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Henny Röhming versucht nach dem Tod des Vaters zunächst mit Gelegenheitsarbeiten den Lebensunterhalt für sich und ihre Mutter zu bestreiten. Mithilfe eines kleines Tricks erhält die junge Frau eine Festanstellung als Innenarchitektin in einer Möbelfabrik und verliebt sich in ihren Chef. Jedoch hat Bettina Falkner, die Mutter des jungen Fabrikanten, schon Heiratspläne für ihre Söhne geschmiedet...-
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Seitenzahl: 358
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Hedwig Courths-Mahler
Saga
Frau Bettina und ihre Söhne
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1917, 2021 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726950465
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
www.sagaegmont.com
Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.
Henny Röhming eilte in dem großen Berliner Mietshaus eilig die Treppen hinauf. Im vierten Stock zog sie an der rechts liegenden Wohnungstür die Klingel, über der in glatten, einfachen Buchstaben der Name Röhming stand.
Es dauerte nur wenige Sekunden, da wurde die Tür geöffnet. Eine ältere Dame, schlank, etwa Mitte der Vierzig, erschien. Sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid und sah ein wenig blaß und versorgt aus.
»Du bist es, Henny! Gottlob, daß du wieder da bist«, sagte sie aufatmend und ließ die junge Dame eintreten.
»Ja, Muttchen, ich habe mich beeilt, so gut ich konnte. Ganz atemlos bin ich vom schnellen Laufen. Und hier — sieh nur — die ganze Tasche voll Geld, lauter blanke Fünfmarkstücke. Ich habe wirklich achtzig Mark für die Skizze erhalten, man hat meine Forderung gleich bewilligt. Erst wagte ich mich nicht heraus damit und wollte nur fünfzig Mark verlangen. Aber ich dachte, abziehen können sie mir immer noch, wenn es ihnen zu teuer erscheint. Sie wunderten sich aber gar nicht. Ist das nicht famos, Muttchen? In knapp drei Tagen so viel Geld verdient!«
Frau Röhming zog ihre Tochter ins Wohnzimmer. Es war bescheiden ausgestattet, wenn auch einzelne Möbel einen vornehmen Eindruck machten. Die kleine Wohnung, die Mutter und Tochter seit einiger Zeit bewohnten, bestand aus diesem Zimmer, einem gemeinsamen Schlafzimmer und der Küche.
Die beiden Damen hatten bessere Tage gekannt. Hennys Vater war Direktor eines großen kaufmännischen Betriebes gewesen, und als solcher hatte er ein großes Haus geführt. Er liebte Glanz und Wohlleben und gab mehr aus, als er verdiente.
Um den Ausfall zu decken, ließ er sich auf gewagte Spekulationen mit fremdem Geld ein. Das führte zur Katastrophe. Man enthob ihn seiner Stellung, und er mußte alles, was er besaß, verkaufen, um seinen Verbindlichkeiten nachzukommen.
Dem Nichts gegenüberstehend, verlor er alle Spannkraft seines Wesens, die ihn im Glück unwiderstehlich gemacht hatte. Er war ein gebrochener Mann. Und als zu allem Unglück noch eine Krankheit kam, die ihn niederwarf, vermochte sein Körper keinen Widerstand zu leisten. Er starb und ließ seine Frau und seine Tochter in völlig zerrütteten Verhältnissen zurück.
Hennys Mutter, eine feine, stille Frau, die ihren Gatten abgöttisch geliebt hatte, wäre wohl unter diesem Schlag ebenfalls zusammengebrochen, wäre ihr Henny nicht eine Stütze geworden.
Henny war zweiundzwanzig Jahre alt, als ihr Vater starb. Vorher hatte sie nie die Not des Lebens kennengelernt. Aber sie war ein starker, fester Charakter und sah mit klugen, offenen Augen ins Leben. Schon als Backfisch hatte sie erkannt, was der Mutter verborgen geblieben war, daß der Vater über seine Verhältnisse lebte, daß der Glanz um sie her keine feste, solide Grundlage hatte. Den Eltern darüber Vorhaltungen zu machen, wagte sie nicht, aber es widerstrebte ihr, leichtsinnig in diesem Strom mitzutreiben und das Verhängnis tatenlos an sich herankommen zu lassen.
Von Kindheit auf hatte sie eine hervorragende Begabung für Zeichnen und Malen und reges Interesse für alles gehabt, was mit Kunstgewerbe zusammenhing. Schon als Schulkind hatte sie ihre Puppenstuben mit einem überraschenden Talent immer wieder dekoriert,hatte Zeichnungen dafür entworfen und sich aus bemalten Karten die herrlichsten Möbel hergestellt. Da das ihrem Schaffensdrang noch nicht genügte, dachte sie sich ganze Innenausstattungen aus und suchte ihre Ideen auf dem Papier festzuhalten. Ihre auffallende Begabung war eines Tages dem im Haus ihrer Eltern verkehrenden Professor Vogel, einem bekannten Innenarchitekten, aufgefallen. Er ließ sich alles von ihr zeigen, was sie gezeichnet, gemalt und angefertigt hatte. Das war an Hennys sechzehntem Geburtstag.
Professor Vogel hatte staunend über die Gestaltungskraft und das hervorragende Stilgefühl der jungen Dame den Kopf geschüttelt und sie gefragt, ob das alles ihren eigenen Gedanken entsprungen sei. Sie hatte bejaht, kam mit ihm in ein Gespräch und skizzierte ihm dabei diesen oder jenen Gedanken mit sicheren Strichen.
»Sie sind ein kleines Genie, Fräulein Henny, Sie müssen unbedingt Innenarchitektin werden«, hatte er gesagt.
Henny hatte ihn mit großen Augen angesehen. »Wie macht man das?« hatte sie gefragt.
Er hatte es ihr erklärt, und von der Stunde an war der Plan gefaßt.
Sie ging zu ihrem Vater und bat ihn, sie eine Kunstschule besuchen zu lassen, sie wolle sich als Innenarchitektin ausbilden. Er lachte sie aus, nahm sie gar nicht ernst und suchte ihr den ›Unsinn‹ auszureden. Aber sie ließ nicht nach, ihn zu bestürmen, und endlich gab er nach.
»Schließlich ist es ja einerlei, womit du deine Mußestunden ausfüllst. Ob du Romane liest und Handarbeiten anfertigst oder Bilderchen malst ist ja gleich.«
So ließ er Henny gewähren. Er ahnte nicht, mit welchem Ernst und mit welch zäher Beharrlichkeit seine Tochter ihr Studium betrieb, um das er sich gar nicht kümmerte.
Henny hatte es nicht als Spielerei aufgefaßt, und bei ihrer außerordentlichen Begabung, die wirklich genial zu nennen war, machte sie bewundernswerte Fortschritte. Die Mutter war so wenig wie der Vater mit Hennys Studium einverstanden. Sie hätte es lieber gesehen, wenn ihre Tochter in der Gesellschaft glänzte. Es war ihr gar nicht recht, daß Henny ihre Arbeiten vorzog und Spiel und Tanz vernachlässigte. Oft zankte sie direkt, weil sie nicht von ihrem Zeichenbrett fortzulokken war und sich stundenlang im Kunstgewerbemuseum aufhielt. Sie ahnte ja nicht, wie nötig ihre Tochter eines Tages die so erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten gebrauchen würde.
Henny war dicht vor der Beendigung ihrer Studien, als daheim der Zusammenbruch kam und bald darauf der Vater starb. Nun hieß es für sie, einem Weiterstudium zu entsagen und das bisher Gelernte zu verwerten, um für die Mutter und sich Brot zu verdienen.
Ihr Traum sich als Innenarchitektin zu etablieren, ließ sich nicht erfüllen, da ihr das dazu nötige Kapital fehlte. Sie versuchte nun, eine ihrem Können entsprechende Position in einem großen Betrieb zu erhalten. Aber das war auch nicht leicht. Überall nahm man Anstoß an ihrer Jugend und davon, daß sie eine Dame war. Und doch fühlte sie die Kraft in sich, zu leisten, was ein Mann zu leisten vermochte. Ihren Arbeiten brachte man großes Interesse entgegen, und einige Firmen ließen sich schließlich herbei, hier und da eine Skizze bei ihr zu bestellen.
Das brachte ihr wenigstens so viel ein, um für sich und die Mutter den Lebensunterhalt zu verdienen. Aber ihren Ehrgeiz befriedigten diese gelegentlichen Arbeiten nicht. Sie fühlte sich fähig, Besseres zu leisten.
Auch war es ihr peinlich, immer wieder um einen kleinen Auftrag zu bitten und sich in den meisten Fällen als lästige Bewerberin abweisen zu lassen. Ja, es kam sogar vor, daß man dem schönen Mädchen gegenüber zudringlich und unverschämt wurde.
Es waren oft bittere Stunden, die sie durchleben mußte, und von denen sie der Mutter nie etwas erzählte, um diese nicht zu beunruhigen. Sie zeigte sich ihr gegenüber immer ganz zuversichtlich.
»Einmal muß sich ja auch für mich eine Position finden, wie ich sie mir wünsche«, sagte sie.
Unentwegt sah sie die Zeitungen durch nach offenen Stellungen und bewarb sich darum. Aber stets erhielt sie den Bescheid, daß man eine Dame für den ausgeschriebenen Posten nicht für geeignet hielt, obwohl ihre Probezeichnungen sehr gut gefallen hätten.
Seit einem Jahr lebte nun Henny mit ihrer Mutter in dieser kleinen Wohnung und suchte Tag für Tag Beschäftigung. Sie verdient so viel, daß sie nicht gerade Not zu leiden brauchten, aber natürlich bezahlte man für ihre Arbeiten meist nur die Hälfte von dem, was man einem Mann geboten hätte. Und Hennys Ehrgeiz war unbefriedigt geblieben.
Heute nun hatte sie eine Arbeit abgeliefert, für die man ihr ein höheres Honorar bewilligt hatte, und so brauchte sie der Mutter keinen Frohmut vorzutäuschen. Sie freute sich an dem kleinen Erfolg.
Und ihre Mutter freute sich mit.
»Achtzig Mark, Henny, wirklich achtzig Mark?« fragte sie mit freudigem Staunen.
»Ja, Muttchen, und noch dazu in so schönem, blankem Geld. Ordentlich schwer ist meine Tasche — fühl mal.«
Die Mutter hob die Tasche und nickte. Sie sah mit zärtlichem Stolz an ihrer Tochter empor, die rank und schlank gewachsen vor ihr stand, ein Bild jugendlicher Kraft und Schönheit.
»Meine Henny! Wie töricht war ich früher, wenn ich auf dein fleißiges Arbeiten und Studieren schalt. Freilich, ich dachte damals nicht, daß du es je gebrauchen würdest. Und nun sind wir so ganz und gar darauf angewiesen. Wird es dir nicht zu schwer, mein Kind?«
Ein liebes, weiches Lächeln flog über das schöne, energische Mädchengesicht, aus dem die braunen Augen mit einem goldigen Schein ins Leben blickten. Klar und froh blickten diese Augen, die Klugheit und festes Wollen verrieten.
»Es wird mir gewiß nicht schwer, mein Muttchen, ich könnte zehnmal so viel schaffen, wenn man mir nur Gelegenheit dazu bieten würde. Aber diese Gelegenheit kommt schon noch, daran glaube ich fest. Und vorläufig bin ich froh, daß wir zu leben haben. Ich gebe aber die Hoffnung nicht auf, daß ich dir eines Tages wieder ein sorgenloses, schönes Leben schaffen kann, weil ich die Kraft in mir fühle, Tüchtiges zu leisten. Wenn man mich nur auf den richtigen Platz stellen wollte! Weißt du, Muttchen, im Grunde ist es recht traurig, daß ich ein Mädchen bin. Wäre ich ein Mann, dann hätte ich längst eine gutbezahlte Anstellung in einem großen Atelier. Aber warte nur, eines Tages gerate ich doch einmal an einen hellen Kopf, der einsieht, daß man auch als Frau tüchtig und leistungsfähig sein kann.«
Bei diesen Worten lachte sie ein wenig. Sie hatte inzwischen abgelegt und trug ihre Sachen hinaus. Dann trat sie an den Arbeitstisch, der an dem einen Fenster Platz gefunden hatte. Aber die Mutter zog sie an den kleinen runden Tisch vor dem Sofa, der sauber und einladend gedeckt war. Auf einer hübschen, bunten Kaffeedecke standen zwei Tassen, ein Körbchen mit Weißbrot, Butter und auf einem Spiritusuntersatz eine Kaffeekanne aus Nickel, der ein aromatischer Duft entstieg.
»Komm, meine Henny, du wirst hungrig und durstig sein von dem weiten Weg«, sagte sie.
Henny ließ sich der Mutter gegenüber nieder und füllte die Tassen. Dann langte sie zu von dem knusprigen Weißbrot, und es war ein Vergnügen, zu sehen, wie die weißen, festen Zähne hineinbissen.
Während dieser Kaffeepause erzählte Henny von ihren kleinen Erlebnissen unterwegs. Nur das Angenehme berichtete sie, während sie alles Unangenehme der Mutter verschwieg und fernhielt. Zwischen Mutter und Tochter bestand fast ein umgekehrtes Verhältnis, die Tochter war viel besonnener und energischer als die Mutter und hatte gewissermaßen die Führung übernommen. Frau Röhming war kleiner und zierlicher als ihre Tochter. Aber auch sie war noch immer eine gut aussehende Frau, der man anmerkte, daß sie einmal sehr schön gewesen sein mußte.
»Ich habe auch wieder einen neuen Auftrag mit heimgebracht, Muttchen. Man hat eine Skizze bestellt für einen Salon im Stil Louis XIV.«, sagte Henny im Laufe des Gesprächs.
»Das freut mich, Kind. Bis wann mußt du sie denn liefern?«
»Bis übermorgen, Muttchen. Aber sie ist nicht groß, ich kann sie bequem in einem Tag anfertigen. Und ich bekomme vierzig Mark dafür. Ist das nicht famos?«
»Gewiß, Henny. Eigentlich werden solche Arbeiten doch recht gut bezahlt, nicht wahr?«
»Ja, Muttchen, wenn man nur alle Tage zu tun hätte, dann könnte man mit einem ganz ansehnlichen Einkommen rechnen. Aber leider sind solche Aufträge so selten wie Festtage. Na, es muß auch so gehen. Für nächste Woche hat man mir bei Bär u. Sohn wieder verschiedene Möbelzeichnungen in Aussicht gestellt. Und dann will ich auch mal wieder bei verschiedenen neuen Firmen anklopfen und meine fertigen Zeichnungen vorlegen. Vielleicht kauft man mir etwas ab.«
»Ach, mein gutes Kind, wie schmerzlich ist es mir, daß du deine köstlichen Jugendjahre so freudlos verbringen mußt in angestrengter Arbeit.«
Henny schüttelte abwehrend den Kopf. »Freudlos kannst du das nicht nennen, Muttchen. Meine Arbeit ist mir der schönste Genuß.«
»Nun, ja, du bist ja gottlob anders geartet als andere junge Mädchen. Aber die Sorgen, die du dir hast aufladen müssen, die bedrücken dich dennoch.«
»Das ist nur ein Übergang. Warte nur, es wird besser werden. Ist es doch schon ein wenig vorangegangen. Im Anfang wollte man ja überhaupt nichts bestellen. Und gestern habe ich doch wieder nach einer Stellung geschrieben. Wer weiß, vielleicht komme ich diesmal an einen hellen Kopf. Sei nur unverzagt — Glück kommt über Nacht.«
»Wie das Unglück, meine Henny — nur viel seltener als dies.«
Henny streichelte die Hände der Mutter. »Mein liebes Muttchen, denk doch nicht mehr daran, was hinter uns liegt.«
Die Mutter schluckte krampfhaft die aufsteigenden Tränen hinunter.
»Ich kann es nicht vergessen, Henny, niemals. Solange ich denken kann, wird es nicht verlöschen. Du weißt ja, mein Kind, daß mit Papa all mein Glück zusammenbrach. Ich kann seinen Verlust nie verschmerzen.«
»Es tut dir aber doch weh, daran zu denken.«
»Nein, das mußt du nicht glauben. So wenig wie möglich denke ich an das bittere Ende. Ich sehe Papa immer nur vor mir, wie er in seiner besten Zeit war. Er war ein Sonnenmensch, so unwiderstehlich und von einer so köstlichen Frische. Das hast du von ihm, dies Sonnige, Lebenskräftige. Wenn man ihn ansah, wurde man froh — so wie man auch bei deinem Anblick froh wird. Du hast das vielleicht nie so empfunden wie ich, meine Henny, weil du selbst ein Sonnenschein bist. Aber du verlierst deine Lebensfreude gottlob auch dann nicht, wenn du im Schatten stehen mußt. Papa konnte das nicht. Er brach zusammen, als er nicht mehr in der Sonne leben konnte.«
Henny sah sinnend vor sich hin. Auch sie hatte ihren Vater sehr geliebt und aufrichtig sein frühes Ende betrauert. Aber ihrem starke, zielbewußten Charakter war das haltlose Zusammenbrechen des Vaters unverständlich gewesen. Sie hatte nicht begreifen können, daß er bei dem ersten Lebenssturm, der ihn erfaßte, und den er allein verschuldet, sich so völlig selbst verlor.
Der Mutter gegenüber hätte sie aber um keinen Preis ein kritisches Wort über den Vater fallen lassen mögen. Sie wußte, daß sie sie damit bis ins Herz treffen und ihr weh tun würde.
Zärtlich zog sie die Mutter an sich. »Mein Herzensmuttchen, wenn ich doch für dich noch einmal einen Platz an der Sonne erringen könnte, damit du wieder froh würdest.«
»Ach, Kind, für dich ist ein Platz an der Sonne wichtiger als für mich.«
Lächelnd schüttelte Henny den Kopf. Sie faßte die Mutter an den Schultern und rüttelte sie zärtlich.
»Ach, du törichtes Muttchen, das ist doch das schönste für mich, daß ich für dich arbeiten kann. Du brauchst mich gar nicht zu bedauern. Ich bin sehr zufrieden mit meinem Schicksal.«
Das entsprach nun freilich nicht ganz der Wahrheit. So ganz zufrieden war Henny nicht. Aber wozu sollte sie das der Mutter zeigen? Sie war ein tapferes, unverzagtes Geschöpf und wollte sich nicht unterkriegen lassen. Aber gerade, daß sie die Kraft in sich fühlte, etwas Großes zu erreichen und doch diese Kraft nicht betätigen konnte, quälte sie. Aber das sollte die Mutter nicht merken. Den Mut verlor sie deshalb nicht und auch nicht den Glauben, daß wieder bessere Zeiten für sie und die Mutter kommen müßten.
Als sie ihren Kaffee eingenommen hatte, ging Henny gleich wieder an die Arbeit. Wenn sie einen Auftrag erhalten hatte, erledigte sie ihn immer so schnell sie konnte. Das lag in ihrer Art. Sie mochte nie etwas auf morgen verschieben, was sie heute tun konnte.
Am nächsten Tag traf Antwort ein auf ihre Bewerbung um die ausgeschriebene Stelle. Es war wieder eine Absage.
»Ihre Arbeiten haben uns sehr interessiert, aber wir haben in unserem Betrieb nur männliche Angestellte und müssen darauf verzichten, den Posten mit einer Dame zu besetzen.«
Sie biß die Zähne zusammen und sah starr vor sich hin, als sie das las.
»Ich werde mir die Zöpfe abschneiden und Männerkleider anlegen müssen, dann engagiert man mich vielleicht«, sagte sie mit bitterem Zorn zu ihrer Mutter.
Aber dann mußte sie lachen über deren entsetztes Gesicht.
» Ach, Muttchen, hab keine Angst — ich tue es nicht. Dazu bin ich denn doch zu eitel.«
Nun lachte auch ihre Mutter.
»Es wäre ja auch jammerschade um deine Zöpfe, Henny.«
Die junge Dame seufzte ärgerlich.
»Aber zornig kann man doch werden, daß niemand eine Frau für solchen Posten anstellen will.«
Draußen vor der mittelgroßen Provinzstadt, da, wo die bewaldeten Höhenzüge begannen und der Fluß durch das breite Tal rauschte, lagen am Flußufer zwei große Fabriken nebeneinander. Der Fahrweg, der sich von der Stadt her am Fluß entlang zog, führte zu den beiden mächtigen Torwegen. Uber denselben waren in einem gewölbten Bogen die Namen der Firmen angebracht. ›Brandner und Sohn‹ stand über dem einen Tor, das zu den riesigen Holzplätzen führte. Und hierzu gehörte auch das große Sägewerk unten am Fluß.
Mit einem eigentümlich zischenden, schneidenden Ton, der sich regelmäßig wiederholte, wurden die riesigen Stämme von der elektrisch betriebenen Säge zu Brettern zerschnitten und diese dann auf kleinen, auf Schienen gehenden Wagen zum Holzplatz transportiert. Dort wurden sie in hohen Stößen aufgebaut, so, daß zwischen zwei Brettern immer eine Luftschicht blieb.
Zwischen den Holzplätzen lief vom Torweg her ein breiter Fahrdamm durch das ganze Anwesen bis zu dem bewaldeten Berg im Hintergrund. Der Fahrweg führte auch noch, etwas schmäler werdend, unter hohen, breitästigen Bäumen bergaufwärts, bis zum Wohnhaus des Besitzers, das in halber Höhe des Berges auf einem breiten Abhang lag. Es war im vornehmen Villenstil gehalten und von einem gutgepflegten Garten umgeben.
Harziger Holzgeruch lag über dem großen Grundstück, dieser gesunde, würzige Duft, der den Zellen des geschnittenen Holzes entströmt. Am Fuß des Berges, unterhalb des Wohnhauses, lag ein großes, schmuckloses Gebäude, in dem die Kontore und sonstigen Geschäftsräume untergebracht waren, und rechts und links an dem Zaun entlang, der das Grundstück begrenzte, waren große Schuppen aufgebaut, in denen das zum Trocknen bestimmte Holz aufgeschichtet war.
Der jetzige Besitzer der Firma Brandner und Sohn, Friedrich Brandner, hatte dieselbe vor nahezu fünfundzwanzig Jahren von seinem Vater übernommen, so wie sie diesem wieder von seinem Vater vererbt worden war. Damals bestand sie freilich nur aus einer schlichten, vom Wasser getriebenen Schneidemühle und einem bescheidenen Holzhandel. Unter Friedrich Brandners Vater hatte sich der Betrieb vergrößert, aber erst der ins Große strebende Geschäftssinn des jetzigen Inhabers hatte das Werk zu dem gemacht, was es war. Die Firma Brandner und Sohn hatte weit hinaus einen guten Klang. Nachdem Friedrich Brandner Chef der Firma geworden war, hatte er sich mit einer sehr vermögenden jungen Dame vermählt, und als ihm dann zwei Töchter geboren wurden, ließ er an Stelle des alten schlichten Wohnhauses, das dicht am Fluß lag, oben auf dem Berg die schöne, geräumige Villa bauen.
Friedrich Brandner lebte mit Frau und Töchtern in sehr guten Verhältnissen. Er hatte eine glückliche Hand. Alles, was er anfaßte, gelang, und es schien, als wollte ihm das Schicksal jeden Wunsch erfüllen, außer einem — der heiß ersehnte männliche Erbe, der einst die Firma weiterführen sollte, blieb ihm versagt. Das war der einzige Schatten an seinem Glückshimmel.
Die große Fabrik neben dem Brandnerschen Betrieb war gewissermaßen ein Schwesterunternehmen. Über dem Tor prangte hier der Name ›Heinrich Falkner‹.
Auch diese Firma war mit den Jahren mächtig emporgeblüht. Die Möbelfabriken von Heinrich Falkner waren ebenfalls weithin bekannt und berühmt. Auch sie waren aus bescheidenen Anfängen emporgewachsen. Jetzt befanden sich mehrere große Fabrikgebäude auf dem Grundstück, das eine gleiche Ausdehnung besaß wie das Brandnersche und sich ebenfalls bis zu dem Berg hinüberzog.
Auch Heinrich Falkner hatte in gleicher Höhe auf dem Bergabhang eine geräumige Villa erbauen lassen. Sie war innen mustergültig eingerichtet, nur mit Erzeugnissen der eigenen Fabrikation.
Beide Villen waren durch einen breiten Fußweg verbunden. Über diesen Weg führte der rege, nachbarliche Verkehr der Familien Brandner und Falkner. Die Freundschaft hatte wohl ihren Ursprung in der geschäftlichen Verbindung der beiden Firmen. Die Falknerschen Fabriken deckten fast den ganzen, enormen Bedarf an Hölzern bei der Firma Brandner. Nur wenige ausländische Hölzer, die von Brandner nicht geliefert werden konnten, bezog man von auswärts.
Die Firma Heinrich Falkner hatte im Aufblühen wacker Schritt gehalten mit der Firma Brandner und Sohn, obwohl der Chef derselben, Heinrich Falkner, bereits vor zwölf Jahren gestorben war.
Seine Witwe, eine äußerst tatkräftige und energische Frau, hatte nach seinem Tod die Zügel in feste Hände genommen und für ihre beiden unmündigen Söhne die Geschäfte in bewundernswerter Weise geführt.
Unterstützt wurde sie darin von dem langjährigen Prokuristen Karl Hermsdorf. Im Anfang, ehe sie sich eingearbeitet hatte, stand ihr auch Friedrich Brandner mit Rat und Tat zur Seite. Er hegte eine ehrliche Bewunderung für Frau Bettina Falkner.
Da Brandner selbst keine Söhne hatte, war bald genug der Wunsch in ihm lebendig geworden, seine beiden Töchter mit den Söhnen Heinrich Falkners zu vermählen. Er dachte es sich wunderschön, wenigstens der Schwiegervater von zwei solchen ›Prachtkerlen‹ zu werden, wie er Norbert und Hans Falkner bei sich nannte. Er malte sich das schon aus, als seine Töchter noch in kurzen Kleidern und Hängezöpfen mit den um reichlich zehn Jahre älteren Brüdern auf den Holzplätzen umherkletterten, wenn er auch noch mit keinem Menschen darüber sprach. Norbert Falkner, der älteste der beiden Brüder, blieb dann Chef der Firma Falkner, und Hans, der jüngere, übernahm das Sägewerk und die Holzhandlung, die natürlich unter der alten Firma weitergeführt werden mußten. So blieb alles herrlich beisammen, und nebenbei machten seine Töchter ebenso glänzende Partien wie die Brüder Falkner.
Als endlich seine Töchter ein heiratsfähiges Alter erreicht hatten, zögerte Friedrich Brandner nicht länger, das Seine zu tun, um seinen Herzenswunsch der Erfüllung nahezubringen.
Norbert Falkner stand jetzt im dreiunddreißigsten Lebensjahre. Als sein Vater starb, war er noch nicht einundzwanzig Jahre gewesen und besuchte gerade eine Kunstschule. Da er ein gutes Zeichentalent hatte, sollte dieses ausgebildet werden. Hans Falkner war zwei Jahre jünger als Norbert und hatte die Handelshochschule besucht. Norbert sollte, so hatte es der sterbende Vater bestimmt, später die künstlerische und technische Leitung, und Hans die kaufmännische übernehmen. Heinrich Falkner hatte dies alles vor seinem Ende ausführlich mit seiner Gattin besprochen. Bettina Falkner betrachtete es als ein heiliges Vermächtnis und leitete die Ausbildung ihrer Söhne in diesem Sinn.
Die hatten ihr auch keinerlei Schwierigkeiten gemacht. Es hatte sich alles wie von selbst gefügt. Nachdem Norbert und Hans die Schulen verlassen und ihrer Militärpflicht genügt hatten, waren sie in die Fabrik eingetreten und hatten sich unter der Leitung ihrer Mutter und des Prokuristen Hermsdorf gründlich eingearbeitet.
Seit Jahresfrist hatte Frau Falkner sich von den für eine Frau besonders beschwerlichen Geschäften zurückgezogen und lebte still und beschaulich in ihrer schönen Villa oben am Berg.
Norbert Falkner war nun der künstlerische und technische Mittelpunkt des Unternehmens. Durch sein feines Kunstverständnis und seine hervorragende Kenntnis des klassischen und modernen Stils hatte er die Abteilung für Kunstmöbel in den letzten Jahren zu einem besonderen Aufschwung gebracht. Früher hatte die Firma hauptsächlich Möbel im einfachen und Mittelgenre geliefert, und außerdem Kontor- und Ladeneinrichtungen. Nur vorsichtig und versuchend hatte man sich an künstlerische Arbeiten herangewagt. Aber seit Norbert in den Betrieb eingetreten war, hatte er sich mit Energie für die Abteilung Kunstmöbel ins Zeug gelegt, und unter seiner künstlerischen Leitung und der Mitarbeit eines tüchtigen, talentvollen Künstlers waren schon sehr schöne Erfolge erzielt worden. Man wurde in den maßgebenden Kreisen aufmerksam auf die Leistungsfähigkeit der Firma, und man konnte nun schon ernstlich mit ersten Firmen, auch in dieser Beziehung, konkurrieren.
Hans Falkner teilte sich mit dem Prokuristen Hermsdorf in die kaufmännische Leitung des immer mehr aufblühenden Betriebes, und auch hier funktionierte alles tadellos.
Frau Bettina Falkner konnte stolz sein auf ihre Söhne. Sie sah es aber als ganz selbstverständlich an, daß diese in jeder Beziehung mehr als ihre Pflicht taten. Hatten sie doch an Vater und Mutter ein leuchtendes Beispiel unermüdlichen Fleißes und strengster Pflichterfüllung gehabt.
Sie war ein starrer, unbeugsamer Charakter und daran gewöhnt, zumal in den Jahren als Alleinherrscherin, ihrem Willen immer und überall Geltung zu verschaffen.
Sie liebte ihre Söhne, wie nur eine Mutter ihre Kinder lieben kann, aber sie hatte im Verkehr mit ihnen jede Weichheit ausgemerzt, aus Furcht, ihnen gegenüber die Autorität zu verlieren. Weil sie ihnen zugleich den Vater ersetzen mußte, zwang sie sich zur Härte und ging darin zuweilen etwas zu weit.
Dazu kam, daß ihre selbständige Stellung an der Spitze des Betriebes eine gewisse Herrschsucht in ihrem Wesen ausgelöst hatte. Sie verstand zu befehlen und ihren Befehlen Geltung zu verschaffen. Und so erschien es ihr selbstverständlich, daß ihre Söhne auch jetzt noch, nachdem sie zu Männern herangereift waren, ihren Willen in jeder Beziehung respektierten.
Liebe und unbegrenzte Hochachtung vor der Mutter ermöglichten es bisher den Brüdern, sich dem Willen der Mutter anzupassen, zumal sich ihre Wünsche meist begegneten. Zu ernsten Meinungsverschiedenheiten war es zwischen Mutter und Söhnen noch nicht gekommen. Und auch jetzt noch besprachen die Söhne mitder Mutter alle wichtigen, geschäftlichen Fragen und hörten willig ihren Rat, überzeugt, daß es der beste war.
Friedrich Brandner bewunderte Frau Bettina als Geschäftsleiterin und als Mutter. Und wie die Verhältnisse lagen, hielt er’s für das wirksamste, wenn er zunächst mit ihr über seine Zukunftspläne sprach.
Eines Tages suchte er sie zu einer Stunde auf, wo er sie allein wußte, um seinen Plan mit ihr zu diskutieren. Ohne Umschweife brachte er sein Anliegen vor. Frau Bettina war klug und umsichtig. Sie hörte ihm aufmerksam zu, und er hatte die Genugtuung, daß sie sofort auf seinen Vorschlag einging. Sie sagte ihm unumwunden, daß sie schon selbst daran gedacht hatte.
Ruth und Hilde Brandner schienen ihr als Schwiegertöchter genauso wünschenswert, wie Brandner ihren Söhnen gern ein Schwiegervater werden wollte. Die beiden Mädchen paßten im Alter zu ihren Söhnen, denn ein Unterschied von zehn Jahren zwischen Mann und Frau war gerade richtig. Die beiden jungen Damen waren hübsch, gesund an Leib und Seele und wohlerzogen. Außerdem verstanden sie sich mit Norbert und Hans und waren sich herzlich zugetan. Die Verhältnisse paßten vorzüglich zueinander, und es mußte sich alles ganz einfach arrangieren lassen.
Sowohl Brandner als Frau Bettina beschlossen, daß alles nach ihren Wünschen geregelt werden sollte. Bei ihrer Energie und Autorität hielten sie es gar nicht anders für möglich.
Nun wurde auch Frau Margarete Brandner, die Mutter von Ruth und Hilde, ins Vertrauen gezogen. Diese, eine sanfte, nachgiebige Mutter, die sich in allen Dingen den Wünschen ihres Gatten zu fügen pflegte, hatte in dieser Angelegenheit zunächst keine eigene Meinung. Es fiel ihr nicht ein zu widersprechen, zumal sie Norbert und Hans herzlich liebte und auch wußte, daß ihre Töchter den beiden Brüdern voll Sympathie entgegenkamen. Ihres Erachtens konnte es nicht schwer sein, die jungen Leute den elterlichen Wünschen gefügig zu machen.
Sie wußte nur nicht, ob Ruth besser zu Norbert oder zu Hans paßte, wie sie das auch von Hilde nicht sagen konnte. Aber sie meinte, die etwas stillere und sanftere Ruth passe schon deshalb besser zu Norbert, weil sie beide die ältesten waren. Darüber zerbrach sie sich nun ein wenig den Kopf, während ihr Mann und Frau Bettina meinten, das könne man dann ruhig den jungen Leuten überlassen. So viel Freiheit wolle man ihnen gern zugestehen.
Ruth und Hilde Brandner hatten keine Ahnung, was von den Eltern beschlossen worden war. Sie hatten bis vor kurzem überhaupt noch nicht daran gedacht, sich zu verheiraten. Die beiden bildhübschen Blondinen, immer sehr munter und vergnügt, hatten bisher das Leben im Elternhaus wie einen einzigen langen Festtag genossen. Sie hatten die übliche Ausbildung höherer Töchter gehabt, waren zusammen ein Jahr lang in einer vornehmen Pension gewesen und gehörten in der ersten Gesellschaft der Provinzstadt zu den beliebtesten und umschwärmtesten jungen Damen.
Seither war aber fast ein Jahr ins Land gegangen, und es war noch nicht gelungen, die jungen Leute einander näher als zuvor zu bringen. Dafür waren in diesem Jahr die Herzen der beiden jungen Damen eigenwillig einen ganz anderen Weg, als den von den Eltern gewünschten, gegangen.
In einer erneuten Aussprache vor wenigen Wochen hatten die Eltern und Frau Bettina beschlossen, den Kindern ihre Wünsche klarzumachen.
Und das war auch geschehen.
Frau Bettina hatte ihren Söhnen erklärt, es sei ihr Wunsch und Wille, sie mit Ruth und Hilde Brandner verheiratet zu sehen, und sie erwarte von ihnen, daß sie sich ohne Zögern um die jungen Damen bewarben.
Die beiden Brüder sahen sich bei dieser kategorischen Eröffnung betroffen an. An eine solche Möglichkeit hatten sie beide nicht gedacht. Ruth und Hilde waren ihnen ans Herz gewachsen wie zwei Schwestern, mit denen man manchen übermütigen Jugendstreich gemeinsam verübt hatte. Aber gerade darum hatten sie nie daran gedacht, diesem Verhältnis einen anderen Charakter zu geben. Der Wunsch der Mutter kam ihnen so wenig erfüllbar vor, als hätte sie ihnen zugemutet, ihre eigenen Schwestern zu heiraten. Beide Brüder waren sich klar darüber, daß sie diesmal ihren eigenen Willen über den der Mutter stellen müßten. Sie waren indes so sehr daran gewöhnt, auf die Wünsche der Mutter Rücksicht zu nehmen, daß sie zunächst nicht offen revoltierten, sondern sich den Anschein gaben, als müßten sie sich die Sache überlegen.
Frau Bettina fand es gut und richtig, daß sich ihre Söhne Bedenkzeit ausbaten, aber sie zweifelte keinen Augenblick daran, daß sie auch diesmal ihren Willen respektierten.
Fast zu gleicher Zeit war Ruth und Hilde Brandner diese Eröffnung von ihrem Vater gemacht worden, auch in Form eines väterlichen Machtwortes, an dem nicht zu rütteln war. Auch sie nahmen diese Eröffnung wenig erfreut auf. Zunächst wagten sie freilich nicht, direkt zu widersprechen und sahen nur die Mutter hilfesuchend an. Als sie dann mit dieser allein waren, fielen sie ihr um den Hals und machten ihrem Schrecken Luft.
Sie sagten der Mutter, daß sie Norbert und Hans sehr gern hätten, so, wie man großen Brüdern zugetan ist, aber daß sie gar nicht daran denken könnten, sie zu heiraten.
Frau Brandner hatte gedacht, Ruth und Hilde würden freudig darauf eingehen. Als statt dessen ihre Töchter bestürzt an ihrem Hals hingen, war sie ganz ratlos.
»Ich habe doch geglaubt, das kommt euren eigenen Wünschen entgegen«, sagte sie.
»Aber Mama, daran ist gar nicht zu denken! Ich heirate, und da bin ich ganz sicher, weder Norbert noch Hans«, sagte Hilde.
»Ich auch nicht«, bekräftigte Ruth, »das ist einfach unmöglich.« Und sie dachte an einen anderen, dem sie ihr junges Herz im letzten Winter zu eigen gegeben hatte: Doktor Georg Reinhart, der junge Assistenzarzt des Professor Sartorius, hatte sofort einen tiefen Eindruck auf sie gemacht, und sie hatte empfunden, daß sie ihm auch nicht gleichgültig geblieben war.
Hilde sah mit sehnsüchtigen Augen vor sich hin. Sie hatte ihr Herz an den lustigen Oberleutnant von Zedlitz verloren, der seit diesem Winter in das Regiment versetzt worden war, das in der Provinzstadt in Garnison lag. Und sie hoffte und wünschte, daß sie seine Gegenliebe erringen konnte. Eifrig genug hatte er ihr auf Bällen und Basaren den Hof gemacht.
Nein, es war wirklich nicht daran zu denken, daß sie Norbert und Hans heirateten. Und die beiden Schwestern schmiegten sich an die Mutter und sahen sie flehend an.
»Hilf uns, liebste, beste Mama, daß Papa das nicht im Ernst von uns verlangt«, bat Ruth.
»Ja, süße, kleine Mama, du hilfst uns gewiß. Du hast uns doch lieb und willst sicher nicht, daß wir unglücklich werden«, bettelte Hilde.
Ganz entsetzt sah Frau Brandner auf ihre Töchter und umschlang sie, als sei ihnen das Unglück schon dicht auf den Fersen.
»Unglücklich werden? Gott verhüte das, meine Kinder. Nein, das will ich wahrhaftig nicht.«
»Nicht war, liebste Mama. Und ich kann auch gar nicht glauben, daß Norbert und Hans an die Möglichkeit einer Ehe mit uns denken«, sagte Ruth überzeugt.
Die Mutter seufzte.
»Ach, Kinder, Papa wird ja außer sich sein, wenn ihm dieser Wunsch nicht in Erfüllung geht. Er hat sich schon alles so schön ausgemalt. Norbert und Hans sind ihm lieb wie zwei Söhne, und schön wäre es ja auch gewesen. Es hätte alles so gut gepaßt, und vor allen Dingen wären die beiden Firmen noch inniger als zuvor miteinander verbunden worden.«
»Ja doch, Mamachen, das können wir ganz gut verstehen und es tut uns leid, Papa einen Wunsch zu versagen. Aber es geht nun einmal nicht — es geht wirklich nicht.« Das sagte Ruth ganz energisch.
Frau Brandner seufzte wieder. Sie sah Unruhe und Kämpfe kommen, vor denen ihre friedliche Seele bangte. Aber ihre Töchter zu etwas zu zwingen, das sie unglücklich machen könnte, nein, das wäre ihr nicht möglich gewesen.
»Ich muß das mal in Ruhe bedenken, Kinder. Jetzt kann ich nicht, ich habe vor Schreck meine dumme Migräne bekommen«, sagte sie ganz elend.
Ruth und Hilde betteten die zärtlich geliebte Mutter auf einen Diwan und ließen sie allein.
Als die Schwestern dann auf ihrem Zimmer waren und eine Weile still vor sich hin gesehen hatten, ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit, sagte Ruth plötzlich sehr bestimmt:
»Weißt du, Hilde, Mama kann uns nicht viel helfen. Und sie regt sich mehr dabei auf. Wir werden lieber die Angelegenheit selbst in die Hand nehmen.«
Hilde sah sie erwartungsvoll an.
»Aber wie denn, Ruth, kennst du schon einen Ausweg?«
Ruth nickte.
»Sehr einfach! Sobald wir mit Norbert und Hans zusammentreffen und mit ihnen allein sind, packen wir den Stier bei den Hörnern. Wir fragen sie beide, wie sie darüber denken, ob sie vielleicht die Absicht haben, uns zu heiraten.«
» Können wir das?«
»Natürlich. Vor Norbert und Hans brauchen wir uns doch nicht zu genieren. Ich tue es bestimmt, ich frage sie.«
»Und wenn sie nun wider Erwarten sagen, daß sie es tun wollen?«
»Ich glaube es nicht.«
»Aber wenn nun doch?«
»Dann erkläre ich ihnen feierlich, daß sie nicht recht gescheit sind und von mir ganz sicher einen Riesenkorb bekommen.«
»Von mir natürlich auch.«
»Aber ich sage immer wieder, ich glaube es nicht. Und wenn wir mit ihnen einig sind, dann hat es keine Gefahr mehr.«
Die Schwestern seufzten abgrundtief und sahen sich an. Dann fielen sie sich um den Hals.
»Ach Ruth!« —
»Ach Hilde!« —
Norbert und Hans Falkner hatten sich seit der Unterredung mit ihrer Mutter gehütet, mit den beiden jungen Damen zusammenzutreffen. Gegen ihre sonstige Gewohnheit wichen sie ihnen aus. Daß sie diesmal den Wunsch der Mutter nicht erfüllen konnten, stand fest. Sie glaubten auch zu wissen, daß die Schwestern gleicher Meinung mit ihnen waren, aber sie wußten doch nicht, wie weit sie von ihrem Vater beeinflußt wurden.
Sonst gehörte es zu den festen Gewohnheiten, daß sich die beiden Familien täglich besuchten. Ganz ungezwungen kamen sie hinüber und herüber zu jeder Tageszeit. Aber jetzt ließen die Brüder einige Tage vergehen, ohne Brandners aufzusuchen.
Norbert schützte dringende Arbeit vor, und Hans mußte schnell eine ›notwendige‹ kleine Geschäftsreise nach Berlin unternehmen. Da dies oft geschah, fiel es niemand auf.
Ruth und Hilde waren von dem brennenden Wunsch beseelt, sich mit den Brüdern auszusprechen und sehr ungeduldig, daß es ihnen nicht gelang, sie zu treffen. Immer wieder kamen sie herüber zur Villa Falkner, trafen aber immer nur Tante Bettina, wie sie Frau Falkner seit ihren Kindertagen nannten. Diese nahm sie besonders freundlich und herzlich auf, sah sie doch in ihnen schon ihre Schwiegertöchter. Auf ihren sonst so strengen Zügen lag eine seltene Weichheit. Lächelnd erklärte sie ihnen auf ihre Frage nach den Brüdern, daß Hans verreist sei und Norbert sehr notwendig zu tun habe.
»Sonntag sind wir aber bestimmt wieder beieinander. Ihr speist Sonntag mittag bei uns, und dann sind wir am Nachmittag gemütlich zusammen«, sagte sie.
Ruth und Hilde stimmten eifrig zu und hofften nun, am Sonntag Gelegenheit zu einer Aussprache mit Norbert und Hans zu haben.
Frau Bettina lächelte verstohlen über die schlecht verhehlte Ungeduld der beiden jungen Damen. Sie wußte ja, daß ihr Vater mit ihnen über das Heiratsprojekt gesprochen hatte und deutete sich nun ihren Eifer nach ihren Wünschen.
Der Sonntag kam — ein heller, leuchtender Frühlingssonntag mit warmem Sonnenschein. Drunten am Fluß stand das Sägewerk still. Auch in den Falknerschen Fabrikgebäuden und auf den Holzplätzen war kein Arbeiter zu sehen. Feiertägliche Ruhe lag über den beiden Werken.
Heute konnten Norbert und Hans nicht wieder unter einem Vorwand die Flucht ergreifen. Hans war erst gestern abend aus Berlin zurückgekehrt. Beim Frühstück hatten die Brüder von der Mutter gehört, daß Brandners zu Tisch kommen würden und daß Ruth und Hilde wiederholt in den letzten Tagen nach ihnen gefragt hätten.
Verstohlen blickten sich beide an, erwiderten aber nichts.
Und schließlich sagten sie sich, daß sie ja den Schwestern nicht ewig ausweichen konnten.
Pünktlich stellten sich Brandners am Mittag ein, und die Begrüßung verlief leidlich ungezwungen. Der Prokurist Hermsdorf, der oft sonntags zu Tisch geladen war, hatte sich auch heute eingefunden. Er war Junggeselle und wurde als zur Familie gehörig betrachtet.
»Ihr habt doch die halbe Woche durch Abwesenheit geglänzt. Hattet ihr denn so schrecklich zu tun?« fragte Hilde die Brüder.
Sie entschuldigten sich. Man ging gleich zu Tisch, und die Unterhaltung wurde von allen Seiten mit großer Beflissenheit geführt. Aber zwischen den jungen Leuten herrschte heute nicht der selbstverständlich vertraute Ton. Sie waren höflich und gemessen und fühlten sich außerdem sehr geniert durch die beobachtenden Blicke der Eltern.
Das vorzügliche Mahl wurde nicht recht gewürdigt, nur Hermsdorf genoß mit großer Andacht die frischen Forellen, die köstliche Kalbskeule und den guten Tropfen, der dazu serviert wurde.
Ruth und Hilde saßen wie auf Kohlen und atmeten auf, als endlich die Tafel aufgehoben wurde.
Die älteren Herrschaften zogen sich nun zu einem behaglichen Plauderstündchen bei einem Schälchen Mokka in Frau Bettinas kleinen Salon zurück.
Heute hätten die Brüder sich am liebsten den älteren Herrschaften angeschlossen, aber das war durchaus nicht im Sinn der Schwestern. Ruth ergriff resolut die Initiative. Nach einem Blick des Einverständnisses, den sie mit der Schwester getauscht hatte, wandte sie sich an die Brüder:
»Wir möchten hinauf zum Pavillon, kommt ihr mit?«
Der Pavillon, oben auf dem Bergplateau zwischen den beiden Villen auf gemeinsame Kosten erbaut, wurde von beiden Familien oft benutzt. Man hatte dort eine herrliche Aussicht, und außerdem war hinter dem Pavillon für die jungen Leute ein Tennisplatz angelegt worden. Sehr oft wurde dort der Tee eingenommen.
Norbert zeigte sich ganz vergnügt, als man aufbrach, aber Hans war sichtlich beklommen und schien von irgendeinem Gedanken stark in Anspruch genommen zu sein. Ihm lastete entschieden etwas auf der Seele. Herr Brandner und Frau Bettina sahen den jungen Leuten lächelnd nach, während Frau Brandner ein wenig verlegen war. Wußte sie doch, daß ihre Töchter eine Aussprache mit den beiden Brüdern herbeiführen wollten.
Die vier jungen Leute stiegen heute ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit ziemlich schweigsam die schmalen Waldwege zum Pavillon hinauf. Oben angekommen, nahmen sie in den bequemen Korbsesseln Platz, die dort um einen großen runden Tisch gruppiert waren. Hans bot Zigaretten an und bediente sich dann selbst. Auch Norbert zündete sich eine Zigarette an, und nun saßen sie wieder schweigend, krampfhaft nach einer Anknüpfung suchend, und sahen den Rauchwölkchen nach.
Aber lange hielt Hilde das nicht aus. Sie warf plötzlich die Zigarette weg und sprang auf.
»Nein, Kinder, das ist ja ein unhaltbarer Zustand! Es geht wahrhaftig nicht, daß wir uns noch länger in sämtlichen toten und lebendigen Sprachen anschweigen, oder wie die Katzen um den heißen Brei herumlaufen. Ich halte das nicht mehr aus und melde mich zu Wort«, rief sie energisch.
Ruth wurde rot, und Norbert und Hans atmeten auf.
»Also los, Hilde, du hast das Wort, und ich bin sehr neugierig darauf, was du uns zu sagen hast«, sagte Norbert erwartungsvoll.
Hilde blickte die beiden Brüder forschend an.
»Ich glaube wahrhaftig, wir waren auf dem besten Weg, uns voreinander zu fürchten, so unglaublich das auch sein mag«, fuhr Hilde fort, sich auf der Lehne eines Sessels niederlassend. »Ich plädiere dafür, daß wir offen und ohne Scheu, wie wir es gewohnt waren, auch diese leidige Angelegenheit erledigen, die zwischen uns in der Luft schwebt. Wir sind doch immer gute Freunde gewesen, Hans, Norbert, und wollen es auch bleiben. Oder habt ihr beide etwa Lust, unser schönes, geschwisterliches Verhältnis zerstören zu lassen?«
Hildes Worte wirkten auf die Brüder wie eine Erlösung. Hans sprang auf und lehnte sich an die Fensterbrüstung, und Norbert beugte sich vor und wandte sein kluges, charaktervolles Gesicht erst seinem Bruder und dann Hilde zu. Auch Hans hatte feste, energische Züge, aber seine Augen blickten für gewöhnlich heiterer ins Leben als die Norberts, der für sein Alter einen sehr ernsten, gefestigten Eindruck machte. Beide Brüder hatten denselben schmallippigen, ausdrucksvollen Mund, der von keinem Bart bedeckt wurde, dasselbe kräftig gebaute Kinn, und um Mund und Kinn einen Zug, der von festem Wollen und großer Selbstbeherrschung zeugte. Norbert hatte graue, tiefliegende Augen, über denen sich die Brauen und die hohe Stirn kräftig wölbten und die klar ins Leben blickten. Die Augen von Hans waren stahlblau. Sie blickten gewöhnlich auch ruhig und bestimmt, aber in der letzten Zeit verschwand zuweilen der heitere Ausdruck, dann leuchteten sie seltsam auf, wie in einem heißen Sehnen nach einem fernen Ziel. Und dann milderte sich der festgeprägte Zug um den Mund, und ein warmes Lächeln huschte über sein Gesicht, als sehe er ein liebes Bild vor sich.
Jedenfalls waren beide Brüder sympathische, interessante Erscheinungen und machten einen eleganten Eindruck, zumal ihre Bewegungen elastisch und beherrscht waren, wie sie kraftvollen Menschen nicht immer eigen sind.
Eine Weile herrschte nach Hildes Worten tiefes Schweigen. Dann atmete Hans tief auf. Unverkennbar lag ein Ausdruck großer Erleichterung auf seinem Gesicht.
»Nein, Hilde«, sagte er froh, »ich habe durchaus keine Lust, unser schönes Verhältnis stören zu lassen. Es freut mich sehr, daß du das erlösende Wort gesprochen hast, und ich bin dir sehr dankbar dafür. Seit Mutter uns ihre Pläne in bezug auf euch mitgeteilt hat, sind Norbert und ich unfrei und bedrückt gewesen. Du zielst doch mit deinen Worten auf diese Wünsche, Hilde?«
Hilde nickte energisch und richtete ihre schlanke Gestalt auf.
»Ja, Hans, darauf ziele ich. Und ich erkläre hiermit feierlich, daß diese Wünsche den meinen strikt entgegenlaufen, daß wir euch sehr, sehr gern haben und ihr uns lieb seid wie Brüder. Das brauche ich euch nicht zu versichern. Aber gerade darum erscheint es uns ganz unmöglich, in ein anderes Verhältnis zu euch zu treten. An eine Heirat zwischen uns ist einfach nicht zu denken. Das ist meine Ansicht — und so denkt auch Ruth.«
»Und so wie Hans denke auch ich!« rief Norbert, indem er sich erhob und in alter Vertraulichkeit seinen Arm um Hilde legte. »Du hast ganz recht, Hilde, wir sind wie Geschwister aufgewachsen und können jetzt nicht plötzlich unsere Gefühle ummodeln. Ich bin mir gleich darüber klar gewesen, daß ich ebensowenig eine von euch heiraten könnte wie meine eigene Schwester.«
Ruth sah mit einem erlösten Lächeln zu den Brüdern auf.
»Gott sei Dank, daß wir einig sind. Was habt ihr denn eurer Mutter erwidert, als sie euch diese Eröffnung machte? Habt ihr eure Meinung gesagt?«
Norbert schüttelte den Kopf und sah ernst und sinnend auf die beiden Schwestern, die, wie immer ganz gleich gekleidet, in den eleganten, hellen Frühjahrstoiletten sehr hübsch aussahen.