den Höhlen getreten und starrten ihn jetzt hasserfüllt an, gerade so, als wolle sie sich sein Gesicht für die Ewigkeit, in die sie nun abgetaucht war, besonders gründlich einprägen.

Er sog die Luft scharf ein.

Mit der rechten Hand versuchte er ihr die Augen zu schließen, doch das, was in Filmen immer so einfach zu funktionieren schien, war ihm nicht möglich! Verzweiflung verdrängte das angenehme Gefühl des Triumphes, das sich seiner langsam bemächtigt und ihm vorgegaukelt hatte, Herr über Leben und Tod zu sein.

Jetzt war ihm klar: Sie würde jede seiner Handlungen über den Tod hinaus im Auge behalten!

Um ihn in einer anderen Zeit, an einem unbekannten Ort dafür zur Rechenschaft zu ziehen!

Sekundenlang starrte er in ihr Gesicht, unfähig zu reagieren oder zu denken. Dann, als löse sich eine unsichtbare Fessel, kam wieder Bewegung in ihn. Er trat vom Bett zurück und zog aus der obersten Schublade ihrer Kommode einen Seidenschal.

Mit dem Tuch in der Hand setzte er sich auf die Bettkante, hob ihren Kopf auf seinen Schoß und bürstete ihr mit zügigen, rücksichtslosen Bürstenstrichen das graue Haar, flocht ihr einen ordentlichen Zopf. Er wusste, dass jetzt Eile geboten war.

Bald würde ihr Körper steif und unhandlich werden und damit seinen genialen Plan doch noch scheitern lassen.

Zum Schluss verband er ihr die Augen mit dem Seidenschal.

»Weißt du noch, wie du Maybritt vertrieben hast?«, fragte er, während er weiter in ihrem Zimmer hin und her ging. »Wie, du kannst dich nicht mehr an Maybritt erinnern? Kein Problem, ich werde dir helfen. Es wird dir wieder einfallen!«

Inzwischen hatte er damit begonnen, ihren kleinen Koffer sorgfältig zu packen. Damit er nur nichts vergaß, hakte er jedes Teil auf einer Liste ab, die er zu diesem Zweck angefertigt hatte. Es durfte ihm jetzt kein Fehler unterlaufen, sonst wäre alles umsonst gewesen!

»Du wolltest Maybritt unbedingt kennen lernen«, nahm er den Gesprächsfaden wieder auf. »Wir waren zu der Zeit schon seit mehreren Monaten heimlich befreundet und hatten ernsthafte Pläne für unsere gemeinsame Zukunft. Zwischen uns war eigentlich schon alles klar! Ich kam also eines Abends mit ihr zu dir – zu einem stimmungsvollen Abendessen. Stimmungsvoll! Ich hätte wissen müssen, dass es neben angenehmen Stimmungen auch noch andere gibt. Damals war ich leider noch nicht so weit, deine Sprachspielchen durchschauen zu können!« Er faltete ein Nachthemd zusammen und legte es in den Koffer.

»Natürlich war Maybritt aufgeregt. Jedes Mädchen ist bei der ersten Begegnung mit der zukünftigen Schwiegermutter nervös. Maybritt, die sonst immer nur Hosen trug, am liebsten superenge Jeans, hatte sich extra für den Antrittsbesuch bei dir ein Kleid gekauft.« Aus der mittleren Schublade der Kommode entnahm er fünf Spezialunterhosen für Menschen mit Blasenschwäche, Hemden sowie drei BHs und packte alles ordentlich auf das Nachthemd. »Du hattest ein wirklich großes Essen vorbereitet. Weißes Tafeltuch, Stoffservietten, eine Vielzahl verschiedenster Besteckteile, die den ungeübten Benutzer verwirrten. Mehrere Gänge folgten aufeinander und alles schmeckte prima. Es lief zu meiner Überraschung alles bestens. Ich fing doch tatsächlich an, mich sicher zu fühlen. Auch Maybritt, die ich natürlich vorgewarnt hatte, entspannte sich zusehends. Wenn man euch so sitzen und lachen sah, konnte man glauben, ihr könntet gut miteinander auskommen. Doch ich hätte es besser wissen müssen! Ich hätte wissen müssen, dass du mich, deinen einzigen Sohn, deinen einzigen Nachkommen überhaupt, nicht so einfach an eine andere ›abtreten‹ würdest!«

Er nahm den warmen Pullover, den er bei seinen letzten Worten wütend in den Koffer geschleudert hatte, wieder heraus, versuchte mühsam seine Erregung zu dämpfen, legte ihn ordentlich zusammen und platzierte in neben der bequemen Hose im Deckel.

Das war alles schon Jahre her.

An jenem Abend wurde ihm klar, dass er direkt in der Hölle gelandet war!

Keine Chance zu entkommen.

»Beim Dessert hast du dann angefangen, Maybritt von deinen vielen eingebildeten Leiden zu erzählen. Und davon, dass ich versprochen hätte dich zu pflegen, nie zu verlassen. Bis zum Ende. Vielleicht konnte Maybritt zu diesem Zeitpunkt noch glauben, dieses Ende sei weit entfernt. Ein Irrtum, wie du ihr kurze Zeit später dramatisch verdeutlicht hast! Du erzähltest von deinem Magenkrebs. Immerzu versuchte ich Maybritt ein Zeichen zu machen. Sie sollte dir nicht glauben. Doch ich erreichte sie gar nicht mehr. Wie gebannt starrte sie dich an. Und dann hast du plötzlich gekotzt! Über den ganzen Tisch, direkt auf das neue Kleid von Maybritt!«