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GuL 97 (2024), Heft 4 Oktober-Dezember 2024 n. 513 Notiz Jörg Nies SJ Suscipe oder: Was können wir beten? [333-334] Nachfolge Hans-Rüdiger Schwab Erkundungen im innersten Grund. Zum 400. Todestag des Theosophen und Mystikers Jacob Böhme [336-342] Joachim Garstecki Leben im weiten Horizont. Vera von Trott zu Solz und die Kommunität Imshausen [343-350] Marc Pauly Aus der Stadt in den Wald. Straßenexerzitien in der Natur [351-358] Thomas Stil Was ist Berufung? Ein Tagungsbericht [359-363] Nachfolge | Kirche Georg Braulik OSB David, Christus und die Kirche. Zur Theologie des Psalters [364-372] Olga Lorgeoux "Lernen statt Sündigen". Bildung und Initiation im spätantiken Christentum [373-380] Thomas Melzl Gottesdienst als spirituelle Übung [381-389] Stephan Lipke SJ Christentum in der Kälte [390-392] Nachfolge | Junge Theologie Alexandra Palkowitsch Ökologische Haltungen. Christliche Umweltspiritualität und neomaterialistischer Weltzugang [393-398] Reflexion Georg Lauscher "Dein Glaube hat dich gerettet!". Der Lebensglaube der religiös Distanzierten [400-408] Kristian Fechtner "… und eine kommode Religion". Moderate Frömmigkeit als unscheinbares Christentum [409-418] Justin Arickal Die Sakralität der Zeit. Sabbatverständnis und Zeittheorie bei Abraham J. Heschel [419-426] Lektüre Andreas Schmoller Beziehungen eines einsamen Zeugen. Die digitale Franz und Franziska Jägerstätter Edition [428-433] Marcel Albert OSB Vom Anfang bis zum Ende lesen. Benediktiner, Bücher und Bibliotheken [434-438] Buchbesprechung [439-440]
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Seitenzahl: 197
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Notiz
Suscipe oder: Was können wir beten?
Nachfolge
Erkundungen im innersten Grund Zum 400. Todestag des Theosophen und Mystikers Jacob Böhme
Leben im weiten Horizont Vera von Trott zu Solz und die Kommunität Imshausen
Aus der Stadt in den Wald Straßenexerzitien in der Natur
Was ist Berufung? Ein Tagungsbericht
Kirche
David, Christus und die Kirche Zur Theologie des Psalters1
„Lernen statt Sündigen“16 Bildung und Initiation im spätantiken Christentum
Gottesdienst als spirituelle Übung
Christentum in der Kälte62
Junge Theologie
Ökologische Haltungen Christliche Umweltspiritualität und neomaterialistischer Weltzugang
Reflexion
„Dein Glaube hat dich gerettet!“ Der Lebensglaube der religiös Distanzierten
„… und eine kommode Religion“ Moderate Frömmigkeit als unscheinbares Christentum
Die Sakralität der Zeit Sabbatverständnis und Zeittheorie bei Abraham J. Heschel
Lektüre
Beziehungen eines einsamen Zeugen Die digitale Franz und Franziska Jägerstätter Edition
Vom Anfang bis zum Ende lesen Benediktiner, Bücher und Bibliotheken
Buchbesprechungen
Impressum
GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christliche Spiritualität. Begründet 1926 als Zeitschrift für Aszese und Mystik
Erscheinungsweise: vierteljährlich
ISSN 0016–5921
Herausgeber:
Zentraleuropäische Provinz der Jesuiten
Redaktion:
Christoph Benke (Chefredakteur)
Dieter Fugger (Redaktionsassistenz)
Redaktionsbeirat:
Margareta Gruber OSF / Vallendar
Stefan Kiechle SJ / Frankfurt
Bernhard Körner / Graz
Edith Kürpick FMJ / Köln
Ralph Kunz / Zürich
Jörg Nies SJ / Stockholm
Andrea Riedl / Regensburg
Klaus Vechtel SJ / Frankfurt
Redaktionsanschrift:
Pramergasse 9, A –1090 Wien
Tel. +43–(0)664–88680583
Artikelangebote an die Redaktion sind willkommen. Informationen zur Abfassung von Beiträgen unter www.echter.de/geist-und-leben/. Alles Übrige, inkl. Bestellungen, geht an den Verlag. Nachdruck nur mit besonderer Erlaubnis. Werden Texte zugesandt, die bereits andernorts, insbesondere im Internet, veröffentlicht wurden, ist dies unaufgefordert mitzuteilen. Redaktionelle Kürzungen und Änderungen vorbehalten. Der Inhalt der Beiträge stimmt nicht in jedem Fall mit der Meinung der Schriftleitung überein. Für Abonnent(inn)en steht GuL im Online-Archiv als elektronische Ressource kostenfrei zur Verfügung. Nichtabonnent(inn)en können im Online-Archiv auf die letzten drei Jahrgänge kostenfrei zugreifen. Registrierung auf www.echter.de/geist-und-leben/.
Verlag:Echter Verlag GmbH, 0000
Dominikanerplatz 8, D–97070 Würzburg
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Visuelle Konzeption: Atelier Renate Stockreiter
Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg
Bezugspreis: Einzelheft € 13,50
Jahresabonnement € 45,00
Studierendenabonnement € 30,00
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Vertrieb: Zu beziehen durch alle Buchhandlungen oder direkt beim Verlag. Abonnementskündigungen sind nur zum Ende des jeweiligen Jahrgangs möglich.
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Auslieferung für die Schweiz: AVA Verlagsauslieferung AG, Centralweg 16, CH–8910 Affoltern am Alibs
Diesem Heft liegt folgender Prospekt bei:
Theologie – Neue Sach- und Fachbücher, Pustet Verlag
Wir bitten um Beachtung.
Wer sich mit der ignatianischen Spiritualität beschäftigt, stößt unweigerlich auf ein Gebet, das am Ende der Geistlichen Übungen steht und zu der sogenannten „Betrachtung, um Liebe zu erlangen“ (GÜ 230–237) gehört. In vielerlei Hinsicht steht diese Betrachtung für ein spezifisch ignatianisches Verständnis von der Beziehung zwischen Gott und Mensch. In der mehrfach zu wiederholenden Übung, die aus unterschiedlichen Punkten besteht, soll zuerst an die „empfangenen Wohltaten von Schöpfung, Erlösung und besonderen Gaben“ gedacht werden. Dann soll betrachtet werden, wie „Gott in den Geschöpfen wohnt“, wie Gott sich in den geschaffenen Dingen „müht und arbeitet“ und wie alle „Güter und Gaben“ von ihm kommen. Der oder die Übende soll das allumfassende Wirken Gottes wahrnehmen und sich zugleich auf sich „selbst zurückbesinnen“. Entscheidend ist die „innere Erkenntnis von so viel empfangenem Guten“, da aus ihr der je individuelle Wunsch entstehen soll, Gott in allem lieben und dienen zu wollen. Dieser Wunsch erhält eine Form in dem die Betrachtung abschließenden Gebet, das als Suscipe-Gebet oder einfach nur Suscipe bezeichnet wird. Es handelt sich dabei um das Anfangswort des lateinischen Textes, der heute in vielen Sprachen und verschiedenen Übersetzungen verbreitet ist; im Gebets- und Gesangbuch „Gotteslob“ in folgender Form: „Nimm, Herr, und empfange meine ganze Freiheit, mein Gedächtnis, meinen Verstand und meinen ganzen Willen, all mein Haben und Besitzen. Du hast es mir gegeben; dir, Herr, gebe ich es zurück. Alles ist dein, verfüge nach deinem ganzen Willen. Gib mir deine Liebe und Gnade, denn diese genügt mir.“ (GL 9.6)
Doch ist es sinnvoll das Gebet gänzlich vom Text der Geistlichen Übungen, also seinem Kontext, herauszulösen? Wird es dann nicht zu einer Überforderung? Denn wie soll man alles auf Gott setzen und ihm alles anbieten können? Genau diese Fragen trieben auch Papst Benedikt XVI. um, als er am 21. Februar 2008 die 35. Generalkongregation der Jesuiten besuchte. In seiner Ansprache wandte er sich an die Jesuiten mit den Worten, dass er sich mit ihnen in diesem Gebet, „das uns der heilige Ignatius in den Exerzitien gelehrt“ vereine, es aber ein Gebet sei, dass ihm „immer zu groß“ erscheine, so dass er „es fast nicht zu sprechen wage“.
Das Suscipe ist herausfordernd, da es ein Angebot an Gott ins Wort bringt, dessen konkrete Bedeutung nicht absehbar ist. Gerade deshalb ist hier von der alles ermöglichenden Gnade zu reden, um die Ignatius zu Beginn aller Übungen bitten lässt. Die Gnade ist die Grundlage für die Worte der Hingabe. Betrachtet man das Suscipe-Gebet im Kontext der Geistlichen Übungen, dann wird deutlich: Alles, was Gott überlassen werden soll, wurde von ihm empfangen und der Betende erkennt diesen Umstand lediglich an. Der Preis ist daher nicht hoch, sondern vielmehr als Folge einer Erkenntnis zu verstehen, die zuvor durch die Übungen gefördert wurde, die das Wirken Gottes in der Welt und im eigenen Leben meditierten. Zudem macht die Stellung des Gebets am Ende der Geistlichen Übungen deutlich, dass es als Antwort zu verstehen ist. Das Suscipe ist die Reaktion der Übenden auf die Liebe und Gnade Gottes, die sie während der vorangegangenen 30-tägigen Exerzitien auf unterschiedliche Weise betrachtet, erkannt und erfahren haben. Diese Positionierung am Ende der Übungen verdeutlicht auch, dass das Gebet genau die Perspektive auf die Welt und auf sich selbst erfordert, die während der Exerzitien eingeübt wurde, um mit größtmöglicher Freiheit in die Worte des Ignatius einzustimmen.
Was aber, wenn das Suscipe außerhalb der Geistlichen Übungen gebetet wird? Dann muss diese Einsicht in das Wirken Gottes nicht mehr unmittelbar sein, sondern es gilt sie vielmehr zu aktualisieren und zu erinnern. Die Worte können zu einer Herausforderung im positiven Sinne des Wortes werden, denn sie fordern eine Rückbesinnung auf das, was einmal im Gebet erkannt wurde und in der Wiederholung im Alltag konkret werden soll. Die Erinnerung an die erlebte Nähe Gottes soll erneut Gegenwart werden. Damit ist eine Spannung beschrieben, die für das geistliche Leben charakteristisch ist. Sie entsteht aus dem Wunsch und der Sehnsucht der Nachfolge, die zu einer Entscheidung wurde, deren Verwirklichung jedoch immer wieder neu Wirklichkeit werden muss.
Das Suscipe-Gebet lenkt den Blick auf diese spirituelle Spannung, die es geistlich zu bejahen gilt. Es drückt nicht nur Hingabe aus, sondern ist auch eine Bitte um Orientierung, indem es sich direkt an Gott wendet: „Gib mir deine Liebe und Gnade, denn diese genügt mir.“ Papst Benedikt XVI. erkannte möglicherweise genau diesen Aspekt im Hingabegebet. Der Inhalt des Gebets kann zunächst zu einer gewissen Zurückhaltung und einem Respekt vor den Worten führen. Gebetet mit aller Ernsthaftigkeit, entfalten die Worte jedoch eine Kraft und einen Trost. An die Jesuiten der Generalkongregation gewandt, äußerte der Papst seine Vorsicht bezüglich des Gebets und betonte zugleich, dass wir es „uns dennoch immer wieder vornehmen sollten“.
Hans-Rüdiger Schwab | Münster
geb. 1955, Dr. phil., Prof. em. für Kulturpädagogik/Ästhetik und Kommunikation an der Kath. Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abt. Münster
Ein Easy Read ist es jedenfalls nicht, wenn man sich durch die stattliche Zahl seiner Schriften bewegt.1 Ja, von allen klassisch gewordenen Mystikern des deutschen Sprachraums verlangt Jacob Böhme, der am 17. November vor vierhundert Jahren in seinem Görlitzer Haus an der Neißebrücke starb, uns wohl am meisten ab. Den Dunkelheiten seiner Inhalte ist dies ebenso geschuldet wie der auf sie bezogenen Ausdrucksweise, mitunter vorhandene Trennschärfen inklusive. Was Wunder auch, da immer neue Anläufe auf Unfassliches abzielen. In sperrigen Formulierungen, Bildern und Symbolen versucht der Autor es einzukreisen, mit Anleihen nicht zuletzt bei unterschiedlichen hermetischen Traditionen wie der Alchimie, der Magie und der Astrologie.
Der Weg zur „neuen Wiedergeburt“
Vielfach handelt Böhme davon, wie ein mystischer Pfad zu beschreiten wäre.2 Das radikale In-sich-gekehrt-Sein vermag demnach für die grenz-überschreitende Wahrnehmung „Göttlicher Beschaulichkeit“ (4/X.10: 165ff.) zu bereiten. Der „eigen[e] Will[e] in seiner Selbheit“ – Autonomie, welche zugleich „Hoffart“ ist –, „müsse taglich sterben“ (4/IX: vor 85), durch ge-lassenes Geschehen-Lassen ersetzt, alle Zerstreutheit in Raum und Zeit gewichen sein, bis hin zur völligen Ent-Leerung des Bewusstseins, um mit dem Höchsten erfüllt zu werden: „Je mehr der Mensch von sich aus den Bildern ausgehet, je mehr gehet er in GOtt ein“ (4/IX.1: 41).
Auch von der Geburt Gottes in der Seele (4/V: 179) oder ihrer Vermählung mit ihm ist bei Böhme die Rede (4/IX.1: 18f., 31ff.; 8, 597). Mit der „Edlen Sophiä“ wird sie hier vollzogen (4/IX.1, 20). Dem Mysterium der Inkarnation Christi kommt dabei zentrale Bedeutung zu. Ihrethalber sei das unversehrte Bild Adams vor dem Fall neu erschlossen worden, als „eine gantze Transmutation“ (5/XI: 186). In jedem könne diese statthaben. Allerdings lasse Christus sich nur vom „inneren Seelen-Menschen“ (4/IX.4: 131) finden, dem bloßen „Titul“- oder „Maul-Christen“ (4/IX.4: 129) nicht.
Zur Stützung dieser „neuen Wiedergeburt“ (4/IX.4: 130) empfiehlt Böhme, durch individuell adressierte Sendbriefe teils3, spirituelle Praktiken, um mit Gott unmittelbar in Verbindung zu treten. „[D]ie Sacramenta“ (4/IX.4: 134), „Christi Fleisch und Blut“ zumal, identisch mit dem „Wesen der Sophiä“ (9/XXI: 174), zählen ebenso dazu wie, von ihm selbst ausgiebig geübt, eine „rechte Bet-Kunst“ (4/IX.2: 43). Über eine Antwort auf das Sprechen Gottes in der Schöpfung hinaus bekunde letztere das inwendige Zusammenwirken mit dessen Geist. Unhintergehbar sind der Vorsatz, sich zu öffnen, wie auch hier die Abkehr vom Eigenwillen.
Gottes Einheit und Ausdifferenzierung
Daneben (und vor allem) gibt jener Seelenführer, welcher Böhme auch war, sich als Mystagoge zu erkennen, als Theosoph, der Geheimnisse von Gottes Wesen, Werden und Entäußerungen spekulativ erläutert. Von jeher hat dieser Teil seines Werks mehr Aufsehen erregt. Ein weit ausgefächertes Gebäude mit zahlreichen Stockwerken, Kammern und Winkeligkeiten tut sich hier auf. Verschlungene Gänge führen hindurch. Dramatische Abläufe darin sind zu besichtigen.
Den „Ungrund“ des „Nichts“ nennt Böhme Gottes Ur-Befindlichkeit – von Allem damit auch, der Fülle, die dort in restloser Einheit, un-entmischt zusammen strömt. „[E]inen ewigen Anfang […] aber […] machet“ er: „Dann das Nichts ist eine Sucht nach Etwas“ (4/VIII: 97). In dieser raum-zeitlosen Ur-Potenz wirkt ein auf sich selbst gerichteter Wille. Mit ihm beginnt die Selbstkonstitution Gottes, während der er sich sozusagen in unterschiedliche Präsenzen aufschließt und entfaltet.
„Der Leser soll wissen, daß in Jah und Nein alle Dinge bestehen, es sey Göttlich, Teuflisch, Irdisch oder was genannt mag werden […]. Und können doch nicht sagen, daß das Jah vom Nein abgesondert, und zwey Dinge neben einander sind, sondern sie sind nur Ein Ding, scheiden sich aber selber in 2 Anfänge (Principia) und machen zwei Centra, da ein iedes in sich selber wircket, und will“ (9/XVIII: 6f.). Diese Metaphysik zusammengehöriger Differenz prägt Böhmes Denken. Was immer den Ungrund verlässt, wird oppositär, treibt Kontraste aus sich hervor und bleibt seinem Ursprung doch untrennbar verbunden. Mit der Entgegensetzung von Eins und Drei der heiligsten Hypostasen hebt derlei Ausdifferenzierung innergöttlicher Einheit an. Da „Etwas“ stets erst durch den Widerspruch offenbar werden kann, kommt es hier zwangsläufig auch zur Brechung. Die Kräfte koinzidieren nicht mehr harmonisch, sondern geraten in Scheidung zweier Aspekte Desselben, bis hin zur wechselseitigen Unvereinbarkeit, von Positivem und Negativem, ja dem Kampf miteinander.
Was die Zahl der göttlichen Personen selbst anbelangt, steht dahin, ob statt der Drei nicht eher eine Vier zu setzen wäre. Die bereits erwähnte Sophia nämlich, mit Wurzeln in der jüdischen Bibel sowie früh-, dann ostkirchlich verehrt, ist bei Böhme eine bereits dem Ungrund beigegebene „Jungfräuliche Matrix, darinnen sich der Geist eröffnet“, ja „der ewige Geist der Weisheit“ (4/V: 122), als „Spigel“ oder „Imagination“ (4/V: 123) integraler Bestandteil des Höchsten. Diverse Prädikate schreibt er dieser „göttlichen Buhlschaft“ (8: 597) zu, durch welche Gott selbst sich auf mancherlei Weise verwirklicht und vermittelt, „ohne Wesen; und […] in der alle Dinge sind von Ewigkeit ersehen worden“ (4/V: 121).4 Auch wenn der Autor sehr explizit an der „H. Dreyfaltigkeit“ festhält (4/V: 124), wird schon rasch Argwohn gegen ihn laut, eigentlich begründe er eine göttliche Quaternität. Unbestreitbar jedenfalls nimmt die Wiederbelebung der Sophiologie im Westen von ihm seinen Ausgang.
Eine Erklärung des Bösen
Noch kontroverser erhebt sich vor dem Hintergrund von Böhmes „lebendigste[r] Dialektik“5 eine andere Frage: die nach dem womöglichen Doppelgesicht Gottes. Zwiefach codiert sind seine Aussagen darüber. Zwar gebe es „im Guten keinen Anfang zum Bösen“ (7: 10), doch „urstände“ letztlich „eines von dem andern“ (9/XXI: 44), schreibt er divergierend, um ferner zu ‚präzisieren‘: „Denn der heiligen Welt GOtt, und der finstern Welt GOtt sind nicht zween Götter: Es ist ein einziger GOtt; Er ist selber alles Wesen, Er ist Bös und Gutes, Himmel und Hölle, Licht und Finsterniß, Ewigkeit und Zeit, Anfang und Ende: wo seine Liebe in einem Wesen verborgen ist, allda ist sein Zorn offenbar.“ „[I]n gleichem Maß und Gewichte“ (7: 44) freilich scheinen solche ambivalenten Modi nicht durchweg vorhanden.
Eine Erklärung des Bösen innerhalb der vor- und überweltlichen ‚Realisierungsprozesse‘ Gottes beschäftigt den Theosophen mit Nachdruck. Teil einer Ganzheit bleibt es: sofern das Gute überhaupt erkennbar in Erscheinung treten soll, dessen unvermeidlicher Kontrast und Gegenpol. Streng genommen nicht aus Gott stammt das Böse (was seit Hegels und Feuerbachs Lektüren vielfach vertreten wurde), sondern es generiert sich selbst durch Abspaltung von ihm.
Protagonist des Bösen ist Luzifer, eine jener Entitäten, die Gott als graduelle Abstufungen seiner selbst erschafft. Der Aufstand gegen die ursprünglich ihm zugehörige Ausstattung besteht darin, irregeleitet frei „Begierde“ nach absoluter „Selbheit“ zu entwickeln, „als ein eigener GOtt, über und in allen herrschen“ zu wollen (7: 48). Aus sich selbst will das Böse Bestand haben. Das „[M]uß“ (7: 113) einer vorher noch nicht bestehenden Finsternis wird daher zu seiner Stätte.
Während der Dynamik des emanatorischen Prozesses war derlei zwar möglich, doch – wie Böhme (im Zwiegespräch mit zweifelnder „Vernunft“) festhält –, eben „nicht aus GOttes Fürsatz“, seiner „Heiligkeit, als im Licht“. Ex-zentrisch flackert es vielmehr auf, „[i]m Centro der ewigen Natur“ (7: 47f.), einem anderen Schauplatz. Aus vorherigem göttlichen „Aushauc[h]“ erst durch Luzifers Abfall materialisiert (7: 56), ist die Welt dem Geist jedoch keineswegs bloß dualistisch entgegengesetzt. Das mittlere Phänomen eines ontischen Dreigefüges vielmehr stellt sie dar, jenen Bereich, wo sowohl das Licht als auch die Finsternis vertreten ist. „[K]ein Ding“ dort, betont Böhme, sei „so bös, es hat [nicht auch] ein Gutes in sich“ (7: 56).
Als leeres Begehren, das niemals Sättigung findet, greift das Böse auf den versuchbaren Menschen über und entstellt von dort aus die Sphäre des Erdhaft-Sinnlichen, nach der ihn zu gelüsten beginnt. Sie hat er denn auch zu erleiden, da ihm mit seinem Absturz die anerschaffene Ur-Ebenbildlichkeit, „Gleichheit Gottes“ gar, wie es einmal heißt (4/IX.8: 177), abhanden kam.
Seiner ursprünglichen Gestalt wegen aber bleibt der Mensch – ein „Feuer-Funck aus GOttes Macht“ (7: 116) – „das grösseste Geheimniß“, welches der Schöpfer „gewircket hat“ (4/V: 43). Nach seiner Wendung hin zum Eigen-Wesen selbst – jener Befindlichkeit, die in der spirituellen Praxis nicht von ungefähr ausgeschaltet werden soll! – bleibt er darauf angelegt, dass Gottes Herrlichkeit endzeitlich an ihm wieder unverkürzt ausstrahlen kann, auch kraft der durch den Sündenfall verlorenen Nicht-Geschlechtlichkeit (7: 117). Durch und in Christus ist ihm, über den Umweg der Welt, die Möglichkeit definitiver Vollendung verheißen. Die Selbstaufspaltung des Seins hebt Gott vermöge einer es ganzheitlich neu restituierenden Gegenbewegung auf.
Zu Fundamentalem nötigt den Menschen bei Böhme seine aktuelle Situation. Zwischen einander widerstreitenden Mächten gestellt, muss er sich entscheiden. An der künftigen Hinüberformung mitzuwirken, lautet die Aufgabe. Seines geistigen Ursprungs hat er sich bewusst zu werden, dafür Sorge tragen, daß „die Licht-Welt in [ihm] der Herr sey, als die das Regiment führe“ (4/V: 180). Luthers Ansicht über den unfreien Willen widerspricht Böhme, der sich als guter Lutheraner verstand, in seiner Schrift Von der Gnaden-Wahl. Es gibt einen Spielraum für Alternativen.
Spuren des Schöpfers in der Natur
Nicht nur dieser massiv vorgetragene ethische Anspruch hebt ihn von den Mystikern des hohen und späten Mittelalters ab, sondern auch eine besondere Aufmerksamkeit für die Natur. Zuweilen als pantheistisch ausgelegt, handelt es sich bei Böhmes darauf bezogenem Konzept eher um eine Art Panentheismus. Als deren „Seele“ (1: 247, 263) ist Gott aller (insofern auch ewigen) Natur zwar anwesend, geht in ihr aber nicht (geschweige denn völlig) auf. Mittels sieben Erscheinungsweisen manifestiert er sich, von Böhme meist „Qualitäten“ genannt (1: 85ff.), bisweilen auch „Geister“ (1: 129) oder „Räder“ (1: 177), den kabbalistischen Sephirot verwandt, die teils ‚abwärts‘, teils ‚aufwärts‘ gerichtet sind.
Auf „eine[r] grüne[n] und blühende[n] Wiesen“ kommt für ihn Gottes „wunderliche Kraft“ zum Vorschein: dort sei er („wiewohl es nur ein Gleichniß ist“) vorhanden (2: 77). Spuren des Schöpfers trägt sie an sich, dessen „Heiligkeit und Liebe“ würden aus ihr „offenbar“ (6/XV: 138; vgl. 6/XIV: 7). Alles dort ist über sich hinausweisende Chiffre und steht in geheimnisvoller Verbindung untereinander. In diesem Zeichencharakter bleibt die Natur nicht stumm. Ihre äußere Erscheinung ist Ausdruck inneren Sinns, „dem Suchenden“ (2: 77) als Schrift entzifferbar, die über ein Nicht-Sichtbares Auskunft erteilt. Musikalisch tönend auch, ein „Lauten-Spiel“ (6/XIV: 4), das genaues Hinhören erfordert.
Böhmes Signaturenlehre in seiner Schrift Von der Geburt und Bezeichnung aller Wesen6, ergänzend zu demjenigen der Heiligen Schrift die Annahme eines Texts der Natur, verrät ältere Einflüsse. Im Aufweis von Parallelen, Analogien und Korrespondenzen, von Makrokosmos und Mikrokosmos, dient sie nicht zuletzt der Selbsteinsicht des Menschen. Als Teil der Natur ist er hier mit gemeint, da erst recht er eine göttliche Signatur im Inneren trägt, „das Buch des Wesens aller Wesen“ repräsentiert, „dieweilen er die Gleichniß der Gottheit ist; das grosse Arcanum lieget in ihme, allein das Offenbaren gehöret dem Geiste GOttes“ (9/XXI: 79). „[S]o er sich nun recht kennet, so kennet er auch (GOtt) seinen Schöpfer, samt allen Creaturen“ (2: 7). Aus dem Artikulationsvermögen, mit dem der Mensch begabt wurde, leitet Böhme Folgerungen eines allen Sprachen zugrunde liegenden Alphabets ab, aus spezifischen Funktionen der einzelnen Vokale und Konsonanten nachgerade eine Buchstabenmystik.
Vom Initiationserlebnis zur anhaltend weltweiten Wirkung
Ungewöhnlich genug ist der Werdegang dieses Autors. Von Hause aus war er Schuhmacher, der sein Handwerk auch lange ausübte, ein vergrübelter Autodidakt. „Philosophus der Einfältigen“ (1: 256) nannte er sich, unterfüttert von Polemik gegen die sich überlegen dünkenden Akademiker. Dennoch tritt er gern mit der Autorität des exklusiv Wissenden auf.
Was ihm zuteil wurde, versteht Böhme als Anbruch eines vorgerückten Stadiums der Offenbarung, von Belang keineswegs allein für die Spiritualität. Der Titel bereits seines schriftstellerischen Debüts deutet darauf hin: [Aurora, oder] Morgenröthe im Aufgang. Abraham von Franckenberg, erster Biograph des Görlitzer Meisters, beschreibt ein Initiationserlebnis in der heimischen Stube, als dieser „im 25. Jahre seines Alters, zum andernmal vom Göttlichen Lichte ergriffen“ wurde, „und mit seinem gestirnten Seelen-Geiste durch einen gählichen [= plötzlichen] Anblick eines Zinnern Gefässes (als des lieblich Jovialischen [= göttlichen] Scheins) zu dem innersten Grunde oder Centro der geheimen Natur eingeführet“ (10: 10f.). „[S]o brach sein Geist durch“, erinnert Böhme selbst einmal daran, „nach etlichen harten Stürmen“ (1: 266). Er hatte die Überzeugung eines ihm zuteil gewordenen Vermögens zur Schau in die Mitte des Seins gewonnen – oder wie Angelus Silesius, der ihm manches verdankt, später formulierte: „Gottes Herz ist Jakob Böhmens Element“7.
Nachdem er gleich mit dem Erstling von 1612 Feindbild-Instinkte eines oberpastoralen Wächters der Rechtgläubigkeit aus seiner Heimatstadt ausgelöst hatte, entfaltet sich die eigene Produktivität, nach längerem Schweigen, erst wieder während der letzten sechs Lebensjahre, in rascher Sequenz dann. Beschreibung der Drey Principien Göttliches Wesens oder [V]on dem Dreyfachen Leben des Menschen lauten wichtige Titel (die ausnahmslos nicht er selbst zum Druck beförderte), Von der Menschwerdung Jesu Christi oder Der Weg zu Christo. Die letzte vollendete ist zugleich Böhmes umfangreichste Arbeit: Mysterium Magnum, eine theosophische Interpretation des Buchs Genesis.
Noch zu Lebzeiten werden seine Werke jenseits des deutschen Sprachraums bekannt. Eine enorme Wirkungsgeschichte nimmt damit ihren Ausgang. Über die Jahrhunderte hinweg erwies Böhmes Denken sich nach verschiedenen Richtungen hin als Faszinosum. Jener Epoche zumal, die vornan von einer eindimensionalen (ja totalitär werdenden) Aufklärung abrückte, der Romantik, hat es – gipfelnd in Novalis, Baader und Schelling – zu grundlegenden Impulsen verholfen.
Seit der Schwelle des 20. Jahrhunderts erfuhr der philosophus teutonicus eine Rezeption etwa in Wladimir Solowjows All-Einheits-Denken, Nikolai Berdjajews christlichem Existenzialismus sowie Leopold Zieglers großem Entwurf Menschwerdung, bei C. G. Jung ebenso wie durch die Anthroposophie. Weltweit sind von ihm ausgehende Anregungen innerhalb der Künste gegenwärtig (der Literatur besonders) – dort tendenziell, wo an der Selbstgewissheit jener Rationalität gerüttelt wird, welche die westliche Moderne hegemonial durchtränkt. Dadaisten, Expressionisten und Surrealisten haben sich auf Böhme berufen, maßgebliche Autoren vom Schlage eines James Joyce, Jacques Lacan (als früher Poet) oder Paul Celan, Nobelpreisträger auch wie William Butler Yeats, Nelly Sachs, Czesław Miłosz oder Peter Handke. In der Naturdichtung ist dies geschehen, ja selbst dem Kontext des geistigen Widerstands gegen den Nationalsozialismus (als einem mit ihm gedeutetem „Grimmen-Reich“ [4/VI: 66]), bis hin zur Phantastik und Science Fiction.
„Wer es verstehen kann, der verstehe es“, blickt der Autor spät auf seine Arbeiten zurück: „wer aber nicht […], deme habe ich nichts geschrieben […]. So aber ein Bruder durstig wäre und bäte mich um Wasser, dem gebe ich zu trincken“ (9/XXI: 59). Wenngleich sie fordernd ist, lohnt die Lektüre von Jacob Böhmes Schriften allemal. Zu entdecken, mit- und weiterzudenken gibt es dort viel, unter gegenwärtiger Perspektive durchaus.
1 J. Böhme, Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730. Hrsg. v. W.-E. Peuckert. 11 Bde. Stuttgart 1955ff. Hieraus wird im Folgenden nach Band und ggf. Nummer des Textes darin sowie der Seitenzahl zitiert. Die begonnene Historisch-Kritische Gesamtausgabe der Schriften und Briefe (hrsg. v. G. Bonheim) ist auf 30 Bde. angelegt, von denen zwei bereits erschienen sind (Stuttgart 2020ff.). Unter den neuesten Darstellungen erwähnt seien H. Krämer, Jakob Böhme Lexikon. Ein kleiner Beitrag Jakob Böhme besser zu verstehen. Ronneberg 2020; C. Brink / L. Martin (Hrsg.), Alles in allem. Die Gedankenwelt des mystischen Philosophen Jacob Böhme. Denken – Kontext – Wirkung. Dresden 2017; dies. (Hrsg.), Grund und Urgrund. Der Kosmos des mystischen Philosophen Jacob Böhme. Dresden 2017; T. Isermann, O Sicherheit, der Teufel wartet deiner! Jacob Böhme-Lektüren. Görlitz 2017; F. van Ingen, Jacob Böhme in seiner Zeit. Stuttgart-Bad Canstatt 2015.
2 Ausführlich dazu A. Gauger, Jakob Böhme und das Wesen seiner Mystik. Berlin 22000.
3 Zu diesem innerhalb der Böhme-Forschung eher vernachlässigtem Thema vgl. E. Glotzbach, Jacob Böhme und die geistliche Begleitung. Berlin – Münster 2017.
4 Dazu material- und kenntnisreich K. Schuff, Jakob Böhmes Sophia. Eine Einführung. Berlin 2014.
5 G. W. F. Hegel, Werke. Redaktion: E. Moldenhauer u. K. M. Michel. Bd. 20: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. Frankfurt a. M. 1971, 118.
6 Grundlegend dazu G. Bonheim, Zeichendeutung und Natursprache. Ein Versuch über Jacob Böhme. Würzburg 1992.
7 Angelus Silesius (J. Scheffler), Cherubinischer Wandersmann. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. L. Gnädinger. Stuttgart 1984, 347.