Gebt mir meine Mutti wieder! - Bettina Clausen - E-Book

Gebt mir meine Mutti wieder! E-Book

Bettina Clausen

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Beschreibung

Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. »Vati! Vati!« Noch ehe Denise den Jungen zurückhalten konnte, war er ihren Armen entglitten. Wie ein Wiesel schlüpfte er jetzt zur Tür hinaus. Vor dem Haus holte er seinen Vater ein. »Ich will nicht hierbleiben, Vati. Nimm mich wieder mit. Bitte!« Flehend schaute der sechsjährige Jan zu seinem Vater empor, dem Fabrikanten Kurt Buchwald. Der schluckte schwer an dem Kloß, der ihm die Kehle zusammendrückte. »Das geht nicht, Jan. Das weißt du doch.« »Warum geht es nicht? Warum lässt du mich nicht zu meiner Mutti? Sie wartet doch auf mich. Ich habe ihr versprochen, dass ich wiederkomme«, flehte der Junge mit tränenerstickter Stimme. Hilflos drehte sich der große unglückliche Mann um. Sein Blick suchte Denise von Schoenecker. Sie war soeben hinter ihm aus der Tür getreten.

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Sophienlust Bestseller – 109 –

Gebt mir meine Mutti wieder!

Bettina Clausen

»Vati! Vati!« Noch ehe Denise den Jungen zurückhalten konnte, war er ihren Armen entglitten. Wie ein Wiesel schlüpfte er jetzt zur Tür hinaus. Vor dem Haus holte er seinen Vater ein. »Ich will nicht hierbleiben, Vati. Nimm mich wieder mit. Bitte!«

Flehend schaute der sechsjährige Jan zu seinem Vater empor, dem Fabrikanten Kurt Buchwald. Der schluckte schwer an dem Kloß, der ihm die Kehle zusammendrückte. »Das geht nicht, Jan. Das weißt du doch.«

»Warum geht es nicht? Warum lässt du mich nicht zu meiner Mutti? Sie wartet doch auf mich. Ich habe ihr versprochen, dass ich wiederkomme«, flehte der Junge mit tränenerstickter Stimme.

Hilflos drehte sich der große unglückliche Mann um. Sein Blick suchte Denise von Schoenecker. Sie war soeben hinter ihm aus der Tür getreten. Jetzt nahm sie den kleinen Jan wieder in ihre Arme. Ganz behutsam. »Du wirst deine Mutti wiedersehen, Jan.«

Denise wusste, dass das eine Lüge war. Aber die Wahrheit hätte das unglückliche Kind in diesem Moment vernichtet. Denn Simone Buchwald, Jans Mutter, litt an Leukämie. Die Ärzte konnten ihr nicht mehr helfen. Simone konnte nur noch geduldig auf ihr Ende warten.

Deshalb hatte Kurt Buchwald seinen Sohn nach Sophienlust gebracht.

Jan hörte auf zu schluchzen. Aber noch immer schwammen seine Augen in Tränen. Durch diesen feuchten Schleier hindurch betrachtete er jetzt aufmerksam Denises Gesicht. Ob sie ihm wirklich die Wahrheit gesagt hatte? Sie sah so gut aus. Fast so lieb wie seine Mutter. Schnüffelnd fuhr er sich über die Nase. »Wirklich?«

»Ganz bestimmt«, log Denise weiter. Sie kam sich dabei so hilflos und unglücklich vor wie noch nie in ihrem Leben. Aber es galt jetzt, dem leidgeprüften Kind über die schwerste Phase seines Lebens hinwegzuhelfen. »Du musst ihr nur ein wenig Zeit lassen, sich zu erholen. Dann darfst du wieder zu ihr. Und so lange wirst du es doch bei uns hier aushalten, oder?«

Jan schwankte immer noch. Gern wollte er nicht bleiben. Aber wenn es der Mutter half, wenn sie allein vielleicht schneller gesund wurde, musste er wohl bleiben. »Ich wollte bei ihrem Bett sitzen«, sagte er leise, »und ihre Hand halten, wenn sie wieder Schmerzen kriegt.«

Kurt Buchwald wandte das Gesicht ab. Er schämte sich seiner feuchten Augen. Und doch war er Denise unendlich dankbar für die Geduld, die sie aufbrachte.

»Bleib ein bisschen hier«, bat er seinen Sohn. »Sobald es Mutti bessergeht, hole ich dich wieder.«

Folgsam nickte Jan. Dabei sah er so unglücklich aus, dass Denise seinen Anblick fast nicht ertragen konnte. »Komm, Jan«, sagte sie leise und nahm seine Hand.

»Auf Wiedersehen, Vati.«

Kurt Buchwald bekam einen letzten Kuss. Dann ging er schnell zu seinem Wagen. Er drehte sich nicht mehr um. Er konnte es nicht.

Erst als das Kinderheim in seinem Rückspiegel verschwunden war, hielt er seinen Wagen am Straßenrand an. Verzweifelt legte er seine Hände aufs Steuerrad und darauf das Gesicht. Lieber Gott, sei gnädig, betete er lautlos. Nimm meine Frau zu dir. Lass sie nicht länger leiden. Und hilf dem Kind, diesen schweren Schicksalsschlag zu überstehen, ohne dass es Schaden nimmt.

An sich selbst dachte der Fabrikant nicht. Er war ja schon mit so vielem fertig geworden … Er wusste ja auch schon seit Langem, dass er Simone verlieren würde.

Trotzdem schmerzte ihn der Gedanke an sie immer wieder aufs Neue. Sie war seine einzige große Liebe gewesen. Und als Jan auf die Welt gekommen war, hatte er geglaubt, sein Glück sei vollkommen. Doch jetzt, mit ein­undvierzig Jahren, stand er vor den Trümmern dieses Glücks. In einem Alter, in dem andere noch ein ausgefülltes Leben vor sich sahen.

*

Kaum war der Vater mit seinem Auto Jans Blicken entschwunden, klammerte sich der Junge aufschluchzend an Denise.

»Komm, mein Kleiner.« Denise führte ihn behutsam ins Haus und in sein Zimmer. Dann rief sie nach der Kinderschwester. »Ich glaube fast, es ist am besten, wir geben ihm ein leichtes Beruhigungsmittel, damit er in dieser ersten Nacht wenigstens schläft.«

Schwester Regine nickte. »Ich hole gleich etwas.«

In der Halle begegneten ihr Pünktchen und Vicky. »Ist der kleine Jan schon da, Schwester Regine?«

»Ja. Aber er wird heute Abend noch nicht mit euch essen. Er ist sehr unglücklich. Deshalb geben wir ihm ein Beruhigungsmittel. Damit er einschlafen kann.«

»Der Arme«, sagte Pünktchen voller Mitleid. Die älteren Kinder wussten, warum Jan nach Sophienlust gekommen war. »Können wir ihm gar nicht helfen?« Pünktchens sonst so lustige blaue Augen blickten jetzt ernst und mitfühlend.

»Heute noch nicht. Morgen könnt ihr euch um ihn kümmern. Versucht ihn abzulenken, damit er nicht so viel an seine kranke Mutti denkt.«

»Was hat seine Mutti eigentlich?«, wollte die vierjährige Heidi wissen.

Das hatte Schwester Regine den Kindern bisher nicht verraten. Sie tat es auch jetzt nicht. »Das wissen die Ärzte selbst nicht so genau«, antwortete sie ausweichend. Dann lief sie schnell hinauf in den ersten Stock, wo die Schlafräume der Kinder lagen.

Zu den drei Mädchen in der Halle gesellten sich jetzt auch die anderen Kinder.

»Weißt du, was ich glaube?«, sagte Pünktchen zu Dominik. Sie sprach leise. »Ich glaube, dass Jans Mutti sehr schwer krank ist, dass sie vielleicht überhaupt nicht mehr gesund wird.«

Der ältere Nick wiegte seinen hübschen dunkelgelockten Kopf. Er hatte sich das auch schon gedacht. Doch aussprechen wollte er es nicht. Die kleineren Kinder hätten es beim Spiel mit Jan ausplaudern können.

Fabian, der etwa in Jans Alter war, trat zu Pünktchen und Nick. »Habt ihr den Neuen gesehen? Wie sieht er aus?«

»Wir haben ihn noch nicht gesehen. Und heute Abend kommt er auch nicht zum Essen«, antwortete Pünktchen abweisend.

»Aber warum denn nicht?«

»Weil er müde ist und schlafen will.«

Dafür erntete Pünktchen einen dankbaren Blick von Dominik. Das hast du gut gemacht, sagte sein anerkennender Blick. Und nur Pünktchen verstand die Sprache seiner Augen zu deuten. Darauf war sie besonders stolz.

»Gehen wir essen«, schlug Nick vor und lenkte damit die allgemeine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung.

*

Der nächste Tag war ein Sonntag. Das bedeutete, dass die Kinder eine Stunde später frühstückten. Da Denise am vorangegangenen Abend wieder nach Gut Schoeneich zurückgefahren war, war es Schwester Regines Aufgabe, Jan den Kindern vorzustellen.

In seinem Zimmer hatte Jan schon den beinahe gleichaltrigen Fabian kennengelernt. Denise hatte die beiden Buben absichtlich zusammengelegt. Sie hoffte, das würde Jan das Eingewöhnen erleichtern. Doch vorerst sah es nicht so aus.

Als Fabian am Abend in sein Zimmer gekommen war, hatte Jan schon geschlafen. Jetzt, beim Erwachen, bestürmte er den neuen Spielgefährten sofort mit Fragen. »Bleibst du für immer bei uns?«

Jan antwortete nicht.

»Dein Vati hat dich hergebracht, nicht wahr?«

Verbissen presste Jan die Lippen zusammen.

»Wo ist denn deine Mutti? Oder hast du keine mehr?«

»Sei still!«, schrie Jan. Er sprang aus dem Bett. Mit Tränen des Zorns und der Hilflosigkeit in den Augen lief er in den Waschraum. Zum Glück war dieser leer. Die meisten Kinder hatten sich schon gewaschen. Allein hockte sich Jan auf den Boden und weinte leise vor sich hin.

So fand Fabian ihn. Mit schuldbewusstem Gesicht setzte er sich zu ihm. »Ich …, ich wollte dir nicht wehtun, Jan.«

Jan sagte nichts dazu. Er starrte nur weiter auf einen bestimmten Fleck auf dem Fußboden.

Fabian wusste nicht, wie er dem Neuen klarmachen sollte, dass er ihn nicht hatte ärgern oder beleidigen wollen. »Jetzt bist du richtig böse mit mir, nicht wahr?«

Zu seinem Erstaunen schüttelte Jan den Kopf. Dann schluckte er schnell, damit ja nicht wieder die Tränen kamen. »Ich bin nicht böse mit dir«, versicherte er leise.

Darüber war Fabian so erleichtert, dass er dem Neuen auf der Stelle etwas schenken wollte, um ihm zu zeigen, wie sehr er sich freute. Und da er nichts anderes bei sich trug als sein Taschenmesser, zog er dieses heraus. Eigentlich hing er sehr an diesem kleinen Ding. Es war sein kostbarster Schatz. Doch noch während er es betrachtete, erinnerte er sich an das, was Tante Isi einmal gesagt hatte. Ein Geschenk sollte immer ein kleines Opfer sein. Erst dann kam es von Herzen.

Fabian betrachtete noch immer sein kleines Taschenmesser. Wenn er es jetzt verschenkte, dann war es wirklich ein Opfer. Ob Jan das auch verstehen würde?

Jan war inzwischen auf den kleinen Gegenstand in Fabians Hand aufmerksam geworden. Ein Taschenmesser hatte er sich schon immer gewünscht. Doch er sagte nichts. Er schaute das kleine Messer nur an.

»Hier!« Fabian hielt es ihm hin. »Ich schenke es dir.«

Jan starrte zuerst auf das Messer, dann auf Fabian. »Du …?« Er konnte es nicht glauben.

»Nun nimm es schon«, drängte Fabian.

»Magst du es nicht mehr?«

»Doch.« Fabian hob den Blick. Offen schaute er Jan an. »Aber gerade weil ich es mag, schenke ich es dir. Damit du siehst, dass ich dich wirklich nicht ärgern wollte.«

Zögernd griff Jan nach dem Messer. Ein kleiner Freudenschimmer huschte über seine unglücklichen Züge. Ein Taschenmesser, dachte er. Ich habe ein eigenes Taschenmesser. Wie oft habe ich Vati gebeten, mir eins zu kaufen. Aber er hat mir nie eins geschenkt.

»Danke«, sagte Jan leise.

Fabian nickte und sprang auf. Dann streckte er Jan seine Hand entgegen. »Komm! Du musst dich schnell waschen. Es gibt gleich Frühstück. Und Tante Ma mag es nicht, wenn wir zu spät kommen.«

»Tante Ma?«, fragte Jan verständnislos.

»Das ist Frau Rennert. Unsere Heimleiterin. Aber wir rufen sie alle nur Tante Ma.«

»Ist sie streng?«

»I wo, überhaupt nicht. Nur wenn wir keine Ordnung halten, schimpft sie. Aber das tun ja alle Erwachsenen.«

Jan nickte und begann sich schnell zu waschen. Doch es wurde nur eine Katzenwäsche daraus. »Und die anderen?«, fragte er. Die Vorstellung, plötzlich so vielen Kindern gegenübertreten zu müssen, schüchterte ihn ein.

»Die sind alle nett«, antwortete Fabian spontan. Dann nahm er Jan mit zurück ins Zimmer und drängte ihn, sich anzuziehen.

Kaum hatte Jan das getan, trat auch schon Schwester Regine ein.

»Wo bleibt ihr denn? Die anderen sind schon alle beim Frühstücken.«

Fabian erschrak. »Ist es schon so spät?«

Die Kinderschwester nickte. Sie wandte sich Jan zu. »Guten Morgen, Jan. Hast du gut geschlafen?«

Der Junge nickte nur.

»Fein. Dann nehme ich dich jetzt mit in den Esssaal. Du wirst sehen, es wird dir bei uns gefallen.« Für ausführlichere Erklärungen blieb Schwester Regine keine Zeit. Sie nahm Jan bei der Hand und ging mit ihm hinunter. Fabian folgte den beiden.

Alle Gespräche verstummten, als Schwester Regine mit dem Neuen das Speisezimmer betrat. Immerhin war das ein großer Saal voller Kinder.

Jan erschrak und blieb unsicher einen halben Schritt hinter Schwester Regine zurück. Seine linke Hand berührte in der Hosentasche Fabians Messer. Das gab ihm ein wenig Mut. Wenigstens einen Freund hatte er hier schon.

Während Jan das dachte, stellte sich Fabian demonstrativ neben ihn. Er wollte allen damit gleich zu verstehen geben, der Neue ist mein Freund. Und wer ihm etwas tut, der bekommt es mit mir zu tun.

Für diese Geste war Jan seinem neuen Freund besonders dankbar.

»Hört mal alle her«, sagte Schwester Regine laut. »Das hier ist Jan. Er gehört ab heute zu uns. Ich möchte, dass ihr ihn so in die Gemeinschaft aufnehmt, wie das bei uns üblich ist.«

Alle nickten und riefen: »Ja!«

Da führte Regine den Jungen zu seinem Platz. Und allmählich nahm Jans hochrotes Gesicht wieder eine normale Farbe an.

»Darf er neben mir sitzen?«, fragte Fabian.

Schwester Regine nickte. »Selbstverständlich. Kümmere dich ein wenig um ihn, Fabian.«

Doch dieser Hinweis wäre gar nicht nötig gewesen. Fabian behandelte Jan wie einen Bruder. Diese Rolle gefiel ihm, denn er hatte ja nie einen Bruder gehabt. Und da er für seine zehn Jahre sehr schmächtig war, hatte er auch nie die Rolle des Helden oder Beschützers spielen können. Bei Jan konnte er das jetzt. Und er tat es mit Hingabe.

Schon während des Frühstücks begann Fabian, Jan die Namen sämtlicher Kinder zu nennen. Er wiederholte sie auch, so oft Jan danach verlangte. Denn es war nicht einfach, sich so viele Namen auf einmal zu merken.

»Du musst mehr essen«, drängte Fabian schließlich, weil Jan kaum ein halbes Brötchen hinuntergebracht hatte.

»Ich kann nicht«, sagte Jan unglücklich.

Fabian verstand das. Auch er konnte nie viel essen.

Nach dem Frühstück ging Jan mit den Kindern hinaus in den Park. Schon beim Hinausgehen fürchtete er sich vor ihren neugierigen Fragen. Doch zu seiner Überraschung stellten sie ihm auch nicht eine einzige Frage – weder über seinen Vater, noch über die Mutter.

Jan ahnte nicht, dass Schwester Regine den Kindern verboten hatte, irgendwelche Fragen zu stellen. Er spielte den ganzen Vormittag lang fast unbeschwert mit Fabian, Pünktchen, Vicky und Henrik. Doch kurz vor dem Mittagessen erinnerte er sich wieder an sein Zuhause. Und vor allem an die Mutter. Eine harmlose Bemerkung von Nick gab den Anstoß.

»Komm, Kleiner!«, rief Nick seinem Halbbruder Henrik zu. »Wir müssen zum Mittagessen nach Hause! Wir haben es Mutti versprochen.«

Mitten in der Bewegung erstarrte Jan. Er hatte gerade einen Ball zu Fabian werfen wollen. »So wirf doch«, drängte Fabian. »Du bist dran.«

Doch Jan ließ den bunten Ball achtlos fallen. »Ich habe keine Lust mehr«, sagte er leise. Dabei bemühte er sich energisch, seine Stimme fest klingen zu lassen. Doch es gelang ihm nicht.

Pünktchen merkte es zuerst. »Hören wir eben auf«, schlug sie vor und ging zu Jan. »Es wird eine Zeit lang dauern, bis du dich bei uns eingewöhnt hast und zu Hause fühlst, Jan.«

Aus verschleiertem Blick schaute er sie an. »Ich will mich nicht eingewöhnen. Und ich mag auch nicht bei euch bleiben.«

Pünktchen zuckte zusammen. Es kam so selten vor, dass ein Kind das sagte. Die meisten wollten bleiben. Sie bettelten sogar oft darum. Aber bei Jan war es gerade umgekehrt.

Pünktchen wusste nicht, was sie sagen sollte. Um wenigstens etwas zu tun, ergriff sie tröstend Jans Hand. Er ließ es geschehen. Aber es half ihm nicht viel. »Ich muss zu meiner Mutti«, murmelte er. »Sie hat Schmerzen, und sie braucht mich.«

Pünktchen sagte nichts dazu. Sie stellte keine einzige Frage, um den schüchternen Jungen nicht noch unsicherer zu machen. Trotzdem freute sie sich über seine unerwartete Gesprächigkeit. Doch als die anderen Kinder herankamen, hörte er sofort zu sprechen auf.

»Kommt, wir gehen ins Haus«, schlug Pünktchen vor.

Dafür warf Jan ihr einen dankbaren Blick zu. Er hatte schon befürchtet, von allen umringt und ausgefragt zu werden. Denn seine verweinten Augen hatten alle gesehen. Und eigentlich schämte er sich dafür. Doch er konnte es nicht ändern.

Nach dem Mittagessen verteilten sich die Kinder auf Haus und Garten. Es bildeten sich kleine Grüppchen. Ein paar Mädchen häkelten. Drei ältere Jungen unternahmen eine Radtour. Pünktchen aber suchte Schwester Regine. Sie fand die Kinderschwester schließlich in der Küche. Zusammen mit Else Rennert.

»Na, Pünktchen?«, fragte die Heimleiterin. »Du siehst so aus, als wolltest du uns etwas erzählen.«

Pünktchen nickte und erzählte von Jan. Sie berichtete, wie er nach seiner Mutti verlangt und schließlich angefangen hatte zu weinen. »Er hat mir leidgetan«, fügte sie hinzu. »Können wir ihm nicht irgendwie helfen?«

Kinderschwester und Heimleiterin schauten sich an. »Seinen Schmerz kann eigentlich nur die Zeit heilen«, meinte Else Rennert. »Aber ihr habt euch richtig verhalten. Stellt ihm keine neugierigen Fragen, wenn er wieder von der Sehnsucht nach seiner Mutter überwältigt wird. Tut so, als würdet ihr gar nichts merken. Das ist am besten.«

Pünktchen versprach es. Sie machte sich auf die Suche nach den anderen Kindern. Doch auf einmal wirkte das Haus wie ausgestorben. »Wo sind sie denn bloß alle?«, sagte sie verwundert. Die Halle war leer. Ebenso der Speisesaal. Auf dem Rasen, vor dem Haus konnte Pünktchen auch keinen entdecken.

Schließlich fand sie die häkelnden Mädchen im Wintergarten. Während die Mädchen sich eifrig über ihre Handarbeiten beugten, standen ihre Münder keinen Augenblick still. Sie hatten sich immer etwas zu erzählen. Und ab und zu warf der Papagei Habakuk seinen krächzenden Kommentar dazwischen. Das war manchmal nur ein empörter Schrei. Doch dann erschreckte er die Anwesenden wieder mit einem unerhört lauten und scheppernden Lachen. Meist war das eine Zornreaktion darauf, dass ihn niemand so recht beachtete.

Erschrocken fuhren die Köpfe der drei Mädchen jetzt wieder in die Höhe. Auch Pünktchen, die gerade eingetreten war, blieb vor Schreck stocksteif stehen.

Habakuk begriff, dass ihm sein kleiner Streich wieder einmal gelungen war. Spitzbübisch huschte sein Blick zwischen Pünktchen und den anderen Mädchen hin und her.

»So ein albernes Gelache«, schimpfte Pünktchen, die am meisten erschrocken war. »Möchte bloß wissen, worüber du manchmal so lachen kannst. Weit und breit hat niemand einen Witz erzählt.«

»Reg dich doch nicht auf«, meinte Vicky. Die Mädchen wussten, dass Pünktchen manchmal wegen Habakuk ganz schön in Rage kommen konnte. Und der Papagei schien das auch zu wissen. Denn mit seinen lauten Ausbrüchen versuchte er immer wieder, ausgerechnet Pünktchen zu erschrecken. Als er jetzt feststellte, dass ihm das wieder einmal gelungen war, begann er leise und meckernd vor sich hinzulachen.

»Jetzt freut er sich«, stellte die vierjährige Heidi fest. Dabei rutschten ihr ein paar Maschen von der Häkelnadel.

»Schadenfrohes Biest«, zischte Pünktchen dem Papagei zu. Dann entdeckte sie Heidis hilflosen Blick und die heruntergefallenen Maschen. »Das macht nichts«, sagte sie schnell und setzte sich neben Heidi. »Beim Häkeln können eigentlich keine Maschen fallen. Die kannst du alle schnell wieder aufnehmen. Komm, ich zeige es dir.«

»Ich lerne es einfach nicht«, beklagte sich Heidi. Enttäuscht betrachtete sie ihre kleinen Finger, die sich offensichtlich nicht für Handarbeiten eigneten.

Doch die anderen Mädchen tröstete sie schnell. »In deinem Alter konnte ich auch noch nicht häkeln«, sagte Vicky zu der Kleinen. »Das habe ich erst später gelernt. Wenn du jetzt schon damit anfängst, wirst du es später einmal besonders gut können.«

Pünktchen nickte dazu. »Das glaube ich auch.« Dann erzählte sie von Jan. Sie berichtete auch das, was Tante Ma und Schwester Regine gesagt hatten.

»Der Arme«, meinte Heidi mitfühlend. Sie ließ ihre Häkelarbeit in den Schoß sinken. »Er tut mir richtig leid. Wir werden ganz besonders lieb zu ihm sein, ja?«

Damit waren die anderen sofort einverstanden.

*