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Spiritualitätsgeschichte: Franz und Klara von Assisi sowie Niklaus und Dorothea von Flüe; Uwe Wolff berichtet von Leben und Werk des reformierten Hagio-graphen Walter Nigg. In der Rubrik Kirche stellt Klaus Mertes SJ Überlegungen zum Thema Geistli-cher Machtmissbrauch an, die thematisch an den Artikel von Hans Zollner SJ über sexuellen Miss-brauch in der Kirche in GuL 2|2017 anschließen. In der Jungen Theologie geht Michael Clement dem Gewissen als fundamentalem Instrument des Alltagslebens nach. Anhand von Überlegungen des kanadischen Philosophen Charles Taylor denkt Veronika Hoffmann über veränderte Bedingungen des Glaubens nach; Michael Rosenberger beleuchtet interessante Parallelen zwischen Vegetaris-mus und Veganismus heute im Vergleich zum frühen Mönchtum der Wüstenväter und -mütter. Bertram Stubenrauch schreibt über den ekklesialen Rang geistlicher Bewegungen; zudem bringen wir Berichte über das 800-Jahr-Jubiläum des Dominikanerordens (Johannes Bunnenberg OP), das Teresa-Jubiläum im Jahr 2015 (Mariano Delgado) sowie eine Tagung zu Mystik und Politik - interre-ligiös. Andreas Falkner SJ präsentiert erneut eine deutsche Erstübersetzung des französischen Je-suiten Michel de Certeau; ein Kommentar zu Martin Luthers Sermon von der Bereitung des Ster-bens aus der Feder des 2016 verstorbenen Theologen Alex Stock sowie Buchbesprechungen run-den das Heft ab.
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Seitenzahl: 219
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Inhalt
Heft 3 | Juli-September 2017
Jahrgang 90 | Nr. 484
Notiz
Verständig
Jörg Nies SJ
Nachfolge
Franz und Klara von Assisi.Christus arm umarmen – geschwisterlich verbündet
Niklaus Kuster OFMCap
Fernnahe Liebe.Niklaus und Dorothea von Flüe
Nadia Rudolf von Rohr OFS
Walter Nigg (1903–1988).Ein Vater der Ökumene in apokalyptischer Zeit
Uwe Wolff
Nachfolge | Kirche
Geistlicher Machtmissbrauch
Klaus Mertes SJ
Das Evangelium verkünden – seit 1216.800 Jahre Dominikanerorden
Johannes Bunnenberg OP
Nachfolge | Junge Theologie
Gewissensstärke aus Selbstwahrnehmung
Michael Clement
Reflexion
Anders glauben.Über veränderte Bedingungen des Glaubens
Veronika Hoffmann
Alternativ-Religion? Vegetarismus und Veganismus in frühem Mönchtum und Postmoderne
Michael Rosenberger
Der ekklesiale Rang geistlicher Bewegungen
Bertram Stubenrauch
Gott bei sich haben. Rückschau auf das Teresa-Jubiläumsjahr
Mariano Delgado
Mystik und Politik – interreligiös.Tagungsbericht
Susann Kabisch
Lektüre
Die Himmelfahrt (Meditation)
Michel de Certeau SJ
Sterbesakramente und Todesimagination.Luthers „Sermon von der Bereitung des Sterbens“
Alex Stock
Buchbesprechungen
Impressum
GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christlicheSpiritualität. Begründet 1926 als Zeitschriftfür Aszese und Mystik
Erscheinungsweise: vierteljährlichISSN 0016–5921
Herausgeber:
Deutsche Provinz der Jesuiten
Redaktion:
Christoph Benke (Chefredakteur)Anna Albinus (Lektorats-/Redaktionsassistenz)
Redaktionsbeirat:
Bernhard Bürgler SJ / WienMargareta Gruber OSF / VallendarStefan Kiechle SJ / FrankfurtBernhard Körner / Graz Simon Peng-Keller / ZürichJörg Nies SJ / RomAndrea Richter / BerlinKlaus Vechtel SJ / Frankfurt
Redaktionsanschrift:
Pramergasse 9, A–1090 Wien
Tel. +43–(0)1–310 38 43–111/112
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Verständig
Die Exerzitien sind wesentlich ein Betrachten des Lebens Jesu, aus dem sich Orientierung für das eigene Leben entwickeln soll. Ignatius hat zudem eigene Reflexionen und Betrachtungen für eine dynamische Entscheidungsfindung hinzugefügt. Trotz der nüchternen Sprache, die sich auf das Nötigste beschränkt, gelingt es ihm, eine Dramatik zu erzeugen, die er vornehmlich durch eine geschickte Komposition verschiedener Elemente erreicht.
Dazu nutzt er auch ein Mittel, das aufgrund der heute gebräuchlichen Exerzitienpraxis leicht übersehen werden kann. Ignatius legt den Übenden die Bibeltexte nicht direkt vor, sondern gibt deren Inhalte durch Einschübe neutestamentlicher Zitate nur paraphrasiert wieder. Ein großer Teil des Exerzitienbuches besteht daher aus Schilderungen der „Geheimnisse des Lebens Christi“. Anhand kurzer Textpassagen, die zumeist aus drei Punkten bestehen und helfen sollen, „mit größerer Leichtigkeit an ihnen sich zu besinnen und zu betrachten“ (GÜ 261) wird der Bogen von der Verkündigung an Maria bis hin zur Himmelfahrt Jesu gespannt (GÜ 261–312). Ignatius gelingt so nicht nur eine Zusammenschau der vier Evangelien, sondern er bezieht auch andere neutestamentliche Passagen aus dem Korintherbrief (GÜ 308 f., 311) und der Apostelgeschichte (GÜ 312) mit ein. Dabei folgt er zwar einer verbreiteten Frömmigkeitspraxis, wenn er etwa aus den verschiedenen Passionserzählungen – ungeachtet der unterschiedlichen Akzente der Kreuzigungsberichte – die sieben Worte Jesu aufzählt (GÜ 297), zugleich setzt Ignatius jedoch eigene Schwerpunkte, indem er etwa deren traditionelle Reihenfolge variiert.
Weit über eine Abänderung hinaus gehen jedoch die Betrachtungen zur Auferstehung. Das Exerzitienbuch thematisiert insgesamt dreizehn verschiedene Erscheinungen des Auferstandenen, davon haben zwei jedoch keinen unmittelbar biblischen Anhaltspunkt. Ignatius kannte diese Tradition durch die Vita Christi des Kartäusers Ludolf von Sachsen, doch darf im Rahmen der Geistlichen Übungen die Aufnahme dieser Schilderungen durchaus überraschen. Denn sonst finden sich für die Darstellung des Lebens Jesu immer biblische Referenzpunkte und die Interpretation als lediglich fromme Ausschmückung würde der Vorgehensweise der Exerzitien widersprechen, in denen nicht „viel erläutert und erweitert“ (GÜ 2) werden soll.
Warum hat Ignatius also diese Stellen aufgenommen? Offensichtlich waren sie ihm wichtig und doch war er sich vermutlich schon bei der Niederschrift des Textes kritischer Rückfragen bewusst. Dem Satz „Er erschien der Jungfrau“ fügt er direkt einen zweiten an: „Denn obwohl dies in der Schrift nicht gesagt wird, wird es für gesagt gehalten, wenn sie sagt, dass er so vielen anderen erschienen ist“ (GÜ 299). Dahinter ist weniger eine exegetische Aussage als der Stellenwert Marias für die ignatianische Spiritualität zu suchen. In den Exerzitien wird die und der Übende immer wieder zum Gespräch mit der Gottesmutter eingeladen. Maria wird aufgrund der Bedeutung, die sie im Leben Jesu hatte, zu einer Identifikationsfigur, durch welche sich das Geheimnis Christi tiefer verstehen lässt. Durch den Versuch, sich in das Erleben der Mutter auf dem Weg ihres Sohnes hineinzuversetzen, werden die Gefühle der Nähe und Vertrautheit angesprochen und zugleich lässt sich so angesichts des Leidens die „Einsamkeit unserer Herrin erwägen“ (GÜ 208). Aus dieser inneren Logik heraus kann der Weg und die Erschließung der Geheimnisse des Lebens Jesu nicht am Kreuz enden, sondern auch die Freude und Gelöstheit über die Auferstehung müssen durch das betende Einfühlen mit Maria lebendig werden.
Doch es folgt noch eine zweite außerbiblische Stelle zur Auferstehung. „Er erschien Josef von Arimathäa“ – und auch hier gleich eine (rechtfertigende?) Erläuterung: „wie man fromm sinnt und im Leben der Heiligen liest“ (GÜ 310). Warum hat Ignatius diese Betrachtung, die auf einer fragwürdigen Überlieferung beruht, aufgenommen? Zudem spielt dieser Josef nur eine kleine Nebenrolle in der Geschichte Jesu. Obwohl er ein Jünger war, gab er sich aus Furcht nicht als solcher zu erkennen (Joh 19,38). Alle Evangelien kennen ihn als denjenigen, der sein Grab für den Leichnam Jesu zur Verfügung stellt. Muss ihm deshalb aber der Auferstandene erschienen sein?
Ignatius fordert die und den Betenden heraus. Provokativ fügt er der ersten nichtbiblischen Szene an: „Denn die Schrift setzt voraus, dass wir Verstand haben, wie geschrieben steht: ‚Seid auch ihr ohne Verstand?‘“ (GÜ 299) Es geht um ein kritisches Fragen, das mehr als ein Überprüfen des biblischen Befundes ist. Verstehen heißt den Glauben in eine Unterscheidung miteinzubeziehen und daraus etwas logisch zu folgern. Daher kann man sich der verständigen Interpretation der Exerzitien anschließen, die besagt, dass Jesus dem Josef erschienen ist, da dieser, wenn auch aus Angst nicht öffentlich, an ihn als den Messias glaubte. Wenn aber Jesus im Leben eines Menschen die entscheidende Rolle spielt, wie könnte dieser dann keine Erfahrung mit dem Auferstandenen machen?
Niklaus Kuster OFMCap | Luzern
geb. 1962, Dr. theol., Dozent für Kirchen-und Spiritualitätsgeschichte, Autor undspiritueller Begleiter
Franz und Klara von Assisi
Christus arm umarmen – geschwisterlich verbündet
Wie kommt es, dass erst in diesen Jahren eine Doppelbiografie über Franz und Klara von Assisi erscheint?1 Schließlich projizierte der Erfolgsregisseur F. Zeffirelli bereits 1972 mit dem Film Bruder Sonne – Schwester Mond die Beziehung der beiden Heiligen in die Kinos der halben Welt.2 Doch auch die gegenteilige Frage kann sich aufdrängen: Wie lässt sich eine Doppelbiografie über einen Wanderradikalen und eine Klausurschwester schreiben, da ihre Lebenswege kaum gemeinsame Züge aufweisen? Franziskus zog mit Gefährten durch ganz Italien und erweiterte sein Einsatzfeld von Spanien bis in den Orient oder er verweilte wochenlang in einsamen Bergwäldern, während Klara 42 Jahre still und unscheinbar in ihrem Kloster bei Assisi lebte. Was verbindet die zwei? Sind ihre Lebenswege derart verschieden, weil die beiden ein „unheiliges Paar“ waren und ihre „Liebesgeschichte keine sein durfte“, wie die Dogmatikerin E. Pahud de Mortanges suggeriert?3 Oder um mit dem Historiker H. Feld weit krasser zu spekulieren: Hat Franziskus die Schwester im Kloster „weggesperrt“, weil sie ihm so aufdringlich nachlief und er sich nicht anders zu schützen wusste?4 Romantische Kinofilme einer geschwisterlichen Liebe kontrastieren zu prickelnden Thesen über eine tragisch Verliebte.
Eine programmatische Doppelbiografie
Weltweit noch immer erstmalig,5 ist die erschienene Doppelbiografie über Franz und Klara von Assisi Programm. Materiell stützt sie sich auf eine Quellenbasis, die sich für zwei kirchliche Laien aus der Kleinstadt Assisi im hohen Mittelalter als einzigartig reich erweist: Die beiden Sammelbände der bedeutsamen Quellen aus dem 13./14. Jh. umfassen mit Blick auf Franziskus und seinen Brüderorden 1800 Seiten, mit Blick auf Klara und die Schwestern des entstehenden Zweiten Ordens 1500 Seiten.6 Die von Paul Sabatier vor 120 Jahren initiierte moderne Franziskusforschung findet seit Marco Bartolis wissenschaftlicher Biografie der Schwester7 ein Pendant in einer entfesselten Klaraforschung, die in drei Jubiläumsjahren zwischen 1993 und 2012 durch eine Reihe internationaler Kongresse beflügelt worden ist.8 Eine Zusammenschau der vielfältigen Forschungsliteratur macht eines deutlich: Auch die Lebensgeschichten der beiden Heiligen und ihre Spiritualität sind in eine Zusammenschau zu stellen.
Franz lässt sich ohne Klara nicht verstehen, und die Schwester hätte ihren mutigen Weg ohne brüderliche Verbündete nicht gehen können. Daher schildern auch modernste Franziskusbiografien, die Klara nur Seitenblicke oder gerade mal ein Kapitel widmen,9 nicht die ganze Geschichte. Und Klarabiografien, welche die Schwester in der Nachfolge des Bruders sehen, begehen aus Sicht der modernen Frauenforschung eine Todsünde.10 Die zehn Jahre alte TV-Produktion Chiara e Francesco beginnt denn auch mit einer suggestiven Szene: Franziskus schreitet in erdfarbener Kutte über eine taunasse Wiese der aufsteigenden Sonne entgegen. Klara folgt ihm in einem schlichten hellen Habit. Als er sich umdreht und fragt, ob sie seinen Spuren folge, antwortet sie lächelnd: „tieferen Spuren!“ – und geht Seite an Seite mit ihm weiter. Der Film schildert die Geschichte der beiden eng verflochten, so kontrastvoll sich ihre Lebensformen auch unterscheiden.11Wie vital sich die moderne Klaraforschung zeigt, ist an den Diskussionen zu erkennen, die seit dem 800. Gedenkjahr ihrer Geburt an zahllosen Symposien und Workshops sowie in Büchern und Fachartikeln stattfinden.12 Für das breitere Publikum sichtbar werden neu entdeckte Zugänge zu Klaras Welt auch im Kino. Im Frühling 2016 strahlte der Bayerische Rundfunk den von ihm mitproduzierten Film Sein Name war Franziskus der Erfolgsregisseurin L. Cavani deutsch synchronisiert aus.13 Klara und ihre Schwestern leben, von den Brüdern im Widerstand gegen die päpstliche Klausurpolitik unterstützt, in einem offenen Haus und sorgen für Arme, Kranke und Bedürftige aller Art. Der Film hebt sich kontrastvoll ab von F. Costas Miniserie aus dem Jahr 2007: Dem alten Klischee folgend wurde Klara da noch durch die Brüder vom ersten Tag an in strikte Klausur eingeschlossen.
Im Folgenden sollen die Unterschiede in Lebensform und Berufung der beiden Heiligen skizziert wie auch die spirituelle Bereicherung aufgezeigt werden, die sich ihrer engen Verbundenheit innerhalb derselben Bewegung verdankt. Der Wanderradikale, der „den Fußspuren des armen Christus folgte“, und die Sesshafte, die „den armen Christus arm umarmte“14, haben sich gegenseitig vielfältig inspiriert.
Zwei Formen evangelischer Nachfolge
Dauerhafter und universaler als Norbert von Xanten vor ihm interpretierte Franz das Wanderleben der Jünger Jesu in Galiläa sowie deren Sendung bis an die Grenzen der Erde in die eigene Zeit. Anders als in der Bewegung des Waldes von Lyon, der Männer wie Frauen gemeinsam die Jüngersendung in Frankreich weiterführen ließ,15 wählten die Schwestern der ersten Franziskaner ein sesshaftes Leben. Doch im Gegensatz zu den neuen Frauengemeinschaften, die sich mit den Prämonstratensern verbanden, in den Zisterzienserorden inkorporieren konnten oder sich ab 1207 von Dominikanern betreuen ließen,16 lebten Klaras Schwestern ohne strikte Klausur. Ihr Modell orientierte sich ebenfalls am Evangelium und an der Nachfolgegemeinschaft Jesu. Klara wählte den ihrer Berufung entsprechenden Lebensort 1211 in San Damiano: einer kleinen Landkirche, in der Franz sechs Jahre zuvor seine erste tiefe mystische Erfahrung gemacht hatte. Voraus geht eine eigenständige Suchbewegung, in der Klara sich im Kreis der Brüder in die raue Kutte der Armut einkleidet, im Schutz von Benediktinerinnen der eigenen Familie widersteht und im Wald des Monte Subasio eine Art ländliche Beginen kennenlernt, bis sie mit Gefährtinnen vor den Stadttoren Assisis eine Gemeinschaft gründen kann. Die Christusikone von San Damiano verbindet Franz und Klara zutiefst. Sie zeigt zur Rechten des Gekreuzigt-Auferstandenen Maria und Johannes, die Mutter und den Lieblingsjünger, die Häusliche und den Wanderapostel eng verbunden: Franziskus wird das Leben der Brüder als vita evangelica beschreiben, die den Aposteln in Galiläa gleich „den Fußspuren Jesu und seiner Armut“ folgt.17 Klara fasst die Berufung der Schwestern in das Bild, „arm den armen Christus zu umarmen“.18 Sie tut es mütterlich und freundschaftlich. Und sie ermutigt ihre Schwestern, dabei dem Vorbild Marias von Nazaret sowie Martas und Marias von Betanien zu folgen.19
Zusammenspiel von actio und comtemplatio
Das früheste Zeugnis über die franziskanische Bewegung ist in einem Brief des französischen Bischofs Jacques de Vitry überliefert. Er beobachtete im Sommer 1216 das Zusammenspiel von fratres minores und sorores minores in Mittelitalien, und spricht von einer Bewegung, die sich entschieden an der Bibel orientiert. Brüder und Schwestern leben „unweit der Städte“, in denen sie pastoral wirken. Während die Schwestern vor den Stadtmauern in Herbergen (hospitia) wohnen, verbringen die Brüder die Nächte an einsamen Orten (loca solitaria), um sich da nach arbeitsamen Tagen der Kontemplation hinzugeben. Während die Schwestern zudem vor Ort verbleiben, führt die Wandermission die Brüder bis Norditalien und nach Sizilien.20 Klaras Schriften und die Zeugnisse ihrer Schwestern am Heiligsprechungsprozess verdeutlichen, wie sich das Modell von Betanien in San Damiano selbst entfaltete: Wie Marta und Maria mit ihrem Bruder Lazarus lebten, besteht Klara darauf, dass bei ihrer Schwesterngemeinschaft immer auch Brüder wohnen. Statt von einer isolierenden Klausur, Zentralbegriff der päpstlichen Regulierungspolitik gegenüber neuen Frauengemeinschaften, spricht Klara von einer radikalen Armut, die ihre Schwestern mit der Stadt verbindet, und von der Welt als Ort der Gotteserfahrung. Ihr Modell lässt die Schwestern hinausgehen und empfängt Menschen in den vielfältigsten Situationen. Es gibt auch Kinder ohne Eltern, die in dieser Gemeinschaft aufwachsen.21Einiges spricht dafür, dass Franziskus sich bei der Redaktion der Zusatzregel für Brüder in Eremitorien an San Damiano orientierte. Klaras Gemeinschaft hatte, als erste Brüder sich ab 1220 längere Zeit gemeinsam „gottsuchend in Einsiedeleien zurückzuziehen“ begannen, bereits ein Jahrzehnt Erfahrung in ihrer sesshaften vita evangelica. Wenn Franziskus in der Zusatzregel von Brüdern spricht, die sich sorglos dem kontemplativen Leben Marias widmen, während andere in der aktiven Rolle Martas sie und ihre Gottverbundenheit umsorgen, dürfte er Klaras Vorbild aufgreifen.22 Und wie die Brüder in einem guten Rhythmus die Rollen wechseln, zeigt auch Klara sich in den Zeugnissen ihrer Schwestern mal in der aktiven Sorge für Schwestern und Hilfesuchende und mal kontemplativ frei für ungestörte mystische Erfahrungen, die auch stundenlange Ekstasen ermöglichen.23 Je weitere Kreise das Wanderleben der Brüder zieht, desto längere Zeiten des Rückzugs bilden sich im Wechsel dazu aus. Franziskus wird in seinen letzten Lebensjahren mehrere Fastenzeiten von vierzig Tagen in stillen Eremitagen verbringen, vorzüglich während der nasskalten Winter- und der heißen Sommermonate. Als er einmal versucht war, diesen Wechsel zwischen aktiver Wanderpastoral und kontemplativem Rückzug aufzugeben, waren es mitunter Klara und ihre Schwestern, die der Bruder in Krise um Rat fragte und die ihn an seine Berufung zur vita mixta erinnerten.24
Brüderliche Verbündete Klaras
Dass Klaras Schwestern nicht ohne Brüder leben wollten,25 liegt nicht nur am biblischen Vorbild von Marta, Maria und Lazarus in Betanien. P. Maranesi zeigt in einer Studie über Klaras Berufungsweg auf, dass die junge Adelige sich nicht standesgemäße Berater – Mönche, Kanoniker oder den städtischen Bischof – erwählte, sondern Laien, die ohne Theologiestudien und kirchliche Ämter das Evangelium radikal und solidarisch mit Menschen am Rand lebten. Sowohl sozial wie kirchlich subversiv, schien deren vita evangelica innovativer als alle traditionellen Formen religiösen Lebens und besser geeignet, Klaras Berufung zu begleiten.26 Tatsächlich wird Klara über ihre brüderlichen Verbündeten glücklich sein, als ihre Gemeinschaft die Aufmerksamkeit der römischen Kurie fand und Papst Gregor IX. San Damiano zum Zentrum eines „Damiansordens“ machen wollte, dem er eine strikt klausurierte, monastische Lebensform auferlegte. Maranesi verdeutlicht, dass das Schlüsselmotiv in Klaras Berufung misericordia ist. Barmherzigkeit erfahren die Schwestern in ihrer mystischen Liebe „zum armen Christus“, der sich auf der Kreuzikone von San Damiano menschlich und mit offenen Augen, offenem Ohr und weit offenen Armen zeigt.27 Der auferstandene Christus begegnet jedoch nicht nur in der Stille, sondern draußen: unter Hungernden und Fremden, Bedürftigen aller Art vor der Türe. Daher widersetzte sich Klara mit Unterstützung der Brüder allen Versuchen der römischen Kurie, die Schwestern in strikte Klausur zu drängen und die aktive Dimension der misericordia auf die Binnenwelt der Gemeinschaft zu begrenzen. Zwei Schlüsseltexte zeigen beispielhaft, wie eng die Schwestern sich in dieser Lebenswahl mit den Brüdern verbünden. Ein erster Textvergleich spricht in einem Dreiklang von der Jesusnachfolge in Armut:28
Franziskus‘ Nachfolge
Der junge Kaufmann sagt beim Wiederaufbau von San Damiano zu sich selbst:
„Um der Liebe dessen willen,der arm geboren wurde,ganz arm lebte in dieser Welt,nackt und arm am Kreuz verbliebund in einem fremden Grabe bestattet wurde,gehört es sich, dass du freiwillig arm lebst!“
Klaras Nachfolge
Die sterbende Klara erinnert den Papst und Kardinalprotektor in ihrem Testament:
„Um der Liebe jenes Gottes willen,der arm in die Krippe gelegt wurde,arm in dieser Welt lebteund nackt am Marterholz verblieb,sorge er immer für die kleine Herde, die Gott Vater in seiner Kirche durch das Wort und das Beispiel unseres Vaters Franziskus dazu erweckt hat, dass sie der Armut und Niedrigkeit seines geliebten Sohnes und seiner Mutter folge, und sorge dafür, dass diese kleine Herde die heilige Armut bewahre … “
In seinem Vermächtnis für San Damiano erinnert Franz an die gemeinsame Berufung und ermutigt die Schwestern, sich von keiner Autorität davon abbringen zu lassen. Als die böhmische Prinzessin Agnes von Prag mit dem eigenen Kloster die Observanz wechselt, statt der päpstlichen Konstitutionen San Damianos Vorbild folgt und dadurch den Unwillen von Papst Gregor IX. herausfordert, gibt Klara die Ermutigung an ihre Prager Freundin weiter:29
Franziskus‘ Rat an Klaras Schwestern
Ich, der ganz kleine Bruder Franziskus,
will dem Leben und der Armut unseres höchsten Herrn Jesus Christus und seiner heiligsten Mutter nachfolgen und darin bis zum Ende verharren.
Und ich bitte euch, meine Herrinnen,
und gebe euch den Rat, ihr möchtet doch allezeit
in diesem heiligsten Leben und in der Armut leben.
Und hütet euch sehr, jemals in irgendeiner Form davon abzuweichen, weder auf die Lehre noch auf den Rat von irgend jemand hin.
Klaras Rat an Agnes von Prag
Wenn Dir aber jemand etwas anderes sagen, etwas anderes einreden wollte,
was Deiner Vollkommenheit hinderlich wäre
oder Deiner göttlichen Berufung zu widersprechen schiene,
folge dem Ratschlag eines solchen Menschen nicht,
auch wenn Du ihm Verehrung schuldig wärest,
sondern umarme als arme Jungfrau
den armen Christus!
Ein poetisch schönes und spirituell dichtes Zeichen des untrennbaren Zusammenspiels von Schwestern und Brüdern ist Franziskus‘ Sonnengesang. In einer gesundheitlichen Krise der Sorge von San Damiano anvertraut und da von der Liebe Gottes neu umarmt, besingt Franz mit den laudes creaturarum die Harmonie einer Schöpfung, in der schwesterliche und brüderliche Geschöpfe in der einen Welt zusammenspielen. Was das Lied kosmisch besingt, hat der Poverello auch vor Ort in der geschwisterlichen Lebensgemeinschaft erfahren.30
Weibliches in Franziskus‘ Spiritualität
Der Mittelalterforscher J. Dalarun stellt erstaunt fest, wie sehr Franz mit einer ausgesprochen weiblich geprägten Spiritualität aus dem Rahmen seiner Zeit fällt:31 Der Ordensgründer ermutigt seine Brüder zu mütterlicher Sensibilität für die Bedürfnisse der Gefährten, spricht und handelt selber „wie eine Mutter“ und wird von Brüdern mater carissima genannt.32 Seine eigene Nachfolge hat Christus und Maria vor Augen, und sein Brief an alle Gläubigen traut auch Männern zu, Christus „mütterlich im Herzen zu tragen“ und durch das eigene Leben „zur Welt zu bringen“.33 Tugenden werden personifiziert und treten als dominae und Freundinnen des Herrn auf. Christus erscheint in den Liedern des Mystikers von Freundinnen und Schwesterpaaren begleitet: der edlen Frau Weisheit und Frau Schlichtheit, Frau Armut und Frau Erdnähe, Frau Liebe und Frau Wachheit.34 Leitungsverantwortung sieht der Poverello dann gottgefällig und lebensdienlich, wenn sie am governare von Schwester Mutter-Erde Maß nimmt: nicht patriarchal und herrschaftlich, sondern schwesterlich und mütterlich – tragend, nährend, Leben hervorbringend. Der Sonnengesang zeichnet auch ein ungewöhnlich vertrauensvolles Bild von „Schwester Tod“: nicht tragisches Geschick oder grausamer Wegelagerer, sondern eine Gefährtin, die den Sterbenden an der Hand nimmt und in die neue Schöpfung Gottes führt.35 Es liegt nahe, hinter solchen Bildern im Schöpfungslied, das in San Damiano entstand, Klaras schwesterlich-mütterliche Art der Leitung und die weibliche Sorge zu sehen, die Franz durch fünfzig Tage innerer und äußerer Dunkelheit in neues Licht begleitet hat. Schließlich fällt Franz auch damit auf, dass er Gott mit einer reichen Auswahl weiblicher Namen preist:36 Liebe, Weisheit und Geduld, Schönheit, Ruhe und Freude, Hoffnung, Gerechtigkeit und Besonnenheit, Anmut, Sanftheit und Stärke, Hoffnung, Glaubenskraft und Liebe, Glück, Zärtlichkeit und Wonne finden Eingang in seinen Lobpreis von La Verna. Franz singt als Troubadour Liebeslieder auf seinen Herrn, den Dominus – und sieht Klaras Schwestern als edle Herrinnen derart eng mit Christus verbunden, dass er Klara christiana nennt: Freundin, Gefährtin und Jüngerin seines Herrn.37 Nicht Franz ist der Geliebte, dem Klara folgt, sondern Christus. Klara nennt den Bruder denn auch einen Gärtner, der ihrer Gemeinschaft und ihr selbst beste Entfaltungsmöglichkeiten bot, und in einer intimen Vision erlebt sie Franz ihrerseits als mütterliche Gestalt, die sie auf ihrem Weg der Christusnachfolge nährt und ebenbürtig werden lässt.38 Mit M. Kreidler-Kos, der wohl besten KlaraForscherin im deutschen Sprachraum, kann man wünschen, dass Papst Franziskus seinen Namen auch da zum Programm macht, wo es dem „weiblichen Genius“ in der Kirche konkreten Entfaltungsraum zu schaffen gilt – beherzt, wie es Franz und Klara in ihrer geschwisterlichen Bewegung und der realen Kirche damals taten.39
1 N. Kuster, Franz und Klara von Assisi. Eine Doppelbiografie. Ostfildern 2011, 22012, aktualisiert und neu als Topos Prämium: Kevelaer 2016. Übersetzungen erscheinen 2014 in Madrid und in Paris; eine englischsprachige Version wird demnächst in den USA druckfertig.
2 F. Zeffirelli, Fratello Sole – Sorella Luna (Spielfilm, I – GB 1972); englisch Brother Son – Sister Moon; deutsch im gleichen Jahr Bruder Sonne – Schwester Mond.
3 E. Pahud de Mortanges, Unheilige Paare? Liebesgeschichten, die keine sein durften. München 2011. Das Buch stellt das Getrenntsein der Heiligen Assisis in eine Reihe mit den Liebesgeschichten zwischen Heloïse/Abälard, Martin Luther/Katharina von Bora, Jeanne Françoise de Chantal/François de Sales, Adrienne von Speyr/Hans Urs von Balthasar sowie Luise Rinser/Karl Rahner.
4 H. Feld, Franziskus von Assisi und seine Bewegung. Darmstadt 1994, 406–420; das Buch erschien weitgehend unverändert mit werbewirksam neuem Titel und Cover sowie einem Vorwort von H. Wolf, Franziskus von Assisi, der Namenspatron des Papstes. Darmstadt 32014.
5 C. Frugoni, Storia di Chiara e Francesco. Torino 2011, schildert als kleines Bändchen nicht die Biografien als solche, sondern einige Aspekte, welche die beiden Heiligen verbinden.
6 D. Berg / L. Lehmann (Hrsg.), Franziskus-Quellen (Zeugnisse des 13. u. 14. Jhs. zur Franziskanischen Bewegung 1). Kevelaer 22014 (= FQ); J. Schneider / P. Zahner (Hrsg.), Klara-Quellen. Die Schriften der heiligen Klara. Zeugnisse zu ihrem Leben und ihrer Wirkungsgeschichte. Kevelaer 2013 (= KQ).
7 M. Bartoli, Chiara d’Assisi. Rom 1989; dt.: Klara von Assisi. Die Geschichte ihres Lebens. Werl 1993.
8 Den Forschungsstand spiegeln zwei Sammelbände: B. Schmies (Hrsg.), Klara von Assisi. Zwischen Bettelarmut und Beziehungsreichtum. Beiträge zur neueren deutschsprachigen Klara-Forschung. Münster 2010; D. R. Bauer / H. Feld / U. Köpf (Hrsg.), Franziskus von Assisi. Das Bild des Heiligen aus neuer Sicht. Köln 2005; s. auch Beiträge u. Rezensionen in der Fachzeitschrift Wissenschaft und Weisheit.
9 So die Klassiker R. Manselli, Franziskus – Der solidarische Bruder. Eine historische Biografie. Zürich 1989, Freiburg 1995; J. LeGoff, Franz von Assisi. Stuttgart 22007; A. Vauchez, François d’Assise. Entre histoire et mémoire. Paris 2009 (dt. Übersetzung in Vorbereitung), sowie – zu Unrecht als Standardwerk gepriesen – H. Feld, Franziskus von Assisi und seine Bewegung. Darmstadt 32014.
10 N. Kuster, Francisco y Clara de Asís: ¿enamorados, amantes, amigos, aliados? La relación de los dos santos interpretada por autores renombrados, in: Estudios Franciscanos 114 (2013), 97–119, mit Bezug auf die Dissertation von M. Kreidler-Kos, Klara von Assisi. Schattenfrau und Lichtgestalt. Tübingen – Basel 2000; erweitert 22003.
11 F. Costa, Chiara e Francesco (Miniserie RAI), Italien 2007.
12 Über B. Schmies, Klara [s. Anm. 8] hinaus zu nennen sind für den dt. Sprachraum die Tagungsakten H. Schneider (Hrsg.), Klara von Assisi – Gestalt und Geschichte. Beiträge auf der Tagung der Johannes-Duns-Scotus-Akademie 8.–10. November 2012 in Aachen. Mönchengladbach 2013, und P. Zahner (Hrsg.), Lebendiger Spiegel des Lichtes: Klara von Assisi. Beiträge zum Grazer Symposium vom 12.–13. November 2010. Norderstedt 2013.
13 L. Cavani, Sein Name war Franziskus. I – D 2014, synchronisiert 2016.
14 So fassen beide ihre jeweilige Art der Nachfolge in dichte Bilder: FQ 63, 70, 107, 119–120, 129; KQ 28.
15 Zu den drei Formen radikaler evangelischer vita apostolica bei Norbert, Waldes und Franziskus: N. Kuster, Wanderradikale und heimatlose Mönche – oder: Wie eine bewegte Lebensform immer wieder sesshaft wird, in: Edith Stein Jb 9 (2003), 46–81.
16 Mit einem Überblick: G. Melville, Die Welt der mittelalterlichen Klöster. Geschichte und Lebensformen. München 2012, und spezifisch: Gregorio e gli Ordini Mendicanti. Atti del XXXVIII Convegno internazionale. Spoleto 2011.
17 Fassbar in der Ordensregel, in den Briefen an Leo und die Gläubigen, im Testament für San Damiano sowie der Meditation zum Vaterunser: Verweise zu den FQ [s. Anm. 14].
18 So Klaras Bild für ihre Berufung im 2. Brief an Agnes von Prag, KQ [s. Anm. 14].
19 Deutliche Spuren für die Nachfolgemystik finden sich in Klaras vier Briefen an Agnes: KQ 13–41, mit Anklängen an Betanien KQ 27 und an die spirituelle Mutterschaft KQ 32–33.
20 Das Zeugnis findet sich kommentiert in FQ 1533–1535. Der markante Begriff hospitia wird da jedoch verschwommen übersetzt. Zur Interpretation: B. Schmies, Klara, 94–99, 157–159, 193–195 [Anm. 8].
21 Die aussagekräftigen Zeugnisse des Heiligsprechungsprozesses finden sich in KQ 109–188.
22 Zur These einer Abhängigkeit der Regula pro eremitoriis (FQ 103–104) von Klaras Vorbild s. B. Schmies, Klara, 60 [s. Anm. 8]; N. Kuster, San Damiano und der päpstliche Damiansorden. Die spannungsvolle Gründungsgeschichte der Klarissen im Licht der neuesten Forschung, in: CFr 82 (2012), 253–340, 266– 269.
23 Die Entwicklung von San Damiano in der Bipolarität zwischen aktiver Menschensorge im hospitium und Schutzräumen der Kontemplation im claustrum sucht nachzuzeichnen: N. Kuster, Stadt und Stille. Klaras Gemeinschaft im Spannungsfeld von Mystik und Politik,