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Es sollte der schönste Tag ihres Lebens werden ...
Vor Jahren wurde Laurie Morans geliebter erster Mann kaltblütig erschossen. Nun traut sie sich endlich wieder vor den Altar. Alles scheint perfekt. Doch dann verschwindet der zehnjährige Neffe ihres Verlobten Alex Buckley spurlos. Schnell erhärtet sich der Verdacht, dass er entführt wurde. Johnny ist adoptiert – könnten seine leiblichen Eltern etwas damit zu tun haben? Lauries Vater, ehemaliger Vize-Chef der New Yorker Polizei, verdächtigt wiederum einen verurteilten Mörder, den er vor 18 Jahren ins Gefängnis gebracht hat, und der dafür Rache schwor ...
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Seitenzahl: 396
DASBUCH
Laurie Moran traut sich endlich wieder vor den Altar, nachdem ihr geliebter erster Mann vor Jahren kaltblütig erschossen wurde. Alles scheint perfekt. Doch dann verschwindet Lauries zehnjähriger Neffe Johnny spurlos. Schnell erhärtet sich der Verdacht, dass er entführt wurde. Johnny ist adoptiert – könnten seine leiblichen Eltern etwas damit zu tun haben? Lauries Vater dagegen verdächtigt einen verurteilten Mörder, den er vor 18 Jahren ins Gefängnis gebracht hat und der nun auf Rache schwört …
DIEAUTORIN
Mary Higgins Clark (1927–2020), geboren in New York, lebte und arbeitete in Saddle River, New Jersey. Sie zählte zu den erfolgreichsten Thrillerautorinnen weltweit. Ihre große Stärke waren ausgefeilte und raffinierte Plots und die stimmige Psychologie ihrer Heldinnen. Mit ihren Büchern führte Mary Higgins Clark regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten an und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den begehrten »Edgar Award«. Sie starb am 31. Januar 2020 im Kreis ihrer Familie.
MARY
HIGGINS
CLARK
ALAFAIR BURKE
GEBROCHEN
IST DEIN
HERZ
THRILLER
Aus dem Amerikanischen von Karl-Heinz Ebnet
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Die Originalausgabe PIECE OF MY HEART erschien erstmals 2020 bei Simon & Schuster, New York.
Copyright © 2020 by Nora Durkin Enterprises, Inc.
All rights reserved. Published by arrangement with the original publisher, Simon & Schuster Inc.
Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Claudia Alt
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design/Margit Memminger unter Verwendung von shutterstock/zygonema
Herstellung: Mariam En Nazer
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-28506-7V002
www.heyne.de
Meinen lieben Lesern,
die mich ein Leben lang unterstützt haben.
»Führt euer Leben, als wäre es ein Roman –
mit Helden, Schurken,
falschen Fährten und Triumphen.«
Mary Higgins Clark
Fünf Jahre zuvor
If I only could, I’d make a deal with God.«
Der alte Kate-Bush-Song ging Roseanne Robinson durch den Kopf, denn genau das wollte sie jetzt – einen Deal mit Gott. Bitte, ich will eine bessere Ehefrau, ich will ein besserer Mensch sein. Ich will bis ans Ende meines Lebens jeden Tag eine gute Tat begehen. Ich will alles tun, nur verschone meinen Mann. Mach, dass ich ihn nicht verliere.
Sie hob den Kopf und unterbrach das Gebet, als ein Arzt in einem OP-Kittel durch die Doppeltür in den Warteraum kam. Erwartungsvoll hielt sie den Atem an, aber dann fiel der Blick des Arztes auf die ältere Frau in der Ecke, die sich seit Roseannes Ankunft immer wieder die Tränen fortgewischt hatte. Kurz darauf entfuhr der Frau ein schmerzerfüllter Aufschrei.
Die arme Frau, dachte Roseanne. Bitte erspare mir das.
Roseanne war erst einunddreißig, trotzdem konnte sie sich ein Leben ohne ihren Mann nicht vorstellen. Sie hatten sich auf dem College kennengelernt, die Beziehung hatte auch Bestand, als er seine Karriere als Architekt begonnen und sie sich ihre digitale Marketingagentur aufgebaut und ihren Kundenkreis beständig erweitert hatte. Drei Jahre zuvor hatte er sich dann das Motorrad angeschafft, zwei Wochen nach ihrem zweiten Hochzeitstag.
Dieses schreckliche Motorrad. Deswegen sind wir jetzt hier.
Von Anfang an hatte sie sich klar dagegen ausgesprochen. Sie hatte sogar an seinen älteren Bruder Charlie appelliert, weil sie dachte, er, ein Polizist, würde ihn zur Vernunft bringen. Stattdessen hatte sie sich von ihrem Schwager anhören müssen, dass sie »dem Mann doch seinen Spaß lassen« solle.
Trotz der Risiken war sie damals aber auch erleichtert gewesen. Monatelang schien ihr Mann mit seinen Gedanken immer ganz woanders gewesen zu sein. Unaufmerksam. Gelangweilt. Sie hatte schon überlegt, ob es ihm missfiel, dass sie wieder in der Agentur arbeitete, und sei es nur Teilzeit. Sie hatte überlegt, ob er nicht gern Vater war. Vor allem aber hatte sie befürchtet, dass ihre Ehe am Ende wäre. Nachdem das Motorrad da war, schien er aber wieder der glückliche, charmante, fröhliche Mensch zu sein, den sie von früher kannte. Die vorzeitige Midlife-Crisis, in der ihr Mann anscheinend gesteckt hatte, war nach der Anschaffung des chromglänzenden zweirädrigen Spielzeugs überstanden. Es könnte schlimmer sein, hatte sie sich gesagt.
Und jetzt saß sie hier und wartete darauf zu erfahren, wie die OP verlaufen war.
Der Polizist, von dem sie angerufen worden war, hatte sie mit kühler Zurückhaltung ins Bild gesetzt. Es habe einen Unfall gegeben. Ein Lieferwagen habe eine rote Ampel überfahren. Der Motorradfahrer – ihr den Nervenkitzel suchender Mann – sei bewusstlos, trotz des Helms, den er getragen hatte, wie sie ihn so oft angefleht hatte.
Sie sah auf ihre Uhr. 11.55 Uhr. In fünf Minuten würde Bella aus der Vorschule kommen. Sarah, die Nachbarin, würde sie und ihre eigene Tochter Jenna abholen. Bella würde sich freuen, wenn sie den Nachmittag bei ihrer besten Freundin verbringen durfte, aber irgendwann würde sie nach ihrer Mutter und ihrem Vater fragen.
Bitte, lieber Gott. Wie soll ich meiner Tochter erklären, dass ihr Daddy nicht mehr nach Hause kommt?
Eine Ärztin, deren Haare noch unter der blauen OP-Haube steckten, trat durch die Doppeltür. »Roseanne Robinson?«, rief sie.
Das war sie. Ihre und Bellas Zukunft hingen nun von dem ab, was ihr gleich mitgeteilt würde. Entweder würde ihr bisheriges Leben weitergehen, oder sie würden sich auf einem ganz anderen Weg wiederfinden.
Sie stand auf. »Roseanne Robinson, das bin ich.«
Oder Ro-Ro, wie die meisten Freunde sie nannten. Der Spitzname war der hauptsächliche Grund gewesen, warum sie bei der Eheschließung ihren Mädchennamen beibehalten hatte. Wenn du überlebst, Liebling, lass ich meinen Nachnamen ändern, so, wie du das immer wolltest.
»Bitte, sagen Sie es mir«, flehte Roseanne. Sie kniff die Augen zu und machte sich darauf gefasst, das zu hören, was ihr Leben für immer verändern würde.
»Ihr Mann lebt.«
Sie umarmte die Ärztin, ganz automatisch, einfach als Ausdruck ihrer Dankbarkeit.
Flüchtig skizzierte die Ärztin die Behandlungen, die nun anstanden – weitere Hauttransplantationen, Physiotherapie, Reha. Während Roseanne die Fakten verarbeitete und bereits jeden noch folgenden Arzttermin vor sich sah, ging ihr ununterbrochen durch den Kopf, wie glücklich sie sich schätzen durfte. Ihre Familie war verschont geblieben.
In den darauffolgenden Wochen und Monaten aber holte sie die Realität ein. Die Reha. Die Genesung. Die Verbitterung. Das Leben ging weiter, allerdings nicht so, wie sie es gekannt hatte. Jeder Tag brachte einen neuen Dominostein zum Kippen.
Und dann, eines Tages, fünf Jahre später, bekam sie einen Anruf, bei dem sie erfuhr, dass alle umgekippten Dominosteine zu einem kleinen Jungen namens Johnny Buckley führten.
Mittwoch, 15. Juli
Laurie Moran zuckte zusammen, als es schon wieder hupte, diesmal vom Pick-up hinter ihnen.
Charlotte Pierce auf dem Fahrersitz sah in den Rückspiegel und riss genervt die Hand hoch. »Was soll das denn? Ich kann mich doch nicht in Luft auflösen.«
Laurie hielt kurz den Atem an, während der Lieferwagen vor ihnen eine schwarze Auspuffwolke ausstieß.
Es war noch nicht mal Mittag, und das an einem Mittwoch, trotzdem ging auf dem Long Island Expressway so gut wie nichts mehr voran. Die Stadtbewohner wollten den glühenden Straßenschluchten Manhattans entkommen und an den Strand. Die zweistündige Fahrt zu den Hamptons würde heute bei dem schleichenden Verkehr also eher drei Stunden dauern.
Unbeeindruckt vom Verkehrschaos, sang Charlotte fröhlich den Janis-Joplin-Song im Radio mit. »Take another little piece of my heart now, baby …«
Sie grinste zu ihrer Beifahrerin hinüber. »Aaah, nichts ist besser als der Expressway mitten im Juli!«
Charlotte hatte den Wagen – ein nagelneues Mercedes-Cabrio – erst einen Monat zuvor gekauft und freute sich immer noch am offenen Verdeck. Sie trug eine große dunkle Sonnenbrille mit runden Gläsern und hatte ihren kinnlangen Bob für die Fahrt eng hinter die Ohren gesteckt. Trotz der dunklen Gläser bemerkte Laurie, dass Charlotte den Blick auf den Wagen in der rechten Spur gerichtet hatte.
»Der Typ neben uns scheint ein Auge auf dich geworfen zu haben. Der Arme, er weiß ja nicht, dass du bald eine verheiratete Frau bist.«
Unwillkürlich drehte sich Laurie um. Der Fahrer des SUV lächelte tatsächlich in ihre Richtung. Schnell wandte sie den Kopf ab.
»Ach, der starrt uns doch bloß wegen der Musik so an. Er weiß ganz genau, dass wir beide ein Hörgerät brauchen, bis wir am Ziel sind.«
Der Kommentar veranlasste Charlotte dazu, die Lautstärke noch weiter aufzudrehen. »Take it!«, sang sie und wiegte die Schultern zur Musik. Ihr tiefes zufriedenes Lachen war ansteckend, und als der Verkehr wieder ins Rollen kam, musste Laurie unwillkürlich grinsen und stimmte mit ihrer Freundin ein.
Sie hatte tatsächlich Grund zur Freude, denn in vier Tagen würde sie Alex Buckley heiraten. Mehr als zwei Jahre hatte er kräftige Überzeugungsarbeit leisten müssen, damit er endlich zu einem Teil ihres hektischen Lebens würde, das sie als Witwe und berufstätige Mutter führte. Nach einer kleinen Zeremonie in der Kirche für die beiden Familien sowie den engsten Freundeskreis und einem Empfang in einem ihrer Lieblingsrestaurants wollten sie zu zehntägigen Flitterwochen nach Italien aufbrechen. Sie hatte Alex in ihrem Leben nicht nur Platz eingeräumt; nein, sie würden zusammen ein noch besseres Leben beginnen.
Charlotte hatte Laurie die Idee von »Familien-Flitterwochen« ausgeredet, und so würde die Reise mit Alex das erste Mal sein, dass sie mehr als nur zwei Nächte von ihrem zehnjährigen Sohn Timmy getrennt wäre. Statt eines Familienurlaubs nach der Hochzeit hatten sie und Alex also einen dreitägigen Aufenthalt am östlichen Ende von Long Island geplant, damit die unmittelbaren Familienangehörigen erst Alex’ vierzigsten Geburtstag feiern konnten, bevor dann die Hochzeit stattfand.
Als Treffpunkt hatten sie das direkt am Meer gelegene South Shore Resort & Spa in den Hamptons ausgesucht. Neben Laurie, Alex und Timmy würden Lauries Vater Leo sowie Alex’ Bruder Andrew und dessen Frau und drei Kinder kommen; dazu natürlich Ramon, der nach wie vor darauf bestand, als Alex’ Butler zu firmieren, obwohl er für alle längst zu einer Art Ersatzonkel geworden war. Für die Betreuung der Kinder hatten sie auch Timmys Lieblings-Babysitterin Kara eingeladen.
Eigentlich hatte Laurie frühmorgens mit Alex, Timmy und Ramon aufbrechen wollen, doch es war mal wieder etwas dazwischengekommen. Sie war die Produzentin von Unter Verdacht, einer Reality-TV-Serie, in der alte ungelöste Verbrechensfälle neu aufgerollt wurden. Alles war bereits vorbereitet, damit nach ihrer Rückkehr aus Italien sofort mit den Dreharbeiten für die nächste Folge begonnen werden konnte. Acht Jahre zuvor war ein Journalist namens Jonathan Brown spurlos verschwunden. Laut Browns Ehefrau Amy hatte er sich wegen betrügerischer Machenschaften in einem Pharmakonzern mit einem anonymen Informanten treffen wollen. Nachdem die Polizei keinerlei Hinweise auf ein solches Treffen fand, fiel der Verdacht – auch der der Öffentlichkeit – auf Amy. Brown wurde jedoch nie gefunden, weder tot noch lebendig, und Amy wurde daher auch nie angeklagt.
Nachdem Laurie ein Jahr lang versucht hatte, ehemalige Angestellte des Pharmakonzerns zu kontaktieren, konzentrierten sich ihre Recherchen auf einen Mitarbeiter der Forschungsabteilung, der eine Woche nach Browns Verschwinden bei einem Autounfall mit Fahrerflucht ums Leben gekommen war. Dessen Witwe Carrie hatte erzählt, dass ihr Mann in den Wochen vor seinem Tod wegen irgendeiner Sache in der Arbeit ziemlich nervös gewesen war. Als Laurie sie fragte, ob ihr Mann vielleicht einen Reporter namens Jonathan Brown gekannt habe, hatte sie sie nur verwirrt angesehen, bis Laurie sie daran erinnerte, dass Brown derjenige gewesen war, der eine Woche vor dem Unfall ihres Mannes spurlos verschwunden war.
Carrie war kreidebleich geworden.
»Nein«, sagte sie. »Oder, na ja, zumindest glaube ich das nicht. Aber ich weiß noch, dass er sehr erschüttert war, als in den Nachrichten dieser verschwundene Journalist erwähnt wurde. Ich habe ihn gefragt, was los ist, aber er hat bloß abgewiegelt und gesagt, es sei doch sehr traurig, wenn jemand einfach so verschwindet.«
Laurie war überzeugt, dass der tote Forschungsangestellte Browns anonymer Informant gewesen war. Ihr Plan hatte vorgesehen, mit dem, was Carrie und Amy wussten, den Pharmakonzern unter Druck zu setzen, damit er ihre anderen Fragen beantwortete.
Ein Stups gegen den linken Unterarm holte sie in die Gegenwart zurück. »Hallo? Erde an Laurie.« Die Autos setzten sich wieder in Bewegung. Charlotte machte das Radio leiser, damit sie sich wieder unterhalten konnten. »Du siehst aus, als würdest du dir Sorgen machen. Worüber? Für Alex’ Geburtstag ist doch alles geplant, alles wird wie am Schnürchen laufen. Und für die Hochzeit und die Flitterwochen gilt dasselbe. Du bist in Gedanken wieder bei der Arbeit, stimmt’s?«
Ja, so war es. Am Morgen, gleich nach dem Aufwachen, hatte sie die spätabendlichen Mails von Carrie und Amy vorgefunden. Sie schrieben von einem »Sinneswandel« (Carrie) und einer »Panikattacke« (Amy). Beide hatten es sich, in derselben Nacht, urplötzlich anders überlegt. Keine der beiden wollte in Unter Verdacht auftreten.
Den größten Teil des Vormittags hatte Laurie versucht, die beiden Frauen auf allen Kanälen zu erreichen. Das hatte sie eigentlich auch noch auf der Fahrt zu den Hamptons vorgehabt, aber als Ramon ihre Taschen im Kofferraum verstaute, trafen unmittelbar hintereinander zwei weitere Mails bei ihr ein. Diesmal von zwei Anwälten, die sie aufforderten, jegliche Kontaktaufnahme mit ihren jeweiligen Mandantinnen, Carrie und Amy, unverzüglich einzustellen. Ob die Frauen nun bedroht oder bestochen worden waren, die Schlussfolgerung war eindeutig: Jemand hatte sie unter Druck gesetzt. Laurie blieb nichts anderes übrig, als bei der Produktion, die nach ihrer Rückkehr aus den Flitterwochen hätte starten sollen, den Stecker zu ziehen.
So waren die anderen schon mal an den Strand vorausgefahren – sie hatte darauf bestanden –, während sie Brett Young, ihrem Boss, noch die schlechte Nachricht überbrachte. Aber auch zwei Stunden später waren sie keinen Schritt weitergekommen. Er bestand weiterhin darauf, den vorgesehenen Sendetermin einzuhalten, was für sie bedeutete, auf die Schnelle einen neuen Fall zu finden. Ihr einziger Glücksfall an diesem Vormittag war Charlotte gewesen, die in East Hampton ein Sommerhaus hatte und am Abend rausfahren wollte. Lauries missliche Lage war für Charlotte Grund genug, um früher aufzubrechen.
»Du hast alles getan, was du konntest«, versicherte ihr Charlotte. »Du kannst die beiden Männer nicht von den Toten zurückholen. Du hast alles, was du weißt, der Polizei gemeldet, mehr steht nicht in deiner Macht. Und wenn die Ehefrauen vom Pharmaunternehmen eine Art Abschlagszahlung annehmen, müssen sie das mit ihrem eigenen Gewissen ausmachen. Du kannst dich nicht immer für andere aufopfern, Laurie.«
Laurie wusste, wie recht ihre Freundin hatte, trotzdem hätte sie gern mehr unternommen. Lauries erster Mann Greg war kaltblütig erschossen worden, als Timmy erst drei Jahre alt gewesen war. Kein Geld der Welt, kein Einschüchterungsversuch hätten sie davon abhalten können, die Wahrheit über seinen Tod ans Licht zu bringen.
»Du findest einen anderen Fall«, sagte Charlotte. »Das hast du bislang immer geschafft. Aber, meine liebe Freundin, in vier Tagen wirst du heiraten. Wie geht es dir denn damit?«
»Du willst eine ehrliche Antwort?« Laurie lehnte sich gegen die Kopfstütze und genoss die Sonne auf ihrer Haut. »Ich habe fast ein schlechtes Gewissen, weil ich so glücklich bin mit Alex. Hat es irgendjemand verdient, so viel Freude in seinem Leben zu haben? Es ist fast so, als würde ich – ich weiß nicht – auf die nächste Hiobsbotschaft warten.«
Charlotte lachte spöttisch auf. »Laurie, die immer schwarzsieht. Du musst dich nicht entschuldigen, wenn du glücklich bist. Du wirst drei tolle Tage mit Alex und deiner Familie am Strand erleben. Und am Sonntag startet ihr beide in ein ganz neues Leben. Du hast es verdient, dass du jede Sekunde genießt.«
Greg, so stellte sich Laurie vor, hätte ihr das Gleiche gesagt.
Als sie auf den Parkplatz einbogen, spürte Laurie, wie der Arbeitsstress allmählich von ihr abfiel. Das South Shore Resort & Spa war ein heller, weißer, moderner Bau und lag am besten Strandabschnitt, der in den Hamptons bis hinauf nach Montauk zu finden war. Sie schmeckte das Salz in der Luft, hörte das Rauschen der Wellen und die Rufe der über ihnen kreisenden Möwen. Neben einem grünen Minivan am Hoteleingang entdeckte sie Alex und Timmy. Anscheinend waren gerade Alex’ jüngerer Bruder Andrew und seine Familie aus Washington, D.C., eingetroffen.
Sie sah, wie Timmy – der perfekte junge Gentleman – seiner zukünftigen Tante Marcy die Beifahrertür öffnete. Dann ging die Schiebetür auf, der siebenjährige Johnny sprang heraus und umarmte Timmy, während Onkel Andrew seinen vierjährigen Zwillingstöchtern aus dem Van half. Timmy bezeichnete Andrews drei Kinder bereits als seine »kleinen Cousins und Cousinen«.
Charlotte drückte zweimal kurz hintereinander auf die Hupe, um ihre Ankunft zu verkünden. Als Alex aufblickte, bemerkte sie, dass seine Nase unter der Nachmittagssonne bereits etwas Farbe bekommen hatte. Der Wind fuhr in seine dunklen Haare, und ein Strahlen ging über sein Gesicht.
Charlotte tat so, als würde sie einfach nur dahinschmachten. »Schau dir bloß deinen Typen an, Laurie. Ich würde sagen, die Gefühle beruhen auf Gegenseitigkeit.«
Laurie erwiderte das Lächeln. Charlotte hatte recht, was sowohl Alex als auch die in zwei Wochen anstehende Arbeit betraf. Bis dahin aber wollte sie sich ganz auf ihre Familie konzentrieren.
Während der freudigen Begrüßungen fiel niemandem der weiße Chrysler auf, der auf den Resort-Parkplatz eingebogen war, als Charlotte wegfuhr.
Marcy Buckley stand auf der hinteren Terrasse des South Shore Resort, sah aufs Meer hinaus und atmete in vollen Zügen die salzige Luft ein. Nach mehr als sieben Stunden im Minivan tat es gut, sich ein bisschen die Beine zu vertreten. Noch vor Anbruch der Morgendämmerung waren sie in Washington losgefahren, damit sie zum Lunch in den Hamptons waren. Gott sei Dank war Johnny nie müde geworden, seine Zwillingsschwestern zu unterhalten, trotzdem würde sie sich sehr glücklich schätzen, wenn sie den »Kleinen Hai«-Song nie wieder zu hören bekäme.
Jetzt, da sie im Hotel waren, hatten Emily und Chloe die Aufmerksamkeit, die Vierjährige überhaupt aufbringen konnten, von ihrem großen Bruder auf Alex’ Verlobte Laurie gerichtet. Laurie hatte zusammen mit Marcy und den Kindern schon mal den Strand ausgekundschaftet, während sich Andrew und Alex um das Einchecken gekümmert hatten. Die Zwillinge zerrten an Lauries weiter weißer Leinenhose und konnten es kaum erwarten, ihr die Krimigeschichte zu erzählen, die sie sich extra für sie am Abend zuvor ausgedacht hatten. Darin ging es um einen Welpen, der zu Hause vergessen wird, als die Familie in den Urlaub fährt. Die Mädchen waren schon immer von ihrem Onkel Alex angetan, einem renommierten Strafverteidiger, der regelmäßig in den Nachrichten und im Fernsehen auftrat. Als er sich dazu bereit erklärte, als Moderator in der Fernsehserie Unter Verdacht aufzutreten, oh, wie hatten sie da gebettelt, sich die Sendung ansehen zu dürfen.
Noch aufgeregter aber waren sie, als sie Laurie kennenlernten, die ihnen erklärte, dass sie ebenfalls an der Sendung mitarbeitete, ganz zu schweigen von ihrem Vater, dem ehemaligen Boss der New Yorker Polizei. Für Kinder, wusste Marcy, war es ganz normal, dass sie andere Erwachsene immer sehr viel aufregender fanden als die eigenen langweiligen Eltern. Nur manchmal verspürte Marcy durchaus das Bedürfnis, ihnen deutlich zu machen, dass Andrew und sie ebenfalls keine trüben Tassen waren. Andrew war ein gefragter Anwalt für Unternehmensrecht in Washington, und sie selbst hatte nach ihrem College-Abschluss in Kalifornien fünf Jahre lang erfolgreich als Schauspielerin gearbeitet. Aber für Johnny und die Mädchen war sie immer nur Mommy – was für sie völlig in Ordnung war nach allem, was sie durchgemacht hatten, um eine Familie zu gründen.
Während die Mädchen sich auf Laurie stürzten, war Johnny völlig vernarrt in Lauries zehnjährigen Sohn Timmy. Für den drei Jahre jüngeren Johnny war Timmy von Beginn an immer der »coole Cousin« gewesen. Jetzt warfen sich die beiden Jungs am Strand einen Übungs-Football zu. Durch die Hochzeit würden sie zu Cousins werden, sie hätten aber auch leicht als Brüder durchgehen können. Wie Laurie hatten Timmy und Johnny glatte honigfarbene Haare und eine helle Haut, während sie, Andrew und die Zwillinge dunkle gewellte Haare und einen eher dunklen Teint hatten. Marcy war froh, dass Johnny endlich Familienangehörige hatte, die ihm äußerlich ähnlicher waren.
»Wir wollen auch spielen«, quengelte Chloe. Flehentlich sah Emily mit ihren dunkelbraunen Augen zu Marcy. Die beiden traten immer als Einheit auf, Emily war allerdings diejenige, die sich meistens leichter wieder beruhigen ließ. Marcy suchte den Strand mit den Augen ab und hielt Ausschau nach Dingen, die für ihre draufgängerischen Mädchen gefährlich werden konnten. Die meisten Leute am Strand waren Pärchen, Familien oder Gruppen. Eine Frau in einem sich bauschenden Maxikleid fiel ihr auf, die allein am Wasser stand und mit einer Zigarette im Mundwinkel fotografierte. Die einzige andere Person, die allein zu sein schien, trug Shorts und ein T-Shirt, dazu einen hellblauen Hut, der sie an den Hut erinnerte, den ihre Mutter immer auf ihrem Boot getragen hatte.
Sie nickte. »Aber nicht zu nah ans Wasser.«
Laurie lächelte, als sich die Mädchen am Rand der Terrasse die Sandalen von den Füßen streiften und zu den Jungs liefen.
»Sie sind schon ganz aus dem Häuschen, weil sie am Sonntag Blumenmädchen sein dürfen«, sagte Marcy. »Sie haben sogar schon geübt, aber sei gewarnt: Chloe wird höchstwahrscheinlich durch den Mittelgang stürmen und wie verrückt kreischen und Emily ihr dichtauf folgen.«
»Das ist doch herrlich«, sagte Laurie. »Komisch, ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, dass ich sie mal nicht auseinanderhalten konnte. Wenn man sie kennt, unterscheiden sie sich grundlegend.«
»Dann gehörst du jetzt ganz offiziell zur Familie.« Marcy meinte es wirklich so. Dass es Alex mit Laurie ernst war, hatten sie schon daran gesehen, als er sie beide extra nach New York eingeladen hatte, damit sie sie kennenlernen konnten. Sie war die erste Frau, die Alex ihnen vorstellte, der es anscheinend noch um etwas anderes ging, als sich einen der begehrtesten Junggesellen der Stadt zu angeln. Im Lauf der vergangenen zwei Jahre war ihnen allen klar geworden, wie viel Laurie und Alex einander bedeuteten.
»Laurie!«
Marcy drehte sich um und sah eine junge Frau – offensichtlich noch eine Teenagerin – in einem weißen Strandkleid, die mit ausgestreckten Armen auf Laurie zueilte. Sie hatte ihre langen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und trug einen schwarzen Rucksack auf der Schulter. Laurie umarmte die junge Frau herzlich.
»Sie müssen Mrs. Buckley sein.« Die junge Frau streckte ihr die Hand hin.
»Marcy, bitte, und wir können uns, glaube ich, ruhig duzen«, bot sie ihr an. »Du musst also die berühmte Kara sein. Deine Pfannkuchen mit Chocolate Chips sind ja legendär.«
Kara, wusste Marcy, war Timmys Lieblings-Babysitterin und eine tragende Säule im Haushalt der Morans gewesen, bevor sie vergangenen Herbst zum Studium an die SUNY in Buffalo weggegangen war. Gleich darauf kam ein über und über mit Sand bedeckter Zehnjähriger angelaufen, um Kara zu begrüßen. Bevor es Marcys Kinder auf die Terrasse schafften, erzählte Timmy Kara bereits von seinem neuen Videospiel, das er unbedingt mit ihr spielen wollte.
»Mommy«, maulte Emily. »Jonathan wirft uns nicht den Ball zu.«
»Jonathan?«, fragte Laurie erstaunt. »Seit wann denn der Name?«
Marcy gluckste. »Ein neuer Schüler in der Schule heißt Bartholomew, und der besteht darauf, dass man ihn mit vollem Namen anspricht. Jetzt meinen alle, es wäre cool, die richtigen Namen zu verwenden.«
»Wie klein die Welt doch ist«, antwortete Laurie. »Erst letzte Woche hat Timmy mir erzählt, dass ›Timmy‹ zu sehr nach kleinem Kind klingt. Also nenne ich ihn jetzt gelegentlich ›Timothy‹.«
Aus dem überdachten Durchgang zum Gebäude waren nun Männerstimmen zu hören. Es waren Alex, Andrew und Ramon. Andrew winkte mit Schlüsselkarten für das Hotelzimmer.
»Wir haben die Honeymoon-Suite«, rief er. »Dank meines großen Bruders.«
»Ein Missverständnis an der Rezeption«, erklärte Alex. »Meine Verlobte und ich werden das diese Woche alles nachholen können. Die Honeymoon-Suite war die einzige, die groß genug ist für eure Sippe.«
»Dann können wir ja von Glück reden«, sagte Marcy und nahm eine Schlüsselkarte entgegen.
»Also …« Marcy spürte, dass ihr Mann es kaum erwarten konnte, seinen Vorschlag loszuwerden. »Was meinen die Damen zu einem Golf-Nachmittag?«
»Soll das dein Ernst sein?« Sie versetzte ihm spielerisch einen Schlag. »Ich dachte, du würdest uns zu einem Wellness-Tag einladen.«
»Es sind die letzten paar Stunden, in denen Alex noch keine vierzig ist, und Ramon hat mir zugeflüstert, dass Golf ganz oben auf seiner Wunschliste steht.«
Entschuldigend legte Ramon die Hand ans Herz. »Es ist wirklich meine Schuld. Leo wird nicht vor dem Abendessen eintreffen, daher wäre jetzt der beste Zeitpunkt für Sie vier, wenn Sie den Schläger schwingen wollen.«
»Und was ist mit dir, Ramon?«, fragte Marcy. »Wir wollen dich doch nicht hier zurücklassen.«
»Ich bin mit anderen Dingen beschäftigt.«
»Ist aber topgeheim«, fügte Timmy mit einem Grinsen hinzu.
Marcy wusste bereits, dass Ramon Timmy versprochen hatte, mit ihm heimlich einen Einkaufsausflug zu unternehmen, damit er Alex noch ein besonderes Geschenk besorgen konnte – zusätzlich zu dem, das Laurie für sie beide gemeinsam ausgesucht hatte.
Fragend sah Laurie zu Marcy, während sie sich den Vorschlag durch den Kopf gehen ließ. »Ich bin eine schreckliche Golferin, aber Alex meint immer, wir sollten doch mal zusammen spielen, so wie du und Andrew das macht.«
»Lunch im Clubhaus und bloß neun Löcher«, versprach Andrew.
Marcy würde ihre drei Kinder in die Obhut der Neunzehnjährigen geben, die sie gerade erst kennengelernt hatte. Allerdings vertraute Laurie der jungen Kara uneingeschränkt, und immerhin war Laurie – aus nachvollziehbaren Gründen – die besorgteste Mutter, die sie kannte. Und was kann in so einem Strandparadies schon groß passieren?, fragte sie sich.
»Fore!«, rief sie und holte zu einem schwungvollen Golfschlag aus.
Die beiden Paare machten sich auf den Weg zu ihren Zimmern. Eine fremde Person – deren Gesichtszüge unter einem breitkrempigen blauen Baumwollhut und hinter den dunklen Gläsern einer Sonnenbrille kaum zu erkennen waren – beobachtete währenddessen weiterhin den Strand.
Kara Sumner hatte ihren Spaß am Strand und fast vergessen, dass sie dafür bezahlt wurde, für einige Tage auf Timmy und seine zukünftigen Cousins und Cousinen aufzupassen. Mit Timmy gab es keine Probleme. Seit der neunten Klasse war sie seine Babysitterin gewesen. Jetzt allerdings war sie auch noch für drei weitere, jüngere Kinder verantwortlich, die sie bislang nicht kannte. Außerdem hatte Laurie sie gewarnt, dass die Zwillingsmädchen sehr »lebhaft« sein konnten. Aber schon bald fragte sie sich, warum sie sich überhaupt Sorgen gemacht hatte. Die Kinder waren supernett und konnten sich hervorragend miteinander beschäftigten, ohne dass sie groß eingreifen musste.
Die größte Herausforderung war es bislang gewesen, die beiden Mädchen auseinanderzuhalten. Kara war den Eltern dankbar, dass sie sie nicht in gleiche Badeanzüge gesteckt hatten. Emily, schärfte sie sich ein, trug Gelb, Chloe Blau. Kein Problem.
Zu guter Letzt war auch noch Ashley Carter, eine ihrer Freundinnen von der Highschool, mit ihrer Familie am Strand und hatte sich zu ihnen gesellt.
Die Zwillinge hatten verlangt, schon mal einen Probelauf für »die Hochzeit von Alex und Laurie« zu starten. Alle Kinder hatten bei der Trauung feste Rollen. Alex’ Bruder Andrew war der traditionelle Best Man, Timmy würde »Best Man« der Braut sein, Johnny sollte die Ringe tragen, und Chloe und Emily waren Blumenmädchen.
Bei der Aufführung am Strand übernahm nun Kara die Rolle der Braut. Ashley spielte den Bräutigam und Ramon den Best Man, während die Kinder ihren vorgesehenen Part aufführten. Emily hatte sogar Plastikringe aus dem Hotelzimmer mitgebracht, damit Johnny schon mal üben konnte, die Ringe durch den Mittelgang zu tragen, bevor Timmy und Ramon sie der »Braut« und dem »Bräutigam« überreichten.
»Noch mal!«, rief Emily. »Chloe ist zu schnell gegangen, und Johnny hätte fast die Ringe fallen lassen.«
Ihr Bruder und ihre Schwester protestierten. Emily stapfte durch den Sand zurück zum Ausgangspunkt des »Mittelgangs«, den sie mit Muscheln markiert hatten.
»Tut mir leid, wenn ich euch unterbrechen muss«, sagte Ramon. »Aber Timothy und ich müssen noch in die Stadt, um eurem Onkel Alex ein Geburtstagsgeschenk zu kaufen.«
»Wir schenken ihm eine ganz tolle Aktentasche«, verkündete Johnny. Seine Schwestern brachten ihn schnell zum Schweigen. »Was?! Ramon und Timothy können ein Geheimnis besser für sich behalten als du.«
Mitfühlend sah Ramon zu den Babysitterinnen. »Sie haben es gehört, Miss Kara?«
»Klar. Habt ihr was dagegen, wenn ihr weiter bei Ashley und mir bleibt?«
Die drei Buckley-Kinder klatschten und johlten. »Können wir noch mal Hochzeit spielen?«, fragte Emily. »Biiiiitte!«
»Wenn die fahren, dann möchte ich jetzt aber auch mal Best Man sein«, rief Johnny.
»Du willst immer alles das, was auch Timmy tut«, sagte Chloe.»Wir werden dich jetzt für den ganzen Tag nur noch Timmy nennen.«
»Er heißt Timothy«, beharrte Johnny.
Kara warf Ramon ein Lächeln zu. »Ich würde sagen, wir haben hier alles unter Kontrolle.«
Johnny, der jetzt die Rolle von Timmy als Best Man übernahm, machte drei weitere Durchläufe der Hochzeitsprozession mit, bevor er genug davon hatte. »Ich möchte noch mal mit dem Skimboard ins Wasser. Ich bin schon ziemlich gut darauf.«
»Mir ist heiß«, beschwerte sich Emily nicht laut, aber eindringlich. Kara legte ihr die Hand auf die schwarzen Haare. Der Kopf des kleinen Mädchens glühte. Chloe drängte sich dazwischen, und Kara stellte fest, dass auch sie ganz heiß war.
»Schwarze Haare absorbieren die Wärme. Ich seh mal nach, ob ihr eine Mütze in eurem Zimmer habt.«
»Können wir auch mit reingehen?«, fragte Chloe.
Nachdem sich die Aufregung um die nachgespielte Hochzeit gelegt hatte, waren die Mädchen müde und überhitzt. »Ich denke, wir sollten uns alle mal in der Aircondition-Luft etwas abkühlen.«
Johnny drückte sich das türkis gestreifte Skimboard an die Brust und sah zu den Wellen. Das Board gehörte zu den vielen Strandutensilien, die das Hotel seinen Gästen zur Verfügung stellte. Er war ganz offensichtlich enttäuscht, dass er mit nach drinnen sollte.
»Ich kann ja noch ein bisschen bei Johnny bleiben, wenn du die beiden auf ihr Zimmer bringen willst«, bot Ashley an.
Kara hatte keinen Grund, an Ashleys Zuverlässigkeit zu zweifeln. Ashley war ein Jahr älter als sie und hatte seit der Mittelstufe auf ihre sehr viel jüngeren Geschwister aufgepasst. Trotzdem, es war eigentlich Karas Job, noch dazu kannten weder Marcy noch Laurie Ashley.
»Er bekommt drei Versuche auf dem Board«, versprach Ashley. »Das dauert zehn Minuten – höchstens. Außerdem kenne ich den Rettungsschwimmer, der gerade Dienst hat. Jack!«, rief sie.
Ein gut aussehender Typ oben auf dem Rettungsschwimmer-Turm drehte sich um und winkte ihr zu.
»Es ist wirklich heiß«, sagte Emily.
»Okay, gehen wir rein. Und du hast drei Versuche«, sagte Kara zu Johnny. »Aber mehr nicht!«
Auf einer Sanddüne im Osten hatte eine fremde Person sie im Blickfeld. Jetzt sind da nur noch der kleine Junge und eine Teenagerin, sonst niemand mehr. Es ist fast so weit.
Nachdem Emily und Chloe in ihrer Hotelsuite waren, liefen sie auf die Terrasse vor dem Schlafzimmer ihrer Eltern und staunten, dass sie sich unter ihrer privaten Außendusche den Sand von den Füßen waschen konnten. Kara musste sie danach daran hindern, drinnen im Kreis zu laufen, damit sie mit ihren nassen Füßen nicht auf den Kacheln ausrutschten. Als sie schließlich versuchten, auf dem Sofa auf und ab zu springen, musste ihnen ebenfalls Einhalt geboten werden. Das also hatte Laurie gemeint, als sie sie als »lebhaft« bezeichnet hatte.
Zur Suite gehörten zwei Schlafzimmer. Die Kinder würden sich das Zimmer mit den beiden kleineren Doppelbetten teilen. Die Mädchen zogen auf beiden Betten die Decken zurück, probierten beide aus und rollten sich jeweils hin und her.
Unisono verkündeten sie, dass sie auf dem Bett am Fenster schlafen würden.
»Ich weiß nicht recht«, sagte Kara hoffnungsfroh. »Vielleicht legt ihr euch noch mal für ein paar Sekunden hin und tut so, als würdet ihr wirklich schlafen … damit ihr ganz sicher seid.«
Nach wenigen Minuten war nur noch ihr ruhiger und synchroner Atem zu hören. Bestand zwischen Zwillingen immer so eine innige Verbindung?, fragte sich Kara, während sie das Zimmer verließ, ohne die Tür hinter sich zu schließen.
Sie sah auf dem Handy nach der Uhrzeit. Dreizehn Minuten waren vergangen, seitdem sie den Strand verlassen hatte. Sie wählte Ashleys Nummer.
»Hi.«
»Kommt Johnny mit seinem Skimboard zurecht?«, fragte Kara.
»Überhaupt nicht. Er ist schon beim ersten Mal kopfüber ins Wasser getaucht. Ich hab es für besser gehalten, ihn gar nicht mehr reinzulassen. Wir sind jetzt mit Jack am Strandladen beim Eisessen.«
Ashley hörte sich ungewohnt aufgekratzt an. Das, vermutete Kara, hatte wohl mit Jack, dem attraktiven Rettungsschwimmer, zu tun.
»Die Mädchen sind eingeschlafen. Wenn ihr mit dem Eis fertig seid, kannst du ihn ja auf sein Zimmer bringen.«
»Kein Problem. Johnny, es wird Zeit, dass wir … Johnny? Wo ist er denn hin?«
Kara hörte schlurfende Geräusche, so, als hätte sich Ashley in Bewegung gesetzt.
»Du bist doch bei ihm, oder?« Keine Antwort. »Ashley, bist du noch da? Sag was! Johnny ist doch noch bei dir, oder?«
»Gerade war er noch da. Ich weiß nicht, wo er hin ist.«
Laurie traute ihren Augen nicht, als von ihrem Siebener-Eisen der Golfball im perfekten Bogen davonflog und keinen Meter vom Pin entfernt landete.
Andrew stieß einen Pfiff aus. »Alex, du hast mir nicht erzählt, dass du eine heimliche Sportskanone heiraten wirst.«
Alex lächelte zufrieden, als sie sich auf dem Beifahrersitz des Golfwagens niederließ. »Du bist ein Naturtalent. Wir sollten öfter miteinander spielen.«
Sie hatte auf dem Green einige Glücksschläge platziert, bei den langen Schlägen aber hatte sie ihre fehlgeschlagenen Bälle kurzerhand neben die von Alex gelegt, damit sie nicht das gesamte Fairway abgehen musste.
Als sie zum Putten ausstiegen, klingelte ihr Handy. Es war Leo.
»Hallo, Dad.« Sie bemühte sich, nicht zu aufgeregt zu klingen.
»Mir entgeht der ganze Spaß?«, fragte Leo.
»Dir entgeht das Golfspielen.«
»Wie bitte? Eigentlich wollte ich meine Tochter sprechen. Laurie Moran, etwa eins achtundsechzig, hellbraune Haare, haselnussbraune Augen.«
Laurie lächelte. »Wie war das Meeting?«
Leo Farley war nicht nur Lauries Vater, sondern auch der ehemalige Erste Stellvertretende Polizeichef des New York Police Department. Im Jahr zuvor hatte er sich bereit erklärt, für die Arbeit in einer Antiterror-Taskforce auf Teilzeitbasis in den Dienst zurückzukehren, das heutige Treffen in der Stadt hatte allerdings damit nicht das Geringste zu tun gehabt.
Denn es ging um einen alten, achtzehn Jahre zurückliegenden Mordfall. Darren Gunther, damals ein einundzwanzigjähriger Student am Vassar College, hatte einen beliebten Barbesitzer erstochen, der einen Streit zwischen Gunther und einem weiteren Gast schlichten wollte. Gunther hatte Leo gegenüber den Mord gestanden, beim anschließenden Prozess aber behauptet, dass Leo das gesamte Geständnis frei erfunden hätte. Laut Gunthers neuer Version hatte sich jemand Drittes in den Streit eingemischt und den Barbesitzer getötet. Die Geschworenen hatten es ihm nicht abgekauft, worauf Gunther zu lebenslänglich verurteilt wurde.
»Sagen wir einfach mal, der Verkehr auf dem Long Island Expressway ist der Himmel dagegen.«
»War es so schlimm?«, fragte Laurie.
Das Treffen hatte bei der Bezirksstaatsanwaltschaft stattgefunden, deren Abteilung für Urteilsprüfung sich erneut mit Gunthers Verurteilung beschäftigen musste. Ihr Vater war es gewohnt, dass Angeklagte noch Jahre nach Verübung der Tat ihre Unschuld beteuerten, dieser Fall aber hatte ihn persönlich berührt. Gunther, schon immer eine charismatische Persönlichkeit, hatte mittlerweile, mit knapp vierzig Jahren, eine Essaysammlung über das Leben im Gefängnis veröffentlicht, wodurch er eine loyale – und nach Leos Meinung naive – Gruppe von Unterstützern gewonnen hatte. Nach Leos Dafürhalten benutzte Gunther seinen neu erworbenen Ruhm, um Indizien zu seiner Entlastung zu sammeln und den Fall neu aufrollen zu können.
»Angeblich soll sich am Messergriff Fremd-DNA befunden haben. DNA von einem Ex-Häftling mit einem langen Strafregister. Aber das ändert nichts. Ein Geständnis ist ein Geständnis. Ich war schließlich anwesend. Nur, diese jungen Staatsanwälte kennen mich gar nicht mehr.«
Das war der eigentliche Grund, warum der Fall bei ihm einen wunden Punkt getroffen hatte: Gunther bezeichnete Leo Farley als Lügner, eine Anschuldigung, die Lauries Vater nicht auf sich sitzen lassen konnte.
»Ich glaube hundertprozentig an dich, Dad.«
»Das weiß ich. Und ich kann es gebrauchen, wenn sich jemand auf meine Seite stellt. Ich meine es ernst: Vielleicht kannst du dir die Sache ja mal ansehen – für deine Sendung.«
Alex winkte ihr mit einem Putter.
Recherchen in einem Verbrechensfall, an dem ihr Vater unmittelbar beteiligt war, führten natürlich zu einem Interessenkonflikt. Nach Gregs Ermordung war Leo allerdings vorzeitig in den Ruhestand getreten, um ihr mit Timmy beizustehen, und hatte sich so oft für sie und ihren Sohn eingesetzt, ohne im Gegenzug je etwas dafür verlangt zu haben. Und im Übrigen musste sie tatsächlich so schnell wie möglich einen neuen Fall finden.
»Wie auch immer, widme dich lieber mal wieder deiner Partie, bevor du noch wegen unserer Quasselei vom Platz geworfen wirst.«
Mit ihren Gedanken ganz woanders, verfehlte sie den leichten Putt.
Drei Loch weiter, auf dem Green, klingelte Lauries Handy erneut. »Hallo, Kara«, meldete sie sich fast im Flüsterton.
»Ist das Kara?«, fragte Marcy. »Stimmt etwas nicht?«
Marcys Besorgnis war nicht zu übersehen. »Keine Sorge. Kara weiß nur, dass ich gern regelmäßig auf dem Laufenden gehalten werden möchte.«
Laurie konnte Kara im lauten Meereswind kaum verstehen. »Es tut mir schrecklich leid, aber ihr müsst kommen.«
»Schon gut, beruhige dich. Was ist denn passiert?«
»Ich weiß es nicht. Aber Johnny ist nirgends zu finden. Er ist verschwunden, Laurie. Johnny ist verschwunden.«
Nun musste Marcy doch etwas in Lauries Miene entdeckt haben, denn mit einem Mal fasste sie mit schreckgeweiteten Augen nach ihrem Mann.
Wie soll ich ihr das bloß sagen?, fragte sich Laurie.
In den sieben Jahren seines Lebens war Johnny Buckley bislang nur ein Mal verloren gegangen. Marcy erinnerte sich noch sehr gut an die Angst, die sie ausgestanden hatte. Er war damals fünf gewesen. Andrew wollte mit den Kindern am vierten Juli zum Feuerwerk, nachdem die Zwillinge alt genug waren, um sich nicht mehr davor zu fürchten. Natürlich kam es nicht infrage, sich mit den Kindern in die Menschenmenge auf der National Mall zu drängen, weshalb sie sich für eine Picknickdecke samt Stühlen im Meridian Hill Park entschieden.
Leider war das Feuerwerk nicht das Einzige, wozu die Mädchen alt genug waren. Denn sie stellten sehr eindrucksvoll ihre Neugier unter Beweis, verließen immer wieder die Picknickdecke und stapften auf alles zu, was für sie auch nur entfernt von Interesse schien. Auf das junge Pärchen mit den zwei Hunden. Die große Familie mit den vielen Kindern. Frisbee spielende Teenager. Anscheinend wollten Chloe und Emily überall sein, nur nicht dort, wo sie eigentlich sein sollten.
Andrew und Marcy waren so sehr auf Chloe und Emily konzentriert, dass sie das am Himmel auffunkelnde Feuerwerk kaum mitbekamen – und erst recht nicht merkten, dass Johnny nicht mehr auf seinem kleinen Klappstuhl mit dem Aufdruck der Washington Nationals saß. Es sah Johnny gar nicht ähnlich, dass er sich einfach so davonmachte. Wenn überhaupt, dann war er eher anhänglich. Andrew machte sich sofort auf die Suche, während Marcy bei den Mädchen blieb. Marcy zählte die Sekunden. Sie hatte links und rechts von sich die beiden Mädchen im Arm, damit sie stillhielten, und zwang sich dazu, ganz normal zu atmen, um die beiden nicht zu ängstigen. Trotz des knallenden Feuerwerks konnte sie das Blut in den Ohren rauschen hören.
Sie war schließlich bei 411 angekommen, als sie Johnny entdeckte. Sein Blick wanderte zwischen den Farben am Himmel und den im Park lagernden Gruppen, die er sorgfältig umkurvte, hin und her, aber er kam in ihre Richtung. Und als er endlich da war, schlang sie die Arme um ihn. »Wo warst du denn?«
Er war ganz allein zu den Toiletten und zurück gegangen, wie er stolz erklärte. »Ich hab doch gemusst, und du und Daddy seid den Zwillingen hinterhergejagt.«
Das war jetzt mehr als zwei Jahre her. Er hatte ihr damals versprechen müssen, sich nie mehr zu entfernen, ohne ihnen vorher Bescheid zu geben. Aber hatte sie ihn in der Zwischenzeit auch oft genug daran erinnert? Meinte er, diese Regel hätte bei einer Babysitterin in den Ferien keine Gültigkeit?
Sie zuckte zusammen, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte. Andrew.
»Es wird alles in Ordnung sein«, sagte er. »Denk nur an den vierten Juli.«
Am liebsten hätte sie laut losgeschrien. Damals waren es nur 411 Sekunden gewesen. Jetzt suchten sie bereits fast zwanzig Minuten nach ihm, und das nach der Fünfzehn-Minuten-Fahrt vom Golfplatz. Sie hatten an allen offensichtlichen Stellen nachgesehen: in der Hotellobby, am Swimmingpool, dem Souvenirshop, dem Surfladen – überall. Bislang hatten sie lediglich einige Gäste gefunden, die sich erinnerten, Johnny mit Kara und seinen Schwestern und später auch ihn allein mit seinem Skimboard im Wasser gesehen zu haben. Aber das alles hatte sich noch ereignet, bevor er am Strand ein Eis bekommen hatte.
»Ich bin fassungslos, dass Johnny bei einem Mädchen war, das wir gar nicht kennen. Was hatte sie denn so Wichtiges zu tun, damit sie nicht auf unseren Sohn aufpassen konnte?«
»Kara und Ashley fühlen sich ganz schrecklich.«
»Gut!«
Sie klang verbittert, in Wahrheit war sie aber vor allem auf sich selbst wütend. Sie hätte das Hotel nicht verlassen dürfen.
»Ein Angestellter des Strandladens sagt, er habe Johnny mit seinem Waffeleis hinter dem Laden beim Muschelsammeln gesehen. Könnte doch gut sein, dass er einfach am Strand weitergegangen ist, um noch mehr zu suchen.«
»Über eine halbe Stunde?«
»Es ist ein langer Strand. Du weißt, dass er manchmal alles um sich herum vergisst.«
»Ich weiß aber auch, dass er nie allein so lange verschwinden würde.« Marcy hatte sofort eine ganz innige Verbindung zu ihm gespürt, als die Nonne im Krankenhaus ihn in ihre Arme gelegt hatte, so, als wäre damals von seinem winzigen Körper Energie auf sie übergeflossen. Auch wenn sie ihn nicht neun Monate in sich getragen hatte, wurde in diesem einzigen Augenblick eine ewig währende Verbindung zwischen ihnen hergestellt.
Eine Frau kam aus dem Hotel in ihre Richtung. Ihr Maxikleid bauschte sich wie ein Segel im Wind. Sie hatte eine Kamera bei sich und rauchte eine Zigarette, genau wie am Strand, wo Marcy sie schon einmal gesehen hatte.
»Entschuldigen Sie, Ma’am«, rief Marcy. Andrew folgte ihr, nachdem sie bereits durch den Sand auf die Frau zulief.
Aus der Nähe war zu erkennen, dass die Frau älter war, als Marcy angenommen hatte – wahrscheinlich ging sie auf die sechzig zu. Sie hatte lange grau-blonde Haare und eine von der Sonne und dem Rauchen faltig gewordene Haut. Sie begrüßte Marcy mit einem herzlichen Lächeln.
»Na, hallo.« Sie drückte die Zigarette im Sand aus und richtete sich wieder auf. »Sie haben eine ungewöhnliche Art, sich Fremden vorzustellen.«
»Entschuldigen Sie. Wir wohnen im Hotel … aber im Moment können wir unseren Sohn nicht finden.« Marcy hielt ihr ihr Handy hin – es zeigte ein Foto von Johnny mit rosigen Wangen und breitem Lächeln, als er im vergangenen April seine Auszeichnung für den zweiten Platz im Puzzle-Wettbewerb der ersten Klasse in die Kamera hielt. »Ich habe vorhin gesehen, wie Sie am Strand fotografiert haben. Haben Sie zufällig mitbekommen, dass er dort gespielt hat?«
Das Lächeln der Frau verschwand abrupt. »Tut mir leid, aber ich kann mich nicht erinnern. Hinter der Kamera bin ich immer ganz auf die Schönheit der Natur konzentriert. Menschen existieren für mich gar nicht, solange ich die Welt durch den Sucher wahrnehme.«
»Es könnte doch sein, dass Sie Fotos von ihm haben, die möglicherweise zeigen, wohin er gegangen ist«, sagte Andrew.
»Ich kann auf jeden Fall mal nachsehen.« Sie rief im Display den Ansichtsmodus auf. Marcy und Andrew sahen ihr über die Schulter, während sie die Aufnahmen durchging.
»Da!«, rief Marcy. Sie deutete auf den äußersten rechten Bildschirmrand. »Da ist Johnny auf seinem Skimboard.«
»Ach ja, ich erinnere mich an einen Jungen. Ich musste einen anderen Ausschnitt wählen, damit ich nur die Landschaft draufhatte.« Sie überprüfte die Zeitangabe des Bildes. Die Aufnahme war nicht lange nach ihrem Aufbruch zum Golfplatz gemacht worden und lieferte damit keinerlei Informationen, die über das hinausgingen, was Kara und Ashley ihnen bereits mitgeteilt hatten.
Die Fotografin wartete geduldig, während sie durch die restlichen Bilder scrollten und verzweifelt nach Hinweisen auf Johnny suchten. Andrew notierte sich ihren Namen und ihre Nummer für alle Fälle. In diesem Moment sah Marcy, wie sich die Miene der Fotografin erneut änderte – diesmal zu einem Ausdruck der Angst.
»Was ist das?«, fragte sie und zeigte zum Wasser. Ein Gegenstand war an den Strand gespült worden.
Alles in Marcy zog sich zusammen, als sie die türkisen und weißen Streifen erkannte – die auch auf dem Foto zu sehen waren, das Kara Laurie auf den Golfplatz geschickt hatte. Es war Johnnys Skimboard. Ihr Sohn war verschwunden und konnte jetzt überall sein, auch im Meer.
Marcy brach in Schluchzen aus.
Laurie steckte sich einen Finger ins Ohr, damit sie im Rauschen der Brandung ihren Vater auf dem Handy verstehen konnte.
»Ich hab mit dem Polizeichef des East Hampton Police Department gesprochen«, sagte Leo. »Sie schicken einen Streifenwagen und einen Detective.«
Es war fast eine halbe Stunde vergangen, seitdem Andrew die Polizei verständigt und Johnny als vermisst gemeldet hatte. Laut seiner Aussage war er von der Dienststelle wie ein Helikopter-Vater behandelt worden, der sein abenteuerlustiges Kind lediglich ein oder zwei Sekunden aus den Augen gelassen hatte. Dass die Polizei seitdem nichts unternommen hatte, schien seinen Verdacht nur zu bestätigen. Alex war im Hotel und versuchte, das eine oder andere in die Wege zu leiten, aber selbst ein Richter am Bundesbezirksgericht verfügte nicht über den Einfluss, den Leo nach wie vor bei der Polizei hatte.
»Danke, Dad.«
»Sie schicken auch ein Boot«, fügte er hinzu.
»Die Polizei?«
»Die Wasserschutzpolizei.« Er zögerte kurz. »Sie patrouilliert die Küste entlang.«
Es lag auf der Hand, was diese Entscheidung unausgesprochen bedeutete. Laurie schauderte, obwohl es draußen bestimmt 27 Grad hatte.
Als sie das Gespräch beendete, fiel ihr ein stämmiger Junge mit windzerzausten dunklen Haaren auf, der auf sie zukam. Auf seinen Schwimmshorts waren Star-Wars-Figuren aufgedruckt, sein sonnengebräunter Bauch hing leicht über den Gummizug. Er war so um die neun Jahre alt, und er sah sie etwas schüchtern, aber unumwunden an.
»He, du«, rief sie und winkte ihm freundlich zu. »Darf ich dir eine Frage stellen?«
Er blinzelte in die hinter ihr stehende Sonne.
»Ja.«
Sie rief das Foto auf, das sie von Timmy und Johnny zwei Monate zuvor aufgenommen hatte, als Andrew mit seinem Sohn zu einem Yankees-Nationals-Spiel gekommen war. Bevor sie den Jungen fragen konnte, ob er die beiden kannte, deutete er schon auf den Handy-Bildschirm. »Das sind Timothy und Jonathan. Sind Sie ihre Mom?«
»Ich bin Timothys Mom, ja, und das ist sein Cousin, Jonathan. Du kennst sie?«
»Erst seit heute, wir haben uns das Skimboard geteilt. Das wollte ich Sie nämlich fragen. Ich hab Sie mit der Lady gesehen, die das Board im Wasser gefunden und mitgenommen hat. Ich wollte sie fragen, ob ich es haben kann, aber sie hat so traurig ausgesehen.«
»Sie ist traurig. Sie ist Johnnys Mom, und wir können ihn nicht finden. Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?«
Er senkte den Blick, starrte auf den Sand und versuchte, sich zu erinnern. »Ich glaube, als er aus dem Wasser gekommen ist und mit diesem Mädchen und dem Rettungsschwimmer geredet hat. Die sind dann in diese Richtung gegangen.« Er deutete zum Strandladen.
»Und hast du ihn seitdem noch mal gesehen?«
Wieder starrte er auf den Sand. »Ich hab ihn auf dem Board im Wasser gesehen, da ist er runtergefallen.«
»Gut, war das bevor oder nachdem er mit der Frau und dem Rettungsschwimmer weggegangen ist?«
»Ähm … ich glaube, davor.«
Er war sich alles andere als sicher.
»Aber du warst mit dem Board auch im Wasser?«
Er nickte.
»Und du weißt, dass meine Freundin es im Wasser gefunden hat. Hast du es da drin gelassen?«
Er schüttelte den Kopf. Sie stellte sich vor, wie Johnny vom Board fiel und von der Strömung nach unten gezogen wurde. Der Gedanke wollte ihr nicht aus dem Kopf.
»Aber die Wellen sind dann immer weiter den Strand hochgekommen. Daddy hat unsere Schirme und alles wegstellen müssen. Ich glaube, das Wasser hat das Board einfach rausgespült, als keiner hingesehen hat.«
Wenigstens ein positiver Aspekt, den sie Marcy und Andrew berichten konnte. Möglich, dass das Board lediglich im Sand liegen geblieben war und von der Flut erfasst wurde, bevor es Marcy wiedergefunden hatte.
»Weißt du, wo der Strandladen ist?«, fragte Laurie.
Er schüttelte den Kopf.
Sie erklärte es ihm; wenn er am Turm der Rettungsschwimmer vorbeiging, gab es auf der anderen Seite der Toiletten einen Laden, wo das Hotel auch die Skimboards verstaute. »Da kann man Eis kaufen.«
Seine Augen leuchteten, als er daran dachte.
»Aber sorge dafür, dass ein Erwachsener dich begleitet, okay? Das musst du mir versprechen.«