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GuL 96 (2023), Heft 3 Juli-September 2023 n. 508 Notiz Bernhard Körner Karl Barth nicht vergessen [223-224] Nachfolge Sebastian Lang Hin zum religiösen Subjektivismus? Einblicke in die École française de spiritualité [226-234] Iuliu-Marius Morariu Andrei Scrima (1925-2001). Ein orthodoxer Mönch mit ökumenischer Berufung [235-240] Margarete Gruber OSF Der Ruf der Erschlagenen. Die Johannesoffenbarung, gelesen in apokalyptischen Zeiten [241-249] Nachfolge | Kirche Ralf Huning SVD "Und er entschwand ihren Blicken". Ein Kirchengebäude für unsere Zeit [250-253] Georg Lauscher Priesterkleidung!? Versuch einer geistlichen Unterscheidung [254-262] Felix Körner SJ Expositio. Kirche und Kunst in Resonanz [263-271] Nachfolge | Junge Theologie Thomas Stil Die Konversion des Konvertiten. Anmerkungen im Anschluss an Karl Rahner SJ [272-278] Reflexion Tobias Specker SJ "Wie Gott in den Geschöpfen wohnt". Ignatianische Zugänge zu den christlich-islamischen Beziehungen [280-289] Walter Schaupp Transzendenz und Verzicht [290 -289] Hans Schaller SJ Bitten, um Menschen und Gott näher zu kommen. Plädoyer für das Bittgebet [299-306] Lektüre Michel de Certeau SJ Homilie zum Ignatiusfest [308-310] Georg Langenhorst Sprechversuche "nach der tonlosen Zeit". Zur neuen Gottesrede literarischer Psalmen [311-320] Michael Schneider SJ Mehr als der "Spaßvogel Gottes". Neue Veröffentlichungen zu Philipp Neri (1515-1595) [321-326] Buchbesprechungen [327-329]
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Heft 3 | Juli–September 2023
Jahrgang 96 | Nr. 508
Notiz
Karl Barth nicht vergessen
Bernhard Körner
Nachfolge
Hin zum religiösen Subjektivismus? Einblicke in die École française de spiritualité
Sebastian Lang
Andrei Scrima (1925–2001). Ein orthodoxer Mönch mit ökumenischer Berufung
Iuliu-Marius Morariu
Der Ruf der Erschlagenen. Die Johannesoffenbarung, gelesen in apokalyptischen Zeiten
Margareta Gruber OSF
Nachfolge | Kirche
„Und er entschwand ihren Blicken“. Ein Kirchengebäude für unsere Zeit
Ralf Huning SVD
Priesterkleidung!? Versuch einer geistlichen Unterscheidung
Georg Lauscher
Expositio. Kirche und Kunst in Resonanz
Felix Körner SJ
Nachfolge | Junge Theologie
Die Konversion des Konvertiten. Anmerkungen im Anschluss an Karl Rahner SJ
Thomas Stil
Reflexion
„Wie Gott in den Geschöpfen wohnt“. Ignatianische Zugänge zu den christlich-islamischen Beziehungen
Tobias Specker SJ
Transzendenz und Verzicht
Walter Schaupp
Bitten, um Menschen und Gott näher zu kommen. Plädoyer für das Bittgebet
Hans Schaller SJ
Lektüre
Homilie zum Ignatiusfest
Michel de Certeau SJ
Sprechversuche „nach der tonlosen Zeit“. Zur neuen Gottesrede literarischer Psalmen
Georg Langenhorst
Mehr als der „Spaßvogel Gottes“. Neue Veröffentlichungen zu Philipp Neri (1515–1595)
Michael Schneider SJ
Buchbesprechungen
GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christliche Spiritualität. Begründet 1926 als Zeitschrift für Aszese und Mystik
Erscheinungsweise: vierteljährlich
ISSN 0016–5921
Herausgeber:
Zentraleuropäische Provinz der Jesuiten
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Diesem Heft liegt folgender Prospekt bei:
Lebendige Seelsorge, Echter Verlag
Wir bitten um Beachtung.
Bernhard Körner | Graz
geb. 1949, Dr. theol., Prof. em. für Dogmatikan der Kath.-Theol. Fakultät Graz,Beiratsmitglied von GEIST & LEBEN
Gott ist Gott. Nur er selbst kann sich definieren. Und alle menschlichen Versuche, ihn verständlich zu machen, verfehlen ihn, müssen scheitern. Das hat bekanntlich Karl Barth in seltener Kompromisslosigkeit vertreten. So hört man es in der Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts im Kapitel über die Dialektische Theologie. Und es ist – zumal in katholischer Perspektive – leicht zu übersehen, wie aktuell das Thema ist.
Das andere Konzept ist geläufiger: Die Rede von Gott soll, ja muss in der Lebenswelt der Menschen verankert werden. Sonst bleibt es ein erratischer Block, buchstäblich ein Fremdkörper. Unverständlich. So habe ich es in meinem Studium gelernt und in Predigt und Katechese praktiziert. Und ich habe mich gefreut, wenn es mir gelungen ist. Aber es gab und gibt auch die andere Erfahrung: Mehr oder weniger gekonnt holt man aus, skizziert einen Lebenszusammenhang, um Gott darin gewissermaßen einen Platz zu bereiten. Um die Hörerinnen und Hörer dort ‚abzuholen‘. Aber es will nicht gelingen. Irgendwo scheint der Faden zu reißen.
Abgesehen davon, dass es sehr unterschiedliche Lebenswelten sind, die man beachten müsste – der Weg hat seine Tücken. Sich an der Lebenswelt der Menschen orientieren, kann dazu führen, dass bestimmte Erwartungen, Vorlieben und Denkmuster das Übergewicht bekommen und zur Verzerrung der Glaubensaussagen führen. Was bleibt am Ende? Ein Gott nach (meinem? unserem?) Maß? Nach Aktualität? Nach politischer oder kirchlicher Correctness?
Es ist kein Zufall, dass es diese Tendenzen gibt. Es ist nicht leicht, sich ihrem Einfluss zu entziehen. Bleibt also das Dilemma? Entweder ‚Gott ist Gott‘ – in der Hoffnung, dass seine Gnade zu einem Verständnis führt? Oder eine ansprechende Botschaft, die aber das Wesentliche schuldig bleibt?
Diese Zeilen können das damit angesprochene Problem nicht lösen. Wer in Seelsorge oder Unterricht tätig ist, kennt es vermutlich. Aber möglich ist ein Hinweis, wie notwendig es ist, darüber nachzudenken. Es ist auch nicht mit dem Stichwort Neuevangelisierung zu überspringen. Mein eigenes Empfinden legt mir nahe, mich nicht zu entscheiden. Aber Karl Barth scheint mir wichtig, obschon ich meine Zweifel habe, ob seine Radikalität praxistauglich ist. Ebenso macht es mich nervös, wenn ich dann und wann den Eindruck habe, dass unsere Lebenswelt und unser Erfahrungshorizont bestimmen, was von Gott und Glaube noch zur Sprache kommen darf und was nicht.
Was also tun? Als erster Hinweis zeichnet sich ein ‚sowohl als auch‘ ab. Nicht ein Kompromiss, sondern die Beachtung beider Anliegen. Also: anknüpfen an der uns vertrauten Welt und ungetrübte Wahrnehmung dessen, was der Glaube sagt. Auch dann, wenn es um Widerspruch geht. Gott und der Glaube an ihn sind nicht nur Bestätigung dessen, was uns (gerade) plausibel erscheint. Er ist nicht nur – wie es in einem frühen neuen Kirchenlied hieß – ‚Antwort auf alle Fragen‘, er gibt uns auch Fragen auf, ja er stellt uns und unser Leben in Frage.
Aber ist das genug in einer Situation, wo viele in der Seelsorge Tätigen den Eindruck haben, dass es eigentlich nur wenig Anknüpfungspunkte für die Botschaft des Evangeliums und seine Erlösung zu geben scheint? Wo oft vom Evangelium nur das angenommen wird, was man irgendwie versteht oder für wünschenswert hält? Vielleicht die vielzitierten christlichen Werte und ethischen Imperative – wenn sie ins eigene Konzept passen. Aber die findet man, falls man Interesse hat, auch außerhalb des Christentums…
Oder müssen wir noch tiefergraben? Hängen unsere Schwierigkeiten, von Gott und dem Glauben an ihn zu sprechen, mit der allgegenwärtigen Logik des Konsums zusammen, die nur gelten lässt, was man brauchen kann? Ist Gott zu brauchen? Hat uns die Logik von Angebot und Nachfrage nicht schon längst verdorben, weil wir ihr mit unserer Verkündigung entgegenkommen wollen? Und uns damit abhängig machen von dem, was gerade plausibel und brauchbar erscheint? Zustimmungsfähig? Aber dann mag einem wieder einmal Johann Baptist Metz in den Sinn kommen: Er könnte recht gehabt haben, als er darauf hinwies, dass Gott nie so freundlich verkündet worden sei wie heute – um hinzuzufügen: Glauben uns die Menschen gerade deswegen nicht, weil sie wissen, Gott ist nicht nur freundlich?!
Nicht wenige Fragen. Eine tragfähige Spiritualität der Diaspora – und eine solche brauchen wir – wird an ihnen nicht vorbeikommen. Auf jeden Fall wird sie nicht davon ausgehen können, dass wir so schnell neues Interesse am Glauben finden werden oder gar eine Trendwende erleben. Das ist wohl auch nicht unsere Aufgabe. Wir haben damit zu rechnen, dass auch das beste Bemühen nicht verhindern wird, dass unsere Verkündigung auch auf Desinteresse stößt.
Was wir aber in diesen Fällen auf jeden Fall sicherstellen sollten – Gott ist und bleibt Gott. Das soll, ja muss bei allem Bemühen um eine zeitgerechte Erschließung des Glaubens erkennbar bleiben. Daran kann uns Karl Barth erinnern.
Sebastian Lang | Mainz
geb. 1985, Dr. theol., Priester, Subregens am MainzerPriesterseminar, Direktor des Päpstlichen Werks für geistlicheBerufe im Bistum Mainz, Lehrbeauftragter im Fach Dogmatikan der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Mainz
1638 wird Jean Duvergier de Hauranne, der Abbé de Saint-Cyran (1581–1643), auf Betreiben des französischen Premierministers Kardinal Richelieu (1585–1642) in Festungshaft genommen.1 Es ging vordergründig um die Frage nach dem rechten Verständnis der Reue für die Gültigkeit der Beichte. Allerdings dürfte der allmächtige Regierungschef viel grundsätzlicher an der von Saint-Cyran propagierten religiösen Praxis etwas auszusetzen gehabt haben. Aus heutiger Sicht stellt dies einen skandalösen Vorgang dar – und zwar unabhängig von der konkreten Bewertung der theologischen Frage und der Politik des Premierministers. Mit dem Konzept von Neuzeit und Moderne verbindet sich nämlich die Idee, Religion könnte eine höchst persönliche Angelegenheit sein, über die folglich staatliche Machtinteressen nur sehr äußerlich urteilen können. In Antike und Mittelalter waren religiöse Praktiken tendenziell etwas, das Kollektive mit identitätsstiftenden Narrativen ausstatteten. Das ändert sich erst im Laufe der Neuzeit – wenn auch sehr langsam. Das Subjekt findet zu einer eigenen religiösen Überzeugung. In mancher Hinsicht ließe sich also die Frühe Neuzeit als ein Konflikt zwischen einem kollektiven und einem individuellen Religionsverständnis lesen.2 Ein Konflikt fordert immer Opfer und so ist es auch bei diesem. Eines dieser Opfer ist der benannte Abbé de Saint-Cyran, dessen Überzeugungen und Wirken im Zusammenhang einer größeren Bewegung stehen.
Im Frankreich der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts entwickelt sich ausgehend von Pierre de Bérulle (1575–1629)3 eine eigene Art der Spiritualität, die mit dem Schlagwort der École française bzw. École bérullienne bezeichnet wird.4 Eine echte Schulbildung im strikten Sinne des Wortes liegt dabei sicherlich nicht vor. Henri Bremond (1865–1933)5 wählt in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts den Terminus, um ausgehend von sehr unterschiedlichen biographischen und inhaltlichen Abhängigkeiten der Akteure untereinander einen Phänomenkomplex zu beschreiben, den er für frömmigkeitsgeschichtlich äußerst fruchtbar empfand.
Mit der vollständigen Machtübernahme durch Henri IV. (1553–1610) und dem Toleranzedikt von Nantes im Jahr 1598 kommt es nach den Religionskriegen zur legalisierten Koexistenz zweier christlicher Konfessionen im Königreich Frankreich. Einerseits stört diese als religiöse Lauheit gedeutete Konfessionsfreiheit die Partei der Frommen, andererseits setzen die geordneteren Verhältnisse Kräfte frei, die eigene religiöse Praxis zu intensivieren. In dieses (kirchen-)politische Milieu – das des sogenannten parti dévot – wächst der junge Pierre de Bérulle hinein.
Zunächst studiert er bei den Jesuiten am Collège de Clermont, um nach deren Vertreibung aus dem Machtbereich des französischen Königs an die Sorbonne zu wechseln. Schon bald engagiert er sich – nicht zuletzt motiviert durch seine Cousine Barbe Acarie (1566–1618; 1614 OCD; 1791 seliggesprochen) – aktiv im parti dévot und veröffentlicht entsprechend erste, kleinere Schriften. 1604 ist Bérulle mitverantwortlich für die Ansiedelung der Unbeschuhten Karmelitinnen in Frankreich, deren nationaler Oberer er aufgrund eines päpstlichen und königlichen Erlasses mit zwei anderen Weltpriestern wird. 1611 gründet er nach dem Vorbild von Philipp Neri (1515–1595) die Priesterkongregation des Oratoire de Jésus et Marie. Im Zusammenhang sowohl mit seiner Tätigkeit für den theresianischen Karmel als auch für sein französisches Oratorium verfasst Bérulle 1623 mit den Discours de l’état et des grandeurs de Jésus6 sein Hauptwerk, das er in seinem Todesjahr noch mit einem zweiten Teil versieht. Hintergrund dieses Traktates über die theologische Bedeutung des Lebens und der konkreten Menschheit Jesu ist eine Auseinandersetzung, die Bérulle namentlich mit einigen Jesuiten und dem männlichen Zweig des unbeschuhten Karmels führt. Die ihm unterstehenden Ordensfrauen und Priester müssen regelmäßig zwei Vœux de servitude,7 also etwa ‚Dienstbarkeitsgelübde‘, beten. Bérulle schreibt in diesem Gebet, dass die Menschheit Jesu sich ihrer eigenen Subsistenz entkleidet habe.8 Unter Subsistenz wird dabei jenes Moment des Seienden verstanden, das die Konkretion oder Individuation gegenüber den anderen Phänomenen derselben Art begründet.
Da zudem die von der Beterin oder dem Beter einzugehende Verpflichtung zur Knechtschaft im Sinne der vollständigen geschöpflichen Unterordnung auch gegenüber der ‚vergöttlichten Menschheit‘ Jesu Christi gefordert wird,9 schien der mit dem Logos verbundenen menschlichen Natur keine eigene Bedeutung zuerkannt zu werden und so lag der Vorwurf des Monophysitismus nahe. Sich dieses Vorwurfes zu erwehren, schrieb Bérulle die Grandeurs als Verteidigungsschrift.
In kirchenrechtlicher Hinsicht wurde Bérulle dafür kritisiert, dass er neben den durch die Regel vorgesehenen Gelübden noch weitere eingeführt habe. Tatsächlich ging es ihm keineswegs um rechtlich bindende Versprechen, sondern um wiederholt gesprochene Gebete, die zum rechten Tun anleiten. Die Qualität des – modern gesprochen – pastoralen Handelns sollte gehoben werden und die Motivation dazu sollte nicht nur extrinsisch sein. Der Bezug zur konkreten Menschheit Jesu bot sich als Vorbild an.
Der theoretische Überbau für dieses Anliegen nimmt bei einer anthropologischen Grundüberzeugung von Bérulle seinen Ausgang: Der Mensch als Geschöpf Gottes ist grundsätzlich frei, wie er sich zu seinem Schöpfer verhält. Zu sich selbst kommt er aber erst, wenn er die radikale Abhängigkeit des Geschaffen-Seins positiv anerkennt. Diese Anerkennung nennt Bérulle Anbetung. Könnte der Mensch diese Anbetung vollkommen gewährleisten, bestünde darin die Erlösung, einerseits weil er damit seine eigene Bestimmung erfüllen würde und andererseits ganz mit Gott verbunden wäre. Zu dieser Selbsterlösung ist der Mensch unfähig. Mit der Gestalt Jesu Christi ist aber im Verständnis von Bérulle ein vollkommener Anbeter gegeben.10 In der adhérence an seine Menschheit, die vom Menschen leichter verwirklicht werden kann als die Anbetung Gottes, besteht dann der zweitbeste Weg zur Erlösung. Da diese ‚Anhänglichkeit‘ an die menschliche Natur Jesu Christi von Bérulle der Anbetung sehr ähnlich konzipiert wird, kommt es zu eben jenem Vorwurf des Monophysitismus. Tatsächlich wird der Einfluss der göttlichen Hypostase auf die menschliche Natur in den Grandeurs stark betont. Obwohl in der Konsequenz alles menschliche Handeln und Erleben des irdischen Jesus in der Folge als göttliches Tun zu werten ist, begründet gerade dies das Interesse von Bérulle am konkreten Leben Jesu. Indem er sich also intensiv dem individuellen Leben jenes Jesus von Nazaret zuwendet, leistet er durch die Art und Weise sowie die Motivation dem Vorwurf seiner Gegner Vorschub, die Menschheit Jesu gegenüber seiner Gottheit nicht genügend zu respektieren.11
Jenseits der theologischen Debatten scheint es Bérulle aber vor allem darum gegangen zu sein, im Lebensvorbild Jesu den Ordensfrauen und Priestern eine intrinsische Motivation für ihre eigene Dienst- und Lebensgestaltung aufzuzeigen.
Das Motiv der Exemplarität des Lebens Jesu tritt unter seinen ersten ‚Schülern‘ besonders hervor. Charles de Condren (1588–1641),12 zweiter Generaloberer des französischen Oratoriums nach Bérulle, schreibt über Die Idee des Priestertums und des Opfers Jesu Christi13 ebenso wie über die Mysterien des Lebens Jesu14, wobei beide Schriften postum aus seinen Manuskripten zusammengestellt wurden. Ähnlich wie Bérulle, dessen geistlicher Begleiter er in den letzten Lebensjahren war, legt er einen starken Akzent auf die Selbstverleugnung und die Anbetung. Um beides konzentriert er seine Skizze priesterlicher Spiritualität. In der opferbereiten Anbetung manifestiere sich das priesterliche Amt Christi. Parallel zu Bérulle wird auch die Rolle der Mysterien des Lebens Jesu beschrieben. Ihre Betrachtung wird zum bevorzugten Ort der Teilnahme an der Anbetung Christi. Im meditierenden Gebet nimmt die Anbetung des Subjekts ihren Ausgang beim ehrenden Andenken, welches in eine Haltung mündet.
Während es sonst bei den meisten Protagonisten der Katholischen Reform im Frankreich der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts für ihr Engagement wesentliche Erweckungserlebnisse bzw. -phasen und Konversionen zu berichten gibt, weiß der aus einer adligen, ursprünglich protestantischen Familie stammende Condren schon früh, dass er sein Leben Gott widmen will. Mit zwölf hat er eine erste mystische Erfahrung und tritt nach dem Studium an der Sorbonne 1617 in das Oratorium ein, dessen zweiter Generaloberer er nach dem Tod von Bérulle werden soll.
Eine zwar äußerlich wenig dramatische, innerlich aber sehr folgenreiche Erweckungsphase macht Jean Jacques Olier (1608–1657)15 durch, der unter dem Einfluss von Condren steht. An sich prädestinierte ihn vieles – auch seine Frömmigkeit – für einen der vielen französischen Bischofssitze. Vinzenz von Paul (1581–1660), der sich nach einer tiefen Konversion ebenfalls im Pariser Milieu der Katholischen Reform umtat, hätte ihn gern tatkräftig in einer solchen Aufgabe gesehen. Condren war anderer Meinung. 1642 legte Olier nach drei Jahren einer persönlichen Krise vor ihm das Gelübde der Knechtschaft Christi ab, das einschloss, künftig keine Posten in der Hierarchie zu bekleiden. Als Pfarrer der Pfarrei Saint-Sulpice gründete er eine Priestergemeinschaft, die sich besonders der Formation des Nachwuchses widmete. Priestergemeinschaften – wie diese Sulpizianer, das berullianische Oratorium, die Lazaristen des Vinzenz von Paul und andere – bilden als Besonderheit der Katholischen Reform in Frankreich den konkreten Ort, an dem die Bemühungen um einen guten Klerus manifest werden sollen. Die spirituelle Beziehung zu Jesus Christus und nicht zuletzt zu den Mysterien seines Lebens spielt in diesem Bemühen eine besondere Rolle. Die Verbindung mit diesem Leben soll aus eigenem Antrieb zum guten Handeln motivieren. Während Bérulle und Condren dieser Idee eher theoretisch nachgehen und sie – jedenfalls bei ersterem – in der spirituellen Praxis nur eine unter anderen Motiven ist,16 entwickelt Olier von ihr her eine besondere Methode der Betrachtung.17 Die Beterin, der Beter lenkt den inneren Blick auf die Haltungen Jesu, die in den Handlungen innewohnen, und verbindet sich mit diesen, um nach dem Beispiel Jesu selbst handeln zu können.18 Anders gesagt: Es gelte, Jesus vor Augen, im Herzen und in den Händen zu haben.19
In der anfänglich beschriebenen Konkurrenzsituation zweier Konfessionen verbreitet sich bei den Anhängern der Katholischen Reform die Überzeugung, dass die Qualität der eigenen Religionsausübung – angefangen bei den Ordensleuten und Klerikern, aber keineswegs auf diese beschränkt – gesteigert werden muss. Die kollektiv und objektiv bestimmten Kriterien und Ziele müssen aber individuell und subjektiv umgesetzt und authentisch nachvollzogen werden. Ein bloß äußerlich korrekt ablaufender Kult allein reicht nicht (mehr) aus, um qualitativ hochwertige Religionsausübung nachzuweisen.
Für dieses Anliegen machen sich auch andere stark, die biographisch mit dem berullianischen Oratorium oder dem Seminar von Saint-Sulpice verbunden sind. Jean Eudes (1601–1680; 1925 heiliggesprochen)20 gehört in die erste Generation nach Bérulle und ist zeitweise Mitglied des Oratoriums. Er gründet mit der Kongregation von Jesus und Maria, den sogenannten Eudisten, eine den Sulpizianern ähnliche Gemeinschaft. Auch die Vertreter der dritten Generation, Jean Baptiste de la Salle (1651–1719; 1900 heiliggesprochen)21 und Louis-Marie Grignion de Montfort (1673–1716; 1947 heiliggesprochen)22 gründen eigene Kongregationen. Allen dreien ist eigen, dass sie das Anliegen der École française durch Volksmissionen und Schulgründungen popularisieren wollen. Der Anspruch, dass die äußere Religionsausübung innerlich authentisch nachvollzogen werden soll, betrifft also nicht nur Ordensleute und Kleriker, sondern sollte den konfessionell gewordenen Katholizismus als ganzen prägen, gründete doch der französische Protestantismus ebenso auf der persönlichen Überzeugung des Individuums.
Bei einem anderen Schüler von Bérulle, dem eingangs erwähnten Jean Duvergier de Hauranne, nach seiner Pfründe Saint-Cyran genannt, tritt die Bedeutung der inneren Wahrhaftigkeit noch stärker in den Vordergrund. Das geschieht – jedenfalls im Verständnis der Zeitgenossen – in einem solch übersteigerten Maße, dass die Schuleinheit daran zerbrochen wäre, hätte es die École française als reale Größe gegeben.
Saint-Cyran, der zwar nicht in Paris aufwächst, aber seine gesellschaftliche Herkunft mit den beschriebenen Akteuren teilt, erfährt seine Konversion bei der gemeinsamen Augustinus-Lektüre mit Cornelius Jansenius d. J. (1585–1638), dessen Studienfreund er ist. Gefestigt wird diese fromme Neuausrichtung seines Lebens durch die Begegnung mit Bérulle. 1634/35 übernimmt er als regelmäßiger Prediger und Beichtvater die geistliche Begleitung des Reformklosters Port-Royal, das im Zentrum der Bewegung steht, die später als Jansenismus23 bezeichnet werden wird.
Theologisch wird in dieser Strömung die Wirkung der Gnade stärker betont, als im katholischen Mainstream der Zeit üblich. Im Falle von Saint-Cyran äußert sich dies in einer stark pneumatischen Ausrichtung. Um die Mysterien des Lebens Jesu für das eigene Glaubensleben fruchtbar betrachten zu können, bedarf es der vorherigen Geistsendung. Bei Olier findet die Mitteilung des Geistes gerade im Vorgang der Betrachtung statt. Analog dazu braucht es bei Saint-Cyran auch für den rechten Empfang der Sakramente die vorab individuell empfundene Gnadenwirkung, sprich Geistsendung. Das führt dazu, dass 1635 die Äbtissin von Port-Royal, Mère Angélique Arnauld (1591–1661) nicht nur während der Fastenzeit, sondern auch während der anschließenden österlichen Festzeit keine Kommunion empfängt. Für die Kritiker des von Saint-Cyran und den Schwestern von Port-Royal vertretenen Individualismus eine klare Verletzung des Brauches, mindestens einmal im Jahr zu Ostern Absolution und Kommunion zu empfangen.24
Saint-Cyran fordert dabei schon für den Empfang des Beichtsakraments eine vollumfassende, innerlich empfundene Reue (contritio), während in der allgemeinen Ansicht eine anfängliche Reue (attritio) zur Erteilung der Absolution als ausreichend erachtet wurde. Vorgeblich diese Position hatte dazu geführt, dass Saint-Cyran auf Betreiben von Richelieu 1638 ins Gefängnis kam. Natürlich dürfte es eher um seine kritische Haltung gegenüber der Politik des Premierministers im Dreißigjährigen Krieg gegangen sein. Allerdings kann auch der religiöse Individualismus, den Saint-Cyran vertritt, nicht im Sinne des absolutistischen Staates sein. Wenn dem Seelsorger im Einzelgespräch so weitreichende und kirchenrechtlich relevante Entscheidungen zustehen, wie sie der Beichtvater von Port-Royal für sich beansprucht, dann entzieht sich die Religionsausübung der Untertanen in gehörigem Maß der obrigkeitlichen Kontrolle.
Zudem – und das zeigt sich im Kontrast zur zweiten und dritten Generation der Hauptströmung der École française besonders deutlich – lässt sich das Programm von Saint-Cyran und seinen Überzeugungsgenossinnen und -genossen nicht so leicht popularisieren. Es bleibt letztlich eine elitäre Angelegenheit, attraktiv etwa für Intellektuelle wie Blaise Pascal (1623–1662) und Jean Racine (1639–1699). Auch dies dürfte letztlich nicht im Sinne weder der weltlichen noch der Mehrheit der geistlichen Obrigkeit gewesen sein.
Gerade die langfristige Investition der École française in Bildung und Ausbildung hat ihren Ideen eine hohe Nachhaltigkeit innerhalb des neuzeitlichen Katholizismus beschert.25 Insofern mag man in ihr auch die Ursachen für die Missstände desselben wiederfinden.26 Vom Standpunkt einer Kultur aus betrachtet, die – bei aller Vorsicht vor Verallgemeinerungen – dem Individuum einen Vorrang vor dem Kollektiv einräumt, und die eine Praxis begründet, in der sich letzteres vor ersterem und nicht umgekehrt zu rechtfertigen hat, mag die Katholische Reform zunächst gegenüber der Reformation als rückwärtsgewandt und kollektivistisch erscheinen. So deutet etwa Adolf v. Harnack (1851–1930) die Situation.27 Die Konfessionalisierungsthese28 und mit ihr einhergehende Forschungen dürften eine solche Position heute in Reinform zwar als unhaltbar erscheinen lassen, aber in subtilerer Variation scheint das Paradigma immer noch hilfreich zur Deutung sowohl der Konsolidierungsprozesse des Katholizismus im 16. und 17. wie im 19. Jahrhundert zu sein.
Der Sakramentenobjektivismus und die Absicherung kirchlichen Handelns unabhängig von weltlichen Leitungsmodellen durch ekklesiologische Reflexion, die sich beide in der nachtridentinischen Theologie beobachten lassen, weisen tatsächlich in diese Richtung. Dass dies alleine für den Erfolg des frühneuzeitlichen Katholizismus aber nicht ausreichend gewesen wäre, zeigt gerade der Blick auf die Anfänge der École française. Einen modernen Subjektivismus hat sie keinesfalls vertreten. Sie steht im Einklang mit den kollektivistischen Bestrebungen der katholischen Theologie ihrer Zeit. Dennoch weiß sie um die Notwendigkeit, dass das Objektive auch im Subjekt ankommen muss. Ein rein äußerlicher Ritualismus, der – falls überhaupt – dem Mittelalter als ausreichend gegolten haben mag, erscheint ihr als verwerflich. Von anderen, älteren Strömungen der Epoche, wie etwa der spanischen Spiritualität des 16. Jahrhunderts, unterscheidet sich die École française weniger durch diesen grundsätzlichen Subjektbezug, als vielmehr durch die explizit dem Anliegen der Katholischen Reform entnommene Motivation. Dadurch tritt aber das Zueinander von Heilsobjektivismus und Spiritualitätssubjektivität noch deutlicher zutage.
Das Schicksal des Abbé de Saint-Cyran macht dabei deutlich, dass dieses Verhältnis keinesfalls eindeutig geregelt war. Vielmehr scheint es schon von den Zeitgenossinnen und -genossen als spannungsreich empfunden worden zu sein. Das kollektiv Vorgegebene und objektiv Bestimmbare sollte nämlich subjektiv angenommen und umgesetzt werden, es durfte aber eben keinesfalls individuell definiert werden.
Bei aller verständlichen Irritation des modernen Blicks auf die École française