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GuL 97 (2024), Heft 3 Juli-September 2024 n. 512 Notiz Ralph Kunz Schlachtjahrzeit - aus der Zeit gefallen [223-224] Nachfolge Klaus Vechtel SJ Theologie als Mystagogie. Zum 40. Todestag von Karl Rahner SJ [226-232] Veronika Hoffmann "Hermeneutik gegen den Anschein". Zur Deutung negativ erlebter religiöser Erfahrungen [233-241] Edith Kürpick FMJ Das verschluckte Wort. Gottrede zwischen Verrat und Verkündigung [242-248] Markus Kneer Europa oder der Ernstfall. Ein Requiem für Jacques Delors [249-253] Nachfolge | Kirche Gerald Baumgartner SJ Wege zum Frieden suchen. Ein Jesuit in der Jgendarbeit in Syrien [254-258] Michael Höffner Spirituelle Autonomie [259-267] Stepha Tautz Radikale Sakramentalität Wie politisch ist das katholische Kerngut? [268-276] Nachfolge | Junge Theologie Veronika Kanf Gott hören und suchen. Die Erzählungen des Rabbi Nachman von Bratzlaw [277-282] Reflexion Peter Reifenberg Das Leben - ein Akt der Ergebenheit Zum 75. Todestag von Maurice Blondel (1861-1949) [284-292] Bruno Niederbacher SJ Ignatianische Unterscheidung im klassischen Menschenbild [293 -301] Ulrich Hörwick Glück - Sinn - Selbst. Selbstverwirklichung "sein lassen" [302-310] Lektüre Michael de Certeau SJ Aspekte des Gebets [312-321] Andrea Riedl Entschlossen vorangehen. Ignatianische Spiritualität als Stachel für die ökumenische Praxis [322-325] Buchbesprechung [326-330]
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Heft 3 | Juli–September 2024
Jahrgang 97 | Nr. 512
Notiz
Schlachtjahrzeit – aus der Zeit gefallen?
Ralph Kunz
Nachfolge
Theologie als Mystagogie. Zum 40. Todestag von Karl Rahner SJ
Klaus Vechtel SJ
„Hermeneutik gegen den Anschein“. Zur Deutung negativ erlebter religiöser Erfahrungen
Veronika Hoffmann
Das verschluckte Wort. Gottrede zwischen Verrat und Verkündigung
Edith Kürpick FMJ
Europa oder der Ernstfall. Ein Requiem für Jacques Delors
Markus Kneer
Nachfolge | Kirche
Wege zum Frieden suchen. Ein Jesuit in der Jugendarbeit in Syrien
Gerald Baumgartner SJ
Spirituelle Autonomie
Michael Höffner
Radikale Sakramentalität. Wie politisch ist das katholische Kerngut?
Stephan Tautz
Nachfolge | Junge Theologie
Gott hören und suchen. Die Erzählungen des Rabbi Nachman von Bratzlaw
Veronika Kanf
Reflexion
Das Leben – ein Akt der Ergebenheit. Zum 75. Todestag von Maurice Blondel (1861–1949)
Peter Reifenberg
Ignatianische Unterscheidung im klassischen Menschenbild
Bruno Niederbacher SJ
Glück – Sinn – Selbst. Selbstverwirklichung „sein lassen“
Ulrich Hörwick
Lektüre
Aspekte des Gebets
Michel de Certeau SJ
Entschlossen vorangehen. Ignatianische Spiritualität als Stachel für die ökumenische Praxis
Andrea Riedl
Buchbesprechungen
GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christliche Spiritualität. Begründet 1926 als Zeitschrift für Aszese und Mystik
Erscheinungsweise: vierteljährlich
ISSN 0016–5921
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Zentraleuropäische Provinz der Jesuiten
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Diesem Heft liegen folgende Prospekte bei:
Themen der Theologie, Pustet Verlag
Gottes Wort im Kirchenjahr, Echter Verlag
Wir bitten um Beachtung.
Ralph Kunz | Zürich
geb. 1964, Dr. theol., Prof. für Praktische Theologie an der Universität Zürich, Beiratsmitglied von GEIST & LEBEN
In einigen Gegenden der Schweiz gibt es ein seltsames Ritual. Man gedenkt jährlich der Toten einer längst vergangenen Schlacht. Der Brauch geht zurück auf das Mittelalter. Oftmals hatte man die Toten nach einer geschlagenen Schlacht ohne Sterbesakramente begraben. Das Zeremoniell im Nachhinein sollte für ihr Seelenheil sorgen. Ursprünglich fanden diese Feierlichkeiten nicht am Ort des Geschehens, sondern in den örtlichen Pfarrkirchen statt. Meist wurden die Namen der Gefallenen zusammen mit einem kurzen Bericht über die Ereignisse im Rahmen des liturgischen Totengedenkens verkündet. Natürlich diente die Erinnerung auch dem gemeinschaftlichen Zusammenhalt. Die Repräsentanten der weltlichen Obrigkeiten leiteten zusammen mit den Geistlichen die Feierlichkeiten. In der alten Eidgenossenschaft waren insbesondere die Schlachten gegen die Habsburger im 14. Jh. Ereignisse, die die kollektive Identität nachhaltig prägten. Mit der Zeit ging man dazu über, am Ort zu feiern. Auf den Schlachtfeldern wurden Kapellen erstellt, zu denen man am Jahrestag prozessiert.
In der kleinräumigen Schweiz waren die Schlachtjahrzeiten zunächst regional bedeutsam. Im 19. Jh. wurden sie zunehmend als Medien für die Präsentation der nationalen Identität eingesetzt – zwar stark säkularisiert, aber immer mit einer sichtbaren kirchlichen Präsenz. Allerdings wurden es dann mit der Zeit weniger Schlachtjahrzeiten. Einige wurden ersetzt durch Schützenfeste und andere weltliche Feierlichkeiten. Aber die, die geblieben sind, erfreuen sich großer Beliebtheit.
Eine dieser Schlachtjahrzeiten ist die „Näfelser Fahrt“. Man gedenkt der Gefallenen, die vor 631 Jahren ihr Leben im Kampf gegen die Habsburger gelassen hatten. Diese rückten am 8. April gegen die Glarner vor: Insgesamt 6500 Söldner gegen 400 Bauern und Bürger, die mit ein paar Dutzend Schwyzern und Urnern ihre Dörfer verteidigten. Es sah nicht gut aus. Die Feinde stürmten die Wehrmauern und begannen ihr grausiges Werk, plünderten, marodierten, brandschatzten und zerstörten. Es war vorauszusehen, wie die ungleiche Schlacht ausgehen würde. Aber es kam anders. Die Feinde wurden erschlagen oder sind im Fluss ertrunken. Nur 54 Glarner und Eidgenossen sind gefallen – ihre Namen werden Jahr für Jahr gelesen. So will es die Tradition.
Nach der Reformation wollten die Reformierten nichts mehr von der Totenmesse wissen. Auch dass der Heilige Fridolin zum Kriegsglück beigetragen haben soll, war ihnen nicht genehm. Von der Feier lassen, wollten sie dennoch nicht. Mit dem friedlichen Miteinander war es vorerst vorbei, aber immerhin hat man einander leben lassen. Also feierte man im schiedlichen Nebeneinander. Im 19. Jh., mit der Gründung des Bundesstaates, gab es erfolgreiche Anstrengungen, die reformierte und die katholische Feier wieder freundeidgenössisch zu vereinen. Seither wird die Fahrt wieder als eine Prozession mit Predigt mit anschließender Messe gefeiert. Um den konfessionellen Frieden zu wahren, predigt in einem Jahr ein katholischer und im anderen Jahr ein reformierter „Fahrtsprediger“. Wie bei allen Bräuchen kann man auch bei diesem fragen: Warum braucht es das noch? Sind Schlachtjahrzeiten nicht aus der Zeit gefallene Relikte? Wie viel Sinn hat es, einem beinahe 700-jährigen Provinzscharmützel ein solches Gewicht zu verleihen?
Da ich in diesem Jahr als reformierter Fahrtsprediger berufen war, musste ich mir diese Frage stellen. Meine erste Antwort: Es haben die Richtigen gewonnen. Das unerwartete Kriegsglück in Näfels hat etwas von David gegen Goliath. Darin liegt die Würde der Fahrt, dass die Namen der Helden, die Jahr für Jahr gelesen werden, die Namen einfacher Menschen waren, keine Fürsten und keine Vögte, keine Könige oder Offiziere. Es sind kleine Leute, deren Existenz wir schon längst vergessen hätten, wenn es die Fahrt nicht gäbe. Es sind ihre Seelen, die zählen. Das hat etwas Tröstliches und es war ganz sicher damals ein großer Trost für die trauernden Geschwister, Ehefrauen und Eltern der Gefallenen.
Aber jedes Schlachtgedenken hat auch etwas Bitteres. Wie viele abertausende Schlachten wurden geschlagen und am Ende haben doch die Falschen gewonnen? Ein paar Flugstunden von Näfels toben blutige Schlachten. Ein paar Wochen vor der Fahrt titelte die Neue Zürcher Zeitung: „Kommt es zum Dritten Weltkrieg?“ Schon die Frage macht Angst. Denn es wäre die Höllenfahrt. Der glücklich gewonnene Kleinkrieg in der Vergangenheit könnte dazu verleiten, den vielzitierten Satz des preußischen Generalmajors Carl von Clausewitz für wahr zu halten. Nein, der Krieg ist nicht die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln – es ist ihr Ende.
Meine zweite Antwort auf die Frage, ob Schlachtjahrzeiten Sinn machen: Ja, wenn die Predigt zur Fahrt an den erinnert, der aufgefahren ist, um wiederzukommen. Ja, Schlachtjahrzeiten haben ihren Sinn, wenn sie helfen, die Hoffnung nicht fahren zu lassen, dass es eine Alternative gibt zur Weisheit des preußischen Generals. Nicht nur der Krieg, auch das Gebet ist eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Auf dass sein Reich komme, und sein Wille geschehe im Himmel wie auf Erden.
Klaus Vechtel SJ | Frankfurt a.M.
geb. 1963, Dr. theol., Professor für Dogmatik an der Phil.-Theol. Hochschule Sankt Georgen, Beiratsmitglied von GEIST & LEBEN
Vor nunmehr vierzig Jahren, am 30. März 1984, verstarb Karl Rahner. Kurz vor seinem Tod hat er bei einem Festakt anlässlich seines 80. Geburtstags mit einer Rede über „Erfahrungen eines katholischen Theologen“1 eine Art theologisches Vermächtnis hinterlassen. Rahner spricht darin über den all unsere Begriffe und Vorstellungen übersteigenden Gott und entwirft eine alle zu naiven Auffassungen durchkreuzende Vorstellung vom Kommenden, vom ewigen Leben. In einem kurzen Abschnitt kommt er auch auf seine Existenz als Ordenschrist und Theologe zu sprechen und verweist auf die Schwierigkeit einer durch bestimmte inhaltliche Positionen bestimmten „Ordenstheologie“. Zugleich jedoch hält er fest: „Ich […] hoffe, dass mein großer Ordensvater Ignatius von Loyola mir zubilligt, dass in meiner Theologie so ein kleinwenig von seinem Geist und seiner ihm eigenen Spiritualität merkbar ist.“2 Diesem „Kleinwenig“ der ignatianischen Spiritualität in der Theologie Rahners will der folgende Beitrag ein „kleinwenig“ nachgehen im Gedenken an den 40. Todestag Rahners, der viele seiner Texte – nicht zuletzt zum Gebet – in der Zeitschrift „Geist und Leben“ veröffentlichte.3
Im Vorwort zu Band XII der „Schriften zur Theologie“ bezieht Rahner seine „Theologie aus Erfahrung des Geistes“ nicht auf ein allgemeines Wirken des Geistes, sondern „auf jene ganz spezifische Erfahrung […], zu der Ignatius von Loyola durch die Exerzitien, die geistlichen Übungen anleiten und führen möchte“4, und in deren Mittelpunkt der Prozess einer „Wahl“, d.h. das Suchen und Finden eines konkreten Willen Gottes und die „Unterscheidung der Geister“ stehen. Mit der Wiederentdeckung der ignatianischen Quellen durch Karl Rahner, seinen Bruder Hugo und viele andere, ist der Sinn neu dafür gewachsen, dass es in den Exerzitien nicht um ein Finden des Gotteswillens geht, das aus allgemeinen Prinzipien der kirchlichen Lehre oder Moral deduktiv ableitbar wäre. Vielmehr steht im Zentrum der Exerzitien ein unmittelbares Wirken Gottes mit dem Menschen.5 Die Exerzitien rechnen mit der Möglichkeit, dass Gott dem einzelnen Menschen seinen je-persönlich geltenden Willen mitteilt und dass dieser Wille Gottes mit der Freiheit des Menschen und seiner Suche nach einem ihn erfüllenden Lebensganzen korrespondiert. Was in den Jahrhunderten zuvor eher als ein Ausnahmefall für wenige mystisch Begnadete angesehen wurde – dies ist die Wiederentdeckung Rahners und anderer –, ist für Ignatius der „Normalfall“. Es gibt keine externalisierbaren oder verobjektivierten Kriterien, an denen von vornherein die Bedeutung des eigenen Lebens und die Pflicht des eigenen Handelns abzumessen wären. Vielmehr geschieht dies in einer unableitbaren Kommunikation mit Gott, im Rahmen einer unableitbaren Gotteserfahrung, die auf der Ebene seelischer Regungen, der Erfahrung von Trost und Misstrost wahrgenommen werden kann.6 Die Exerzitien sind für Rahner aus diesem Grund ein Dokument der Neuzeit, weil für sie nicht mehr durch die objektiven Strukturen von Welt und Kirche der Wille Gottes dem einzelnen Menschen vermittelt wird, sondern in einer Freiheitsgeschichte, in der der Mensch lernt, seine Einzigartigkeit und Subjektivität anzunehmen: „Gott ist gerade der Name dafür, dass solche absolute Freiheit […] möglich ist und dem Subjekt zugeschickt und zugemutet werden kann und soll.“7
Rahners Theologie ist meines Erachtens von dem Anliegen geleitet, diese unmittelbare Gotteserfahrung, zu der die Exerzitien disponieren möchten, theologisch zu erschließen. Zu Beginn seines theologischen Arbeitens findet Rahner im Rückgriff auf patristische und mittelalterliche Quellen – in der Lehre von den „geistlichen Sinnen“ bei Origenes und bei Bonaventura8 – eine begriffliche Artikulation der unmittelbaren Erfahrung Gottes. Später ist es sein Anliegen, mit Hilfe der modernen Subjektphilosophie die Transzendenz des Menschen in allem Erkennen und Handeln aufzuzeigen. Allerdings ist Gott nicht einfach die Antwort auf die Frage des Menschen. Es wäre zu einfach zu sagen, dass Rahner die Relevanz des Gottesgedankens nur über die Fraglichkeit und Offenheit des Menschen sichert – und somit Gott und den Menschen theologisch „instrumentalisiert“. Wenn es richtig ist, dass die Exerzitien für Rahner „eine indirekte Entdeckungsgeschichte des Subjekts“9 darstellen, dann nicht in dem Sinne, dass die Spiritualität und der Gottesglaube immer schon die Lösung für die Fragen des Menschen bereithalten, sondern umgekehrt. Im Gegenüber zu Gott entdeckt der Mensch seine Subjektivität als eine offene Frage an Gott und an sich selbst. Für eine christliche Spiritualität, die nicht die Unsicherheit des Glaubens durch gefährliche Sicherheitsversprechen kaschieren will, kann im Anschluss an Rahner festgehalten werden: Gott ist nicht einfach die Antwort auf die Frage des Menschen, sondern der „Ermöglicher“ allen Fragens und auch der Ungesichertheit christlicher Existenz.
Die fundamentale Wirklichkeit des Christentums ist für Rahner die „Erfahrung der Gnade“10. Gnade ist keine dinghafte, von Gott verschiedene Wirklichkeit, sondern Gott selbst: „Die eigentliche und einzige Mitte des Christentums und seiner Botschaft ist darum für mich die wirkliche Selbstmitteilung Gottes in seiner eigensten Wirklichkeit und Herrlichkeit an die Kreatur, ist das Bekenntnis zu der unwahrscheinlichsten Wahrheit, dass Gott selbst mit seiner unendlichen Wirklichkeit und Herrlichkeit, Heiligkeit, Freiheit und Liebe wirklich ohne Abstriche bei uns selbst in der Kreatürlichkeit unserer Existenz ankommen kann und alles andere, was das Christentum anbietet oder von uns fordert, demgegenüber nur Vorläufigkeit oder sekundäre Konsequenz ist.“11
Dass Gottes gnadenhafte Selbstmitteilung den Menschen im Innersten bestimmt, ist für Rahner kein die Freiheit und Verantwortung des Menschen missachtendes Tun Gottes, sondern Konsequenz seines universalen Heilswillens.12 Gegenüber dem Heilspessimismus, der im Anschluss an Augustinus den christlichen Glauben oftmals prägte, ist Rahner überzeugt: Gott will unwiderruflich das Heil aller Menschen. Der Heilswille Gottes – man könnte von einem „Grunddogma“ des Glaubens sprechen – ist nicht nur eine bloße Absichtserklärung Gottes, sondern wird wirklich und wirksam im Geschenk der Gnade, unbeschadet der Möglichkeit des Menschen, sich frei zu diesem Geschenk zu verhalten.
Die Gnade ist nicht nur Dogma des Glaubens, sondern ähnlich wie die „Tröstung“ durch Gott in den Exerzitien, eine prinzipiell der menschlichen Erfahrung zugängliche Wirklichkeit. Rahner spricht von Phänomenen wie etwa der Erfahrung von personaler Liebe, der Treue gegenüber dem eigenen Gewissen, der Entschiedenheit für das Gute, ohne dafür belohnt zu werden, dem Loslassen in der Erfahrung von Leid oder Tod: „Suchen wir selbst in der Betrachtung unseres Lebens die Erfahrung der Gnade. Nicht um zu sagen: das ist sie; ich habe sie. – Man kann sie nicht finden, um sie triumphierend als sein Eigentum und Besitztum zu reklamieren. Man kann sie nur suchen, indem man sich vergisst […].“13 Die Beschreibung der Phänomene, in denen die Gnade erfahrbar werden kann, lässt sich leicht derart missverstehen, als würde sich Gottes gnadenhafte Selbstmitteilung vor allen Dingen in heroisch-einsamen Akten des Menschen widerspiegeln (und Rahner wird von solchen Vorstellungen nicht frei gewesen sein). Meines Erachtens kommt darin auch zum Ausdruck, dass ein persönlicher Glaube nicht instrumentalisierbar ist für besondere religiöse Erfahrungen, sondern sich eher in einer menschlich profunden Treue zu sich selbst und zu anderen manifestiert. Rahners Verständnis des christlichen Glaubens hat nichts Elitäres, wie z.B. die kleine Schrift „Alltägliche Dinge“14 zeigt. Hier werden alltägliche Vollzüge, wie etwa Gehen, Sitzen, Lachen, Essen und Schlafen in ihrer theologischen Tiefe beschrieben: „Die schlichte und ehrlich angenommene Alltäglichkeit birgt selber das ewige Wunder und das schweigende Geheimnis, das wir Gott und seine heimliche Gnade nennen, gerade dann, wenn sie Alltäglichkeit bleibt.“15 Die hier zum Ausdruck kommende Weltfreudigkeit der ignatianischen Spiritualität ist nicht angewiesen auf außerordentliche religiöse Erfahrungen. Weil Gott größer ist als alles, und allen Dingen in einer Indifferenz zu begegnen ist, die offen ist für das Ziel des Menschen (Gott und seinen Heilswillen), gibt es in der ignatianischen Spiritualität eine gewisse Unruhe: „ihn in allen Dingen suchen, das heißt aber: ihn immer dort zu suchen, wo er sich je und je finden lässt“16.
Die Erfahrung Gottes ist kennzeichnend für Christ(inn)en in einer säkularen Welt. Man kann fragen, ob Rahner auf eine eigene Art einen Sinn dafür hatte, dass der Glaube in einer säkularen Gesellschaft nur eine Option, „nur eine menschliche Möglichkeit neben anderen ist“17. In jedem Fall betont er, dass ein zukünftiges Christentum auf der Freiheit einer persönlichen Entscheidung beruht. Mit der Vision eines Entscheidungschristentums ist jedoch kein anti-volkskirchlicher Affekt verbunden, wie er zum Teil neuere missionarische „Aufbruchsbewegungen“ prägt. Die Gestalt eines zukünftigen Christentums ist für Rahner schlicht stärker bestimmt von der Erfahrung Gottes. Davon spricht der vielzitierte Satz „der Fromme von morgen wird ein ‚Mystiker‘ sein, einer der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein“18. Diese Erfahrung begründet keine harmlose Normalität des Glaubens, weil Gott „wesentlich der Unbegreifbare“19 ist, der gerade als solcher erkannt wird, wenn er sich dem Menschen zu erfahren gibt. Mit dem Ja zu einer solchen Gotteserfahrung, die die Unbegreiflichkeit Gottes und „seine schweigende Finsternis“20 betont, sind die Christ(inn)en der Zukunft nicht überheblich abgesetzt von ihren religiös indifferenten Zeitgenoss(inn)en, denen Gott fremd geworden ist, sondern deren Situation vielleicht doch auch nahe.
Das Wagnis und Risiko der Glaubensentscheidung, aber auch ihre Legitimität und rationale Verantwortbarkeit, wird von Rahner erneut in den Kontext der ignatianischen Exerzitien und der darin vollzogenen Wahl und Lebensentscheidung eines Menschen gestellt. Die Wahl in den Exerzitien hat sich Ignatius im Kontext seiner Zeit als eine Entscheidung für einen bestimmten christlichen Lebensstand vorgestellt („Stand der Gebote“ oder „Rätestand“). In den Exerzitien kann eine rationale Reflexion auf die Frage, welchen Weg ich für mein Leben wählen soll, nur eine relative Sicherheit geben, ob diese Entscheidung „richtig“ ist für mein Leben (und somit dem Willen Gottes entspricht). Getragen und legitimiert wird eine Entscheidung, die einen eigenen Lebensentwurf betrifft, durch die Erfahrung der Tröstung, die Gott dem betenden Menschen schenkt. In Rahners Terminologie: durch die Erfahrung der Gnade. In der Trost- bzw. Gnadenerfahrung kommen die (rationalen) Überlegungen zum Gegenstand der Wahl zusammen mit einer Offenheit und Freiheit des Menschen auf Gott hin.21
In einer derartigen Entscheidung, die den Lebensentwurf eines Menschen betrifft, sieht Rahner ein Modell dafür, wie die Legitimität der Glaubensentscheidung und ihre rationale Durchdringung in der Theologie verstanden werden kann. Dabei wird die Glaubensentscheidung nicht als eine logisch stringente Abfolge einzelner Akte aufgefasst, in der die Glaubenszustimmung in einem linearen Nacheinander auf die rationale Glaubwürdigkeitserkenntnis folgt. Weil die rationalen Gründe für den Glauben nie eine völlige Sicherheit bieten können – der Glaube wäre andernfalls kein Akt des Vertrauens mehr –, gibt es ein gegenseitiges Bedingungsverhältnis zwischen der „äußeren“ biblischen Offenbarungsgeschichte und der „inneren“, persönlichen Erfahrung der Gnade. Erst in der Begegnung mit der biblischen Offenbarungsgeschichte und der Person Jesu kann ich meine persönliche Erfahrung als eine Frage verstehen, die mit Gott zu tun hat, lässt sich meine persönliche Erfahrung als Begegnung mit Gott – als Gnade – verstehen und deuten. Umgekehrt können die biblischen Ereignisse und die Person Jesu erst durch meine persönliche Erfahrung, durch eine – unreflektierte und evtl. „verschüttete“ – Offenheit auf Gott hin (Gnade) geglaubt werden.
Rahner versteht den Glauben von einer „Logik der existentiellen Entscheidung“22 her, wie sie sich auch in den ignatianischen Exerzitien findet. Dass dabei die Geschichte und die geschichtliche Offenbarung an Bedeutung verlieren, scheint mir ein unberechtigter Vorwurf an Rahner zu sein. Zum Verstehen der Transzendentalität des Menschen ist eine hörende Hinwendung zur Geschichte notwendig. Kritisch zu sehen hingegen ist, dass sich keine nennenswerte Theologie des Alten Testamentes und auch keine Theologie des Judentums bei ihm findet.23 Man könnte fragen, ob dies ebenso wie die Zentralität, die er der Person Jesu beimisst, mit seinen ignatianischen Wurzeln zu tun hat.24 In der Person Jesu Christi ist für Rahner die endgültige und nicht mehr zurücknehmbare „Synthese“ zu finden zwischen dem Menschen und seiner Offenheit auf Gott hin und der Geschichte des Handelns Gottes25: „Da ist ein Mensch, der liebt, der getreu ist bis in den Tod, bei dem das ganze Menschsein, das Leben, das Reden, das Handeln offen ist auf das Geheimnis hin, das er seinen Vater nennt, dem er sich auch noch vertrauend übergibt, wenn alles scheitert. Für ihn ist der unauslotbare finstere Abgrund seines Lebens die bergende Hand des Vaters und so hält er an der Liebe zu den Menschen auch noch fest und an der Hoffnung schlechthin, wo alles im Tod unterzugehen scheint.“26
Das bedeutet: In Jesus Christus, dem neuen Menschen, findet sich alles Menschsein auf höchste und unableitbare Weise erfüllt. Weil Gott den Menschen und die Welt von vornherein geschaffen hat hin auf seine Selbstmitteilung, ist das Menschsein Jesu in all seinen Facetten zugleich Realsymbol Gottes und insbesondere der zweiten Person der Trinität, des Logos. In den Mysterien des Lebens Jesu, die für Ignatius zentraler Gegenstand der Betrachtungen sind, findet Rahner den realsymbolisch-geschichtlichen Erscheinungsort Gottes schlechthin.
Vieles kann an dieser Stelle nicht gesagt werden: seine Überzeugung von einem kirchlichen Christentum, aber auch sein Engagement für eine ökumenische Einheit der Kirchen, für eine demokratischere und auch geschlechtergerechte Kirche. Rahners Theologie hat eine mystagogische Dimension. Bei aller Wissenschaftlichkeit will sie die „beredete Sache“27 – Gott selbst – und nicht nur die „Rede über die Sache“28 bedenken, und ist darin auch Einweisung in das den Menschen übersteigende und doch berührende Geheimnis Gottes (reductio in mysterium). Ob Rahners Theologie der Vergangenheit angehört oder eine Zukunft hat, steht mir nicht an zu beurteilen. Meines Erachtens wird sich die Theologie jedoch auch zukünftig aus spirituellen Wurzeln speisen.
1K. Rahner, Von der Unbegreiflichkeit Gottes. Erfahrungen eines katholischen Theologen. Freiburg i.Br. 2004 (= KRSW Bd. 25: Erneuerung des Ordenslebens. Freiburg i.Br. 2008, 47–57).
2Ebd., 46.
3So etwa auch noch zum Ende seines Lebens hin: K. Rahner, Vom Mut und der Gnade, sich auf das Ganze einzulassen. Beten als Grundvollzug menschlicher Existenz, in: GuL 56 (1983), 12–14 (= KRSW Bd. 29: Geistliche Schriften. Freiburg i.Br. 2007, 88–90).
4K. Rahner, Vorwort, in: ders., Schriften zur Theologie. Bd. XII: Theologie aus Erfahrung des Geistes. Zürich u.a. 1975, 7–13, hier: 8 (= KRSW Bd. 22/2: Dogmatik nach dem Konzil. Freiburg i.Br. 2008, 793–797).
5Vgl. Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen. Übers. und erklärt v. P. Knauer. Graz u.a. 19832, Nr. 15.
6Vgl. K. Rahner, Moderne Frömmigkeit und Exerzitienerfahrung, in: ders., Schriften zur Theologie Bd. XII, 173–197, hier: 173–181 [s. Anm. 4] (= KRSW Bd. 25, 213–231 [s. Anm. 1]); vgl. auch K. Wenzel, Unvertretbar subjektiv. Karl Rahners ignatianisches Glaubensverständnis, in: H. Deuser / S. Wendel (Hrsg.), Dialektik der Freiheit. Religiöse Individualisierung und theologische Dogmatik. Tübingen 2012, 203–215, hier: 209f.
7K. Rahner, Moderne Frömmigkeit und Exerzitienerfahrung, 180 [s. Anm. 6].
8Später auf Deutsch veröffentlicht: K. Rahner, Die „geistlichen Sinne“ nach Origenes, in: ders., Schriften zur Theologie Bd. XII, 11–136 [s. Anm. 4] (= KRSW Bd. 1: Frühe Spirituelle Texte und Studien. Freiburg i.Br. 2014, 17–65); K. Rahner, Die Lehre von den „geistlichen Sinnen“ im Mittelalter, in: ders., Schriften zur Theologie Bd. XII, 137–172 [s. Anm. 4] (= KRSW Bd.1, 83–147 [s. Anm. 8]).
9K. Wenzel, Unvertretbar subjektiv, 211 [s. Anm. 6].
10Vgl. K. Rahner, Über die Erfahrung der Gnade, in: ders., Schriften zur Theologie Bd. III. Einsiedeln u.a. 21957, 105–109 (= KRSW Bd.5/1: De Gratia Christi. Freiburg i.Br. 2015, 84–87).
11K. Rahner, Von der Unbegreiflichkeit Gottes, 36 [s. Anm. 1].
12In diese Richtung zielt die Kritik am Theologumenon vom „übernatürlichen Existential“.
13K. Rahner, Über die Erfahrung der Gnade, 109 [s. Anm. 10].
14K. Rahner, Alltägliche Dinge. Einsiedeln u.a. 1964 (= KRSW Bd. 23: Glaube im Alltag. Freiburg i.Br. 2006, 484–487).
15Ebd., 8.
16K. Rahner, Die ignatianische Mystik der Weltfreudigkeit, in: ders., Schriften zur Theologie Bd. III., 346 [s. Anm. 10] (= KRSW Bd. 7: Der betende Christ. Freiburg i.Br. 2013, 279–293).
17C. Taylor, Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt 2008, 15.
18K. Rahner, Frömmigkeit früher und heute, in: ders., Schriften zur Theologie Bd. 7. Einsiedeln u.a. 1966, 11–31, hier: 22 (= KRSW Bd. 23: Glaube im Alltag, 31–46 [s. Anm. 14]).
19Ebd., 23.
20Ebd.
21Vgl. K. Rahner, Einige Bemerkungen zu einer neuen Aufgabe der Fundamentaltheologie, in: ders., Schriften zur Theologie Bd. XII, 198–211, hier: 204–207 [s. Anm. 4] (= KRSW Bd. 22/1a: Dogmatik nach dem Konzil. Freiburg i.Br. 2012, 396–405).
22Ebd., 208.
23Vgl. dazu B. J. Collinet / G. Fischer (Hrsg.), Karl Rahner und die Bibel. Interdisziplinäre Perspektiven (QD 326). Freiburg i.Br. 2022.
24Dass das Alte Testament in den Exerzitien des Ignatius kaum eine Rolle spielt, wäre durch eine entsprechende Adaption der Übungen zu korrigieren.
25Vgl. dazu das schöne Bändchen K. Rahner, Warum ich Christ bin. Vom Mut zum kirchlichen Christsein. Freiburg i.Br. 2012 (= KRSW Bd. 29, 3–11 [s. Anm. 3]).
26K. Rahner, Warum bin ich heute ein Christ?, in: ders., Wagnis des Christen. Freiburg i.Br. 1974, 27–40, hier: 31–32 (= KRSW Bd. 26: Grundkurs des Glaubens. Freiburg i.Br. 1999, 489–497).
27K. Rahner, Von der Unbegreiflichkeit Gottes, 31 [s. Anm. 1].
28Ebd.