Geist & Leben 1/2025 - Christoph Benke - E-Book

Geist & Leben 1/2025 E-Book

Christoph Benke

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Beschreibung

GuL 98 (2025), Heft 1 Januar-März 2025 n. 514 Notiz Klaus Vechtel SJ Spiritualität und akademische Theologie? [3-4] Nachfolge Sophie Mathis Apostolische Dynamik. Madeleine Delbrêl und die Quellen ihrer Spiritualität [6-15] Sebastian Maly SJ Veränderung zu Gott hin. Zum komparativischen Charakter der ignatianischen Spiritualität [16-24] Stephan Schmid-Keiser Von schicksalshaften Entscheidungszwängen. Tiefenpsychologische Aspekte zu Gen 4 und Ri 11 [25-33] Marius Fletschinger Darf's ein bisschen Stil sein? Anstöße für ein individuell christliches Leben [34-42] Nachfolge | Kirche Bruno Hünerfeld Der Priester - ein Instrument? Kritik eines Begriffs im Ausgang von Thomas von Aquin [43-51] Anna Slawek / Andree Burke Werte oder Ressourcen? Zur Oberfläche und Tiefenstruktur des Glaubens [52-56] Moritz Kuhlmann SJ Nikodemus: zwei Zugehörigkeiten [57-62] Nachfolge | Junge Theologie Ines Schaberger Berufung begleiten und spirituellen Missbrauch vermeiden. Fünf Aspekte [63-68] Reflexion Markus Adolphs Gestorben für unsere Sünden? Überlegungen zum Grund der Menschwerdung Gottes [70-78] Josef Epping Talente, Fähigkeiten, Charismen. Gedanken zu einer Theologie des Könnens [79-87] Christoph Bruns Leben im Licht des Logos. Von Origenes und Augustinus über Ignatius von Loyola zu Karl Rahner [88-97] Lektüre Christoph Gellner Spiritualität als Tiefenresonanz. Impulse aus der Gegenwartsliteratur [100-108] Buchbesprechung [109-110] ]

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Seitenzahl: 193

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Heft 1 | Januar–März 2025

Jahrgang 98 | Nr. 514

Notiz

Spiritualität und akademische Theologie?

Klaus Vechtel SJ

Nachfolge

Apostolische Dynamik. Madeleine Delbrêl und die Quellen ihrer Spiritualität

Sophie Mathis SPP

Veränderung zu Gott hin. Zum komparativischen Charakter der ignatianischen Spiritualität

Sebastian Maly SJ

Von schicksalshaften Entscheidungszwängen. Tiefenpsychologische Aspekte zu Gen 4 und Ri 11

Stephan Schmid-Keiser

Darf’s ein bisschen Stil sein? Anstöße für ein individuell christliches Leben

Marius Fletschinger

Nachfolge | Kirche

Der Priester – ein Instrument? Kritik eines Begriffs im Ausgang von Thomas von Aquin

Bruno Hünerfeld

Werte oder Ressourcen? Zur Oberfläche und Tiefenstruktur des Glaubens

Anna Slawek / Andree Burke

Nikodemus: zwei Zugehörigkeiten

Moritz Kuhlmann SJ

Nachfolge | Junge Theologie

Berufung begleiten und spirituellen Missbrauch vermeiden. Fünf Aspekte

Ines Schaberger

Reflexion

Gestorben für unsere Sünden? Überlegungen zum Grund der Menschwerdung Gottes

Markus Adolphs

Talente, Fähigkeiten, Charismen. Gedanken zu einer Theologie des Könnens

Josef Epping

Leben im Licht des Logos. Von Origenes und Augustinus über Ignatius von Loyola zu Karl Rahner

Christoph Bruns

Lektüre

Spiritualität als Tiefenresonanz. Impulse aus der Gegenwartsliteratur

Christoph Gellner

Buchbesprechung

Impressum

GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christliche Spiritualität. Begründet 1926 als Zeitschrift für Aszese und Mystik

Erscheinungsweise: vierteljährlich

ISSN 0016–5921

Herausgeber:

Zentraleuropäische Provinz der Jesuiten

Redaktion:

Christoph Benke (Chefredakteur)

Dieter Fugger (Redaktionsassistenz)

Redaktionsbeirat:

Margareta Gruber OSF / Vallendar

Stefan Kiechle SJ / Frankfurt

Bernhard Körner / Graz

Edith Kürpick FMJ / Köln

Ralph Kunz / Zürich

Jörg Nies SJ / Stockholm

Andrea Riedl / Regensburg

Klaus Vechtel SJ / Frankfurt

Redaktionsanschrift:

Pramergasse 9, A–1090 Wien

Tel. +43–(0)664–88680583

[email protected]

Artikelangebote an die Redaktion sind willkommen. Informationen zur Abfassung von Beiträgen unter www.echter.de/geist-und-leben/. Alles Übrige, inkl. Bestellungen, geht an den Verlag. Nachdruck nur mit besonderer Erlaubnis.

Werden Texte zugesandt, die bereits andernorts, insbesondere im Internet, veröffentlicht wurden, ist dies unaufgefordert mitzuteilen. Redaktionelle Kürzungen und Änderungen vorbehalten. Der Inhalt der Beiträge stimmt nicht in jedem Fall mit der Meinung der Schriftleitung überein. Für Abonnent(inn)en steht GuL im Online-Archiv als elektronische Ressource kostenfrei zur Verfügung. Nichtabonnent(inn)en können im Online-Archiv auf die letzten drei Jahrgänge kostenfrei zugreifen. Registrierung auf www.geist-und-leben.de/.

Verlag: Echter Verlag GmbH,

Dominikanerplatz 8, D–97070 Würzburg

Tel. +49 –(0)931–66068–0, Fax +49– (0)931–66068–23

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Visuelle Konzeption: Atelier Renate Stockreiter

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

Bezugspreis: Einzelheft € 13,50

Jahresabonnement € 45,00

Studierendenabonnement € 30,00

jeweils zzgl. Versandkosten

Vertrieb: Zu beziehen durch alle Buchhandlungen oder direkt beim Verlag. Abonnementskündigungen sind nur zum Ende des jeweiligen Jahrgangs möglich.

Auslieferung: Brockhaus Kommissionsgeschäft GmbH, Kreidlerstraße 9, D–70806 Kornwestheim

Auslieferung für die Schweiz: AVA Verlagsauslieferung AG, Centralweg 16, CH–8910 Affoltern am Alibs

Notiz

N

Klaus Vechtel SJ | Frankfurt a.M.

geb. 1963, Dr. theol., Prof. für Dogmatik und Dogmenhermeneutik an der Phil.-Theol. Hochschule Sankt Georgen, Beiratsmitglied von GEIST & LEBEN

[email protected]

Spiritualität und akademische Theologie?

Die Arbeitsgemeinschaft Dogmatik und Fundamentaltheologie im deutschsprachigen Raum plant ihre Tagung 2025 unter dem Titel „Theologien und Spiritualitäten“. Mit dem zweifachen Plural ist bereits angedeutet: zu erwarten sind unterschiedliche und kritische Wahrnehmungen und Analysen auf Phänomene, die unter dem Container-Begriff „Spiritualität“ versammelt sind. Adressiert werden mit dem Begriff Spiritualität Suchbewegungen, die im Kontext von Individualisierung und Pluralisierung außerhalb der Großkirchen zu finden sind und die gekennzeichnet sind durch ein – wie auch immer näher zu definierendes – Interesse an „Transzendenz“. Zur kritischen Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Spiritualitäten gehört jedoch auch die Beschäftigung mit den Ambivalenzen, die im Blick auf geistlichen Machtmissbrauch mit spirituellen Konzepten und Bewegungen in der katholischen Kirche verbunden sind. Die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Theologie(n) und Spiritualität(en) im Rahmen einer Fachtagung der systematischen Theologie erscheint mir bemerkenswert. Sie verdeutlicht, die notwendige theologische Reflexion auf spirituelle Konzepte und Praktiken. Von kirchenpolitischer Bedeutung dürfte es sein, das Feld der Spiritualität nicht Gruppierungen oder Neuaufbrüchen zu überlassen, die ihre Attraktivität simplen Antwortstrategien und klaren autoritären Strukturen angesichts der komplexen Herausforderungen der spätmodernen Wirklichkeit verdanken. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob und wie jenseits der oftmals polemisch gewendeten Gegenüberstellung zwischen einer „knienden“ (spirituellen) Theologie und einer „sitzenden“ (akademischen) Theologie christliche Spiritualität als Referenzpunkt theologischen Denkens bestimmt werden kann.

Mit Beginn dieses Jahres wird an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt ein durch Drittmittel ermöglichter Stiftungs-Lehrstuhl für die Theologie der Spiritualität neu etabliert, der durch die Arbeit an den angesprochenen Themenstellungen und grundsätzlicher an der Idee und an der Sprache christlicher Spiritualität profiliert ist. Die Komplexität dieser Aufgabe einer Theologie der Spiritualität wird deutlich, wenn man bedenkt, dass christliche Spiritualität als „der gelebte Glaube […] in seinen allgemeingültigen wie in seinen eigenständigen Formen“1, sich nicht nur auf einen als Lehre oder als Theoriekonzept destillierbaren Glauben bezieht, sondern auf dessen Wirkungen im religiösen Bewusstsein und in der Praxis von Menschen. Auch wenn Spiritualität sich an ethischen Standards messen lassen muss, ist diese nicht auf christliche Praxis oder Ethik reduzierbar. Die Wirkungen eines gelebten Glaubens finden ihren Ausdruck in der Suche nach einer Sprache, die in ihrer sinnerschließenden Dimension wiederum theologieproduktiv ist. Aus diesem Grund scheint es zu kurz gegriffen, das Verhältnis von Spiritualität und Theologie darauf zu beschränken, dass die Theologie allein kritisch-regulierend und evtl. korrigierend auf die Spiritualität und ihre Praxis reflektiert. Karl Rahner, dessen theologisches Denken auch in einer spezifischen Ausdrucksgestalt christlicher Spiritualität gründet – den Exerzitien des Ignatius von Loyola und der ignatianischen Spiritualität –, hat nach dem II. Vatikanum auf eine zeitgemäße Spiritualität reflektiert und dabei betont: Christliche Frömmigkeit bzw. Spiritualität lässt sich theologisch nicht durch eine Art „neutrale“, rationale Stellungnahme zu einer theoretischen Gottesfrage verantworten, sondern bedarf zu ihrer Begründung „einer Mystagogie in die religiöse Erfahrung“2. Bei aller wissenschaftlichen Methodik, die Rahner gewiss nicht fremd war, hat die Theologie für ihn auch den existenziellen Charakter in Formen der Spiritualität einzuweisen und diese zu reflektieren.

Einem Lehrstuhl für Theologie der Spiritualität kommt in der Landschaft akademischer Theologie die Aufgabe zu, nicht nur die problematischen Aspekte von Spiritualität zu reflektieren, sondern auch auf die möglichen fruchtbaren Bezüge von theologischem Denken und Spiritualität hinzuweisen. Die Suche der Spiritualität nach einer Sprache, die neue Sinnmöglichkeiten eröffnet, erweist sich als theologisch bedeutungsvoll, wie auch die theologische Arbeit an einer mystagogischen Sprache, die in eine mögliche Welt existenzieller und spiritueller Erfahrung einweist. Eine Theologie der Spiritualität, die im Bereich der systematischen Theologie angesiedelt ist, fragt nach einem Stil der Theologie, der diskursiv-theologische Sprache und Methodik und existenziellsuchende Dimensionen des Sprechens von Gott unterscheidend in Beziehung hält. Der Name und das Werk Karl Rahners stehen Pate für die Arbeit an einem solchen Stil der Theologie und für einen entsprechenden Lehrstuhl.

1So die Definition von Bernhard McGinn in: B. McGinn, J. Meyendorff, J. Leclerq, Geschichte der christlichen Spiritualität Bd.1. Von den Anfängen bis zum 12. Jahrhundert. Würzburg 1993, 21.

2K. Rahner, Frömmigkeit früher und heute, in: Schriften zur Theologie Bd.7. Einsiedeln u.a. 1966, 11–31, hier 22.

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L

Nachfolge

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Sophie Mathis SPP

Dr. der Sprachwissenschaften (Spanisch) Mitglied der Congrégation de la Providence de la Pommeraye (carmélitaine)

[email protected]

Apostolische Dynamik

Madeleine Delbrêl und die Quellen ihrer Spiritualität*

Die synodale Kirche weiß um die Mitverantwortung des gesamten Gottesvolkes. Seine Berufung ist es, der Sendung Christi zu dienen. An diesem neuen Frühling kommt den Laien ein entscheidender Anteil zu. Er beruht vor allem auf dem erwachenden Bewusstsein aller Getauften, in Christus und für die Welt einen einzigartigen und unersetzlichen Platz einzunehmen. In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, den Blick darauf zu richten, wie vor unserer Zeit Laien ihre Taufberufung im Laufe ihres Lebens entfalteten. Im Folgenden fokussieren wir uns auf Madeleine Delbrêl (1904–1964).

Die 1904 in Frankreich geborene Sozialarbeiterin, Dichterin und Mystikerin durchlebte eine atheistische Jugend. Im März 1924 fand sie zum christlichen Glauben. Wir feiern also den 101. Jahrestag ihrer Bekehrung, von der Madeleine sagte, dass deren Wucht das gesamte Leben andauerte.1 Wie schaffte es Madeleine, diese Bekehrung immer wieder zu aktualisieren und als Autodidaktin zu einer jener Frauen zu werden, die von ihren kirchlichen Gesprächspartnern (Priester, Bischöfe, die Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils) sehr häufig zu Rate gezogen wurde?

Um diese Frage zu beantworten, halten wir uns an Madeleines Lektüre. Damit betrachten wir jene Zeugen, die den Glauben der Delbrêl in der Zeit ihrer Bekehrung erhellten und ihn lebendig hielten. Gewiss: Ihre erste Quelle war stets das Evangelium als „das Buch des Herrn, das es zu leben gilt“.2 Aber darüber hinaus: Aus welchem geistigen Erbe haben sie und ihre Gefährtinnen, die es wagten, „Jesus zu leben“, „inmitten der Armen und Ungläubigen“ geschöpft? Madeleines Berufung wurzelte schon sehr früh auf dem Boden der großen Mystiker. Das mag diejenigen überraschen, die sie nur als soziale Aktivistin mitten unter ihren kommunistischen Freunden kennen. Mittlerweile ermöglicht die Veröffentlichung ihrer Gesammelten Werke und ihrer Briefe3, die tiefe Einheit zwischen ihrem aktiven und ihrem inneren Leben besser zu verstehen. Wir werden drei dieser Quellen in den Blick nehmen: den Karmel, die Französische Schule der Spiritualität und Charles de Foucauld. Dabei wird sich zeigen, dass es einen Konvergenzpunkt dieser drei Ströme gibt. Zu guter Letzt schlagen wir die Brücke zu Henri de Lubac SJ.

Der Karmel

In den Jahren nach ihrer Bekehrung sehnt sich Madeleine danach, zu verstehen, was sie gerade erlebt hat und was sie als „Blendung“ bezeichnet. Geblendet zu sein bedeutet, von einem überhellen Licht erfasst zu werden und in Folge nichts mehr zu sehen. Die Untersuchung der Gedichte aus der Zeit ihrer Bekehrung zeigt tatsächlich, dass diese erste Phase von einer sie umgebenden Dunkelheit geprägt ist: die Trennung von ihrem Freund Jean Maydieu, dessen christlicher Glaube Madeleine an ihre eigene Taufe erinnert; die Krankheit ihres Vaters, der erblindet und an psychischen Störungen leidet. In dieser schwierigen Zeit macht Madeleine ihr „theologisches Heilverfahren“ mit intensiver Lektüre, deren Vielfalt bemerkenswert ist:

„Ich habe eine Intensivkur in Philosophie fast beendet. ‚Die Seelenburg‘ der Heiligen Theresa. Gott von St. Thomas von Aquin. Auf meinem Tisch habe ich meine Papieridole aufgestellt, von links nach rechts: Hl. Johannes vom Kreuz, Hl. Theresa, die Bibel (kein Idol), Bossuet, Hl. Thomas, Hl. Katharina von Siena, Heinrich Seuse, Pascal, Nachfolge Christi, Racine, Valéry, Hl. Franziskus, Villon, Psichari, Péguy, Claudel, Baudelaire.“4

Der Karmel steht an prominenter Stelle, was in den Jahren, in denen Thérèse von Lisieux zur Heiligen erklärt (1925) und der Dichter der dunklen Nacht, Johannes vom Kreuz, zum Kirchenlehrer ernannt wird (1926), kaum überrascht. Was versteht sie vom Karmel, dass sie sogar in ihn eintreten will? Alles, könnte man sagen, bis hin zu der Erkenntnis, dass man ihn auch außerhalb einer Klausur leben kann, etwa in der Klausur der Nächstenliebe. Zunächst das stille Gebet:

„Die gewöhnliche Lebenserfahrung dieser wenigen Monate hatte mich übrigens eines Tages auf diese Idee gebracht, als nämlich bei irgendeiner lauten Auseinandersetzung Teresa von Avila und ihr Wort erwähnt wurde: jeden Tag fünf Minuten still an Gott zu denken. Vom ersten Mal an habe ich kniend gebetet, immer noch voller Angst, ich könnte einer Idee aufsitzen. Ich habe das an diesem Tag und an vielen anderen Tagen gemacht, ohne auf die Uhr zu schauen. Seitdem habe ich lesend und nachdenkend Gott gefunden. Aber indem ich betete, habe ich geglaubt, dass Gott mich gefunden hat und dass er lebendige Wahrheit ist und dass man ihn lieben kann, wie man eine Person liebt.“5

Das Gebet als Ort der Begegnung mit dem lebendigen Gott, als Ort einer persönlichen Erfahrung mit einem personalen Gott, gelebt vor allem in der Einsamkeit und im Schweigen: Ihr ganzes Leben lang wird Madeleine für sich und ihre Gefährtinnen auf den Vorrang des Gebets zurückkommen. Sie weiß, es ist ein täglicher Kampf. Da sie sich in die Herausforderungen des modernen Lebens und in den allgemein empfundenen Zeitmangel gut einfühlen kann, wird sie in diesem Zusammenhang von „Tiefenbohrungen“ sprechen, von einem je neuen Eintauchen in Gott: in einer Pause den Alltag mit dem Geist Gottes neu tränken, jenen Satz aus dem Evangelium, den sie in der Morgendämmerung aufgeschnappt hat, wieder in Erinnerung rufen und dadurch eine mühsame Tätigkeit in der Kraft des Evangeliums aushalten:

„Es ist die Sinnspitze unserer Liebe, durch das Gebet Leben aus dem Herzen Gottes für die Welt zu schöpfen […]. Wir sind es der Gerechtigkeit schuldig, wir sind es der Liebe schuldig, mit Bedacht, mit Ruhe leben zu lernen, so dass wir nach und nach dahin gelangen, von einer Zeit der Besinnung zur nächsten, von einem Körnchen freier Zeit zum nächsten das Land des Gebets zu bewohnen, für das wir geschaffen sind und in dem unser ganzes Leben fließen soll.“6

Der Karmel spricht von einem Leben aus dem Gebet, das schließlich das Tun und das Sein in ein und derselben Dynamik zu Gott und zu den Menschen hin vereint; ein Leben, das auf den Geist hört und das die Anregungen Gottes in den Unwägbarkeiten oder der Routine des Alltags ausfindig macht. Dies geschieht jedoch um den Preis einer Zeit, die man damit verbringt, allein mit Gott da zu sein, Tag für Tag sein Wort zu hören und ihn nach Belieben in uns wirken zu lassen, denn Kontemplation bedeutet zunächst einmal, zu empfangen.7

Empfangen, um sich in der mystischen Vereinigung wandeln zu lassen: Madeleines Briefe aus den 1930er Jahren an ihren geistlichen Begleiter Abbé Lorenzo – der ein großer Freund der Kleinen Thérèse war – sind Ausdruck der geistlichen Ehe, die sie gelebt hat. Wie Teresa von Avila schließt sie diese Verbindung durch die Kommunion mit dem Geheimnis des Kreuzes; darauf kommen wir später noch zurück. Diese Einheit mit Gott drückt sich nicht zuletzt im Folgenden aus: Am 15. Oktober 1933, dem Festtag der Teresa von Avila, wird La Charité, eine kleine Gemeinschaft in der Kirche, geboren. Von Teresa, der rastlos wandernden Frau Gottes, stammt der kontemplative und missionarische Geist, der Madeleine angesichts der Bedürfnisse der Zeit vor einem Aktivismus ohne spirituelle Wurzeln bewahren wird. Im Zusammenhang mit dem Aufschwung der Katholischen Aktion war sich Madeleine der Gefahren bewusst, die ein überzogener Aktivismus mit sich bringen könnte. Im Jahr 1945, also zwölf Jahre nach dem Weggang des Gründertrios und nach den Jahren der nationalen Anstrengungen, welche während des Krieges zu mobilisieren waren, erinnert Madeleine an deren kontemplativen Ursprung:

„Der Ruf, der an uns ergangen ist, ist ein Ruf, der dem gleich ist, den eine Karmelitin oder eine Klarissin empfängt. Es ist ein Ruf, unser ganzes Leben, unseren ganzen Leib, unsere ganze Kraft, unser ganzes Herz, unseren ganzen Geist und unsere ganze Seele unserem Herrn Jesus Christus zu widmen. Wir sind nicht berufen, in der Kirche Jesu Christi eine bestimmte sichtbare Arbeit zu tun, sondern uns ganz seiner Liebe zu weihen – ich sage bewusst nicht: seinem Dienst –, damit er uns so lieben kann, wie es ihm sein Herz gebietet. Lieben bedeutet eins zu sein, das Leben dessen, den man liebt, zu teilen.“8

Madeleine Delbrêl und der Karmel sind überzeugt, dass missionarisches Handeln aus der inneren Erfahrung entspringen muss. Sie allein kann uns dazu befähigen, missionarisch tätig zu sein. Die wahre Arbeit besteht darin, „sich der Liebe hinzugeben“; das übernimmt Madeleine von der hl. Elisabeth von der Dreifaltigkeit. Einer der Schlüsselbegriffe, der die Gruppe charakterisiert, ist, „Handelnde, nicht Aktive zu sein“, wie in dem Text „Wir Leute von der Straße“ von 1938 oder an anderer Stelle „Tätige, beweglich an der Hand des Heiligen Geistes, so wie ein feiner Handschuh“. Was das Handeln und die Kontemplation vereint, ist die von Gott empfangene Liebe, die auf andere übergeht, sofern der Mensch kein Hindernis darstellt: „Von dem Moment an, in dem Gott sich unserer bemächtigt, und sei es auch nur eines winzigen Teils von uns, muss dieser Teil zur Nächstenliebe werden, weil er die Liebe Gottes ist.“9 Noch 1963, also ein Jahr vor ihrem Tod, sagte Madeleine, dass geistliches Leben „das Leben Gottes im Inneren der Welt gegenwärtig macht“. Sein Wachstum und seine Fruchtbarkeit hängen an drei Wurzeln: am Gebet, am sakramentalen Leben und am Hören auf das Wort Gottes.

Madeleine rezipierte engagiert die Lehre des Johannes vom Kreuz über die Dynamik des göttlichen Lebens: ein Leben, das auf Christus gepfropft ist, das den Glauben, die Hoffnung und die Liebe wachsen lässt, um die Glaubenden mit Christus zu konfigurieren. Doch unter den Vorzeichen des Atheismus gewinnt diese Dynamik für sie eine neue Dringlichkeit – als ob sie das Gewicht derer, die Gott ablehnen oder nicht kennen, mit dem Gewicht der Herrlichkeit Gottes, deren Sprecherin sie wird, ausgleichen müsste:

„Erkennen, dass hier der eigentliche Akt der Erlösung geschieht; glauben im Namen der Welt, hoffen für die Welt, lieben im Namen der Welt. Wissen, dass eine Minute von glaubensbeladenem Leben, auch wenn sie sich ohne jede Aktion, ohne jeden äußeren Ausdruck vollzieht, eine schöpferische Kraft in sich trägt, die alles aufwertet, und die unsere armseligen menschlichen Taten nie ersetzen können.“10

Madeleine Delbrêl, wie auch Thérèse von Lisieux in ihrer Nacht der Hoffnung, erleben Atheismus und religiöse Gleichgültigkeit als Herausforderung zum Glauben, zur Nächstenliebe und zur Hoffnung. Beide finden ihre Berufung zur Liebe im Innersten der Kirche und im Blick auf jene, die am Weitesten entfernt sind – die eine von ihrem Krankenzimmer aus in der Einsamkeit eines normannischen Karmels, die andere mitten in den Menschenmassen einer atheistischen Stadt in der Einsamkeit des Gläubigen. Die eine wie die andere teilen ein gemeinsames Apostolat, das sich dem Unsichtbaren widmet. Sie wollen diese Welt mit Gott verbinden11, indem sie eine Art „menschliches Bindeglied“ und zugleich „Scharnier der Gnade“ sind.12

Die Französische Schule der Spiritualität

Pierre de Bérulle (1575–1629) siedelte zusammen mit Madame Acarie die ersten spanischen Karmelitinnen an. Die Spiritualität des Karmel fasste in Frankreich Fuß. Bérulle akzentuierte jedoch einige ihrer Aspekte anders. Das führte – zusammen mit Charles de Condren, Jeanne-Jacques Olier und anderen Autoren – im Frankreich des 17. Jahrhunderts zu einer spirituellen Erneuerung, die später die „Französische Schule der Spiritualität“ genannt wurde. Madeleines Zugang war die Lektüre von Henri Brémonds „L‘histoire littéraire du sentiment religieux français au XVIIème siècle“, das sie in den Jahren 1925–1926 las. Deren Bände waren gerade erschienen und Madeleine sammelte etwa 40 Zitate daraus.13 Wesentliche Elemente dieser Schule finden sich darum bei Madeleine wieder, in erster Linie der Theozentrismus Bérulles: Gott ist die Mitte von allem. Gott in die Mitte von allem zu stellen impliziert das „Zunichtewerden“ des Seins, um Gott von sich Besitz ergreifen zu lassen. Dieser Theozentrismus hat Madeleine zweifellos geprägt, kämpfte sie doch bei ihrer Bekehrung gegen ihren Stolz und ihre Selbstbezogenheit. Im weiteren Sinne war diese Spiritualität ein Gegenpol zum Zeitgeist, der Gott nach und nach aus der modernen Lebenswelt vertrieb, um sie allein mit menschlichen Kräften aufzubauen. Von daher stammen Begriffe wie jener von der „Nichtigkeit des Geschöpfes“ im Gegenüber Gottes (als dem einzigen, der ist) und die Betonung der Demut, die zur Anbetung öffnet. So schreibt Madeleine 1946:

„Die Anbetung ist, genau betrachtet, ‚das Gewicht‘ der Seele. Die Anbetung ist jener Akt, der die Seele in ihrer menschlichen Haltung vor das Angesicht Gottes stellt. Diese Haltung des Geschöpfes gegenüber seinem Schöpfer ist unserer Meinung nach diejenige, die wir in unserer auf den Menschen fokussierten, von ihrem ursprünglichen Zweck abgewandten Welt dringend einnehmen sollten.“14

Die Herrlichkeit Gottes wird für sie nach und nach das Ziel ihres Apostolats und des Apostolats der Charité. Das ist für ihre Zeit originell, wie Bernard Pitaud unterstreicht. Das Ziel der Equipe ist, wie Madeleine betont, „nicht eine irdische Liebe, die die Missionsteams zu leben und zu geben haben: Es ist die göttliche Liebe. Es ist diese Liebe, die durch den Glauben motiviert ist und die sie die ganze Welt durchwandern lässt, zur größeren Herrlichkeit Gottes.“15

Madeleine folgt der Französischen Schule, wenn sie das Geheimnis der Inkarnation in der heutigen Zeit entfaltet. Die christliche Überlieferung ist der Überzeugung, dass zwischen dem ersten Kommen Christi (Geburt in Bethlehem) und seiner Wiederkunft (am Ende der Zeiten) jeder Christ in der Kirche es diesem Christus ermöglicht, auch heute durch den Geist, der im Glaubenden wohnt, geboren zu werden. Während die Berullianer die Kontemplation des fleischgewordenen Wortes und die Kontinuität seiner Geheimnisse ausgiebig entfalten, verankert Madeleine diese Kontemplation auf dem Nährboden des Alltags in der Sorge um das Apostolat. In diesem Geist schreibt sie zum Beispiel die poetische Meditation „Ein neuer Tag beginnt“:

„Wieder beginnt ein Tag. Jesus Christus will ihn in mir leben. […] Jesus hat nicht aufgehört, der Sohn Gottes zu sein. In mir will er mit dem Vater verbunden bleiben. […] Jesus, der in uns ist, ist unaufhörlich zu allen gesandt, am heutigen Tag, der gerade beginnt, zu allen Menschen, in unserer Zeit, zu allen Zeiten, in meiner Stadt und auf der ganzen Welt. Indem er uns dazu bringen wird, den Nächsten zu dienen, sie zu lieben und sie zu retten, werden Wogen seiner Liebe das Ende der Welt, das Ende der Zeiten erreichen.“16

Für Madeleine ist es das gesamte Leben des Christen, das sich nach und nach durch das fleischgewordene Wort mit Gott verbinden und uns im Geist in eine Dynamik der Umkehr eintreten lässt:

„Für immer wird das ‚Wort Fleisch‘ durch den Heiligen Geist, wir werden das Wort des Herrn. Aber damit ‚der Wille des Vaters auf Erden geschehe‘ in Christus, durch den Heiligen Geist, muss unser Leben ganz dem Herrn übergeben werden, dem Einfluss des göttlichen Lebens geweiht sein.“17

Diese Bereitschaft zum Gehorsam, d.h. das Evangelium zu hören und zu leben, öffnet für die Liebesgemeinschaft mit dem Herrn. Darin treffen sich die französische und die spanische Linie. Die Vereinigung des Willens ist ein Liebesbund, der uns nach dem Bild und der Ähnlichkeit Christi gestaltet. Er ermöglicht, den Menschen heute das Antlitz Christi zu zeigen – konkretisiert in der Nächstenliebe:

„Eine kunstlose, simple Nachahmung Jesu Christi bildet die Grundschicht dieses Lebens. Ein unbezwingbares Bedürfnis, seine Lebensweise zu teilen. […] Wie in geheimer Einigung mit ihm den Lebensweg des Evangeliums beschreiten, den er uns vorgezeichnet hat. Von ihm jedoch lernen, dass dieser Weg nur in die brüderliche Liebe münden kann.“18

Charles de Foucauld

In diesem letzten Zitat deutet sich bereits die Gestalt des „Bruders aller Menschen“, Charles de Foucauld, an. Neben Thérèse von Lisieux ist er eine inspirierende Gestalt für Madeleine und die Equipe. So definiert sich die Gemeinschaft von Anfang an als „weniger von einem sehr aktiven Missionsgeist beseelt, als vielmehr von dem Wunsch, wie Charles de Foucauld zu leben. Nicht mehr ‚für Christus arbeiten‘, sondern Christus sein, um das zu tun, was Christus tut“.19 Seit ihrer Bekehrung hatte Madeleine Zugang zu René Bazins Charles de Foucauld-Biographie von 1921, den Geistlichen Schriften (1923) Bruder Karls und seinen Briefen an Henry de Castries (1938)20, aus denen sie folgende Passage zitiert: „Sobald ich glaubte, dass es einen Gott gibt, verstand ich, dass ich nichts anderes tun konnte, als nur für ihn zu leben. Meine Ordensberufung stammt aus demselben Augenblick wie mein Glaube: Gott ist so groß! Es besteht ein so großer Unterschied zwischen Gott und allem, was nicht Gott ist!“21 Wie hätte sich diese Erfahrung nicht mit jener von Madeleine decken können?

Madeleine findet bei Charles de Foucauld Ansichten bestätigt, die bereits erwähnt wurden: die Anbetung als Antwort auf die reine Unentgeltlichkeit der Gabe Gottes, das Geheimnis der Fleischwerdung des Logos. Letzteres übersetzt Madeleine stärker als Identifikation: Nachahmung des Lebens Jesu. Für die Gruppe der Charité festigt dies den Wunsch, für den anderen, wer auch immer er sei, „ein zärtlicher Bruder“ und „ein Erlöser“ zu sein, durch diese innere Gemeinschaft, die „den nächsten Nächsten und die ganze Welt“ vereint.22