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GuL 97 (2024), Heft 1 Januar-März 2024 n. 510 Notiz Christoph Benke Spannend - Leben im Zwischen [3-4] Nachfolge Christoph Theobald SJ Im Alltag auf Gottes Ruf hören. Menschliche und christliche Berufung [6-13] Stefan Kiechle SJ Wiederkehr der Sünde [14-21] Markus Kneer Maurice Nédoncelle. Eine Philosophie des Gebets [22-29] Johannes Lorenz Kleine Meditation über das Atmen [30-33] Nachfolge | Kirche Andrew Prevot Zilpha Elaw (1790-1873) Ein Zeugnis afroamerikanischer Mystik [34-42] Andrea Riedl Credo … synodalem ecclesiam. Kirchengeschichtliche Schlaglichter [43-51] Jörg Nies SJ Notwendige Neuausrichtung? Zum Gehorsam in der Gesellschaft Jesu und in der Kirche [52-60] Nachfolge | Junge Theologie Andreas Frei Geschichte und Freiheit. Karl Barth und Walter Benjamin über den Begriff der Geschichte [61-66] Reflexion Christoph J. Amor Auslaufmodell Mensch? Eine kritische Sichtung des Transhumanismus [68-75] Daniel Remmel Faszination bedingungsloser Liebe. Mit Jean-Luc Marion die Offenbarung denken [76 -84] Sibylle Trawöger Zwischen Körper und Seele [85-91] Martin Rötting Spiritualität als Navigation (Teil II). Religionswissenschaft und geistliche Begleitung [92-102] Lektüre Christoph Benke Der betende Mensch. Das Gebet im Christentum und in anderen Religionen [104-108] Buchbesprechung [109-110]
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Heft 1 | Januar–März 2024
Jahrgang 97 | Nr. 510
Notiz
Spannend – Leben im Zwischen
Christoph Benke
Nachfolge
Im Alltag auf Gottes Ruf hören. Menschliche und christliche Berufung
Christoph Theobald SJ
Wiederkehr der Sünde
Stefan Kiechle SJ
Maurice Nédoncelle. Eine Philosophie des Gebets
Markus Kneer
Kleine Meditation über das Atmen
Johannes Lorenz
Nachfolge | Kirche
Zilpha Elaw (1790-1873). Ein Zeugnis afroamerikanischer Mystik
Andrew Prevot
Credo … synodalem ecclesiam. Kirchengeschichtliche Schlaglichter
Andrea Riedl
Notwendige Neuausrichtung? Zum Gehorsam in der Gesellschaft Jesu und in der Kirche
Jörg Nies SJ
Nachfolge | Junge Theologie
Geschichte und Freiheit. Karl Barth und Walter Benjamin über den Begriff der Geschichte
Andreas Frei
Reflexion
Auslaufmodell Mensch? Eine kritische Sichtung des Transhumanismus
Christoph J. Amor
Faszination bedingungsloser Liebe. Mit Jean-Luc Marion die Offenbarung denken
Daniel Remmel
Zwischen Körper und Seele
Sibylle Trawöger
Spiritualität als Navigation (Teil II). Religionswissenschaft und geistliche Begleitung
Martin Rötting
Lektüre
Der betende Mensch. Das Gebet im Christentum und in anderen Religionen
Christoph Benke
Buchbesprechung
GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christliche Spiritualität. Begründet 1926 als Zeitschrift für Aszese und Mystik
Erscheinungsweise: vierteljährlich
ISSN 0016–5921
Herausgeber:
Zentraleuropäische Provinz der Jesuiten
Redaktion:
Christoph Benke (Chefredakteur)
Dieter Fugger (Redaktionsassistenz)
Redaktionsbeirat:
Margareta Gruber OSF / Vallendar
Stefan Kiechle SJ / Frankfurt
Bernhard Körner / Graz
Edith Kürpick FMJ / Köln
Ralph Kunz / Zürich
Jörg Nies SJ / Stockholm
Andrea Riedl / Dresden
Klaus Vechtel SJ / Frankfurt
Redaktionsanschrift:
Pramergasse 9, A–1090 Wien
Tel. +43–(0)664–88680583
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Diesem Heft liegt folgender Prospekt bei: Lebendige Seelsorge, Echter Verlag
Wir bitten um Beachtung.
Christoph Benke | Wien
geb. 1956, Priester, PD Dr. theol. habil., Schriftleiter von GEIST & LEBEN
Die Zuversicht hat es momentan nicht leicht. Schon vor Corona war das Lebensgefühl vieler Menschen von Unsicherheit und Angst geprägt. Dann die Pandemie, die Signale der Klimakrise, der Ukrainekrieg und seine Folgen, Terror und Krieg im Nahen Osten. Dazu kommen eine Reihe von Problemen und Übergängen: ungelöste Migrationsfragen, politische Landschaften im Umbruch, schwächelnde westliche Demokratien. Eine bestimmte Gestalt von Kirche vergeht, eine neue ist noch nicht oder kaum ansichtig. Mittendrin leben wir und sitzen zwischen den Stühlen: Das eine ist nicht mehr, das andere noch nicht. Wie mit diesem vielgestaltigen Zwischen und den Spannungen, die sich daraus ergeben, umgehen? Und zwar nicht nur pragmatisch, sondern spirituell, also mit einer Perspektive, die das Leben von Gott her und auf Gott hin transparent machen will? „Werft also eure Zuversicht nicht weg“ (Hebr 10,35): Was, wenn sie kaum mehr vorhanden ist?
Leben im Zwischen hat eigene Anforderungen. Ein lösungsorientierter, auf rasch vorfindbare Ergebnisse fokussierter Zugang tut sich mit Zwischen-Etappen schwer. Im Zwischen gibt es noch keine Lösungen und noch keine Ergebnisse. Das eine funktioniert nicht mehr. Wie es stattdessen gehen soll, weiß niemand. Das führt zu Spannungen. Ist dies ein Grund, warum das Wort „spannend“ häufig in unserer Alltagssprache vorkommt?
Zwischen-Räume1 sind Warte-Räume. Sie machen die Haltung des Wartens notwendig. Wer sich unter Zeitdruck fühlt, dem gilt der Wartezustand als Übel, bei dem nichts weitergeht. Aber ließe sich die Einschränkung des Zwischen nicht auch lesen als eine „gefährliche Erinnerung“ an das, was Christen als das Letzte und Äußerste hoffen, als Ausrichtung auf die Wiederkunft des Herrn? Das eine, das „Schon“, speist sich aus der Gabe, aus dem unverbrüchlichen Ja Gottes, das Christus ist (vgl. 2 Kor 1,20). Aus dieser Gabe kommen Lebensplanung und Weltgestaltung im Sinne Jesu. Zwischen-Räume und Warte-Zeiten blicken in die andere Richtung. Sie sind auf das „Noch nicht“ orientiert, auf die erhoffte Vollendung des Ganzen. Sie erinnern, sich nicht zu sehr in dieser Welt einzurichten. Das Zwischen hält, im besten Fall, „den Himmel offen“ (vgl. Apg 7,56; 10,11; Offb 19,11).
Keine biblische Gestalt hat das Interim und seinen Auftrag so personifiziert wie Johannes der Täufer. Seine Sendung war der Übergang. Er hat das eine Ufer bereits hinter sich gelassen (Alter Bund), sieht das andere, ist aber nicht Teilhaber des Neuen (Neuer Bund); im Alten längst ein Fremdling, aber noch nicht angekommen im Neuen. Eine tragische Gestalt, nirgendwo angesiedelt, spirituell heimatlos? Der Täufer ist eine Figur des Zwischen und als solche ein Trost. Er hätte das Potential, für den gegenwärtigen Warte-Raum und Zwischen-Zustand zu einer Identifikationsfigur zu werden, für einzelne wie für die Kirche. Seine Botschaft: Das Bleiben im Zwischen, im Raum zwischen schon und noch nicht, ist jetzt dran und Auftrag von Gott her. Das geduldige Aushalten des Wartens ist spannend; eine Zerreißprobe, aber mit sakramentaler Qualität.
Überhaupt lässt das Zwischen die Dimensionen von Zeit bewusster wahrnehmen. Das Leben zwischen schon und noch nicht weist auch in die Gegenwart. Gewiss: Das Warten schaut nach vorne. Aber was sein wird, ist noch nicht da. Das Jetzt hingegen ist da. Mit der Offenheit für das Jetzt und seine momentane Gabe oder Anforderung bewege ich mich zur Mitte, hin zur Balance zwischen schon und noch nicht (was nicht 50:50 bedeuten muss). Ganz in der Gegenwart leben, darauf zielte Jean-Pierre de Caussade SJ (1675–1751), als er von der „communion de tous les instants“, der „Kommunion eines jeden Augenblicks“ sprach: Dem Aufmerksamen wird alles zum Sakrament. Der gegenwärtige Augenblick ist somit ein Heiligungs- und Heilmittel Gottes. Sich ganz an den Augenblick und seine Bedürfnisse hinzugeben, stets das Jetzt als „die beste Stunde“ (Paul Claudel) anzusehen, darauf käme es an, auch im Warte-Raum des Zwischen.
Ein so orientiertes Leben zielt auf reine Absicht: Jeden einzelnen Augenblick erleben und leben, als ginge es um alles. Die polnische Lyrikerin Wislawa Szymborska sieht diese Haltung in der „Dienstmagd“ Jan Vermeers vor-bildhaft (im eigentlichen Sinn des Wortes) verwirklicht. Darum nennt sie ihr Gedicht Vermeer:
Solange diese Frau aus dem Rijksmuseum /
In der gemalten Stille und Andacht /
Tag für Tag Milch /
Aus dem Krug in die Schüssel gießt /
Verdient die Welt keinen Weltuntergang.2
1Vgl. die Überlegungen von S. Trawöger zum „Zwischen“ in diesem Heft (S. 85–91).
2Zit. n.: M. Barth, Die Andacht des Alltags. Notizen zu Judith Hermann, in: HK 77,9 (2023), 43ff., hier: 45.
Christoph Theobald SJ | Paris
geb. 1946, Dr. theol., Dr. h.c., Professor für Fundamentaltheologie und Dogmatik an der Hochschule Centre Sèvres, Paris
Die Bibel kennt eine Reihe von Berufungserzählungen. Sie deutet in ihnen jeweils einen „Anfang“: den „Anfang“ einer mit Gott gelebten Geschichte, eines von ihm erhaltenen Auftrags. Es genügt hier an den Prototyp aller Berufungserzählungen zu erinnern, die Geschichte des Samuel im Heiligtum von Schilo mit seiner prägnanten Antwort auf den Ruf Gottes: „Rede Herr, Dein Diener - Deine Dienerin hört“ (1 Sam 3,10). Solch einen Anfang erzählen können – nicht nur sich selbst, sondern auch anderen Menschen –, setzt voraus, dass man bereits seit einer geraumen Zeit mit dieser Berufung und aus ihr lebt. Der Erzählfaden kann dann in umgekehrter Richtung abgespult werden: Ohne dass wir uns dessen immer bewusst sind, färbt das Heute den Anfang. Was sich zwischen gestern und heute abspielte, unsere Lebens- und Glaubenskrisen und das Wachsen unserer Berufungserfahrung, kann so in unserem geistlichen Gedächtnis auftauchen und für unser Morgen fruchtbar gemacht werden. In meinem Beitrag soll es vor allem um unser Heute gehen, allerdings in der Perspektive eines „Anfangs“, der noch nicht alle seine Versprechen eingelöst hat und sich deshalb je hier und jetzt in seiner Zerbrechlichkeit, aber auch in seiner verborgenen, zukunftsweisenden Kraft zeigen und entwickeln kann.
Geben wir zu, dass unsere Gesellschaft und unsere kirchliche Pastoral kaum mit solchen Berufungserfahrungen rechnet. Unseren Mitmenschen erzählen wir spontan, was wir tun, definieren uns im Hinweis auf unsere haupt- und nebenberuflichen Aktivitäten. Unsere christliche Berufung identifizieren wir mit bestimmten kirchlichen Diensten und verengen häufig unseren Blick auf ihren sichtbaren gesellschaftlichen Aspekt. Manche Gläubigen sagen das ganz spontan: „Er hat die Berufung zum Priestertum, sie hat die Berufung einer Ordensfrau; „ich aber habe keine“, fügen sie dann, manchmal mit ein wenig Bedauern, hinzu. Die Ständetheologie, wie sie vor allem in den römischen Synoden zwischen 1987 und 2001 entwickelt wurde, hat diese Reflexe eher noch verstärkt und die Pastoral in ein komplexes Rollenspiel verwandelt, das eine präzise Abgrenzung von Diensten und Aufgaben voraussetzt. Gleichzeitig haben jedoch unsere existierenden „Lebensformen“ und „Lebensstände“ in Gesellschaft und Kirche ihre klassische Stabilität verloren. Viele Sinnangebote und Glaubensformen tragen nicht mehr; was nicht wenig Entmutigung, geistliche Resignation (acedia) und manchmal dramatische Lebenskrisen erzeugt.
Eine „Rückbesinnung“ auf die Anfänge eines Engagements, auch in Glaube und Kirche, wird hier – oftmals ganz plötzlich – zu einer inneren Notwendigkeit. Grundsätzliche Fragen melden sich: Warum bin ich Christin oder Christ und welche tatsächliche Erfahrung entspricht dieser Wahl? Und eng mit dieser Frage verbunden: Welchen Sinn gebe ich meinem Menschsein zwischen meiner Geburt und meinem zukünftigen Tod? Vergessene Unterscheidungen können dann neu sinnvoll werden. Das Zweite Vatikanische Konzil kennt bei weitem nicht nur kirchliche „Rufe und Sendungen“. Es erinnert uns zuallererst an unsere „christliche Berufung“ – die aller Getauften –, die auf der Wahl beruht, sich mit Christus Jesus zu identifizieren, ihn „nachzuahmen“ oder ihm „nachzufolgen“. Im Blick auf alle Menschen spricht das Konzil sodann von der „menschlichen Berufung“ und geht so weit, die spezifisch christliche Berufung (und natürlich all unsere Aufgaben und Aktivitäten) zu dezentrieren und konstitutiv in den Dienst an der menschlichen Berufung aller unserer Zeitgenossen zu stellen.
In den soeben angedeuteten, individuellen und kollektiven Krisenzeiten kann es notwendend werden, sich diesen grundsätzlichen Unterscheidungen und den mit ihnen verbundenen Warum- und Wie-Fragen zu stellen. Stellen wir uns wirklich solche Fragen – in welcher Form auch immer –, dann kann der Begriff der „Berufung“ plötzlich ein neues Relief bekommen. Hinter diesem Substantiv, das so häufig ein „Haben“ oder ein gesellschaftlich-kirchliches Resultat bezeichnet, steht nämlich ein Verb bzw. ein „Handeln“: In der Erfahrung der Berufung ist der, den wir „Gott“ nennen, selbst in geheimnisvoller Weise „Subjekt“ eines Rufens – „Berufung“ genannt. Was können wir uns von dieser Erfahrung erzählen (I.)? Wie können wir sie heute wahrnehmbar machen (II.) und welche geistliche Reifung macht sie möglich (III)?1
In der Berufungsgeschichte des Samuel findet sich die zu Beginn bereits zitierte Antwort: „Rede HERR, denn dein Diener hört“. Vom Priester Eli sozusagen vorformuliert, enthält sie eine Deutung der kritischen Situation der Tempelinstitution von Schilo; sie besteht einfach darin, das Gespräch zwischen den beiden Protagonisten und Rivalen der Erzählung, Eli und Samuel, zu „unterbrechen“ und entschieden Gott selbst das Wort zu überlassen. Ich bin der Überzeugung, dass sich in der soeben skizzierten Krisensituation ein „Kairos“ anbietet, der den Tiefendimensionen unserer Berufung eine neue Chance gibt: Wir können uns heute von unseren Krisenerfahrungen „unterbrechen“ lassen und tatsächlich auf Gott hören.
Dies ist die erste Frage, die wir uns stellen müssen. Ich zitiere hier einen Text von Martin Heidegger zum menschlichen Gewissen, der uns trotz des ihm zugrunde liegenden Individualismus, einiges zeigen kann: „Was ruft das Gewissen dem Angerufenen zu? Strenggenommen – nichts. Der Ruf sagt nichts aus, gibt keine Auskunft über Weltereignisse, hat nichts zu erzählen. Am wenigsten strebt er danach, im angerufenen Selbst ein ‚Selbstgespräch‘ zu eröffnen. Dem angerufenen Selbst wird ‚nichts‘ zu-gerufen, sondern es ist aufgerufen zu ihm selbst, das heißt zu seinem eigensten Seinkönnen“ (Sein und Zeit, § 56).2
Dieses Zitat gibt uns zu verstehen, dass der Ruf nicht in erster Linie diesen oder jenen Aspekt unseres Daseins in der Welt betrifft, mag er noch so wichtig sein, sondern das Ganze unseres Lebens. Dieses geheimnisvolle Ganze unseres Lebens ist „nichts“ von dem, was uns normalerweise in unseren Selbstgesprächen beschäftigt. Wenn wir auf den Ruf so achten wie auf ein Geschehen, ein Gefühl oder Bild, einen Einfall oder Gedanken, „die uns so durch den Kopf gehen“, hören wir tatsächlich „nichts“. Aber wenn wir uns der Ganzheit unseres Lebens zwischen Geburt und Tod öffnen, obwohl sie sich uns entzieht, hören wir den Ruf, der uns auffordert, bei uns selbst zu sein. Genau dies zeigt sich in der Samuelgeschichte, wenn Gott ihn zweimal mit seinem Namen ruft: „Samuel, Samuel!“ – „Hier bin ich!“, antwortet er. Paulus beschreibt dieselbe Erfahrung im Blick auf Abraham und Sarah: „Er ist unser aller Vater […] – im Angesicht des Gottes, dem er geglaubt hat, des Gottes, der die Toten lebendig macht und das, was nicht ist, ins Dasein ruft.“ (Röm 4,17)
Es ist bei weitem nicht selbstverständlich, diese Stimme, die unser Leben zu einem Ganzen macht, in allem, was uns provisorisch erscheint, zu hören. Tatsächlich macht uns die Perspektive des Todes taub. Unsere europäische Kultur verleiht dem Lebensende eine Macht, die es nicht hat, und lässt die Menschen – so der Hebräerbrief – „durch die Furcht vor dem Tod ihr Leben lang der Knechtschaft verfallen“ sein (Hebr 2,15). Aber dem Tod diese Macht zu geben, ist trügerisch, sagt die Bibel. Denn das Leben wäre dann ein vergiftetes Geschenk und würde sein Versprechen nicht halten. Eine schreckliche Vorstellung, weil sie den schwachen Boden, auf den sie fällt, unmerklich durchdringt und es uns noch schwerer macht, einfach dem zu vertrauen, was wir empfangen haben. Christus löscht den Tod nicht aus, aber, wie der Hebräerbrief sagt: Durch seinen eigenen Tod hat er ihn entmachtet und diejenigen befreit, die Sklaven des Todes waren (vgl. Hebr 2,14–15). Der Tod, der seine trügerische Macht verloren hat, kann nun zusammen mit der Geburt zum Boten werden, der jedem von uns lautlos sagt: Du hast nur ein Leben!
Alles hängt dann davon ab, ob wir diese Botschaft als eine Aufforderung deuten, gegen den Tod zu kämpfen – als ob es sich um einen „Feind“ handelte, den „letzten Feind“, wie Paulus sagt (vgl. 1 Kor 15,25ff.) – und die Grenzen, die mir das Leben setzt, immer weiter herauszuschieben. Oder ob wir die wortlose Stimme – Du hast nur ein Leben! – als Gottes Stimme hören, die wir nicht deshalb als solche wiedererkennen, weil sie den Tod einfach aufheben würde, sondern weil sie ihm den „Stachel“ nimmt (vgl. Hos 13,14; 1 Kor 15,55) und den, der sie hört, auf das einmalige Wunder seiner Geburt verweist, der Geburt eines einmaligen Wesens, und somit auf die Geburt aller anderen einmaligen Menschen. Man kann die so gehörte Stimme Gottes auch „Proto-Evangelium“ nennen, da sie den ursprünglichen Segen Gottes – sein „Sehr gut“ des sechsten Tages – jedem Menschen zusagt, ihm so Zugang zur Einmaligkeit seines ganzen Daseins schenkt und ihn gleichzeitig dazu autorisiert, selbst sein und selbst werden zu können, indem er sein ganzes Leben für andere einmalige Wesen einsetzt.
Jenseits unseres modernen Individualismus zeigt sich hier eine humane Beziehungsstruktur, die trotz vieler Widerstände weiterhin in unseren Gesellschaften wirksam ist. Nur im Rahmen dieses anthropologischen Grunddatums lässt sich die ganz spezifische Beziehung der Christinnen und Christen zu Jesus von Nazareth, dem „Über-setzer“ par excellence, verstehen und als „Nachahmung“ oder „Nachfolge“ leben. Ohne hier im Einzelnen auf die christologischen Bedingungen der die christliche Berufung charakterisierenden Identifikation mit diesem Christus Jesus einzugehen, sei doch auf die absolute Glaubwürdigkeit seiner Existenz als „Über-setzer“ verwiesen. Sie gründet nicht in priesterlicher Sakralität oder in irgendeiner intellektuellen oder politischen Machtausübung, sondern in seinem absichtslosen Interesse an den alltäglichen Lebensgeschichten aller seiner Zeitgenossen. Man kann deshalb auch von seiner menschlichen Heiligkeit sprechen: erstens seiner Übereinstimmung mit sich selbst – Jesus sagt immer, was er denkt, und tut, was er sagt –; zweitens seiner ihn ganz durchdringenden Empathie oder Sympathie und seinem aktiven Mitleid mit seinen Zeitgenossen; und, vor allem, drittens, in diesen ethischen Haltungen, einer in seiner Gottesbeziehung gründenden, theologalen Freiheit sich selbst gegenüber, die sich dann zeigt, wenn er sein Leben auch für seine Widersacher oder den Verräter einsetzt und inmitten der Ambiguitäten solcher Beziehungen alles von Gott allein erwartet.
In unserer Rückbesinnung auf die Anfänge unserer eigenen Berufungsgeschichte kommt uns somit nicht nur dieser oder jener konkrete „Über-setzer“ in den Sinn, sondern vielleicht auch seine und meine eigene, bzw. unsere Beziehung mit Jesus von Nazareth als Identifikationsfigur par excellence. Gleichzeitig kann sich so auch der humane Untergrund meiner von diesem „Über-setzer“ par excellence ermöglichten „menschlichen Berufung“ zwischen Geburt und Tod zeigen; vielleicht mit dem bereits vom Zweiten Vatikanum formulierten Versprechen, meine und unsere christliche Berufung in den geschwisterlichen Dienst an der Menschlichkeit der anderen zu stellen.
In dem Moment, wo wir uns so unterbrechen lassen und auf Gottes Stimme in den menschlichen Worten unserer „Über-setzer“ (vgl. 1 Thess 2,13f.) hören lernen und deren Fruchtbarkeit in uns wahrnehmen, taucht der erschreckende Kontrast zwischen unserer Pastoral und den Lebensgeschichten vieler unserer Zeitgenossen auf. Wir beschränken uns vielfach darauf, einen liturgischen Rhythmus aufrechtzuerhalten, pastorale Ereignisse vielfältiger Art zu organisieren, immer nach einer zentripetalen oder kirchenzentrierten Logik, und nehmen zu selten die Alltagsereignisse vieler unserer Zeitgenossen war. Gerade dies sollte jedoch das Ziel einer Pastoral sein, die tatsächlich davon lebt, in der Nachfolge Jesu und seiner zweiundsiebzig Jünger zuallererst das Leben der Menschen zu betrachten – „die Ernte ist groß“ (Lk 10,1f.) – und in deren eigenem „Zuhause“ das Evangelium, vielfach als Protoevangelium hörbar zu machen. Dazu noch einige berufungstheologische Hinweise.
Alles kommt in der Tat darauf an, den Mitmenschen, denen wir im Alltag begegnen, zu ihrem eigenen „Sein-können“ zu verhelfen, wie Lukas dies in der Aussendungsrede der Zweiundsiebzig prägnant erzählt: „Wenn ihr in ein Haus kommt, so sagt als Erstes: Friede diesem Haus! Und wenn dort ein Sohn oder eine Tochter des Friedens wohnt, wird euer Friede auf ihnen ruhen; andernfalls wird er zu euch zurückkehren. Bleibt in diesem Haus, esst und trinkt, was man euch anbietet“ (Lk 10,5ff.).
Solches Exposure, wie es sich im Werben der Jünger um Gastfreundschaft verwirklicht, braucht zunächst Begegnungsräume: Räume, die nicht von Machtverhältnissen oder Hegemonieansprüchen geprägt sind, sondern grenzüberschreitende Lebensstile und neue Möglichkeiten des Zusammenlebens und gegenseitiger Gastfreundschaft eröffnen.
Je weniger die pastoralen Akteure selbst die Hausherren oder Hausdamen sind, desto mehr befinden sie sich in der Position derer, die um Gastfreundschaft bitten; und je weniger ihre Funktion oder amtliche Position das Sagen hat (was nicht heißt, dass diese bedeutungslos geworden ist), desto mehr rückt ihre persönliche Glaubwürdigkeit in den Vordergrund und ihre Fähigkeit, sich zu dezentrieren und sich absichtslos für ihr Gegenüber zu interessieren.
Alle diese „Unterbrechungen“, vor allem wenn sie negativ belastet sind, aktivieren unsere Sinnfrage und geben ihr vielfach einen dramatischen Ton: Lohnt es sich wirklich zu leben? Weiterzuleben? Das mir zugefügte Leben – hält es sein Versprechen? Der reine Überlebenstrieb genügt hier nicht mehr; solches anerkennen, ermöglicht das Entstehen eines elementaren Lebensglaubens; Paul Tillich nannte ihn einmal „Mut zum Sein“. Allerdings entsteht eine solche, nie ein für alle Mal gewonnene elementare Glaubens-Überzeugung nur dann in jemandem, wenn ihm ein „Es lohnt sich wirklich…“ – „Du kannst…“ von einem Mitmenschen glaubhaft, und das heißt in Wort und Tat zugesprochen wird. Jesus gab in solchen Eröffnungssituationen seinem Zuspruch die Form einer heilenden und rettenden Zusage: „Meine Tochter, mein Sohn, dein Glaube hat dir geholfen“.
Genau dies sollte das Herz unserer Pastoral sein. Nicht selten führen dann solche mehr oder weniger kurze, aber mit „Heil“ gefüllten Begegnungen zu der Frage des Gegenübers nach der Identität der pastoralen Akteure. Diese spezifische „Eröffnungsituation“ erlaubt es dann, nicht nur auf den „Über-setzer par excellence“, Jesus den Christus, zu verweisen, seine Geschichte zu erzählen, sondern vor allem auch sein und unser Hören auf den ins Dasein rufenden Gott, den Gott, der unser und sein Leben zu einem Ganzen macht, in der vom Gegenüber erlebten Unterbrechung seiner Lebensgeschichte erfahrbar zu machen.