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GuL 97 (2024), Heft 2 April-Juni 2024 n. 511 Notiz Stafan Kiechle SJ Den Glauben erzählen [113-114] Nachfolge Jochen Wagner Auf-hören. Beten in Zeiten des rasenden Stillstands [116-122] Michael Rosenberger Gekreuzigtes Leben -mitleidender Gott. Schöpfungsspiritualität nach Corona [123-131] Jörg Alt SJ Die "Klima-Bibel" - der Pentateuch für heute [132-138] Xavier Jeyaraj SJ | Christoph Benke "Ich bin bereit, den Preis zu zahlen". Stan Swamy SJ (1937-2021) [139-143] Nachfolge | Kirche Sandra Huebenthal Leben in der Fremde? Neues Testament und frühchristliche Diasporaerfahrung [144-152] Stephan Rothlin SJ Unterwegs zwischen Fremde und Heimat [153-157] Michael Quisinsky Größe und Elend des Glaubens? Jansenismus und Rigorismus in Geschichte und Gegenwart [158-166] Nachfolge | Junge Theologie Johannes Ludwig Soft ehtics? Vertrauen als Schlüsselkategorie eines Neuanfangs [167-172] Reflexion Simon Peng-Keller Nonduales Bewusstsein? Zur aktuellen Diskussion um kontemplative Exerzitien [174-183] Sebastian Maly SJ Franz Jalics SJ und sein Erbe. Zur Weiterentwicklung des Grieser Weges. Ein Tagungsbericht [184 -189] Andrea Völkner Das menschliche Lebensjetzt - in der Deutung W. Pannenbergs und H. U. v. Balthasars [190-198] Benno Haunhorst Herz Jesu und Maria zu Ehren. Anstöße von Günter Grass, Joseph Beuys und Marianne Gartner [199-206] Lektüre Maria Magdalena Dörtelmann OP Caterina lesen. Annäherung an die Kirchenlehrerin durch ihre Schriften [208-215] Buchbesprechung [216-220]
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Heft 2 | April–Juni 2024
Jahrgang 97 | Nr. 511
Notiz
Den Glauben erzählen
Stefan Kiechle SJ
Nachfolge
Auf-hören. Beten in Zeiten des rasenden Stillstands
Jochen Wagner
Gekreuzigtes Leben – mitleidender Gott. Schöpfungsspiritualität nach Corona
Michael Rosenberger
Die „Klimabibel“ – ein Pentateuch für heute?
Jörg Alt SJ
„Ich bin bereit, den Preis zu zahlen“. Stan Swamy SJ (1937–2021)
Xavier Jeyaraj SJ | Christoph Benke
Nachfolge | Kirche
Leben in der Fremde? Neues Testament und frühchristliche Diasporaerfahrung
Sandra Huebenthal
Unterwegs zwischen Fremde und Heimat
Stephan Rothlin SJ
Größe und Elend des Glaubens? Jansenismus und Rigorismus in Geschichte und Gegenwart
Michael Quisinsky
Nachfolge | Junge Theologie
Soft ehtics? Vertrauen als Schlüsselkategorie eines Neuanfangs
Johannes Ludwig
Reflexion
Nonduales Bewusstsein? Zur aktuellen Diskussion um kontemplative Exerzitien
Simon Peng-Keller
Franz Jalics SJ und sein Erbe. Zur Weiterentwicklung des Grieser Weges. Ein Tagungsbericht
Sebastian Maly SJ
Das menschliche Lebensjetzt – in der Deutung W. Pannenbergs und H. U. v. Balthasars
Andrea Völkner
Herz Jesu und Maria zu Ehren. Anstöße von Günter Grass, Joseph Beuys und Marianne Gartner
Benno Haunhorst
Lektüre
Caterina lesen. Annäherung an die Kirchenlehrerin durch ihre Schriften
Maria Magdalena Dörtelmann OP
Buchbesprechungen
GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christliche Spiritualität. Begründet 1926 als Zeitschrift für Aszese und Mystik
Erscheinungsweise: vierteljährlich
ISSN 0016–5921
Herausgeber:
Zentraleuropäische Provinz der Jesuiten
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Diesem Heft liegt folgender Prospekt bei:
Sehen mit geschlossenen Augen, Echter Verlag Wir bitten um Beachtung.
eISBN 978-3-4290-6676-5
Stefan Kiechle SJ | Frankfurt a.M.
geb. 1960, Dr. theol., Chefredakteur der Kulturzeitschrift „Stimmen der Zeit“, Beauftragter des Jesuitenordens für ignatianische Spiritualität, Beiratsmitglied von GEIST & LEBEN
In einem traditionellen Kirchenbild gab es Hirten und Herde, den lehrenden/leitenden Teil und den hörenden/geführten Teil der Kirche. Die Hirten waren die Kleriker. Seit sich ab dem 19. Jahrhundert durch die Priesterseminare eine meist recht gute Ausbildung durchsetzte, waren die Priester ordentlich gebildet: menschlich und geistlich, intellektuell und pastoral. Später übernahmen auch Religionslehrerinnen und Diakone, Ordensfrauen, Pastoralreferenten und Gemeindereferentinnen Hirtendienste, alle ebenfalls mit guter Ausbildung, daher mit einer gewissen Professionalität und mit beamtenartiger Anstellung bei der Kirche oder – im Fall der Schule – beim Staat.
Dieses Modell stirbt: Die Hirten und Hirtinnen gehen großenteils auf die Rente zu, kaum jemand kommt nach. Nicht nur bei Ordensleuten und Priestern, auch bei pastoralen Laienberufen gibt es kaum Nachwuchs. Seit Jahrzehnten versucht man zum einen, mit aufwändiger Berufungspastoral Nachwuchs zu werben – so gesehen, ist der Versuch gescheitert. Zum anderen will man mit pastoraler „Umstrukturierung“ des Mangels Herr werden – um zu vertuschen, dass in der Breite die einfachen Herden eben keine Hirtinnen und Hirten mehr bekommen. Nun werden ja auch die Herden rapide kleiner und das Geld für die Anstellung der Hirtinnen weniger. Mancher meint, das Problem regle sich dadurch von selbst. Aber vor allem auf dem Land bluten die Gemeinden aus, nicht nur in der Mitgliederzahl, auch im Geist und im Leben. Ist das traditionelle Kirchenbild am Ende? Taugt das Modell Hirtinnen – Herde nicht mehr? Wie kann der Glaube gelebt und weitergegeben werden, wenn es Lehrende und Leitende nicht mehr gibt?
Die Kirche wird ohne die herkömmlichen Hirten und Hirtinnen weitergehen müssen – ein schmerzhafter Verlust. Auch der bürokratische Überbau wird reduziert werden – der kleinere Verlust. Die Christgläubigen – ja, das Volk Gottes – werden einander den Glauben erzählen: In kleinen, persönlichen Gruppen werden sie Glaubenserfahrungen und Glaubenswissen weitergeben, mehr zeugnishaft und persönlich, respektvoll, liebend. Eltern erzählen ihren Kindern. Erwachsene, die sich im Glauben bilden, erzählen anderen Erwachsenen und Kindern. Das Erzählen wird zur Katechese. Christen werden narrativ in den Glauben einführen – die Bibel hat ja große narrative Kraft. Es wird weniger gelehrt, mehr ausgetauscht. Alles geschieht mit Gebet und im Gebet als der ersten und einfachsten Glaubenserfahrung, die man teilt und gemeinsam einübt. Im deutschsprachigen Raum werden wir von Christen anderer Länder lernen, die oft viel unbefangener, persönlicher, freier beten und damit mehr auf Gott vertrauen als auf ihr Denken und Machen; und die auch unbefangener über ihren Glauben sprechen und ihn bezeugen.
Modell könnten Glaubensgruppen sein, die schon leben: beispielsweise GCL (Gemeinschaften christlichen Lebens), END (Équipe Notre Dame), Exerzitien-im-Alltag-Gruppen, Familien-, Bibel- und Gebetskreise. Das kirchliche Leben wird wohl entprofessionalisiert, also charismatischer? Die wenigen theologisch ausgebildeten Christen – mehr Ehren- als Hauptamtliche – formen andere Christen darin, solche Gruppen zu initiieren, ihnen vom Glauben zu erzählen, sie anzuleiten.
Damit dürfte sich das sakramentale Leben stark verändern: Beichte und die Krankensalbung fallen bereits jetzt in breiten Kreisen weg. Ob die Eucharistie, wenn sie nicht mehr regelmäßige Praxis, sondern seltenes Event ist, dann noch verstanden und geschätzt wird? Die Taufe könnte, mit guter Vorbereitung und später intensiver Begleitung, an Bedeutung gewinnen, vielleicht auch die Firmung und die Ehe. Priesterweihen und Ordensprofessen wird es kaum noch geben: Bei YouTube kann man sie ansehen, wie alte Spielfilme. Eine Kirche, die weniger aus Sakramenten und der Liturgie lebt, dafür mehr aus freiem Gebet und Gesprächen in Gruppen, aus der Bibel und aus persönlicher Ethik: Sie wird wohl weniger institutionell und mehr geistgeleitet, weniger im traditionellen Sinn katholisch sein – also gleichsam protestantischer? Für einige ist dies eine Horrorvorstellung, für andere eine attraktive Fortentwicklung. Viele, die mit Betonung der „sakramentalen Grundstruktur der Kirche“ strikt katholisch bleiben wollen, tragen ja, gegen ihre eigene Intention, zur sakramentalen Austrocknung der Gemeinden bei, indem sie sich dagegen sperren, außer zölibatären Männern andere Menschen zu sakramentalen Weihen zuzulassen.
In einer erzählenden Kirche werden jene Ältere, die sich an eine regelmäßige Sakramentenpraxis mit Eucharistie und Beichte erinnern, diese schmerzlich vermissen. Zugleich werden sie mit denen, die neu und jung ihren Glauben leben, hoffentlich kraftvoll und mutig die Chance ergreifen, ihre christliche Existenz in Wort und Tat zu leben und sie, zusammen mit anderen und vermutlich in neuen Formen und Ritualen, Nichtglaubenden anzubieten. Miteinander im Glauben und in der Liebe zu wachsen, ist ein Lebensmodell, das human und erfüllend ist und zugleich Gemeinschaft, Gerechtigkeit und Frieden schafft. Es ist höchst attraktiv. Kirche und Glauben haben Zukunft.
Jochen Wagner | Kirchberg
geb. 1979, Dr. phil., Pastor und freikirchlicher Referent der ACK Deutschland
Der Soziologe Harmut Rosa beschreibt die gegenwärtige Situation unserer Gesellschaft mit der Wendung „rasender Stillstand“. Damit meint er die Tatsache, dass sich unsere Gesellschaft und auch unser Leben immer mehr beschleunigen, wir dabei jedoch nicht (mehr) vorwärtskommen, sondern – wenn überhaupt – nur das aktuelle Niveau halten. Zugespitzt formuliert er: „Wir haben nicht mehr das Gefühl, wir gehen auf eine verheißungsvolle Zukunft zu, sondern wir laufen vor einem Abgrund weg, der uns von hinten einholt. Das meine ich mit dem Begriff des rasenden Stillstandes: Wir müssen jedes Jahr schneller laufen, um nicht in den Abgrund, der hinter uns immer schneller, immer näher kommt – nicht zuletzt durch die Klimakrise –, abzustürzen.“1 Angesichts dieser Gesellschaftsanalyse stellt sich die Frage, welche Art christlicher Spiritualität zu dieser Gesellschaftssituation und zu diesem Lebensgefühl passt. Welche Aspekte insbesondere des Gebets entsprechen diesen Zeichen der Zeit? Letzterem soll im Folgenden nachgegangen werden.
Obwohl in der jüngeren Vergangenheit nicht wenig über das Thema Gebet geschrieben und nachgedacht wurde2, bleibt immer wieder neu die Frage, was wir denn da tun, wenn wir beten und welche Form des Gebets der aktuellen Zeit entspricht. Zunächst und vor allem ist Gebet der „Vollzug von Religion selbst“3oder der „Grundakt des Glaubens“4, und bringt damit alle Theologie, Vorstellungen und Überzeugungen zusammen und zum Ausdruck: „Kein religiöser Akt drückt die Wechselbeziehung zwischen Gott und dem Menschen klarer aus“ wie das Gebet.5 Nicht nur im Blick auf das Neue Testament, sondern auch darüber hinaus ist Gebet als Kommunikation mit Gott6 zu sehen, und damit relationales Beziehungsgeschehen. Darüber hinaus lässt sich das Gebet mit drei Punkten beschreiben, die ineinander übergehen. Damit benenne ich zentrale Elemente des Gebets in der Spätmoderne, die unter anderem Elemente und Gedanken von Hartmut Rosa und Paul Tillich7 aufnehmen.
Beten heißt sich anvertrauen: sich dem anvertrauen, was mich in der Tiefe meines Wesens anspricht, mich beim Namen nennt (Jes 43,1). Denn ich bin (an)gerufen. Gebet bedeutet, sich dem Unverfügbaren anzuvertrauen, dem unaussprechlich Heiligen. Sich dem Heiligen anzuvertrauen meint auch: Das Gebet ist kein Gespräch zwischen zwei gleichartigen Personen. Zwar denkt eine biblische Theologie Gott personal, doch gleichzeitig ist Gott immer auch mehr. Gott kann nicht hinreichend mit unseren Kategorien beschrieben werden, Gott ist der/die ganz Andere. Das Wort „heilig“ zielt auf diese Andersartigkeit. Der/die oder das Heilige ist eben kein Mensch, und das heißt auch: nicht verfügbar. Man könnte hier von einer entgegenkommenden Unverfügbarkeit8 sprechen, denn das Angesprochenwerden ist Geschenk, theologisch gesprochen: Gnade.
Sich anvertrauen beinhaltet nicht zuletzt, sich die eigene Ohnmacht einzugestehen und auch anzuerkennen. Gleichzeitig liegt in diesem Anvertrauen das Potenzial, nicht nur sich selbst, sondern auch andere – diejenigen, die einem selbst anvertraut wurden – dem Heiligen anzuvertrauen. Es umfasst also auch die Elemente, die man gemeinhin als Bitt- und Fürbittgebet beschreibt. Dabei vollzieht sich die mit dem Anvertrauen erbetene und erhoffte Verwandlung der Wirklichkeit an den Betenden selbst. Denn ich spreche aus, lasse los und bin mit den Themen, die mich beschäftigen, nicht allein. Und das verändert. Das Anvertrauen und das Auf-hören – wir kommen gleich darauf zurück –, das innere Antworten führt zu einer Transformation. Zugleich weitet sich der Horizont, da sich der Blick weitet und womöglich auch ändert.
Anvertrauen bedeutet nicht, dass man von Gott erwartet, er solle bereit sein, in existentielle Gegebenheiten einzugreifen.9 Es meint vielmehr, dass man Gott bittet, die gegebene Situation in Richtung ihrer Erfüllung zu lenken. Denn Gott ist die alles zu seinem Ziel hin bestimmende Wirklichkeit. Dabei geht es nicht um die Erfüllung meiner Wünsche und das Eingreifen Gottes, sondern um mein Einfinden in Gottes lenkendes Schaffen – neutestamentlich gesprochen: „Dein Wille geschehe“ (Mt 6,10). Das „Anvertrauen“ ist ein machtvoller Faktor, es verwandelt die existentielle Situation des Beters/der Beterin. Denn das Neue, das darin „geschaffen wird, ist der Geist-gewirkte Akt, in dem der Inhalt unserer Wünsche und Hoffnungen in die Gegenwart des göttlichen Geistes erhoben wird. Ein Gebet, in dem das geschieht, ist ‚erhört‘, selbst wenn ihm Ereignisse folgen, die dem konkreten Inhalt des Gebets widersprechen.“10 Darüber hinaus gilt es festzuhalten: Wie das fürbittende Beten und das stellvertretende Vertrauen – mit anderen Worten: das Anvertrauen – „anderen Menschen oder bestimmten Ereignissen zugute kommen kann, zumal wenn es nicht den Weg über das gegenseitige Wissen darum und eine dadurch bewirkte Bewusstseinsveränderung nimmt, können wir nicht sagen.“11
Wir stoßen somit an eine Grenze. Dies muss nicht verwundern, da Gott selbst als Grenze verstanden werden kann. Gleichzeitig ist bezüglich eines weitergehenden Eingreifens Gottes zumindest ein letzter Vorbehalt zu äußern. Die breit bezeugte biblische Tradition, die hier mit den Worten „Wer bittet, dem wird gegeben“ auf den Punkt gebracht sei (Mt 7,7; vgl. u.a. auch Mt 18,19), schließt ein weitergehendes Eingreifen Gottes zumindest nicht vollständig aus. Nun kann das „Geben“ sehr unterschiedlich verstanden werden. Aber um nicht der Gefahr eines geschlossenen Systems zu erliegen, und um der biblischen Überlieferung willen, möchte ich die Tür nicht ganz schließen und eine letzte Offenheit hier nicht aufgeben. Grundsätzlich bleibt es freilich dabei, dass das Gebet nicht Gott verändert, sondern die Beterin und den Beter. Letzteres ist die Wirkung des Gebets.12 Die Bibel benutzt für das, was hier unter Anvertrauen verstanden wird, Bilder wie „Zufluchtsort“ (Ps 32,7), „Burg“ (Ps 91,2) oder „Flügel“ (Ps 17,8).
Als Zweites lässt sich das Gebet mit dem Begriff des „Aufhörens“ verbinden. Für den Philosophen und Soziologen Bruno Latour ist das Aufhören eines der wichtigsten Dinge. Es meint zunächst „anhalten/stoppen“. Doch das Wort aufhören kann auch bedeuten, „dass ich, während ich am Abarbeiten der To-do-Liste bin, mich im Hamsterrad, im rasenden Stillstand verausgabe, aufwärts höre, nach außen lausche, mich anrufen und erreichen lasse von etwas anderem, von einer anderen Stimme, die etwas anderes sagt als das, was auf meiner To-do-Liste steht und was sowieso erwartbar ist und sozusagen im funktionalen Austausch steht.“13 Diese beiden Facetten von Aufhören passen zum Kontext des Gebets: Aufhören etwas zu tun und aufhören im Sinne von „nach oben hören“, sich öffnen – hören und antworten, über konkrete Worte hinaus. Das Aufhören bewirkt also, dass wir wieder anrufbar werden. Wir hören uns tastend vor zu dem, was am Grund unserer Existenz liegt. Denn „wir sind in fortgesetzter Bewegung und machen nie halt, um in die Tiefe zu stoßen. Wir reden und reden und hören nicht auf die Stimmen, die zu unserer Tiefe und aus unserer Tiefe sprechen.“14 Das Aufhören beschreibt folglich das Einüben einer Haltung der Rezeptivität. Es braucht das Aufhören, es braucht Erreichbarkeit, um Resonanz15 zu ermöglichen. Ersteres macht offen dafür, „ein Antwortgeschehen zu erspüren.“16
Die biblische Tradition bestätigt diesen Zusammenhang, wenn es in Psalm 46,11 heißt: „Hört auf und erkennt, dass ich JHWH bin“ oder wenn König Salomo bittet: „Gib mir ein hörendes Herz“ (1 Kön 3,9). Im praktischen Vollzug hätte hier die Stille ihren Ort; ein in die Stille Hineinhören.17 Möglicherweise ist gerade heute das Aufhören in besonderer Weise ein zentraler Aspekt des Betens, überlebensnotwendig in einer Gesellschaft des „rasenden Stillstands“. Denn dadurch tragen wir dazu bei, für etwas anderes außerhalb unserer selbst empfänglich zu sein. Hören – aufhören – ist eine andere Haltung als machen, berechnen und planen. Es drückt eine andere Beziehung zum Leben aus und ermöglicht Tiefenresonanz (im Sinne der Religion als der Dimension der Tiefe).
Das Beten führt mich über mich selbst und mein Verhältnis zur Welt hinaus. Man könnte es so definieren: „Beten ist unendliche Sehnsucht eines endlichen Wesens nach seinem unendlichen Ursprung.“18 Auf diese Weise werden die eigenen Grenzen und Begrenzungen überschritten. Es lässt sich erahnen, dass wir Menschen mehr sind als bloße „Elementarteilchen“19. Das Gebet löst aus „der Fixierung auf das eigene Ich“ und kann „über die eigene Endlichkeit“ erheben.20 Ich kreise nicht mehr nur um mich selbst, sondern entdecke Weite. So weitet das Gebet meinen Horizont. Mystiker würden vom Eintauchen in das Geheimnis Gottes sprechen. Es drückt die Überzeugung bzw. die Erfahrung aus, mit einem unfassbaren Größeren, mit dem unbedingten Grund verbunden zu sein, ohne darin aufzugehen. Gebet ist das Sich-Einfinden in etwas Umfassenderes oder auch eine existentielle Verbundenheit. In der biblischen Tradition kann man die Psalmen, die den Schöpfer – und damit auch die Schöpfung – zum Thema haben, in diesem Sinne lesen (Ps 8; 104). Denn neben der Urerfahrung der Einsamkeit oder des Schweigens gibt es ebenso die Urerfahrung der Verbundenheit, die hier zum Ausdruck kommt. Es geht also um eine hingebende Teilnahme und Teilhabe des Beters an einer Dynamik, die auch durch ihn fließt.
Diese drei Punkte begegnen uns nicht zuletzt in dem Gebet der Christenheit, dem Vaterunser (Mt 6). Auch dort findet sich das Anvertrauen (u.a. Anrede, Wir-Bitten), das Aufhören (in der Zuwendung zum Heiligen ereignet sich das Aufhören) und das Sich-Ausstrecken nach dem größeren Ganzen (sekundäres Ende).
Paul Tillich fordert in einer Predigt dazu auf, alles, was man erlebt, in ein Gebet umzuwandeln, „in ein Einswerden der Seele mit Gott“21. Ein Gebet im Sinne des oben Gesagten könnte folgendermaßen lauten: „Gott, der Du jenseits von allem Denkbaren und Sagbaren bist, erhebe unsere Gedanken zu Dir, gib uns Worte zum Beten, die Dich erreichen. Bewirke in uns die Kraft Deines Geistes. Du weißt um uns. Du kennst unsere Schwäche und das Seufzen unserer Seele. Möge Dein Geist uns zu Dir führen. Erhöre uns, wenn wir keine Worte finden, mit Dir zu sprechen, wenn wir nicht beten können. Lass Deinen Geist an unserer Statt Fürbitte einlegen mit Seufzen, das tiefer ist als alle Worte. Gib Kraft unseren stummen Gebeten, gib Aufrichtigkeit unseren täglichen Gebeten, gib Heiligkeit den Gebeten, die wir selbst schaffen. Erinnere uns daran, dass wir nicht wissen, wie wir beten sollen, und bete Du für uns, Gott, der Du Geist bist.“22
Es gibt noch viele andere Aspekte des Gebets, aber möglicherweise sind die hier genannten für unsere Zeit besonders anschlussfähig. Das so verstandene Gebet ermöglicht die Erfahrung der Resonanz23. Wir können sie zwar nicht herbeizwingen oder „machen“. Aber gelegentlich kann und wird es eintreten: Etwas berührt mich, etwas spricht mich an. Diese Resonanzerfahrung kann auf mindestens drei Achsen erfolgen: horizontal/sozial, diagonal/material und vertikal/existentiell.24 Letzteres nennen Christinnen und Christen Gott.
Die genannten Resonanzachsen machen deutlich, dass sich hier Perspektiven weit über das Gebet hinaus eröffnen. Gerade in der höchst bedeutsamen Frage nach einer Schöpfungsspiritualität werden Anknüpfungspunkte erkennbar.25 So scheinen mir Resonanzerfahrungen mit der Natur bzw. Schöpfung für eine Schöpfungsspiritualität unerlässlich und elementar.26 Dies kann auch die Brücke zum Einsatz für die Schöpfung schlagen. Zur Verantwortung für die Schöpfung gehört grundlegend, solche Resonanzräume zu schaffen. Dies hängt wiederum aufs Engste mit dem Begriff des Auf-Hörens zusammen. Und da zur Resonanz auch die Erwartung und Erfahrung der Selbstwirksamkeit gehört27, aktivieren solche Erfahrungen und führen zum Handeln. Mir kommen dazu unweigerlich Bilder in den Kopf: Eine Parkbank im romantischen Mittelrheintal, auf der man sitzt und die Zeit vergisst. Die unfassbar schöne Natur berührt einen, und man fährt anders zurück als man gekommen ist – und das hat auch Auswirkungen auf das konkrete Tun.
So könnten die drei genannten Merkmale des Gebets es vielleicht auch säkularen Menschen ermöglichen, zu beten. Denn es ist der Versuch, religiöse Sprache zumindest soweit in säkulare Sprache zu übersetzen, dass sie verständlich und anschlussfähig ist. Die Formulierungen nehmen das Sinnpotenzial der Religion auf und machen es gerade einer Gesellschaft des „rasenden Stillstands“ deutlich. Gleichzeitig lassen die Begriffe zu einem gewissen Grad offen, wie dezidiert religiös man sie füllt.
Aus christlicher Sicht ist es entscheidend, dass Gott als „Du“ gedacht wird. Das heißt auch: Der Sinn des Gebets ist Begegnung. Die drei Aspekte können aber auch in einem weiteren oder anderen Sinn verstanden werden. Denn die beschriebenen Haltungen sind auch ohne konkreten Gottesbegriff oder überhaupt ohne irgendeinen Gottesbegriff möglich: Man könnte sie auch gegenüber dem Unverfügbaren bzw. dem unverfügbaren Gegenüber einnehmen – und es kann sehr unterschiedlich aussehen, wie man dies inhaltlich füllt. Für alle gilt: „Lebendigkeit, Berührung und wirkliche Erfahrung […] entstehen aus der Begegnung mit dem Unverfügbaren.“28 Gleiches gilt für den Begriff des Heiligen. Man kann also auch Beten ohne im klassisch verstandenen Sinn zu glauben, also ohne „dogmatischen Überbau“.29 Und die drei Aspekte erschließen sich vielleicht auch Menschen, die zu anderen Aspekten des christlichen Glaubens keinen Zugang mehr finden (oder noch nicht gefunden haben). Diese Haltungen wären als Ehrfurcht vor dem Leben zu bezeichnen. Oder nochmal anders gesagt: Mein Innerstes ist mit etwas Umgreifenden verbunden. So ermöglichen die drei Aspekte ein Beten in und mit einer säkularen Welt. Denn sie bringen einen in Berührung mit der eigenen Grundsehnsucht, dazuzugehören und Teil von etwas zu sein. Und schließlich nehmen sie das Grundbedürfnis auf, mit seiner Umwelt in Kontakt zu sein.
1H. Rosa, Demokratie braucht Religion. München 2022, 52f.
2Gleichzeitig gilt weiterhin – zumindest für manche Kreise – das Verdikt Gerhard Ebelings, dass zu wenig über das Gebet nachgedacht wird, in: ders., Das Gebet, in: ZThK 70 (1973), 208.
3O. Bayer, Erhörte Klage, in: NZSTh 25 (1983), 259. Das Gebet „stellt, mit dem Glauben identisch, die Wahrnehmung Gottes und damit den Vollzug von Religion selbst dar“ (ebd).
4So der Titel von W. Schüßler / A. J. Reimer (Hrsg.), Gebet als Grundakt des Glaubens. Philosophischtheologische Überlegungen zum Gebetsverständnis Paul Tillichs (Tillich-Studien Beihefte, Bd. 2). Münster 2004.
5P. Tillich, Gesammelte Werke. Band V: Ein Lebensbild in Dokumenten. Berlin 1980, 181.
6Siehe K-H. Ostmeyer, Kommunikation mit Gott und Christus. Sprache und Theologie des Gebets im Neuen Testament (WUNT 197). Tübingen 2006.
7Für Tillich ist Gebet der „Pulsschlag unseres Lebens mit Gott“ und er hält grundsätzlich fest: „Niemand kann Gott nahe kommen ohne das Gebet“, in: P. Tillich, Frühe Predigten (1909–1918). Hrsg. und mit einer Einleitung versehen von E. Sturm (= Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, Bd. VII). Berlin 1994, 104.387.
8Die Wendung gebraucht H. Rosa, Unverfügbarkeit. Wien – Salzburg 72022, 75.
9Dieser sowie die folgenden Sätze paraphrasieren Paul Tillichs Aussagen zum Gebet und stellen sie in den Kontext des Anvertrauens. In gewisser Weise versuche ich mit ihnen das Anvertrauen inhaltlich zu bestimmen, auch wenn Tillich meinen letzten Vorbehalt nicht teilen würde; vgl. P. Tillich, Systematische Theologie I/II. Berlin – New York 1987, 307f. Die Wendung, Gott als „die Alles bestimmende Wirklichkeit“ zu verstehen, stammt von R. Bultmann (Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden? [1925], in: GuV Bd. 1. Tübingen 1933, 26).
10P. Tillich, Systematische Theologie III. Berlin – New York 41987, 222.
11D. Ansorge / M. Kehl, Und Gott sah, dass es gut war. Eine Theologie der Schöpfung. Freiburg 32018, 340 (Herv. JW).
12S. Painadath fasst Tillichs Verständnis der Wirkung des Gebets mit vier Punkten zusammen: a) Wachsendes Bewusstwerden; b) Wachsende Freiheit; c) Wachsendes Verbundensein; d) Wachsende Selbst-Transzendierung; vgl. ders., Gott als Subjekt des Betens, in: W. Schüßler / A. J. Reimer (Hrsg.), Das Gebet als Grundakt des Glaubens, 39f. [s. Anm. 4].
13H. Rosa, Demokratie, 56 [s. Anm. 1].
14P. Tillich, Religiöse Reden, 1. Folge: In der Tiefe der Wahrheit. Berlin – New York 1987, 54.
15Zur Resonanz siehe H. Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 62022. Rosa geht auch auf das Gebet ein (ebd., 441ff.). Siehe auch S. Peng-Keller (Hrsg.), Gebet als Resonanzereignis. Annäherungen im Horizont von Spiritual Care (Theologische Anstöße 7). Neukirchen-Vluyn 2017.
16H. Rosa, Unverfügbarkeit, 68 [s. Anm. 8].
17„Die meisten Gebete […] machen aus Gott einen Partner in unserer Alltäglichkeit und verstellen uns so den einzigen Weg in die Einsamkeit. Solche Gebete fließen Pfarrern und Laien leicht über die Lippen […]. Besser als solche Gebete ist Schweigen und das wortlose Seufzen unserer Seele nach Gott“, in: P. Tillich, Religiöse Reden, 3. Folge: Das Ewige im Jetzt. Berlin – New York 1987, 356f.
18P. Tillich, Religiöse Reden, 3. Folge: Das Ewige im Jetzt. Berlin – New York 1987, 86 [422]. Folglich kann Tillich auch auf die Frage, ob er denn bete, antworten: „Always and never“; vgl. P. John, Tillich: the Words I Recorded, the Man I Knew, in: Newsletter of the North American Paul Tillich Society Vol. 29/1, 2003, 7 (URL: https://www.napts.org/pages/newsletter.html [Stand: 04.03.2024]).
19So lautet der Titel eines Gesellschaftsromans von Michel Houellebecq, der 1998 erschienen ist und auf gewisse Weise Phänomene unserer Zeit beschreibt.
20In Anlehnung an W. Pannenbergs Aussagen über das Evangelium in: ders., Systematische Theologie, Bd. 3. Göttingen 1993, 150.
21P. Tillich, Frühe Predigten (1909–1918), 331 [s. Anm. 7].