Geist & Leben 2/2017 - Christoph Benke - E-Book

Geist & Leben 2/2017 E-Book

Christoph Benke

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Beschreibung

Wie bereits im vergangenen Jahr, haben wir drei Autor(inn)en um Artikel zu einem österlichen Schwerpunkt gebeten: Diesmal ist es der in allen Evangelien vorkommende Hinweis auf Menschen, die bei der Kreuzigung "dabeistanden" (vgl. Mk 15,35 u.a.). Tobias Nicklas untersucht diese "Nachfolge der Übersehenen" im Markusevangelium; Jörg Nies SJ begibt sich auf eine "Standortsuche mit Pieter Bruegel d.Ä."; Margit Eckholt geht dem "Alltäglichen Glauben" nach. Roland Gröbli beleuchtet anlässlich des 600. Geburtstages des Niklaus von Flüe Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des sog. Bruder-Klausen-Gebetes. Hermann Kügler SJ stellt mit der Frage "Für immer berufen?" einen Diskussionsbeitrag aus ignatianischer Perspektive vor. Andreas Ruffing prüft, inwiefern die Abrahamsgeschichte als ein Text für Männer von heute gelesen werden kann. Ludger-Schwienhorst-Schönberger zeigt inhaltliche und sprachliche Neuerungen der revidierten Einheitsübersetzung auf. Hans Zollner SJ nähert sich der schwierigen Frage, welche spirituellen Haltungen sexuellen Missbrauch begünstigen. Das Thema "Scheitern" aus theologischer Perspektive ist Gegenstand des aktuellen Artikels in der Rubrik Junge Theologie von Alexander Gaderer. Im Beitrag "Hebammendienst an der Welt" geht Thomas Ruster dem Motiv der Schöpfungsmittlerschaft Christi auf den Grund. Andreas Hahn reflektiert "Neopentecostale Spiritualität" in evangelischer Perspektive. Paul Zahner OFM berichtet von einer Tagung über "Die Franziskaner und die Reformation". In der Lektüre beginnen wir eine Reihe mit drei Texten aus der Feder von Michel de Certeau SJ, die der Übersetzer Andreas Falkner SJ hier auch inhaltlich einleitet.

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Inhalt

Heft 2 | April-Juni 2017

Jahrgang 90 | Nr. 483

Notiz

Was heißt Reform?Christoph Benke

Nachfolge

„Bruder Clausen gewonliches gebeth“. Zum 600. Gedenkjahr des Niklaus von FlüeRoland Gröbli

Für immer berufen? Ein Diskussionsbeitrag aus ignatianischer PerspektiveHermann Kügler SJ

„In ein Land, das ich dir zeigen werde …“ Abraham für Männer anders gelesenAndreas Ruffing

Nachfolge | Kirche

Die Nachfolge der ÜbersehenenTobias Nicklas

Kreuzigung ohne Zuschauerplatz. Eine Standortsuche mit Pieter Bruegel d. Ä.Jörg Nies SJ

Alltägliches Glauben. Dabeistehen – von weitem Zusehen – VorbeikommenMargit Eckholt

Die revidierte EinheitsübersetzungLudger Schwienhorst-Schönberger

„Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Spiritualität und der Umgang mit MissbrauchHans Zollner SJ

Nachfolge | Junge Theologie

Will Gott uns Menschen scheitern sehen?Alexander Gaderer

Reflexion

Hebammendienst an der Welt. Zum Motiv der Schöpfungsmittlerschaft ChristiThomas Ruster

Neopentecostale Spiritualität. Eine evangelische PerspektiveAndreas Hahn

Die Franziskaner und die Reformation. Ein TagungsberichtPaul Zahner OFM

Lektüre

„Geschichte verspüren“. Eine Hinführung zu drei Texten von Michel de Certeau SJAndreas Falkner SJ

Die Pilger von EmmausMichel de Certeau SJ

Buchbesprechungen

Impressum

GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christliche Spiritualität. Begründet 1926 als Zeitschrift für Aszese und Mystik

Erscheinungsweise: vierteljährlich ISSN 0016–5921

Herausgeber:

Deutsche Provinz der Jesuiten

Redaktion:

Christoph Benke (Chefredakteur)

Anna Albinus (Lektorats-/Redaktionsassistenz)

Redaktionsbeirat:

Bernhard Bürgler SJ / Wien Margareta Gruber OSF / Vallendar Stefan Kiechle SJ / München Bernhard Körner / Graz Simon Peng-Keller / Zürich Jörg Nies SJ / Rom Andrea Richter / Berlin Klaus Vechtel SJ / Frankfurt

Redaktionsanschrift:

Pramergasse 9, A–1090 Wien

Tel. +43–(0)1–310 38 43–111/112

[email protected]

Artikelangebote an die Redaktion sind willkommen. Informationen zur Abfassung von Beiträgen unter www.geistundleben.de. Alles Übrige, inkl. Bestellungen, geht an den Verlag. Nachdruck nur mit besonderer Erlaubnis. Werden Texte zugesandt, die bereits andernorts, insbesondere im Internet, veröffentlicht wurden, ist dies unaufgefordert mitzuteilen. Redaktionelle Kürzungen und Änderungen vorbehalten.

Der Inhalt der Beiträge stimmt nicht in jedem Fall mit der Meinung der Schriftleitung überein.

Für Abonnent(inn)en steht GuL im Online-Archiv als elektronische Ressource kostenfrei zur Verfügung. Registrierung auf www.geistundleben.de.

Verlag: Echter Verlag GmbH,

Dominikanerplatz 8, D–97070 Würzburg

Tel. +49 –(0)931–660 68–0, Fax +49– (0)931–660 68–23

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Visuelle Konzeption: Atelier Renate Stockreiter

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

Bezugspreis: Einzelheft € 12,50 (D) / € 12,90 (A)

Jahresabonnement € 42,00 (D) / € 43,20 (A)

Studierendenabonnement € 28,00 (D) / € 28,90 (A)

jeweils zzgl. Versandkosten

Vertrieb: Zu beziehen durch alle Buchhandlungen oder direkt beim Verlag. Abonnementskündigungen sind nur zum Ende des jeweiligen Jahrgangs möglich. Auslieferung: Brockhaus Kommissionsgeschäft GmbH, Kreidlerstraße 9, D–70806 Kornwestheim Auslieferung für die Schweiz: AVA Verlagsauslieferung AG, Centralweg 16, CH–8910 Affoltern am Alibs Auslieferung für Österreich: Buchzentrale GmbH, Kapitelplatz 6, A–5010 Salzburg

Diesem Heft liegen folgende Prospekte bei: Ignatianische Impulse, echter Verlag Angewandte Pastoralforschung, echter Verlag Wir bitten um Beachtung.

Christoph Benke | Wien

geb. 1956, Priester, PD Dr. theol. habil, Schriftleiter von GEIST & LEBEN

[email protected]

Was heißt Reform?

Öffentlich-politische Debatten haben nicht selten den Anschein, als seien sie rituell festgelegt. Läuft in der Gestaltung des Gemeinwesens etwas schief, lässt der Ruf nach Reform nicht lange auf sich warten. Ohne genau im Bilde zu sein, was denn mit „Reform“ genau gemeint sei, gibt der Wunsch danach der Empfindung – oder manchmal der Wut – Ausdruck: So geht es nicht weiter, es muss sich etwas ändern! Dann steht eine Steuer-, Bildungs-, Heeresreform oder gleich eine Reform der EU und ihrer Institutionen auf der Agenda. Die Zentralen der westeuropäischen Kirchen sind seit Jahren mit sog. Struktur-Reformen beschäftigt.

Was bedeutet Reform? Nimmt man die Herkunft des Begriffes (lat. reformare: erneuern, umgestalten) – und nur diese –, würde es um die Wiederherstellung der ursprünglichen Gestalt gehen. Bliebe man dabei stehen, wäre das Ergebnis allerdings „Restauration“. Aber Identität ist nur geschichtlich zu haben. Deshalb setzt Reform Geschichte und Entwicklung voraus: In einem bestimmten historischen Zeitpunkt muss Identität verdeutlicht, nachjustiert, erneuert werden. Damit hat Reform mehrere Blickrichtungen: eine zurück zum Ursprung, eine in die Gegenwart und eine in die Zukunft. Die Treue zum Ursprung ebenso wie der Blick in die Tradition kann dazu führen, dass Reform auf Neuansatz hinausläuft, weil „neuer Wein in neue Schläuche“ (Lk 5,38) gehört. Die Geschichte des Christentums, der Kirche, der Orden beweist: Es gibt nicht nur eine Reform, sondern die Reform der Reform (der Reform) …

Nach Mk 1,15, einer Zusammenfassung seiner Verkündigung, hatte Jesus mit der Sammlung des Volkes Israel zugleich eine umfassende Reform im Blick. „Umkehr“ (griech. metanoia) war wesentlicher Teil der angestrebten Erneuerung. Die Zeit war dafür reif („erfüllt“). Jetzt, angesichts der andrängenden und alles über den Haufen werfenden Nähe des Reiches Gottes, sollte sich alles und alle (Individuum und Gesellschaft, Religion, das Volk Israel) neu ordnen und gestalten. Bedingung ist, das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit allem vorzuordnen. Dann wird alles neu – gegeben (Jes 43,19; Offb 21,5).

Ist geistliches Leben nicht der ständige Versuch, die Priorität des Reiches Gottes ernst zu nehmen? Reform ist, spirituell gesehen, stets dran, allerdings als etwas, was sich am und im glaubenden Individuum ereignet – wenn es der Mensch nur zulässt. Reform ist nach Paulus Verwandlung durch den Geist des Herrn (vgl. 2 Kor 3,18). Ja, der aktive und der passive Anteil sind auszubalancieren, aber vom Menschen ist eher eine durch Verlangen beseelte Passivität erwartet.

Christsein ist Christwerden. Christsein ist ein Prozess des Wachsens und Werdens, grundgelegt in Glaube und Taufe. G. Fuchs spricht von „Rhythmen der Christwerdung“. Die Zielgestalt ist Christus, der neue Mensch (vgl. LG 22). Über die Transformation und Konfiguration hin zur conformitas cum Christo, darin besteht nach klassischer geistlicher Lehre die Reform vom alten zum neuen Menschen hin. Das meint wohl auch Eph 4,13: „So sollen wir alle zur Einheit im Glauben und in der Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen, damit wir zum vollkommenen Menschen werden und Christus in seiner vollendeten Gestalt darstellen.“

Die Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola sind dazu da, „sein Leben zu ordnen“ (GÜ 22). Wer „das eigene Leben bessern und reformieren“ will (GÜ 189), dem rät der Ordensgründer zweierlei: Zum einen wäre es nötig, sich das Ziel menschlichen Lebens vor Augen zu halten, nämlich Gott die je größere Ehre zu erweisen. Das, und nichts anderes, sollte der glaubende Mensch wollen und in allem und durch alles hindurch im Blick behalten. Dem steht freilich der Egoismus des Menschen entgegen. Deshalb fügt Ignatius hinzu: „Denn jeder bedenke, dass er in allen geistlichen Dingen soviel Nutzen haben wird, als er aus seiner Eigenliebe, seinem Eigenwillen und Eigeninteresse herausginge.“ (GÜ 189)

Das hat sich auch die Kirche in all ihren notwendigen und drängenden Reformvorhaben vorzusagen: Eigentlich geht es darum, sich selbst zu vergessen, die Eigeninteressen hinter sich zu lassen und sich in den Dienst der Welt zu stellen. Das ist Sendung der Kirche von Jesus her. Doch was fängt ein Generalvikar oder eine bischöfliche Finanzverantwortliche angesichts der Verantwortung für viele hundert Mitarbeiter(innen) mit diesem markigen und sicherlich richtigen Satz an? Die konkrete Umsetzung müsste also etwas von dieser geistlichen Übersetzungskunst atmen. Denn dass Geistliches und Strukturelles zusammengehören, Strukturfragen auch als Gottesfragen zu behandeln sind, Ekklesiologie an Spiritualität gebunden ist – das ist (römisch­)katholisch!

Auf den Wandel, den Geschichte mit sich bringt, nicht zu reagieren, ist mitunter bedrohlich. Denn es gibt einen Zeitpunkt, an dem Reform nicht mehr möglich ist und das Ganze in Folklore endet. So ist auch der Geist der Reform einzuüben, täglich, nicht zuletzt deshalb, weil in Zeiten der Übergänge und der Krisen das Urteilsvermögen bedroht ist. Dann ist Unterscheidung gefragt. Dabei ist es ja nicht so entscheidend, wo sich jemand befindet, sondern in welche Richtung sich jemand bewegt.

Roland Gröbli | Dachsen (CH)

geb. 1960, Dr. phil., Präsident des Wissenschaftlichen Beirats für „600 Jahre Niklaus von Flüe“, Vorstandsmitglied im gleichnamigen Trägerverein, Projektleiter und Co-Hrsg. der offiziellen Gedenkpublikation

[email protected]

„Bruder Clausen gewonliches gebeth“

Zum 600. Gedenkjahr des Niklaus von Flüe (1417–1487)

Als Niklaus von Flüe am 21. März 1487 starb, wurde sein Tod am herzoglichen Hof von Sigismund von Österreich (1427–1496) ebenso vermerkt wie in Nürnberg, Augsburg oder Straßburg. Der mailändische Gesandte in der Eidgenossenschaft entschuldigte sich bei seinem Herzog weniger als einen Monat nach dessen Hinschied, dass er „wegen Geschäftsüberlastung“ erst mit Verspätung mitteile, dass „der Einsiedler von Unterwalden am 21. des vergangenen Monats aus der Welt geschieden“ sei. Die Angabe des Todestages und die Entschuldigung für die späte Mitteilung zeigen die Bedeutung, die er diesem Tod beimaß. Dies umso mehr, da, wie er fortfuhr, „jedermann“ in Erwartung weiterer Wunder stehe.1

Der Einsiedler im Ranft berührte die Menschen seiner Zeit in ihrem Innersten. Aus nah und fern reisten Männer und Frauen herbei, um sich von Bruder Klaus, wie er als Einsiedler genannt wurde, beraten und stärken zu lassen. Und in den Jahren und Jahrzehnten nach seinem Tod zitierten Persönlichkeiten wie Johannes Trithemius (1462–1516), Martin Luther (1483–1546) oder Jakob Wimpfeling (1450–1528) Bruder Clausen von Unterwalden mit großer Selbstverständlichkeit, weil er über die Grenzen der Eidgenossenschaft hinaus eine historische und religiöse Größe blieb.

Bis heute halten die Verbundenheit und die Kraft, die von ihm ausgehen, an. Das hat auch, aber nicht nur, mit seinem Gebet, dem Bruder-Klausen-Gebet, zu tun. Seit Beginn der schriftlichen Aufzeichnung wird dieses Reimgebet übereinstimmend Bruder Klaus von Flüe zugeschrieben, obwohl zu Lebzeiten keiner seiner Besucher Näheres über ein vom Eremiten bevorzugtes Gebet geschrieben hatte.

Die sperrige Version oder das existenzielle Scheitern

Die philologisch wie auch theologisch maßgebliche Studie zu „Bruder Clausen gewonliches gebeth“ publizierte im Jahr 1981 der langjährige Schweizer Fundamentaltheologe Heinrich Stirnimann OP (1920–2005).2 In seinen geradezu skrupulösen Texterörterungen kommt er zum Schluss, dass das Gebet zur authentischen Bruder-Klausen-Überlieferung gehöre. Er schließt einen aktiven Anteil Klausens an der Artikulierung des Gebets nicht aus,3 obwohl die Authentizität bzw. eben Nicht-Authentizität nur nachweisbar wäre, wenn eine ältere Vorlage des ganzen Wortlauts gefunden würde.4

Für seine Studie stützte sich Stirnimann v.a. auf die sechs ältesten handschriftlichen Zeugen (entstanden um 1500 bis 1530) und die zehn frühesten Drucke (produziert zwischen 1531 und 1586), in denen mit einer Ausnahme das Gebet explizit Bruder Klaus zugeschrieben wird.5 Bemerkenswert ist, dass von den frühen Druckschriften nur drei von katholischen, sieben dagegen von reformierten Autoren verfasst wurden. Dies belegt und bestätigt eindrücklich die frühe und intensive Beachtung des eidgenössischen Mystikers als „vorbildhaften, unumstrittenen Glaubenszeugen“6 bei den Anhänger(inne)n des nüwen glaubens.

Drei Bitten – zwei verschiedene Reihenfolgen

Diesen frühen Textzeugen des Gebets gemeinsam sind drei Bitten, wobei Anrede, Zahl der verwendeten Wörter und genauer Wortlaut teilweise unterschiedlich ausfallen. Wer sich in diese Fragen vertiefen will, dem sei die Studie von Stirnimann wärmstens empfohlen. An dieser Stelle gehe ich nur auf die unterschiedliche Struktur der Bitten ein: In allen frühen Handschriften entspricht deren Reihenfolge nicht der heute üblichen Anordnung:7

Ältere Version

Jüngere Version

Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir.

Mein Herr und mein Gott, nimm alles von mir, was mich hindert zu dir.

Mein Herr und mein Gott, gib alles mir, was mich fördert zu dir,

Mein Herr und mein Gott, gib alles mir, was mich fördert zu dir.

Mein Herr und mein Gott, nimm alles von mir, was mich hindert zu dir.

Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir.

Stirnimann geht in Übereinstimmung mit dem Germanisten Kurt Ruh (1914–2002) davon aus, dass die ältere Version aus einer Prosaversion hervorgegangen sei.8 Ernst Ludwig Rochholz (1809–1892)9 verwies bereits 1875 auf die inhaltliche Nähe des Bruder-Klausen-Gebets zu Heinrich Seuse (1295/7–1366): „Ich gebe mich dir und nehme dich mir und vereine dich mit mir; du verlierst dich und wirst in mich verwandelt.“10 Dieser Satz findet sich im Büchlein der ewigen Wahrheit (Kap. 23), das vom Altarssakrament handelt, einem Thema, das Bruder Klaus besonders beschäftigte. Bei Seuse steht dieser Satz unmittelbar vor dem Diktum des Augustinus (gest. 354): „Nec tu me in te mutabis (…), sed tu mutaberis in me.“11 Ein schlüssiger Beweis, dass das Gebet von Bruder Klaus auf den direkten Einfluss eines älteren Textes zurückzuführen ist, liegt allerdings nicht vor.

Der absolute Anspruch

Bedeutsamer als diese letztlich nicht klärbare Frage eines direkten Einflusses ist m.E., dass in diesem Gebet eine völlige Hin- und Übergabe, ein absoluter Anspruch auf Vereinigung mit dem göttlichen Du angesprochen ist. Im Bruder-Klausen-Gebet (und im Zitat Seuses) gibt es, ganz im Sinne des platonischen Weltbildes, nur zwei Pole: das eigene Ich und das absolute Du Gottes.12 Die absolute Übergabe an den Anfang des Gebets zu stellen, lässt erahnen, dass dieser Anspruch möglicherweise zu hoch ist. Tatsächlich entspricht diese Reihenfolge der persönlichen schmerzhaften Erfahrung des späteren Ranfteremiten. Am Anfang seines eremitischen Weges steht nämlich ein existenzielles Scheitern. Dazu gehört, dass er vor seinem Weggang Visionen erlebte, die ihn beunruhigten, die er damals aber nicht verstand. Er wusste, was Gott von ihm wollte. Er war deshalb überzeugt, dass diese verstörenden Erfahrungen Versuchungen des Teufels waren, denen es zu widerstehen galt. Eine Stimme aus der Wolke lachte ihn aus, so könne er Gott nicht gewinnen; drei Edelleute machten sich über seinen Anspruch, ganz Gott zu gehören, lustig, und andere visionäre Erfahrungen mehr. Entspricht sein damaliges Verständnis seiner ersten, so absolut formulierten Bitte: nim mych min und gib mych ganz zuo aigen dir?

Als Niklaus von Flüe um 1465 alle politischen Ämter niederlegte, waren die beiden nächsten Jahre, gemäß seinen eigenen Aussagen, geprägt von Depressionen, Zweifeln und Phasen der Niedergeschlagenheit. In dieser Zeit suchte er den Rat seines priesterlichen Freundes Heinrich Amgrund, der ihm zu regelmäßigen Betrachtungsübungen riet. Aus heutiger Sicht lässt sich sagen, dass in diesen Jahren der langjährige Konflikt zwischen dem erfolgreichen äußeren Lebensweg als Ehemann, Vater, Bauer und Ratsherr und dem inneren Lebensweg als Gottsucher, Fastender und Beter zu einem geradezu gewaltsamen Ausbruch kam und nach einer definitiven Lösung verlangte. Am 16. Oktober 1467 verließ er daher die Familie in der Absicht, als Pilger sein Seelenheil im ellend, im Ausland, zu suchen. Das genaue Ziel kennen wir nicht. Hingegen betonte er selbst, dass seine Frau und seine Kinder – dabei ist an die ältesten Söhne zu denken – mit diesem Schritt einverstanden waren. Heute ist breit anerkannt, dass dieser neue Lebensweg ohne das Einverständnis seiner Frau Dorothee Wyss (die Frauen behielten damals ihren Familiennamen) nicht denkbar gewesen wäre. Wie vor einer langen und ungewissen Pilgerreise üblich, ordnete er den Nachlass und vertraute Hof und Familie den erwachsenen Söhnen an.

Sein Weg führte ihn nach Liestal, heute der Hauptort des Schweizer Kantons Baselland, wo er eine existenzielle Krise durchlebte, die seine Pläne zunichtemachte und ihn vorzeitig zur Rückkehr zwang. Von diesem Tiefpunkt seines Lebens wissen wir mit erstaunlicher Ausführlichkeit, weil er selbst darüber sprach. Nach Gesprächen mit seinem Beichtvater, der den verunsicherten und zutiefst erschrockenen Mann beruhigen konnte, und von Visionen geleitet, ließ er sich schließlich im Ranft nieder, einer nur wenige 100 Meter von seinem Wohnhaus entfernt gelegenen Hangterrasse. Hier hatte er schon als Jüngling von seinem inneren Drang nach einem Leben in der Abgeschiedenheit erfahren und sich immer wieder zum Gebet zurückgezogen. Diesen vertrauten Ort wählte er nach jenem schmachvollen und schmerzhaften Umweg für sein Leben in der Abgeschiedenheit. Freunde bauten ihm eine Kapelle und eine Klause. Einen Großteil des Tages widmete Bruder Klaus, wie er sich nun nannte, der Betrachtung und dem Gebet.

Die mystischere Version oder der dreistufige Weg

Gerade wegen ihres biographischen Bezugs könnte die ältere Version als die stärkere und fundamentalere gelten, durchgesetzt hat sich über die Zeit jedoch die jüngere Version. Diese Fassung findet sich erstmals bei Adam Walasser († 1581), der 1569 den Pilgertraktat von 1488 samt einigen Zusätzen in Dillingen an der Donau (Bayern) neu herausgab.13 In dieser seither nur wenig veränderten Fassung fehlt das Bruder-Klausen-Gebet als Zitat, als gestaltetes Wortelement oder auf Kerzen und anderen Kultgegenständen in keiner der über 200 ihm weltweit geweihten Kirchen und Kapellen. Die hohe Wertschätzung für dieses kurze, einprägsame Gebet wird auch daraus ersichtlich, dass es Eingang in den katholischen Weltkatechismus gefunden hat und als Nr. 226 im ersten Teil zitiert wird, wo es um den Glauben an den einzigen Gott geht, in prominenter Nachbarschaft von Teresa von Avilas Nada te turbe (Nr. 227).14

In seinem Aufbau entspricht das Gebet nun dem dreistufigen Weg der Mystik:15 Die erste Bitte entspricht der Stufe der Reinigung („Nimm alles von mir“). Sie gehört zum anfangenden Menschen und geschieht auf dreifache Weise: Reue und Läuterung von den Sünden, Beichte und vollkommene Buße. Der Mensch muss sich von all dem lösen, das von ihm selbst ist. Davon sprach Johannes Tauler (um 1300–1361), als er schrieb, jeder Ausgang sei der Ausgang aus sich selber und jeder Eingang sei ein Eingang zu Gott.

Die zweite Bitte entspricht der Stufe der Erleuchtung („Gib alles mir“). Sie gehört zum zunehmenden Menschen und geschieht ebenfalls auf dreifache Weise: Verschmähung der Sünde, Verwirklichung der Tugend und guter Werke und ein williges Erleiden aller Anfechtungen und Widerwärtigkeiten. Es ist der Mensch, der nichts für sich will und darum auch das Missgeschick annehmen kann. Ihm genügt, was Gott für ihn will.

Die dritte Bitte entspricht der Stufe der Vereinigung („Nimm mich mir und gib mich ganz zu Eigen Dir“). Sie gehört zum vollkommenen Menschen und äußert sich auf folgende Weise: Reinheit und Lauterkeit des Herzens in göttlicher Liebe und in der Beschauung Gottes des Schöpfers in allen Dingen. Der vollkommene Mensch, der sich von seiner Ichbezogenheit gelöst hat, wird fähig, die ihn umgebende Welt nicht länger als Objekt seiner selbst, sondern als Schöpfung Gottes und darin Gott selbst zu erkennen.

Der kürzlich verstorbene Kapuziner und Autor Anton Rotzetter (1939–2016) ist allerdings der Meinung, dass diese der Überlieferung gemäß jüngere Version dennoch die richtige und deshalb ältere sei, da sie dem Aufstiegsschemata der abendländischen Mystik entspreche. Seine Version des Gebets lautet so:16

Via purgativa: Reinigung

O mein Gott und mein Herr

nimm alles von mir

Das mich hindert gegen Dich!

Via illuminative: Erleuchtung

O mein Gott und mein Herr

gib alles mir

Das mich fördert zu Dir!

Via unitiva: Einigung

O mein Gott und mein Herr

nimm mich mir

Und gib mich ganz zu eigen Dir!

Anerkennung oder Anruf Gottes?

Ob jünger oder älter, authentischer oder weniger authentisch, sicherlich entspricht diese jüngere Version unserer Logik und erhält eine Harmonie, welche der älteren Fassung abgeht.17 Diese bewahrt sich dafür eine gewisse Sperrigkeit, die auch dem Ranfteremiten selber eigen ist. Zwar war Rupert Amschwand (1916–1997) überzeugt, dass die Zukunft der älteren Version gehöre, da sie eine höhere Gebetsintensität aufweise,18 durchgesetzt hat sich aber diese mystischere Fassung. Und mit der Aufnahme in den Weltkatechismus liegt das Gebet in einer Fassung vor, die in allen übrigen Kultursprachen maßgebend werden dürfte.

Aufmerksame Leser(innen) haben jedoch sicherlich bemerkt, dass Rotzetter eine andere Einleitung verwendet, denn jene, welche im Weltkatechismus steht. Wie heißt es richtig? „O mein Gott und mein Herr“ oder „Mein Herr und mein Gott“, also ohne „O“ und „Herr“ vor „Gott“? Nun, es gibt keine ipsissima verba, in den frühen Textzeugen lässt sich keine eindeutige Einstiegsformel definieren. Die heute übliche Version wird wohl zurecht auf Joh 20,28 zurückgeführt: „Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott!“ Es ist dies der Ausruf des Apostels Thomas vor dem Auferstandenen, das erste explizite Osterbekenntnis und damit eine Schlüsselstelle. Demgegenüber erinnert die Voranstellung des Wortes „Gott“ an Mk 15,34: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ und damit an die Stunde größter (Gott-)Verlassenheit.

Ein Gebet geht um die Welt

Heute verehren sehr viele Menschen Niklaus von Flüe und schätzen ihn hoch, weil sie ihn und seine Kernbotschaften nicht mit einer konfessionellen Zugehörigkeit in Verbindung bringen. Sein Weg ist, wie selbst in diesem groben Überblick deutlich geworden ist, nicht frei von Brüchen, von Zweifeln, von Fragen ohne Antworten, von einem Suchen, das zu Irrwegen geführt hat. Er ist kein „einfaches“ Vorbild. Gerade damit berührt er heute Menschen in ihrem Innersten. Sie wissen sich von ihm als gläubige und suchende Menschen verstanden und getragen. Vielen ist dabei sein Gebet ein täglicher Begleiter, wie die folgenden drei Beispiele eindrücklich belegen. Der offizielle Gedenkband Mystiker Mittler Mensch zu 600 Jahre Niklaus von Flüe enthält mehrere Beiträge, welche sich explizit und teils auf überraschende Weise mit dem Gebet auseinandersetzen.

Das Gebet um Versöhnung

Für den gebürtigen Libanesen Nabih Yammine (*1945), dem Gründer der spirituellen Allianz zwischen dem hl. Charbel Makhlouf (1828–1898) und Bruder Klaus, ist dieses Gebet eine Anleitung auf dem „Weg der Versöhnung“. Friede, im Kleinen genauso wie nach einem langen und blutigen Krieg, sei nur möglich mit Versöhnung (franz. réconciliation) und Heilung (franz. guérison). „Versöhnung heißt in diesem Kontext“, so Yammine: „den eigenen Hass, die eigene Wut zu überwinden, oder noch besser: den eigenen Hass loszulassen, von ihm frei zu werden, und Heilung bedeutet, sich neu mit der positiven Energie des Friedens zu füllen.“19

Das Gebet um Gelassenheit

Der bayerische Landvolkpfarrer Josef Mayer (*1960) deutet das „Gebet um Gelassenheit“20, ganz im Sinne des bedeutenden Bruder-Klausen-Biografen Pirmin Meier (*1947), aus unserem Alltag heraus und schließt seine Betrachtung mit den Worten: „Das tiefste Geheimnis aber liegt im Lassen. Wir Menschen wollen machen, machen, und immer wieder machen. Machen, so lange, bis wir gar nicht mehr können. Ich nehme mich da keinesfalls aus. Erst wenn mir eine letzte Grenze aufgezeigt wird, bin ich bereit, etwas loszulassen, es in Gottes Hände zu übergeben. Wie gerne hätte ich in einer sehr verzwickten Familiengeschichte, die mir in den letzten Monaten zugemutet worden ist, den Löser gespielt. Aber ich musste feststellen, dass hier nur mehr abgeben und loslassen geht, weil es letztlich nur einen Löser, den Erlöser gibt. Er löst! Ich bin höchstens ein mehr oder weniger guter Handlanger. Es war das Gebet, das dann doch noch eine Lösung möglich machte, mit der sich leben ließ. Das ungeheure Vertrauen des Niklaus von Flüe ist es, was ich brauche, was wir brauchen. Aber es ist Geschenk, und es kann nur täglich neu immer wieder von uns erbeten und erbetet werden.“21

Gebet am Sterbebett

Eine sehr persönliche Erfahrung beschreibt der bekannte Schweizer Theologe und Buchautor Pierre Stutz (*1953). Als 1982 seine Mutter an einer tödlichen Krebserkrankung litt, betete sie jeden Abend mit ihrer Familie, die sie zuhause pflegte, das Bruder-Klausen-Gebet. Daran anschließend schreibt er: „Jeden Tag sterben wir kleine Ego-Tode durch unsere kleinen Enttäuschungen und unsere durchkreuzten Lebenspläne. Jeden Tag können wir noch mehr eintauchen in unseren Friedensgrund, um zu entdecken, dass das Wesentliche schon da ist (…) Es hat meine Mutter vertrauensvoll in die Ewigkeit begleitet. Es drückt für mich bis heute meine tiefe Hoffnung aus, dass wir im Leben und im Sterben in Gottes Liebe hineingeboren werden.“22

Befreiendes, öffnendes Gottesverständnis

Bereits diese drei Beispiele zeigen, wie modern und zeitlos die grundlegenden Wahrheiten von Niklaus von Flüe bis heute sind. Dazu tragen neben dem Gebet zwei „Träger“ bei, die in der symbolischen und zeichenhaften Vermittlung von Niklaus von Flüe und seiner Botschaften eine besondere Rolle spielen, das Radbild und der Ranft, sein Ort der Einsamkeit.23

„So ist das göttliche Wesen“

Das Radbild ist das Niklaus von Flüe am zutreffendsten charakterisierende Symbol. „Siehst Du diese Figur?“, fragte er einen Besucher und erklärte ihm: „So ist das göttliche Wesen. Der Mittelpunkt ist die ungeteilte Gottheit.“ Von diesem Mittelpunkt gehe die göttliche Gewalt aus, umfasse den Himmel und alle Welt, führe wieder hinein und sei unteilbar in ewiger Macht. Gott war und blieb für ihn das Zentrum seines Denkens und Handelns. Die Schlichtheit des Niklaus von Flüe entspricht seinen scheinbar so einfachen Kernaussagen. Wie anspruchsvoll, wie unergründlich tief „dieses Buch, in dem ich lerne“ tatsächlich ist, wird nur dem bewusst, der sich näher darauf einlässt.

Ranft: Ort der Stille, des Gebets

Der dritte „Träger“ ist der Ranft. Dieser identitätsstiftende, spirituelle Kraft- und Sehnsuchtsort nahe dem geografischen Zentrum der Schweiz steht – zusammen mit Bruder Klaus als herausragende und geschichtswirksame Vermittlerfigur – für ein Ankommen wie für ein Mehr an Rückzug und Reflexion, ein Mehr an Ruhe und Meditation, ein Mehr an Gelassenheit und Genügsamkeit, ein Mehr an Zuhören und ein Weniger an Ich-Bezogenheit. Es ist ein Ort der Stille, des Gebets, eine Oase des Friedens und Innehaltens.

Der Ranft ist sowohl ein geografisch definierbarer Raum wie die Bezeichnung für einen Sehnsuchtsort, der letztlich irgendwo sein kann. Diesem Bedürfnis nach Stille tragen viele Kirchen und spirituelle Orte Rechnung und bieten spezielle Räume der Stille an, die nicht selten den Namen „Ranft“ tragen oder auf andere Weise mit Niklaus von Flüe verknüpft werden.

Unio mystica in der Pilgervision

In einer der drei großen Visionen hört Bruder Klaus eine Stimme, die die Gegend und das Erdreich füllt, und alles, was zwischen Himmel und Erde ist. Es kam aus einem Ursprung und kehrte an einen Ort zurück. „Er hatte drei vollkommene Worte gehört, von denen keines das andere berührte, und er konnte doch nur von einem Wort sprechen.“ Demselben Besucher, den wir als Autoren des Pilgertraktats kennen, verriet er, dass Gott, – er erwähnte dies im Zusammenhang mit der geweihten Hostie –, „in jedem Partikel“ mit seiner Allmächtigkeit vollkommen sei.

Dies ist kein Zitat eines Genforschers, der uns über neuste Erkenntnisse in der DNA-Analyse informiert, es stammt von einem Bauern vom Flüeli, der dort vor 600 Jahren auf die Welt kam. Gott ist überall und im kleinsten Partikel so vollkommen wie im ganzen Universum gegenwärtig. Er setzt damit dem mechanischen Welt- und Gottesbild des Mittelalters ein dynamisches Welt- und Gottesbild entgegen, das an Modernität bis heute unübertroffen ist: „Da erkannte er [Niklaus von Flüe] an ihm solche Liebe, (…) dass er in sich geschlagen war, und erkannte, (…) dass die Liebe in ihm war.“24 So lautet in der Pilgervision der entscheidende Satz, der im Kontext christlicher Mystik als unio mystica, als mystische Vereinigung mit Gott bezeichnet wird. In dieser Vision begegnet er der Kraft der Liebe. Die Kernaussage ist so einfach wie umwerfend: Gott liebt den Menschen. Diese Erfahrung gibt er auch an uns weiter.