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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Ächzend, als leiste er Schwerstarbeit, wuchtete Henrik von Schoenecker seine Schultasche auf die Bank. »Wenn unsere Lehrer ein Herz hätten, würden sie uns hitzefrei geben.« »Hitzefrei gibt's erst ab fünfunddreißig Grad im Schatten«, sagte der Bub, der die Schulbank mit Henrik teilte. »Wir haben mindestens vierzig Grad.« Henrik fuhr sich über die Stirn. »Noch nicht einmal dreißig«, sagte Helga Köster, die Lehrerin. Sie hatte soeben die Klasse betreten, legte nun einen Stapel Hefte auf das Lehrerpult und ging wieder hinaus. Es hatte ja noch nicht geklingelt. Als das Klingelzeichen den Unterrichtsbeginn ankündigte, stürmte ein achtjähriges Mädchen völlig atemlos ins Klassenzimmer. »Dorle, du hast dich verlaufen«, rief Henrik. »Ihr seid nebenan.« »Ach Gott!« Dorle riss die Tür auf und war im nächsten Moment verschwunden. Verwundert schüttelte Henrik den Kopf. »Wie die heute ausgesehen hat!« »So, als ob sie sich nicht gewaschen, nicht gekämmt und nur halb angezogen hätte«, sagte das Mädchen neben Henrik. »Und ganz durcheinander war sie auch.« »Ja.« Henrik beschloss, in der großen Pause mit Dorle Wittmann zu sprechen. Er kannte auch ihre Schwester gut. Sissy hieß diese, sie war zwei Jahre jünger als Dorle und ging in die erste Klasse. Der Unterricht dauerte Henrik wieder einmal viel zu lange, weil es so heiß war und weil er wissen wollte, warum Dorle Wittmann so verstört ausgesehen hatte. Ein bisschen komisch war sie schon in den letzten beiden Tagen gewesen, fand er. Ihre Schwester auch. So einsilbig und beinahe traurig waren die beiden gewesen. Unruhig rutschte Henrik auf der Bank hin und her. Endlich klingelte es und die große Pause begann.
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Seitenzahl: 131
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Ächzend, als leiste er Schwerstarbeit, wuchtete Henrik von Schoenecker seine Schultasche auf die Bank. »Wenn unsere Lehrer ein Herz hätten, würden sie uns hitzefrei geben.«
»Hitzefrei gibt’s erst ab fünfunddreißig Grad im Schatten«, sagte der Bub, der die Schulbank mit Henrik teilte.
»Wir haben mindestens vierzig Grad.« Henrik fuhr sich über die Stirn.
»Noch nicht einmal dreißig«, sagte Helga Köster, die Lehrerin. Sie hatte soeben die Klasse betreten, legte nun einen Stapel Hefte auf das Lehrerpult und ging wieder hinaus. Es hatte ja noch nicht geklingelt.
Als das Klingelzeichen den Unterrichtsbeginn ankündigte, stürmte ein achtjähriges Mädchen völlig atemlos ins Klassenzimmer.
»Dorle, du hast dich verlaufen«, rief Henrik. »Ihr seid nebenan.«
»Ach Gott!« Dorle riss die Tür auf und war im nächsten Moment verschwunden.
Verwundert schüttelte Henrik den Kopf. »Wie die heute ausgesehen hat!«
»So, als ob sie sich nicht gewaschen, nicht gekämmt und nur halb angezogen hätte«, sagte das Mädchen neben Henrik. »Und ganz durcheinander war sie auch.«
»Ja.« Henrik beschloss, in der großen Pause mit Dorle Wittmann zu sprechen. Er kannte auch ihre Schwester gut. Sissy hieß diese, sie war zwei Jahre jünger als Dorle und ging in die erste Klasse.
Der Unterricht dauerte Henrik wieder einmal viel zu lange, weil es so heiß war und weil er wissen wollte, warum Dorle Wittmann so verstört ausgesehen hatte. Ein bisschen komisch war sie schon in den letzten beiden Tagen gewesen, fand er. Ihre Schwester auch. So einsilbig und beinahe traurig waren die beiden gewesen.
Unruhig rutschte Henrik auf der Bank hin und her. Endlich klingelte es und die große Pause begann. Henrik stürmte als Erster aus dem Klassenzimmer. Er lief auf den Schulhof, aber Dorle und Sissy konnte er dort nicht finden.
Nun packte den Jungen erst recht die Neugier. Er lief zurück ins Schulhaus und zum Zimmer der ersten Klasse.
Das Klassenzimmer war leer, aber die Tür zu Dorles Klassenzimmer war nur angelehnt. Henrik hörte Stimmen und blieb stehen. Er stellte fest, eine Stimme gehörte der Lehrerin.
»Was ist denn nur heute mit euch los?«, fragte Helga Köster eben. »Ihr seid ja ganz durcheinander, und frisiert habt ihr euch auch nicht.« Sie strich über Sissys dunklen Bubikopf.
»Wir hatten doch keine Zeit«, sagte Dorle. »Beinahe hätten wir verschlafen.«
»Wieso? Hat eure Mutti euch nicht geweckt?«
»Mutti ist weggegangen«, sagte Dorle. »Schon vor zwei Tagen.«
»Und seit zwei Tagen seid ihr allein?«
»Nein.« Sissy schüttelte den Kopf, und Dorle erklärte: »Vati musste verreisen, und da hat er uns zu einer Nachbarin gebracht. Aber die musste gestern Abend ins Krankenhaus. Und jetzt sind wir ganz allein.«
»Und wann kommt eure Mutti wieder?«, wollte die Lehrerin wissen.
»Wahrscheinlich überhaupt nicht, hat der Vati gesagt.«
Das ist ja eine schöne Geschichte, dachte Helga Köster. »Kommt eurer Vati wenigstens bald wieder nach Hause?«, fragte sie. Sie wusste, Eric Wittmann war Kriminalkommissar und beruflich viel unterwegs.
»Wir wissen nicht, wann er nach Hause kommt«, sagte Sissy und zupfte an ihrer Bluse, die sie verkehrt angezogen hatte.
Helga Köster überlegte. Allein bleiben konnten die Kinder nicht. Wenn es keinen anderen Ausweg gab, würde sie sie zu sich nehmen müssen.
Da wurde die Tür aufgestoßen. Herein kam Henrik von Schoenecker. »Ich habe alles gehört«, sagte er.
»Das sieht dir ähnlich«, sagte die Lehrerin und unterdrückte ein Schmunzeln. »Du hast also wieder einmal gelauscht?«
»Ja. Aber doch nur, weil ich mir Sorgen gemacht habe«, erklärte Henrik altklug. »Ich habe heute früh gesehen, dass Dorle ganz durcheinander war. Wisst ihr was?«, sagte er zu Dorle und Sissy. »Ihr kommt einfach mit nach Sophienlust.« Er schaute zuerst die Mädchen fragend an, dann die Lehrerin.
»Das wäre eine Übergangslösung«, sagte Helga Köster langsam und strich sich über das aufgesteckte dunkelblonde Haar. »Seid ihr voll belegt?«
Henrik schüttelte den Kopf. »Nein, wir haben noch Platz. Warum rufen Sie nicht gleich meine Mutti oder Tante Ma an und fragen sie?«
In diesem Moment klingelte es. »Ich rufe deine Mutti nach dem Unterricht an. Ihr bleibt in eurem Klassenzimmer und wartet auf mich«, sagte sie zu Sissy und Dorle.
Noch zwei Stunden musste Henrik absitzen. Nur mit Mühe konnte er dem Unterricht folgen. Er musste dauernd an Sissy und Dorle denken. Warum war die Mutti der beiden fortgegangen? Er durfte nicht vergessen, sie danach zu fragen.
Endlich war auch die letzte Stunde vorüber. Henrik lief in die erste Klasse und nahm Sissy mit in das Klassenzimmer von Dorle.
Inzwischen telefonierte Helga Köster vom Lehrerzimmer aus mit Gut Schoeneich. Denise von Schoenecker war selbst am Apparat. Sie zögerte keine Sekunde, als sie hörte, worum es ging. »Selbstverständlich nehme ich die beiden Mädchen vorübergehend in Sophienlust auf. Zumindest so lange, bis der Vater zurückkommt.«
Helga Köster bedankte sich und fragte, ob sie die Kinder hinausbringen solle.
Denise überlegte kurz. »Am besten wird es vielleicht sein, wenn ich die Mädchen selbst von der Schule abhole und zuerst mit ihnen nach Hause fahre. Bitte, behalten Sie sie solange dort.«
Die Lehrerin versprach es.
Henrik wartete mit Dorle und Sissy auf dem Schulhof. Eifrig winkte er, als er den Wagen seiner Mutti kommen sah. »Hier sind wir!« Er nahm Sissy bei der Hand. »Kommt, wir laufen ihr entgegen.«
Denise bremste und stieg aus. Sie trug ein ärmelloses Sommerkleid und flache Sandalen.
»Das ist Sissy und das ist Dorle Wittmann, Mutti. Und ich habe Frau Köster gesagt, dass sie dich anrufen soll.«
»Das hast du gut gemacht«, lobte Denise ihren Jüngsten lächelnd. Dann begrüßte sie Dorle und Sissy.
Die beiden stiegen in Denises Wagen ein und erklärten ihr den Weg. Wildmoos war nicht groß. Schon nach ein paar Minuten bremste Denise vor dem Haus, in dem Eric Wittmann mit seiner Familie wohnte.
Den Haustürschlüssel trug Dorle um den Hals, daran hing auch der Wohnungsschlüssel.
Denise von Schoenecker sperrte die Tür auf – und erschrak. Laut bellend sprangen ihr zwei Hunde entgegen.
Denise wich einen Schritt zurück. »Gehören die euch?«
»Ja.« Dorle nickte.
»Man«, staunte Henrik und bückte sich, um die beiden Foxterrier zu streicheln. »Die sehen ja aus wie Zwillinge. Könnt ihr sie auseinanderhalten?«
»Freilich«, sagte Sissy. »Der Linke heißt Ali und das hier ist Sonni.«
»Aha.« Henrik schaute von einem Hund zum anderen. »Und woran erkennt ihr, wer wer ist?«
»Das sieht man doch.« Dorle nahm Ali am Halsband und zog ihn in die Wohnung. Sonni lief den beiden nach.
Also zwei Hunde auch noch, dachte Denise. Nur gut, dass Sophienlust zur Zeit nicht voll belegt ist. Schließlich gibt es auch Zeiten, in denen das Kinderheim so überbelegt ist, dass kein einziges Bett mehr frei bleibt.
Die Wohnung sah unaufgeräumt aus. Man merkte, dass die ordnende Hand der Hausfrau und Mutter fehlte.
»Ihr wisst also nicht, wann euer Vati wieder nach Hause kommt?«, fragte Denise.
»Nein«, antwortete Dorle. »Manchmal bleibt er eine ganze Woche weg. Er ist erst vorgestern weggefahren. Und Tante Berta haben sie gestern Abend ins Krankenhaus gebracht.«
Tante Berta war die Nachbarin. Denise von Schoenecker hatte sich erkundigt, in welches Krankenhaus sie gebracht worden war. Dort hatte sie dann angerufen und erfahren, dass die alte Frau vorläufig im Krankenhaus bleiben musste.
»Wisst ihr, warum eure Mutti weggegangen ist?«, fragte Denise vorsichtig.
Dorle schüttelte den Kopf. »Sie hat nur gesagt, dass wir jetzt lange allein bleiben müssen.«
»Und dass wir tapfer sein sollen«, fügte Sissy hinzu. »Sie hat Papi einen Brief geschrieben, aber er hat uns nicht gesagt, was drin steht.«
»Jetzt nehme ich euch erst einmal mit«, sagte Denise. »Für euren Vati lassen wir einen Brief da, damit er weiß, wo ihr seid.«
»Nehmen wir Ali und Sonni auch mit?«, fragte Sissy besorgt.
»Selbstverständlich. Wir können sie doch nicht allein lassen.«
Henrik freute sich. Die niedlichen jungen Hunde gefielen ihm. Denise packte ein paar Kleidungsstücke und etwas Wäsche für die Mädchen ein. Auch ihre Lieblingsspielsachen durften die Kinder mitnehmen.
»Geht schon hinunter, ich komme gleich nach«, sagte Denise. Sie setzte sich, um ein paar Zeilen an den Vater der Kinder zu schreiben.
»Wisst ihr wirklich nicht, warum eure Mutti fortgegangen ist?«, fragte Henrik die beiden Mädchen auf der Treppe.
»Nein.«
Sissy schüttelte den Kopf.
»Und auch nicht, wo sie jetzt ist?«
»Auch nicht.« Dorle rief Sonni und Ali zurück, die über die Straße laufen wollten. »Bleibt hier, sonst dürft ihr nicht mit.«
Sonni trottete zum nächsten Baum. Ali folgte ihm.
»Mutti hat geweint, als sie wegging«, berichtete Dorle.
»Dann ist sie also nicht gern gegangen?«, forschte Henrik weiter.
»Nein, ich glaube nicht. Sie war schon ein paar Tage vorher so komisch«, erinnerte sich Dorle.
Henrik hätte gern gewusst, was dahintersteckte. Seltsam war es schon, dass eine Mutter plötzlich davonlief. »Vielleicht war euer Vati garstig zu ihr?«
»Unser Vati ist niemals garstig«, sagte Dorle entrüstet.
»Auch nicht zu euch?«
»Nein«, antworteten beide Mädchen gleichzeitig.
Henrik überlegte. Da kam seine Mutti aus dem Haus und öffnete die Wagentür. Sissy und Dorle setzten sich mit ihren Hunden auf den Rücksitz, Henrik nahm vorn Platz.
Henrik malte sich die Ankunft im Kinderheim aus. »Ich bin neugierig, was die anderen sagen werden. Dürfen Sonni und Ali in Sophienlust bleiben, oder bringst du sie ins Tierheim, Mutti?«
»Das weiß ich selbst noch nicht.«
»Ach, lass sie doch in Sophienlust«, bettelte Henrik.
»Wir werden sehen.« Denise schaltete und fuhr los.
»Gleich sind wir da«, sagte Henrik. »Dort vorn ist schon das Kinderheim.«
Dorle und Sissy reckten die Hälse. Sie hatten Sophienlust noch nie gesehen, nur immer davon gehört. Natürlich waren sie des Öfteren mit dem Vater im Wagen vorbeigefahren. Aber von der Landstraße aus konnte man nicht viel sehen. Nur ein paar Bäume und ein Stück vom Hausdach.
Denise hielt vor dem Herrenhaus. Im Hof stand der Schulbus. Also waren die anderen Kinder schon da.
Henrik sprang aus dem Auto und lief ins Haus. »Hört alle her«, rief er, so laut er konnte.
Die Kinder, die ihn hören konnten, kamen sofort herbei.
»Was ist los?«, fragte Pünktchen.
»Wir kriegen Neue. Gleich zwei. Und das verdankt ihr mir.«
»Wieso dir?«, fragte die fünfjährige Heidi.
In Stichworten schilderte Henrik, was es zu erzählen gab. »Und zwei Hunde bringen sie auch mit«, schloss er.
Da betrat Denise mit Dorle und Sissy das Haus. Sonni und Ali sprangen neugierig vor ihnen her. Man sah, dass sie noch jung waren.
»Zwei Foxel«, rief Heidi und bückte sich. Ali und Sonni kamen sofort zu ihr.
»Das hier ist Dorle, und das ist Sissy«, sagte Denise laut. »Sie bleiben für ein paar Tage, vielleicht auch für länger bei uns.«
Dorle hat blondes Haar und Sissy schwarzes, dachte Pünktchen. So kann man sich die Namen am leichtesten merken. »Und wie heißen die Hunde?«, fragte sie laut.
Henrik sagte es ihr. »Sie sind süß, nicht wahr?«
»Ja.« Pünktchen bückte sich, um Ali zu streicheln. Neugierig beschnupperte er ihre Hand.
»Die anderen Kinder lernt ihr gleich nachher beim Essen kennen«, sagte Denise. »Schwester Regine wird euch jetzt euer Zimmer zeigen.«
Beim Mittagessen erzählte Henrik, wie er das Gespräch zwischen Dorle und Sissy und der Lehrerin belauscht hatte. »Dann habe ich ihr sofort gesagt, sie soll Mutti anrufen.«
»Gut hast du das gemacht«, lobte Nick seinen Halbbruder.
Henrik wusste, ein Lob von Dominik war immer etwas Besonderes. Deshalb schaute er auch sofort in die Runde, ob es auch alle gehört hatten.
Nach dem Essen kümmerten sich Vicky und Pünktchen um die Neuen. »Seid ihr gar nicht traurig, dass eure Mutti weggegangen ist?«, fragte Vicky und bekam dafür von Pünktchen einen Rippenstoß.
»Das war aber nicht sehr taktvoll«, flüsterte Pünktchen.
»Doch«, antwortete Sissy, die Jüngere. »Aber Mutti hat uns ja versprochen, dass sie wiederkommt.«
»Hat sie auch gesagt, wann sie zurückkommt?«
»Nein.« Dorle schüttelte den Kopf. Ihr blonder Bubikopf sah unordentlich aus.
»Soll ich dich kämmen?«, fragte Pünktchen und holte auch schon einen Kamm aus ihrer Kleidertasche.
»Kämmst du mich auch?«, bat Sissy, die daneben saß.
»Das mache ich«, sagte Vicky schnell und griff nach Pünktchens Kamm. »Sieh nur, Pünktchen, was für dichtes Haar sie hat.« Sissys dichtes schwarzes Haar war als Pagenkopf geschnitten.
»Eigentlich seht ihr einander überhaupt nicht ähnlich«, meinte Pünktchen nachdenklich. »Ihr seid doch Schwestern.«
»Keine richtigen«, sagte Dorle. »Wir sind erst Schwestern geworden, als mein Vati und Sissys Mutti heirateten.«
»Und wann war das?«
»Vor zwei Jahren«, erzählte Dorle. Damals habe ihr Vati Sissys Mutti kennengelernt.
»Kennengelernt haben sie sich doch schon viel früher«, korrigierte Sissy.
»Das stimmt«, erinnerte sich Dorle. »Mein Vati hat damals gesagt, dass ich vielleicht wieder eine Mutti kriege und sogar ein Schwesterchen. Und es ist eine sehr liebe Mutti, hat er gesagt, und das hat dann auch gestimmt …« Sie schluckte und brach ab.
»Sei nicht traurig«, sagte Pünktchen und legte ihren Arm um Dorles Schulter. »Eure Mutti kommt bestimmt zurück, und dann wird alles wieder gut.«
»Ja.« Dorle fuhr sich über die Augen.
Um die beiden abzulenken, zeigten Vicky und Pünktchen ihnen den Papagei Habakuk. »Er kann sogar sprechen«, sagte Vicky. »Aber meistens mag er nicht, der faule Schlingel.«
»Fauler Schlingel«, krächzte Habakuk.
Dorle und Sissy staunten mit offenem Mund. »Hat er das jetzt wirklich gesagt?«, fragte Sissy.
»Klar«, sagte Dorle. »Du hast es doch gehört. Sag noch etwas«, rief sie Habakuk zu.
Doch der Papagei drehte sich um und schwieg störrisch. »So macht er das jetzt immer«, sagte Pünktchen. »Richtig eigensinnig ist er geworden. Früher hat er alles nachgeplappert, was man ihm vorgesprochen hat.«
Doch Vicky verteidigte den bunten Vogel. »Er hat eben auch nicht immer Lust, auf Kommando zu reden.«
Die Tür wurde aufgerissen, und Henrik kam in den Wintergarten. »Wir gehen zu den Pferden und Ponys. Kommt ihr mit?«
»Klar.« Die Kinder verließen den Wintergarten.
Sonni und Ali sprangen übermütig voraus. »Auf den Ponys könnt ihr reiten, wenn ihr wollt«, sagte Henrik.
Doch Sissy und Dorle hatten Angst. Sie beobachteten lieber die anderen Kinder. Heidi ließ sich von Nick auf ein Pony heben. »Seht nur, wie zahm es ist«, rief sie.
All das Neue hielt Dorle und Sissy so in Atem, dass sie Vater und Mutter vorübergehend vergaßen. Abends fielen sie todmüde ins Bett und vermissten nicht einmal den Gute-Nacht-Kuss der Mutter.
*
»Gute Nacht, Herr Kommissar.«
»Gute Nacht«, sagte Eric Wittmann und stieg aus dem Dienstwagen aus, den ein Chauffeur nach Maibach zurückfuhr.
Es war Sonntagabend. Eric Wittmann fühlte sich zerschlagen und müde. Für seine einundvierzig Jahre hatte er es schon weit gebracht. Kriminalkommissar wurde man nicht so leicht. Es wurde viel verlangt, und der Dienst war anstrengend. Das fühlte Eric Wittmann nach diesem durchgearbeiteten Wochenende besonders deutlich. Und als er daran dachte, dass Nadja davongelaufen war, fiel seine Stimmung auf den Nullpunkt. Schleppend stieg er die Treppen empor. Das Haus war alt. Lift gab es keinen.
Vor der Wohnung der Nachbarin blieb er stehen. Er setzte seinen Koffer ab und klingelte.
Nichts rührte sich.
Eric Wittmann schaute auf die Uhr. Kurz nach fünf. Im Bett konnte die Nachbarin noch nicht sein. Vielleicht war sie mit den Kindern spazierengegangen?
Der Kommissar schloss seine eigene Wohnung auf. Den kleinen weißen Briefumschlag auf dem Wohnzimmertisch sah er nicht sofort. Er zog sich aus, ging ins Bad und duschte. Er fand, diese Schwüle im September war ungewöhnlich.
Im Bademantel ging Eric Wittmann in die Küche und schaute nach, ob noch ein Bier im Kühlschrank war. Während er am Küchentisch saß und trank, fiel ihm wieder Nadjas Brief ein. Ein paar nichtssagende Zeilen hatte sie hinterlassen, aus denen nicht hervorgegangen war, warum sie ihn so plötzlich verlassen hatte.
Kopfschüttelnd stand er auf und ging ins Wohnzimmer, wobei er sein Bier mitnahm. Erst jetzt fiel ihm das weiße Kuvert auf. Sein erster Gedanke galt Nadja. War sie noch einmal zurückgekommen?
Eric Wittmann riss den Umschlag auf. Denise von Schoenecker lautete die Unterschrift, aber der Name sagte ihm nichts. Er wohnte ja erst seit einem Jahr in Wildmoos.