Geist & Leben 1/2023 - Christoph Benke - E-Book

Geist & Leben 1/2023 E-Book

Christoph Benke

0,0

  • Herausgeber: Echter
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

GuL 96 (2023), Heft 1 Januar-März 2023 n. 506 Notiz Edith Kürpick FMJ Zeitalter ohne Gottesglaube? [3-4] Nachfolge Peter Steinbach Gemeinsames Leben – angesichts des Todes. Der Tegeler Gefängnisgeistliche Harald Poelchau [6-15] Simon Peng-Keller Arte contemplativa. Die Ikonographie Josua Boeschs [16-21] Felix Körner SJ Miteinander beten. Momente, in denen wir bezeugen, dass Gott in unserem Leben wirkt [22-30] Martin Koop Unter einem Dach. Leben und Beten in einer multireligiösen Gemeinschaft [31-38] Nachfolge | Kirche Philipp Müller Die Versuchung zur Macht [39-47] Georg Lauscher Macht und Dienst. Von der Kraft einer schwachen Seelsorge [48-56] Patrick Oetterer / Hannah A. Schulz Missbrauch von und in Seelsorge [57-64] Jens Brückner Die Mitte der Zerbrechlichkeit. Die "Glasmonstranz" des Klosters Sießen [65-68] Nachfolge | Junge Theologie Marion Ranke Ekstatische Gotteserfahrung? Gedanken zur göttlichen Inspiration [69-73] Reflexion Benedikt Rediker Zwischen Auflehnung und trauriger Skepsis. Glaube angesichts von Protest-Atheismus und melan- Cholischem Agnostizismus [74-82] Andreas Riedl Zugänge zum Heiligen. 1622-2022 [83-90] Tonke Dennebaum Von Gott reden wie die Propheten. Edith Stein und Dionysius Areopagita [91-101] Lektüre Michael Rosenberger Der Glaube kommt vom Hören. Podcasts ignatianischer Spiritualität [102-108] Buchbesprechungen [109-110]

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 194

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Heft 1 | Januar–März 2023

Jahrgang 96 | Nr. 506

Notiz

Zeitalter ohne Gottesglaube?

Edith Kürpick FMJ

Nachfolge

Gemeinsames Leben - angesichts des Todes. Der Tegeler Gefängnisgeistliche Harald Poelchau

Peter Steinbach

Arte contemplativa. Die Ikonographie Josua Boeschs (1922-2012)

Simon Peng-Keller

Miteinander beten.Momente, in denen wir bezeugen, dass Gott in unserem Leben wirkt

Felix Körner SJ

Unter einem Dach. Leben und Beten in einer multireligiösen Gemeinschaft

Martin Kopp

Nachfolge | Kirche

Die Versuchung zur Macht

Philipp Müller

Macht und Dienst. Von der Kraft einer schwachen Seelsorge

Georg Lauscher

Missbrauch von und in Seelsorge

Patrick Oetterer / Hannah A. Schulz

Die Mitte der Zerbrechlichkeit. Die „Glasmonstranz“ des Klosters Sießen

Jens Brückner

Nachfolge | Junge Theologie

Ekstatische Gotteserfahrung?Gedanken zur göttlichen Inspiration

Marion Ranke

Reflexion

Zwischen Auflehnung und trauriger Skepsis. Glaube angesichts von Protest-Atheismus und melancholischem Agnostizismus

Benedikt Rediker

Zugänge zum Heiligen. 1622–2022

Andrea Riedl

Von Gott reden wie die Propheten.Edith Stein und Dionysius Areopagita

Tonke Dennebaum

Lektüre

Der Glaube kommt vom Hören.Podcasts ignatianischer Spiritualität

Michael Rosenberger

Buchbesprechung

Impressum

GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christliche Spiritualität. Begründet 1926 als Zeitschrift für Aszese und Mystik

Erscheinungsweise: vierteljährlich

ISSN 0016–5921

Herausgeber:

Zentraleuropäische Provinz der Jesuiten

Redaktion:

Christoph Benke (Chefredakteur)

Britta Konlechner-Mühl (Redaktionsassistenz)

Redaktionsbeirat:

Margareta Gruber OSF / Vallendar

Stefan Kiechle SJ / Frankfurt

Bernhard Körner / Graz

Edith Kürpick FMJ / Köln

Ralph Kunz / Zürich

Jörg Nies SJ / Stockholm

Andrea Riedl / Dresden

Klaus Vechtel SJ / Frankfurt

Redaktionsanschrift:

Pramergasse 9, A–1090 Wien

Tel. +43–(0)664–88680583

[email protected]

Artikelangebote an die Redaktion sind willkommen. Informationen zur Abfassung von Beiträgen unter www.echter.de/geist-und-leben/. Alles Übrige, inkl. Bestellungen, geht an den Verlag. Nachdruck nur mit besonderer Erlaubnis. Werden Texte zugesandt, die bereits andernorts, insbesondere im Internet, veröffentlicht wurden, ist dies unaufgefordert mitzuteilen. Redaktionelle Kürzungen und Änderungen vorbehalten. Der Inhalt der Beiträge stimmt nicht in jedem Fall mit der Meinung der Schriftleitung überein. Für Abonnent(inn)en steht GuL im Online-Archiv als elektronische Ressource kostenfrei zur Verfügung. Nichtabonnent(inn)en können im Online-Archiv auf die letzten drei Jahrgänge kostenfrei zugreifen. Registrierung auf www.geist-und-leben.de/.

Verlag: Echter Verlag GmbH,

Dominikanerplatz 8, D–97070 Würzburg

Tel. +49 –(0)931–660 68–0, Fax +49– (0)931–660 68–23

[email protected], www.echter.de

Visuelle Konzeption: Atelier Renate Stockreiter

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

Bezugspreis: Einzelheft € 13,50

Jahresabonnement € 45,00

Studierendenabonnement € 30,00

jeweils zzgl. Versandkosten

Vertrieb: Zu beziehen durch alle Buchhandlungen oder direkt beim Verlag. Abonnementskündigungen sind nur zum Ende des jeweiligen Jahrgangs möglich.

Auslieferung: Brockhaus Kommissionsgeschäft GmbH, Kreidlerstraße 9, D–70806 Kornwestheim

Auslieferung für die Schweiz: AVA Verlagsauslieferung AG, Centralweg 16, CH–8910 Affoltern am Alibs

Diesem Heft liegt folgender Prospekt bei: Flesch, Die Betroffenen, Echter Verlag

Wir bitten um Beachtung.

Notiz

N

Edith Kürpick | Köln

geb. 1967, Priorin der Monastischen Gemeinschaft der Schwestern von Jerusalem, Köln, Beiratsmitglied von GEIST & LEBEN

[email protected]

Zeitalter ohne Gottesglaube?

Das Museum Ludwig liegt nur wenige Schritte vom Kölner Dom entfernt. Beiden ist gemeinsam, dass sie jeweils – etwas überspitzt gesagt – eine Dauerleihgabe beherbergen. Dem Dom, so scheint es, ist als steinernem Sinnbild der Kirche das depositum fidei, der Glaubensschatz der Kirche, geliehen und anvertraut. Nebenan, im musealen Eingangsbereich, ist schon seit mehreren Jahren eine Hängeinstallation des chinesischen Künstlers Cai Guo-Qiang (* 1957) zu sehen. Die Dauerleihgabe trägt den Titel: „The Age of Not Believing in God – Zeitalter ohne Gottesglaube“. Ohne Fragezeichen am Ende. Natürlich sind beide deposita nicht vergleichbar. Die räumliche Nähe ihrer Beherbergung aber reizt zum Dialog.

Nur mit Mühe lassen sich die zehn am Museumshimmel schwebenden Holzskulpturen halbwegs identifizieren. Sie haben allesamt einen Transzendenzbezug: musizierende Engel oder andere beflügelte Götterboten, eine mehrarmige Hindu-Gottheit und ein ans Kreuz gehefteter Christus, alle massiv von unzähligen Bambuspfeilen übersät, wie es die christliche Ikonografie selbst vom Hl. Sebastian nicht kennt. Bis zur Unkenntlichkeit entstellt, schweben die Figuren halt- und ziellos durch den leeren Raum, scheinen sich zufällig zu begegnen oder sich voneinander abzuwenden. Welchen Glauben sie auch repräsentieren mögen – unterschiedslos sind sie alle der gleichen durchbohrenden Gewalt ausgesetzt. Hier wird der Zusammenfall der Gegensätze nicht mehr wie in der mittelalterlichen Philosophie in Gott selbst verortet, sondern schlichtweg im gemeinsamen Relevanzverlust aller Gottheiten und ihrer Religionen.

Woher diese stumme Gewalt kommt, wer die verwundenden Pfeile abgeschossen hat, wird nicht gesagt. Den mit den alttestamentlichen Psalmen Vertrauten aber ist das Bild nicht ganz unbekannt. Dort sind es einerseits die menschenverachtenden Gottlosen, die „Frevler, die den Bogen spannen; sie legen ihren Pfeil auf die Sehne, um im Dunkel auf die zu schießen, die redlichen Herzens sind“ (Ps 11,2). Doch kennt andererseits der leidende Betende auch eine noch abgründigere Erfahrung: Er sieht sich im Leid von Gott verlassen, nimmt ihn aus der Ferne wahr als den unbegreiflichen Bogenschützen, der selbst „den Bogen spannte und mich hinstellte als Ziel für den Pfeil“ (Klgl 3,12); ja, „die Pfeile des Allmächtigen stecken in mir, mein Geist hat ihr Gift getrunken“ (Ijob 6,4). Der Mensch – hilflos und heillos Gott und den Menschen ausgeliefert.

Hier aber, im Museum, sind es die Symbole des Göttlichen selbst, die zwischen Himmel und Erde ausgespannt und genau in dieser Schwebe durchbohrt werden. Anmaßend und respektlos, könnte man meinen, befremdend und auch ein bisschen skurril. Und dennoch, obwohl museal installiert, bleibt die Szene nicht ohne Resonanz bei Menschen, die im christlichen Glauben unterwegs sind und die hier, wie alle anderen Besucher(innen) auch, nach oben blicken und unweigerlich „auf den schauen, den sie durchbohrt haben“ (Joh 19,39). Denn unter allen anderen mit Pfeilen bespickten Skulpturen bleibt die Christus-Figur gerade in ihrer Entstellung auf seltsame Weise vertraut. Der Glaube, für den sie steht, bekennt einen Gott, der das Leid von innen her kennt, einen leibhaftigen Erlöser „voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut“ (Jes 53,3), wie die Kirche mithilfe ihres alttestamentlichen Prophetenschatzes zu formulieren versucht. Dies aber gehört zum Kernbestand des christlichen Depositum und hat Konsequenzen für das menschliche Selbstverständnis. Denn in keiner Religion und keiner Glaubensüberzeugung stehen Gottes- und Menschenbild beziehungslos nebeneinander. Das eine bedingt das andere. Die Resonanz auf das eine ist, wenn auch oft unmerklich, von höchster Relevanz für das andere.

Vielleicht gilt dies in besonderer Weise für alle Formen von Leid und Gewalt. In welchem Kontext sie auch erlitten wird – eigene oder fremde Leid- und Gewalterfahrung fragt und schreit immer nach Sinn. Diese stumme Frage löst auch die Bildsprache der Installationskunst nicht auf, sondern provoziert sie geradezu. Hier ist – unerklärt – das Leiden im Raum der Transzendenz angekommen, ist das Göttliche, für das die Skulpturen stellvertretend stehen, selbst und direkt betroffen. Im Horizont des christlichen Glaubens öffnet sich so ein nie geahnter Resonanzraum, in dem der menschgewordene, leiderfahrene Gott sich mit-leidend dem verwundeten Menschen zuwendet und dessen Leid zu einem möglichen Ort seiner Offenbarung macht, ein Raum aber auch, in dem sich, umgekehrt, der bedrängte Mensch klagend und bittend, tastend und sich selbst übersteigend auf diesen Gott hin ausrichtet. Ein Resonanzraum schließlich, der den Blick schärft für fremdes Leid und gerade deshalb den Menschen wirklich finden und ihm nahekommen lässt, weil Gott in seinem Mit-Leiden gesucht wird.

Ist das von Pfeilen getroffene Symbol des Göttlichen nun Ausdruck und Konsequenz eines Zeitalters ohne Gottesglaube? Wie auch immer – die bohrende Frage nach dem Sinn geht mit durch alle Weltzeiten und -räume. Und noch etwas anderes bleibt: die unberechenbare Möglichkeit der Gottesbegegnung und die Freiheit zur glaubenden Lebensdeutung als anvertraute Dauerleihgaben. Nicht nur im Dom oder im Museum. In jedem Leben.

NNachfolge

R

L

Nachfolge

N

Peter Steinbach | Mannheim

geb. 1948, Dr. phil., Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Mannheim, wiss. Leiter der zentralen Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin

[email protected]

Gemeinsames Leben - angesichts des Todes

Der Tegeler Gefängnisgeistliche Harald Poelchau

Einer der bekanntesten deutschen Gefängnisgeistlichen unseres Jahrhunderts war der in Berlin-Tegel tätige Harald Poelchau.1 Er gehört neben seinem katholischen Anstaltskollegen Peter Buchholz2 zu den bedeutendsten deutschen Gefangenenseelsorgern3 im Deutschland der Diktaturen. Bis heute steht er unmittelbar vor den Augen mancher Zeitgenoss(inn)en, die ihm begegnet sind: vor allem Angehörige von Gefangenen oder jene Couragierten, die Poelchau bat, verfolgte Jüdinnen und Juden zu verbergen.

Wer immer über ihn spricht, betont Poelchaus Vitalität und Lebensfreude, seinen Mut und seine Entschiedenheit, ebenso wie seine beeindruckende und mitreißende Fröhlichkeit. Und natürlich ist immer wieder von den Menschen die Rede, die ihm bis zu ihrer Hinrichtung als Häftlinge anvertraut worden waren4. Er fragte nicht nach Konfession und Weltanschauung, sondern tat jedem dieser in ihrer Zeit „Geringsten“, wozu er sich verpflichtet wähnte. Jedem von ihnen stand er in seiner Zuverlässigkeit bei. Überhaupt hatte Poelchau Freude an menschlichen Begegnungen mit Andersdenkenden.

Vertraut war mir Poelchau schon zu meinen Schülerzeiten, vor allem durch seine Verbindungen zum Kreisauer Freundeskreis um Helmuth James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg.5 Vielleicht spürte ich bereits damals, dass sich in Poelchaus Erlebnissen das unlösbare Dilemma des anständigen Menschen in der Diktatur greifen ließe: Er musste Zivilität und Gottestreue beweisen und war doch eingebunden in die Zwänge der Kooperation, tief verankert in die Strukturen furchtbarer Gefängnisse des nationalsozialistischen Staates.

Stationen eines Lebens

Harald Poelchau wurde am 5. Oktober 1903 in Potsdam geboren. Er wuchs in Schlesien auf, besuchte das humanistische Gymnasium Johanneum, eine Ritterakademie in Liegnitz. 1922 legte er die Reifeprüfung ab und studierte anschließend evangelische Theologie in Bethel, Tübingen, Marburg, Berlin und Breslau. 1927 legte er das erste theologische Examen in Breslau ab. Im April 1928 heiratete er die Württemberger Pfarrerstochter und Bibliothekarin am Statistischen Reichsamt Berlin Dorothee Ziegele. Zehn Jahre später wurde dem Ehepaar der Sohn Harald geboren. Das Vikariat absolvierte Poelchau im Berliner Domkandidatenstift. Gleichzeitig besuchte er die „Wohlfahrtsschule des Sozialpolitischen Seminars“ der Deutschen Hochschule für Politik zu Berlin. Hier legte er die staatliche Prüfung für Wohlfahrtspflege ab und erhielt 1930 seine staatliche Anerkennung als Wohlfahrtspfleger.

Von 1928 bis 1930 war Poelchau als Geschäftsführer der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen tätig; danach wechselte er als Hilfsassistent an das Philosophische Seminar der Universität in Frankfurt/M., wo er 1931 mit einer Arbeit über die „sozialphilosophischen Anschauungen der deutschen Wohlfahrtspflege“ cum laude promoviert wurde6. Erst anschließend schloss er auch seine theologische Ausbildung ab. Mitte Januar 1932 bestand er das zweite theologische Staatsexamen in Berlin mit einer Arbeit über die „christlichen sozial-ethischen Gesichtspunkte für evangelische Wohlfahrtspflege“. Knapp zwei Wochen später wurde er ordiniert.

Baltische und schlesische Wurzeln

Man hat zuweilen versucht, Harald Poelchau aus der Tradition seiner Familiengeschichte zu deuten. Dies ließ ihn zum Ausdruck der „geistigen und theologischen Kräfte“ werden, die sich in Kreisau als dem Zentrum einer „Erneuerung des deutschen Gewissens und einer tragfähigen Kultur vereinigt“ hätten.7 Die Einflüsse der Eltern und Großeltern waren nicht unwichtig. In ihnen verkörperte sich etwas, das auch Poelchaus Leben beeinflusste: die Nähe zu Ostmitteleuropa und die Symbiose von Ethnien, die zusammenleben wollten und konnten und die erst unser Jahrhundert säuberlich scheiden sollte – eine Tragödie, die ihren Tiefpunkt in Auschwitz8 fand und die bis heute die Geschicke Europas bestimmt. Poelchau ahnte die Folgen dieses Wahns, denn er beobachtete die Scheidung der Ethnien, die unerbittliche Trennung, die gegenseitige Unverbindlichkeit nach der Scheidung der Gruppen. Das Baltikum war nicht nur der Raum seiner Herkunft, sondern das Spiegelbild der bevorstehenden und von manchen erahnten europäischen Tragödie.

Poelchaus Jugend spiegelte die innere Autonomie, die diesem zeitkritischen Spross eines protestantischen Pfarrhauses stets zueigen war, neben der Bindung, die aus den Traditionen folgte. Er empfand das Leben des Pfarrers im bäuerlichen schlesischen Brauchitschdorf als eine Art Verletzung der Gerechtigkeit. Er begriff nicht, weshalb sein Zimmer größer war als das seiner Spielkameraden, er verstand nicht, weshalb seine Eltern nicht auf den Acker gingen und dort mit den Händen arbeiteten, sondern stattdessen zwei Dienstboten beschäftigten.

Dieses Unbehagen begleitete ihn auch auf die Ritterakademie in Liegnitz, eigentlich ein humanistisches Gymnasium, wo er sein Abitur ablegte. Auch hier litt er unter der Einsamkeit und sprach in einem der überlieferten Lebensläufe sogar von Depressionen, die er überwinden musste. Erst später konnte er seine Einsamkeit positiv deuten. In den Zwanzigerjahren fand Poelchau zugleich aber auch den Weg in die christlich-freideutsche Jugendbewegung, in Bibelkreise, die sich romantisierende Namen – „Liegnitzer Kreuzfahrer“, „Bund der Köngener“ etwa – zugelegt hatten.

Theologie studierte Poelchau nicht aus Neigung, sondern seinem Eingeständnis zufolge, weil er „nach Waffen“ suchte auf dem Felde des Generationskonflikts mit seinem Vater. Der Vater hätte ihm den Beginn des Studiums in dem als liberal geltenden Marburg wohl nicht erlaubt, sondern drängte auf ein Studium in Bethel. Poelchau hatte das Christentum bis dahin „nur als depressive Reflexion erfahren“. Entscheidend geprägt wurde er nun durch Bodelschwingh, der seine Heil- und Pflegeanstalt für Epileptiker fest mit der Kirchlichen Hochschule Bethel verbunden hatte. „Leid, wirkliches Leid ist das Gegenteil von Depression“, deutete Poelchau später die Erfahrung „tätiger Hilfe im Leid“ in Bethel.

Poelchau reiste in dieser Zeit durch Lettland, übrigens nicht nur, um das Land kennenzulernen, sondern auch, um Dollars zu verdienen – 10 $ waren das finanzielle Resultat einer Reise. Zehn Dollar – das war in den Hochinflationszeiten ein Vermögen, ausreichend für Schuhe, Anzug und Lebensunterhalt des Studenten. Das Mussolini-Jahr 1922 erlebte Poelchau als Fußwanderer in Italien. Er wanderte zunächst bis Genua und schlug sich von dort bis Rom durch. Hier festigte sich ein starkes Interesse an der Kunstgeschichte.

Politisches Bewusstsein

Später wurde es finanziell wieder enger für ihn. Nun verdiente er für seinen Unterhalt als Werkstudent von Bosch das nötige Geld. Bald arbeitete er auch an der von Paul Tillich geprägten Zeitschrift Blätter für religiösen Sozialismus und an den Neuen Blätter für den Sozialismus mit. Den Ausgang der Gemeindewahlen der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union vom 13.11.1932 deutete er als eine Gefährdung der Rolle der Kirche, „ein Hort der Verfolgten und Unterdrückten und ein Schutz der persönlichen Gewissensfreiheit zu sein“. Er befürchtete, die Protestanten könnten sich nun „mehr denn je der politischen Reaktion zur Verfügung (…) stellen.“9 Poelchau machte die Konturen jenes Konfliktes sichtbar, der ein Jahr später die Evangelische Kirche in Preußen und im Reich herausforderte, indem er nicht nur auf die sich gegenüberstehenden Gruppen verwies, sondern vor allem dem „Teil der politisch indifferenten ‚kirchlich-Unpolitischen‘“ eine wichtige Rolle zuschrieb: „Es gilt darauf zu achten, daß die Kirche beim Wort genommen und gezwungen wird, alle ihre Entscheidungen gemäß ihrer Ideologie und nicht der politischen zu fällen.“10

In einem gleichzeitig erschienenen größeren Literaturbericht setzte sich Poelchau mit den politischen Konsequenzen damaliger protestantischer Theologie auseinander.11 Dabei kam er zu dem Ergebnis, dass in vielen der von ihm beleuchteten Arbeiten „konservative Tendenzen“ zutage träten. „Volk und Rasse“ stünden im Mittelpunkt, nicht aber „Wirtschaft und Klassenkampfsituation“. Poelchau wandte sich entschieden gegen die völkisch geprägte Vorstellung von einem „positiven Christentum“ und fordert den Protestantismus auf, sich gegen die „Metaphysizierung der Religion und des Staates (zu) wehren.“12 Seine Auseinandersetzungen mit der politisch geprägten Theologie fanden allerdings zu einem denkbar späten Zeitpunkt statt. Poelchau war damals 29 Jahre alt. Seine frühe damalige Eindeutigkeit ist bemerkenswert.

Sozialarbeit

Nach seinem ersten theologischen Examen war ihm nur als möglich erschienen, in einem ganz handfest karitativen Bereich zu arbeiten. Tillich schickte Poelchau nach Berlin. Hier schloss sich der Besuch der Wohlfahrtsschule bei dem berühmten Carl Mennicke und der Berliner Hochschule für Politik an, im Berlin der Weimarer Republik ohne allen Zweifel eine der wichtigsten politischen Experimentierstellen dieser Stadt. Insofern lässt es sich nur als Bemühung um eine weitere politische und soziale Option deuten, wenn Poelchau 1928, zu Beginn der großen Weltwirtschaftskrise, die sich zur Gesellschaftskrise auswuchs, sein Examen als Sozialarbeiter ablegte. Zwei Möglichkeiten praktizierter Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe boten sich damit. Als er wenige Wochen später für zwei Jahre die Geschäftsführung der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfe übernahm, handelte es sich um den Versuch, zwei Neigungen zu verbinden und zugleich eine Option offenzuhalten.

Assistent bei Paul Tillich

1930 bot sich eine neue Chance. Poelchau konnte an die neue und kurz nach ihrer Gründung bereits glänzende Universität Frankfurt wechseln, genauer: in eine Assistenz bei Paul Tillich, der damals an der weithin ausstrahlenden jungen städtischen Frankfurter Universität lehrte, um seine Dissertation über „die sozialphilosophischen Grundlagen der deutschen Wohlfahrtsgesetzgebung“ zu vollenden. Poelchau wurde 1932 mit einer Studie über „Das Menschenbild des Fürsorgerechts“ promoviert. Sie ist bis heute nicht nur grundlegend, sondern lesbar und lässt sich als Zugang zum politischen Menschenbild der Zeitgenossen derjenigen verstehen, die in der Weimarer Republik eine positive Möglichkeit, nicht aber nur ein System sahen.

Die wissenschaftliche Erstlingsarbeit zeigt einen Grundzug, der Poelchaus Charakter stets prägte: Er dachte nicht in Gegnerschaften und bestimmte sich schon gar nicht durch diese, sondern er konnte seine Entscheidungen positiv, im Eintreten für etwas, vor sich und anderen begründen. Deshalb strebte er zunächst in die Innere Mission, denn er wollte persönlich helfen. Er sah in keinem Menschen jemals den Gegenmenschen, sondern stets seinen Mitmenschen, also jemanden, der ihm geben, der ihn bereichern konnte.

Gefängnisseelsorge

Nach dem Abschluss der akademischen Ausbildung engten sich die Optionen – Seelsorger, Sozialpolitiker, Sozialarbeiter – rasch ein. Mitte Februar 1932 bewarb sich Poelchau als Gefängnisseelsorger, stellte sich kurz vor Weihnachten beim Strafvollzugsamt vor und trat so im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung seinen Dienst in Tegel an, zunächst probehalber, seit dem 1. Juli 1933 dann als Strafanstaltspfarrer.13 Seine Entscheidung verband soziales Engagement mit einem seelsorgerlichen Auftrag. Poelchau berichtet 1948 sogar, bei seinem Dienstantritt hätten immer noch Bilder des bereits 1925 verstorbenen Reichspräsidenten Friedrich Ebert an den Wänden gehangen. Als diese durch Hitler-Bilder ersetzt werden mussten, wählte Poelchau ein Foto mit der Unterschrift aus: „Unser Führer raucht nicht und trinkt nicht, seine Arbeitsleistung ist ungeheuer.“14

Neben seiner, wie er sagte, „Mutteranstalt Tegel“ betreute Poelchau auch die Strafanstalt Plötzensee mit ihrer Hinrichtungsstätte einschließlich des furchtbaren Wehrmachtsgefängnisses, mit dessen immer neuen Zweigstellen in Tiergarten, Tegel und Spandau. Sie kamen im Laufe des Krieges hinzu. Zu seinem Bereich gehörten auch die Hinrichtungsstätte Brandenburg-Görden sowie die Frauenabteilung des Zuchthauses in Moabit. Die Häftlinge schätzten Poelchau als zuverlässigen Boten zwischen den Strafanstalten.

Über die zwölf Jahre unter nationalsozialistischer Herrschaft hat Poelchau früh, klar und auch – für seine Verhältnisse – viel geschrieben. Er ist der eigentliche Chronist des Alltags eines mit den Mitteln des Rechts betriebenen Mordes geworden. Seine Schilderung lässt sich nicht wiederholen, dazu ist der Schrecken zu nah, das Entsetzen zu ursprünglich, die Verzweiflung zu spürbar, der immer wieder gespendete und sich selbst erarbeitete Trost zu schmerzend. Die Jahre der Ausbildung waren jäh vorüber, die Kindheit lag weit zurück. Der Dreißigjährige wurde mitten in ein Sterben gestellt, das er als Unrecht, als Verfolgung, als Leiden empfand. Manche derjenigen, die er betreute, waren ihm bekannt; andere lernte er kennen, und manche kamen ihm so nah, dass er sie nicht nur nicht vergaß, sondern dass sie ihn prägten, niemals mehr losließen und sogar die Kraft gaben, ihre Botschaft weiterzugeben.

„Sozial- und Industriepfarrer“ in Berlin

Bis 1945 blieb er in dieser Funktion. Er war gewiss einer der jüngsten Gefängnisseelsorger des damaligen Deutschlands und wie nur wenige wurde er in der Nachkriegszeit wieder gefährdet, denn er sollte nach 1945 das Gefangenenwesen in der SBZ mitaufbauen, sollte gar Kriminologe in der SBZ werden. Denn schon bald wurde Poelchau nach kurzem Zwischenspiel als Generalsekretär des Hilfswerks der Evangelischen Kirche auch in die Frühgeschichte der zweiten deutschen Diktatur verstrickt: im Range eines Ministerialrats als Vortragender Rat für Gefängniswesen der zentralen Justizverwaltung der Sowjetischen Besatzungszone, auf Bitten des Kreisauers Freundes Hans Peters auch als Lehrbeauftragter für Kriminologie an der neu entstehenden und schon bald wieder in Weltanschauungsfragen umkämpften Berliner Universität in der Mitte der sich teilenden Hauptstadt.

Poelchau entschied sich für die praktische Hilfe und ein Leben im Westen Berlins. Dies bedeutete zunächst die Rückkehr nach Tegel. Zum Oktober 1951 wurde ihm die Stelle eines Stadtsynodalpfarrers übertragen, der zugleich als „Sozialpfarrer“ dem Berliner Bischof „zur Verfügung“ gestellt wurde. Dieses Amt bekleidete Poelchau bis zu seinem Tode, der ihn am 29. April 1972 in Berlin ereilte, neun Tage, nachdem er das Gesuch auf Versetzung in den Ruhestand unterzeichnet hatte.

Kraft zur inneren Teilhabe

Poelchau durfte im Gefängnis Tegel keine Distanz üben: Er stand vielmehr mittendrin. „Distanz“, so pflegte er zu sagen, sei „nicht ganz unbedenklich“15. Und dabei vergaß er zu betonen, dass er sich wohl in der Kunst der Distanzierung auskannte, denn auf den NS-Staat ließ er sich ebenso wenig ein wie auf die deutsche Gesellschaft, die sich lange Jahre in der Kunst der Selbstgleichschaltung übte. Poelchau stand mitten im Sterben anderer. Es bleibt unvorstellbar, was er erleiden musste, weil er sich zum letzten Dienst an Menschen verpflichtet hatte. Er vergaß nie, dass er unschuldige Justizopfer begleitete. Möglich war es wegen seiner Kraft zur inneren Teilhabe. Dies war mehr als karitative Haltung. Es ging um die Einbeziehung in ein, wie Poelchau sagte, „Rechts-, Verhaltens- und Lebensschema“, schließlich um die Übersteigerung dieser Ordnung: „Christliche Ordnung“, so lesen wir, „schien mir von meiner Jugend an aus dem Leben der Bedrängten heraus wachsen und gestaltet werden zu müssen“.16

Das „Mordregister“

Poelchau fühlte sich 1945 wirklich befreit. Er verwendet deshalb den militärischen Begriff der „Befreiung“ wohl als einer der ersten Deutschen öffentlich. Poelchau empfand das Kriegsende als Befreiung von einer Last, von den Nationalsozialisten, von Mitläufern. Er empfand dabei gewiss so, wie viele andere Angehörige des europäischen Widerstandes, ohne sich in der Sicherheit wiegen zu können, mit diesem Tag sei das Ende der Geschichte oder gar das Ende der Diktaturen gekommen.

Schon 1949 musste er den justiziell betriebenen Massenmord bezeugen, genauer: Er bezeugte Mord und erinnerte gleichzeitig an die Ermordeten. Poelchau nutzte die Möglichkeiten des Wortspiels und fing so im Begriff „Mordregister“ die Wirklichkeit ein. Das bekannte Mordregister von Plötzensee verzeichnete zunächst die Namen der Mörder, die hingerichtet wurden, dann aber bald die unzähligen Namen diejenigen, die Poelchau begleiten musste, als sie selbst ermordet wurden und denen er helfend dienen wollte. Aus dem Register der Mörder, so schrieb er, sei bald das Register der Justizmorde geworden. Schreiendes Unrecht blieb seit damals, was immer Unrecht war und niemals Recht werden konnte, allen Positivisten in der Strafgerichtsbarkeit zum Trotz. Poelchau wurde in dieser Zeit endgültig zum Verächter und Gegner der Todesstrafe.

Erinnerung an die Opfer

Das Zeugnis, das Poelchau schon bald nach dem Krieg ablegte, galt keineswegs allein den Justizmorden in Plötzensee nach dem 20. Juli 1944. Es galt auch nicht nur den heimtückisch Erschossenen auf dem Gelände des Lehrter Bahnhofs, die er zu bestatten hatte. Poelchau erinnerte immer an die ganze Breite der Verfolgung und machte sich zum Sprecher jener, die schließlich sogar als Kommunisten, als Zwangsarbeiter zwischen die Fronten des Kalten Krieges zu geraten drohten.