Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
GuL 96 (2023), Heft 2 April-Juni 2023 n. 507 Notiz Margarete Gruber OSF Synodale Wege [113-114] Nachfolge Monika Bauer "Menschen sind die Worte Gottes". Die Journalistin, Sozialaktivistin und Mystikerin Dorothy Day [116-124] Hermann Kügler SJ / Jörg Nies SJ Spiritualität des Kämpfens - Potential und Grenzen. Eine jesuitische Perspektive [125-133] Claudia Gerstner-Link Trost inmitten von Abgründen. Unerhörtes in der Passionserzählung [134-141] Nachfolge | Kirche Elmar Mitterstieler SJ Das Evangelium der Maria von Magdala. Vollendung der Offenbarung [142-145] Michael Pfister Zwischen Herz Jesu und Alter Messe. Zur Attraktivität frommer Praktiken des 19. Jahrhunderts [146-153] Eckhard Bieger SJ Nach dem Gestellungsvertrag. Gedanken zum Seniorat [154-159] Nachfolge | Junge Theologie Daniel Klinkmann Die rituelle Welt des Lukas. Gebet und Mahl als Vorbild für Christ(inn)en heute [160-164] Reflexion Knut Wenzel "Atme in mir". Überlegungen zum katholischen Begriff von Spiritualität [166-174] Richard Atchadé Der Schock der Endlichkeit. Paul Tillich zum Verhältnis von Sein und Nichtsein [175-182] Raphaela Brüggenthies OSB Kraft der Erinnerung. Über eine lebensdienliche Ressource [183-192] Lektüre Stephan Schmid-Keiser Frömmigkeit an der Grenze des Sagbaren. Zur Wolken-Metapher bei Hans Magnus Enzensberger [194-201] Marius Schwemmer Theopoesie in Zeiten der Bedrängnis. Zwei moderne Lesearten von Psalm 130 [202-210] Hans Brandl SJ "Wohin, Herr, willst du mich bringen?" Zur Dissertation von Hernán Rojas [211-214] Buchbesprechungen [215-220]
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 207
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Heft 2 | April–Juni 2023
Jahrgang 96 | Nr. 507
Notiz
Synodale Wege
Margareta Gruber OSF
Nachfolge
„Menschen sind die Worte Gottes“. Die Journalistin, Sozialaktivistin und Mystikerin Dorothy Day
Monika Bauer
Spiritualität des Kämpfens – Potential und Grenzen. Eine jesuitische Perspektive
Hermann Kügler SJ / Jörg Nies SJ
Trost inmitten von Abgründen. Unerhörtes in der Passionserzählung
Claudia Gerstner-Link
Nachfolge | Kirche
Das Evangelium der Maria von Magdala. Vollendung der Offenbarung
Elmar Mitterstieler SJ
Zwischen Herz Jesu und Alter Messe. Zur Attraktivität frommer Praktiken des 19. Jahrhunderts
Michael Pfister
Nach dem Gestellungsvertrag. Gedanken zum Seniorat
Eckhard Bieger SJ
Nachfolge | Junge Theologie
Die rituelle Welt des Lukas. Gebet und Mahl als Vorbild für Christ(inn)en heute
Daniel Klinkmann
Reflexion
„Atme in mir“. Überlegungen zum katholischen Begriff von Spiritualität
Knut Wenzel
Der Schock der Endlichkeit. Paul Tillich zum Verhältnis von Sein und Nichtsein
Richard Atchadé
Kraft der Erinnerung. Über eine lebensdienliche Ressource
Raphaela Brüggenthies OSB
Lektüre
Frömmigkeit an der Grenze des Sagbaren. Zur Wolken-Metapher bei Hans Magnus Enzensberger
Stephan Schmid-Keiser
Theopoesie in Zeiten der Bedrängnis. Zwei moderne Lesarten von Psalm 130
Marius Schwemmer
„Wohin, Herr, willst du mich bringen?“ Zur Dissertation von Hernán Rojas
Hans Brandl SJ
Buchbesprechungen
GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christliche Spiritualität. Begründet 1926 als Zeitschrift für Aszese und Mystik
Erscheinungsweise: vierteljährlich
ISSN 0016–5921
Herausgeber:
Zentraleuropäische Provinz der Jesuiten
Redaktion:
Christoph Benke (Chefredakteur)
Britta Konlechner-Mühl (Redaktionsassistenz)
Redaktionsbeirat:
Margareta Gruber OSF / Vallendar
Stefan Kiechle SJ / Frankfurt
Bernhard Körner / Graz
Edith Kürpick FMJ / Köln
Ralph Kunz / Zürich
Jörg Nies SJ / Stockholm
Andrea Riedl / Dresden
Klaus Vechtel SJ / Frankfurt
Redaktionsanschrift:
Pramergasse 9, A–1090 Wien
Tel. +43–(0)664–88680583
Artikelangebote an die Redaktion sind willkommen. Informationen zur Abfassung von Beiträgen unter www.echter.de/geist-und-leben/. Alles Übrige, inkl. Bestellungen, geht an den Verlag. Nachdruck nur mit besonderer Erlaubnis. Werden Texte zugesandt, die bereits andernorts, insbesondere im Internet, veröffentlicht wurden, ist dies unaufgefordert mitzuteilen. Redaktionelle Kürzungen und Änderungen vorbehalten. Der Inhalt der Beiträge stimmt nicht in jedem Fall mit der Meinung der Schriftleitung überein. Für Abonnent(inn)en steht GuL im Online-Archiv als elektronische Ressource kostenfrei zur Verfügung. Nichtabonnent(inn)en können im Online-Archiv auf die letzten drei Jahrgänge kostenfrei zugreifen. Registrierung auf www.echter.de/geist-und-leben/.
Verlag: Echter Verlag GmbH,
Dominikanerplatz 8, D–97070 Würzburg
Tel. +49 –(0)931–660 68–0, Fax +49– (0)931–660 68–23
[email protected], www.echter.de
Visuelle Konzeption: Atelier Renate Stockreiter
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
Bezugspreis: Einzelheft € 13,50
Jahresabonnement € 45,00
Studierendenabonnement € 30,00
jeweils zzgl. Versandkosten
Vertrieb: Zu beziehen durch alle Buchhandlungen oder direkt beim Verlag. Abonnementskündigungen sind nur zum Ende des jeweiligen Jahrgangs möglich.
Auslieferung: Brockhaus Kommissionsgeschäft GmbH, Kreidlerstraße 9, D–70806 Kornwestheim
Auslieferung für die Schweiz: AVA Verlagsauslieferung AG, Centralweg 16, CH–8910 Affoltern am Alibs
Diesem Heft liegen folgende Prospekte bei:
Münsterschwarzacher Büchertage, Abtei Münsterschwarzach; Religiöse Lyrik im Echter Verlag Wir bitten um Beachtung.
Margareta Gruber OSF | Vallendar
geb. 1961, Dr. theol., Professorin für Exegese des Neuen Testaments und Biblische Theologie, Beiratsmitglied von GEIST & LEBEN [email protected]
„Auf die Frage nach der Relevanz des christlichen Glaubens wird es immer ‚so viele konkrete Antworten geben, wie es Gestalten lebendigen Christentums unter uns gibt‘. Immerzu geht es um die Vermittlung der ‚provozierenden Kraft unserer Hoffnung […] auch für alle, die sich schwertun mit dieser Kirche, für die Bekümmerten und Enttäuschten, für die Verletzten und Verbitterten‘. Die Erneuerung der Kirche ‚erschöpft sich nicht in einzelnen synodalen Reformmaßnahmen‘. […] Ist unser ‚kirchliches Leben nicht selbst viel zu verdunkelt und verengt von Angst und Kleinmut, zu sehr im Blick auf sich selbst befangen, allzu sehr umgetrieben von der Sorge um Selbsterhaltung und Selbstreproduktion […]?‘“ Diese Texte, die aus den aktuellen Dokumenten des Synodalen Weges der Katholischen Kirche in Deutschland stammen, sind ein Zitat aus der Würzburger Synode von 1971–1975. Damals war ich im Gymnasium, bekam die Diskussionen höchstens am Rande mit. Heute habe ich nicht nur 40 Jahre aktives Leben als Theologin, davon 30 Jahre als Ordensfrau, hinter mir, sondern auch drei intensive Jahre als Beraterin im Synodalforum „Frauen in Diensten und Ämtern in der Kirche“, in dessen „Grundtext“ die Würzburger Synode zitiert wird. Wo stehen wir heute?
Es gibt viele Lesarten dieses Synodalen Weges, der am 14. März 2019 von den deutschen Bischöfen beschlossen wurde. Da sind einerseits große Erwartungen auf eine langersehnte Erneuerung der Kirche und bittere Enttäuschungen über den Reformstau, unter dem viele Katholik(inn)en leiden. Andererseits herrscht die Befürchtung, der Synodale Weg würde in seinem Reformwillen zu weit gehen, sich vor den Karren von reformerischen Interessenverteter(inne)n spannen lassen und das Wesentliche des Katholischen aufs Spiel setzen. Von römischer Seite sieht man sich zudem mit dem Vorwurf konfrontiert, einen deutschen Sonderweg gehen zu wollen und ein Schisma zu riskieren. Ich möchte an dieser Stelle in Erinnerung rufen, dass der Synodale Weg aus einer ganz konkreten und sehr schmerzlichen Erfahrung heraus begonnen wurde, den das Frauenforum aus seiner Perspektive so formuliert: „Die Erinnerung an Erfahrungen sexualisierter Gewalt und geistlichen Missbrauchs von Männern an Frauen motiviert zum entschiedenen Handeln, bei dem die Bereitschaft zur Umkehr im Mittelpunkt steht“ (Grundtext Frauenforum). Der Skandal des Missbrauchs steht am Beginn des synodalen Reformweges! Daran wird sich der Synodale Weg in allem, was in Zukunft geschehen wird, messen lassen müssen.
Was ist bisher zu sehen? Es ist eine Leistung, in kurzer Zeit eine deutschlandweite synodale Versammlung auf den Weg zu bringen, die funktioniert und innerhalb sehr begrenzter Zeit gute Texte in einem transparenten Entstehungsprozess erarbeitet. Das Engagement vieler Beteiligten – die meisten davon in ihrer ehrenamtlichen Freizeit – ist beeindruckend, wie auch die Kompetenz, die aus verschiedenen Richtungen in die Diskussionen eingespeist wird. So entstanden Texte, die nicht nur für die Katholische Kirche in Deutschland von Relevanz sind. Ich habe in diesen Jahren außerdem erlebt, wie sich die Gesprächskultur in den Foren und in der Synodalversammlung verändert hat: Es wird hart diskutiert, aber es ist ein Gespräch auf Augenhöhe zwischen den Mitgliedern, von denen mehr als die Hälfte keine geweihten Amtsträger sind. Bei vielen habe ich die Bereitschaft zur Veränderung erlebt, eine Entscheidung zum Zuhören und Verstehen auch von Positionen, die zunächst fremd waren. Das gibt mir einen ersten Eindruck davon, wie ein konkretes Miteinander von Amtsträgern und so genannten Laien in Zukunft aussehen könnte. Nicht zuletzt sind das für mich spirituelle Erfahrungen.
Die Zeitknappheit, verbunden mit der pandemischen Situation, forderte allerdings ihren Preis; wichtige Dinge blieben auf der Strecke. Das größte Manko ist sicher, dass unsere Diskussionen lange Zeit auf den deutschen Sprachraum beschränkt blieben. Das könnte sich allerdings auf der letzten Etappe des Weges ändern. Die Texte sind nun publiziert, zum Teil übersetzt und werden auch außerhalb des deutschen Sprachraums rezipiert. Vor allem aber ist es der Synodale Prozess, den Papst Franziskus ein Jahr nach Beginn des Synodalen Weges auf weltweiter Ebene angestoßen hat, der nun erste Ergebnisse zeigt. Als ich das beeindruckende Arbeitsdokument für die anstehende kontinentale Phase dieses weltweiten synodalen Weges las, sah ich: Unsere Fragen sind in allen Teilen der Weltkirche lebendig, auch wenn sie in unterschiedlicher Weise gewichtet und ausgedrückt werden. An einer Stelle schien mir der Text sogar von Frauen wie mir zu reden, wenn es heißt: „Wer von ihnen [den Frauen] an den synodalen Prozessen teilgenommen hat, wünscht sich, dass Kirche und Gesellschaft für Frauen ein Ort der Weiterentwicklung, aktiven Teilhabe und gesunden Zugehörigkeit sein mögen. In einigen Berichten wird festgestellt, dass die Kulturen ihrer Länder Fortschritte bei der Inklusion und Teilhabe von Frauen gemacht haben und dass diese Fortschritte der Kirche als Vorbild dienen könnten. ‚Diese fehlende Gleichberechtigung für Frauen innerhalb der Kirche wird als Hindernis für die Kirche in der modernen Welt gesehen‘ (Neuseeländische Bischofskonferenz).“ Wie die fünfte und letzte Synodalversammlung im März 2023 enden wird, ist offen; eines ist jedoch sicher: Die synodalen Wege in der Katholischen Kirche werden weitergehen.
Monika Bauer | Zürich
geb. 1953, Dr. theol., pens. Primarlehrerin und Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Zürich
„Menschen sind die Worte, mit denen Gott seine Geschichte erzählt“: Dieser Grund-Satz fundamentaler Theologie – er stammt von Edward Schillebeeckx OP – passt hervorragend, um das Leben der US-Amerikanerin Dorothy Day (1897–1980) zu buchstabieren, die in ihrer Heimat immer noch als Ikone des sozialen Gewissens gilt. Sie gründete mit ihrem Mitstreiter Peter Maurin während der Weltwirtschaftskrise 1933 die Zeitschrift The Catholic Worker und erinnerte an Jesu Solidarität mit der Arbeiterschaft und an seine Mitleidenschaft für die Armen. Die zum Katholizismus Konvertierte setzte sich für einen genügsamen und gewaltfreien Lebensstil ein und forderte Christ(inn)en auf, nicht nur zu singen, sondern auch gegen Unrecht zu protestieren. Den Randständigen war die prophetische Frau ein Trost, den Arrivierten Herausforderung.
Kraft für ihr Lebenswerk schöpfte Dorothy Day, die unter den Bedingungen der Postmoderne ein authentisch christliches Leben gestaltete, aus einer innigen Gottesbeziehung. Dieser Artikel, in dem nicht alle Aspekte dieser vielschichtigen Persönlichkeit beleuchtet werden können, ist mit der Hoffnung verbunden, ihr Leben und Werk seien im Folgenden nicht allzu kurz und geglättet dargestellt.1
Dorothy kommt als drittes von fünf Kindern eines Sportjournalisten und einer Stenographin 1897 in New York auf die Welt. Als der Vater seine Arbeitsstelle verliert, lernt die Siebenjährige in Chicago die Armut und den Katholizismus kennen. Areligiös sozialisiert, doch mit tiefer Sehnsucht nach dem Schönen und Guten, tritt sie mit 12 Jahren der Episkopalen Kirche bei. Ein Stipendium ermöglicht von 1914–1916 den Besuch der Universität in Urbana, wo sie durch einen kommunistischen Freundeskreis in Kontakt mit radikalem Gedankengut kommt und sich von der Religion verabschiedet.
Zurück in ihrer Geburtsstadt schreibt Dorothy für The Call, tritt den Wobblies (Industrial Workers of the World) bei und macht sich unter sozialistischen Medien einen Namen als aufdeckende Journalistin. Mit 20 Jahren wird sie Herausgeberin der kommunistischen Zeitschrift The Masses. Da in Amerika die Angst vor der roten Gefahr riesig ist, wird sie als Sufragette und Radikale verhaftet. Während Gefängnisaufenthalten vertieft sich ihr Sehnen nach Gott. Nach einer unglücklichen Liebschaft, einer Abtreibung, zwei Selbstmordversuchen und einer kurzen Ehe, findet Dorothy durch die Liebe zu Forster Batterham und nach der Geburt der gemeinsamen Tochter zu Gott. Doch Tamars Taufe 1926 und Dorothys Übertritt in die katholische Kirche 1927 führen zum Bruch mit Forster, dem nur die Natur heilig ist.
Zusammen mit Peter Maurin gründet Dorothy 1933 die Zeitung The Catholic Worker, aus deren Leserschaft eine Bewegung entsteht, die Arbeitende unterstützt und Häuser für Obdachlose eröffnet. Dorothy wird zu einer Botschafterin für den Frieden. Der zivile Widerstand, das neue Markenzeichen der Catholic Worker, hat mehrere Gefängnisaufenthalte zur Folge. Nach einer letzten Inhaftierung 1973 verbringt Dorothy ihren Lebensabend in einem Haus für obdachlose Frauen, wo sie am 29. November 1980 friedlich stirbt. Alle großen amerikanischen Zeitungen berichten über ihren Tod und schildern ihren Einfluss auf das soziale und ökonomische Denken einer ganzen Generation. Time zitiert Abbie Hoffmans Worte bei der Beerdigung: „She is the nearest thing this Jewish boy is ever going to get to a saint.“2
Von Kindheit an ist Dorothy eine geübte Schreiberin. Aufgewachsen in einer Journalistenfamilie verfasst sie Fortsetzungsgeschichten und Artikel für die Familienzeitschrift und lernt früh, dass Berichterstattung Fakten auswählt und interpretiert. Unter dem Einfluss von Upton Sinclair entwickelt sie als Jugendliche den Schreibstil eines anwaltschaftlichen Journalismus. Der Leserschaft von The Call und The Masses erzählt sie Geschichten von kleinen Leuten. Sie deckt Unrecht auf, um Veränderungen anzustoßen und gibt die Vision einer gerechten Welt nie auf. Auch als Schriftstellerin möchte Dorothy die Menschen berühren, doch ihr erster Roman The Eleventh Virgin (1924) erhält keine gute Kritik; immerhin kann sie sich mit dem Geld für die Filmrechte ein Strandhaus auf Staten Island kaufen. Dort führt die Schönheit der Natur, die Liebe zu Forster und die Geburt ihrer Tochter sie zu Gott.
Dorothys Eintritt in die katholische Kirche stellt ihr Leben auf den Kopf. Sie schreibt nicht mehr für linke Zeitungen, sondern verdient den Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter mit Artikeln für Gartenzeitschriften, dem Korrigieren von Filmskripts und wird immer unglücklicher. Sie ist froh um den Auftrag der katholischen Zeitschriften Commonweal und America, über den Hungermarsch der Arbeitslosen zu berichten, die während der Weltwirtschaftskrise von New York nach Washington aufbrechen, um Sozialleistungen einzufordern. Nach dem Fertigstellen ihrer Reportage sucht Dorothy am 08.12.1932 eine Kirche auf, wo sie Gott um eine Arbeit bittet, bei der sie ihren Glauben und ihr Engagement für die Armen in Einklang bringen kann.
Zurück in ihrer New Yorker Wohnung wird sie von einem Unbekannten erwartet, der sie mit einem eloquenten Redeschwall überfällt. Der belesene und zwanzig Jahre ältere Peter Maurin möchte sein Programm einer christlich-sozialen Weltrevolution in den USA bekannt machen. In Peter begegnet Dorothy erstmals einem Katholiken, der die Not der Arbeiterschaft nicht mit frommen Worten beschwichtigen, sondern mit konkreten Taten verbessern möchte. Dorothys Zweifel, ob sie mit dem Beitritt in die katholische Kirche die Armen verraten habe, schwinden und Peter muss die Journalistin Dorothy nicht lange bearbeiten, Mitherausgeberin einer Zeitung zu werden, die dem linken Flügel der katholischen Kirche eine Stimme verleiht.
In ihrer zum Redaktionsbüro gewordenen Küche gestaltet sie die erste 8-seitige Zeitung, deren Zeitungskopf den Titel The Catholic Worker (CW) trägt und Jesus als Arbeiter zeigt, der Handwerker umarmt. Dorothy publiziert Peters Ideen, verfasst das Editorial, thematisiert Mindestlöhne und Streiks und betont die Mitverantwortung jedes Individuums für ein gelingendes Miteinander. Als die 2500 Exemplare der Erstausgabe am 1. Mai 1933 auf dem Union Square angeboten werden, ist der Verkaufserfolg gering. Die in Kirchen aufgelegten Exemplare lösen jedoch Begeisterung aus. Sammelbestellungen ermöglichen die Herausgabe einer zweiten Nummer und bald liegt die Auflage bei 150.000 Exemplaren. Beiträge europäischer und amerikanischer Theologen, Philosophen und Sozialaktivisten vermitteln einen weltoffenen, solidarischen Katholizismus. Doch das Herz der Zeitung ist Dorothys monatliche Kolumne Day by Day, die ab 1946 On Pilgrimage heißt. Darin verbindet sie biblische Texte mit aktuellen Lebenserfahrungen so kunstvoll, dass das soziale und dynamische Potential der Frohbotschaft zum Vorschein kommt und verdeutlicht, dass das Reich Gottes im liebevollen Füreinander schon heute aufblühen kann. Der CW, der 47 Jahre lang Dorothys Handschrift trägt, zeichnet sich durch eine geerdete Spiritualität aus und wird zum Forum für ein radikales Christentum. Da es Dorothys Berufung ist, als Journalistin zu agitieren und die Feder als Waffe einzusetzen, erstaunt es nicht, dass ihre Texte auch Ablehnung auslösen. Sie beantwortet in unzähligen Briefen Vorwürfe an den CW und belegt mit Zitaten von Kirchenvätern ihre Rechtgläubigkeit.
Das Belehren von Unwissenden versteht sie als expliziten Auftrag Christi. Zu den Zielen und Zwecken des CW gehört auch die Verbreitung der Lehre vom Mystischen Leib Christi. Für Dorothy ist die Vorstellung, dass Gläubige in und mit Christus den geheimnisvollen Leib Christi bilden, kein neuer Gedanke. Sie lernte als Gewerkschafterin, dass die Verletzung eines Mitglieds alle betreffe und folgert daraus, dass auch die Lehre vom Mystischen Leib Christi soziale Implikationen hat. Sie setzt sich früh für die Ökumene und für People of Colour ein und bedenkt, dass insbesondere Menschen, die solidarisch mit den Armen leben, zur innigen Gemeinschaft in und mit Christus gehören. Aus Dorothys Sicht muss Religion immer die Gesellschaft mitbedenken und darf nicht zur Gestaltung des privaten Seelenheils missbraucht werden. Orthodoxie, der richtige Glaube, und Orthopraxis, das richtige Leben, gehören für sie zusammen. Sie beginnt jeden Tag mit dem Messbesuch und informiert im CW schon in den 1930er Jahren über die Liturgische Erneuerung, weil ihr die aktive Beteiligung im Gottesdienst viel bedeutet. In der Liturgie ist ihr Christus als Bruder unter Geschwistern gegenwärtig. Dieses innige Verwandtschaftsgefühl trägt Dorothy durch schwierige Zeiten, da das Programm des CW lange im Kontrast zur damaligen katholischen Kultur steht. Dennoch löst The Catholic Worker die erhoffte Revolution der Herzen aus und führt viele zu einer neuen Lebensart. Die Zeitung, die heute in einer Auflage von 80.000 Exemplaren gedruckt wird, erfüllt damit ihre Hauptaufgabe: Sie soll Menschen zu direkten Aktionen bewegen!
Die Journalistin Dorothy findet von der radikalen Solidarität mit den Armen und Ausgegrenzten zu einer biblisch begründeten Lebensweise. Sie orientiert sich an den prophetischen, staatskritischen Texten der Bibel. Gott, der in seinem Sohn in die Geschichte und in das Leben der Menschen tritt, begegnet den Hungrigen im Brot, den Unterdrückten in Form der Gerechtigkeit. Weit vor den Befreiungstheologien beschreibt Dorothy die Option für die Armen als richtungsweisend für ein christliches Leben. Nicht Almosen, sondern Gerechtigkeit fordert sie für die Leidtragenden des gottlosen Kapitalismus und Materialismus. In ihrer Compassion vergleicht sie die Verachtung der Armen mit der Verspottung Christi in seiner Passion.3
Nach ihrer Konversion ist Dorothys Leben geprägt vom Hören auf das Wort Gottes, das sie zur Tat drängt. In der Bergpredigt (Mt 5,3–12) findet sie Weisungen, die ihrem einfachen Lebensstil und ihrer pazifistischen Haltung ein Fundament geben. Während der Weltwirtschaftskrise bieten die in der Gerichtspredigt Jesu (Mt 25,35f.) genannten Werke der Barmherzigkeit eine Möglichkeit, mit direkten Aktionen eine gerechtere Gesellschaftsordnung zu befördern. Dabei fällt auf, dass Dorothy nicht nur das Nähren, Kleiden und Trösten der Obdachlosen als Dienst an Jesus bedenkt, sondern auch den Protest gegen den American Way of Life.
Nach der Publikation der ersten Nummer des CW klopfen Obdachlose bei Dorothy an, um zu testen, ob ihren Worten Taten folgen. Da ihr eine Nachfolge Jesu nur in Solidarität mit den Ausgegrenzten glaubhaft ist, platzt Dorothys Wohnung bald aus allen Nähten. Kommen die einen mit der Bitte um Nahrung und Schlafplatz ins Redaktionsbüro des CW, eilen andere herbei, um Dorothy zu unterstützen. Als auch unter dem Lavabo ein Obdachloser schläft, mietet sie mit Gottvertrauen ein leerstehendes Coiffeur-Geschäft und bittet im CW um Betten und Betteninhalt. Das erste Haus der Gastfreundschaft entsteht als Reaktion auf das im CW vorgestellte Programm einer sozialen Revolution.
Ausgehend vom Mutterhaus in New York breiten sich Häuser der Gastfreundschaft über ganz Amerika aus. Dorothys Wohnung wird zum Vorbild für Zentren gegenseitiger Hilfe im Geist einer geschwisterlichen Gemeinschaft. Ein Heer von Freiwilligen organisiert billigen Wohnraum, kümmert sich um Gäste, holt in Lebensmittelläden abgelaufene Artikel, kocht, betet und putzt gemeinsam. Die Arbeit in den Häusern der Gastfreundschaft verbindet die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten eng miteinander. Diese radikale („verwurzelte“) Spiritualität gibt den Häusern der Gastfreundschaft von Anfang an eine Wärme und Farbigkeit, die außergewöhnliche Menschen als Gäste und Gastgeber anzieht. Es spricht sich schnell herum, dass in den Häusern der Catholic Worker alle begrüßt, bedient und mit Würde behandelt werden. Niemand muss einen Sozialausweis zeigen oder ein Glaubensbekenntnis ablegen. Nur ein Kreuz an der Wand verdeutlicht die christliche Verankerung.
Dorothys von der frohen Botschaft genährte Lebensfreude wirkt ansteckend. Es finden sich immer genug Freiwillige, die für einfachste Kost und ein verwanztes Bett das Leben mit Randständigen teilen. Der Alltag in Mott Street ist durch ein Miteinander und Durcheinander von Redaktionsarbeit und Betreuungsaufgaben geprägt. Die einen schreiben, verkaufen die Zeitung, unterstützen Streiks, die anderen kochen und bedienen die Obdachlosen. Nach einem arbeitsamen Tag klingt der Tag beim gemeinsamen Singen der Komplet aus. Die Verschmelzung von Werten und Traditionen des katholischen Glaubens mit einer radikalen sozialen Kritik schafft einen innovativen Zweig des Katholizismus. Vor allem junge Menschen finden einen Ort, wo sie jenseits von Klostermauern ein tatkräftiges christliches Leben führen können.
Für die damalige Zeit außergewöhnlich ist die ökumenische Offenheit der von Laien gegründeten Bewegung. Die im CW veröffentlichten Artikel von protestantischen und orthodoxen Theologen werden in Abendgesprächen diskutiert, und Dorothy berichtet von den ökumenischen Treffen in der Abtei St. Procopius in Lisle, der sie 1955 als Oblatin beitritt. Die Catholic Worker stehen den täuferisch Gesinnten (z.B. Mennoniten) nahe, mit denen sie die Weigerung zu töten und das Ideal eines einfachen Lebens teilen. Als Netzwerkerin für den Frieden ist Dorothy auch im Kontakt mit Quäkern, die eine geschwisterliche Zusammengehörigkeit aller Menschen betonen. Auf ihren Vortragsreisen macht sie in Priesterseminaren und Schulen die Philosophie der Catholic Worker bekannt und betont, dass es für die Umsetzung keine kirchliche Erlaubnis brauche; das Jesuswort genüge: „Was ihr den Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.“
Mit ihrem Dienst an den Ausgestoßenen geraten die Catholic Worker selten in Konflikt mit Kirche und Staat. Doch als einige Freiwillige den Wehrdienst verweigern, gar ihre Einzugsbefehle verbrennen, wird die Bewegung kirchlich kritisiert und staatlich überwacht. Dorothy, die betont, dass auch in japanischen, vietnamesischen und russischen Gegnern Christus gegenwärtig ist, erfährt nun viele Anfeindungen. Manchmal flieht sie dann in eine der von Catholic Workern betriebenen Farmkommunen, um bei Arbeit und Gebet Ruhe zu finden.
Dorothy beschreibt sich als lebenslang von Gott Heimgesuchte und versteht sich zugleich als Suchende, der die Sehnsucht nach Gott ins Herz gelegt wurde. Früh erlebt sie das Göttliche als ein Geheimnis, das sich überwältigend in der Schönheit von Natur und Kunst und furchterregend in Angstträumen zeigt. Als Kind quält sie wiederholt ein Traum, indem die Hand eines unpersönlichen Gottes sie lieblos packt und nur die tröstende Nähe der Mutter sie beruhigen kann. Die Freundschaft zu einem katholischen Mädchen nährt ihre Sehnsucht nach Beheimatung in einer Glaubensgemeinschaft. Sie tritt der episkopalen Kirche bei, wendet sich aber während ihrer Studienjahre von Gott ab und durchwandert Wüstenzeiten, die sie als The Long Loneliness4 erlebt und rückblickend als göttliches Stoßen und Drängen interpretiert. Das von Eugene O’Neill vorgetragene Gedicht The Hound of Heaven erweckt in ihr Gottesbilder, die dem bedrängenden Wesen aus ihrer Kindheit Strenge und Schrecken nehmen. Gott streckt sich darin als Himmelshund sehnend nach ihr aus und flüstert ihr zärtlich zu: „Ah, fondest, blindest, weakest, I am He Whom thou seekest!“5
Dorothy hat kein Bekehrungserlebnis, das vom Himmel fällt. Sie schildert ihre Konversion als flüchtiges Aufscheinen des Göttlichen, das sie zu seinen Füßen führt. Dieser unabgeschlossene Prozess wird entscheidend beeinflusst durch die stabile Liebe zu Forster. Guter Hoffnung vertieft sich ihr Vertrauen in einen befreienden und erlösenden Gott, der in Jesus Christus Mensch wurde. Sie liest während der Schwangerschaft Texte von Teresa von Ávila, die sie so beeindrucken, dass ihr die Mystikerin zur Seelenführerin wird. Dorothy lernt einen Weg zur völligen Hingabe an Gott auch bei Johannes vom Kreuz, Franz von Sales, Thérèse von Lisieux kennen. Sie beginnt regelmäßig zu beten und entscheidet sich nach der Geburt von Tamar Teresa 1926 für die Taufe ihres Kindes und zum Übertritt in die katholische Kirche. Ist es der Schmerz um die zerbrochene Beziehung mit Forster, der aus ihrer Taufe 1927 einen vernunftmäßigen Akt ohne erhebende Gefühle macht? Dorothy braucht Jahre, bis ihre Verbundenheit mit Christus so offensichtlich ist, dass sie gerne darüber berichtet. Sie sucht den, der ihre Seele liebt, im Slum und findet ihn als Obdachlosen, den sie vor dem Erfrieren errettet. Ihr Geliebter zeigt sich als asiatische Frau, als spielendes Kind, als gelynchter Dunkelhäutiger. Als Dorothy beim Streik der Hafenarbeiter 1935 sieht, wie Polizisten die Kommunisten zusammenschlagen, ihre Gesichter nicht schonen, bittet sie in einem Protestbrief an die New Yorker Polizei, auch in einem Kommunisten Christus zu sehen. Im CW Februar 1940 schreibt sie: „Wir müssen die Gegenwart Gottes praktizieren. Er sagte, wenn zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, bin ich mitten unter ihnen. Er ist mit uns in unseren Küchen, an unseren Tischen, in der Brotlinie, mit unseren Besuchern, auf unseren Farmen.“
Doch auch die Schöpfung, als Spur Gottes in der Welt und das durch die menschliche Arbeit Geschaffene gilt es mit Sorgfalt zu behandeln. Für Dorothy bedeutet ein spirituelles Leben, jegliche Tätigkeit im Namen Jesu zu tun, wobei sie sich lieber auf das großzügige Säen von Liebe, als auf das Jäten spezialisiert. Weil ihr in jedem Akt der Liebe die Ewigkeit in die Zeit einbricht, bezeichnen Freundinnen und Mitarbeiter Dorothy als Mystikerin.
Dorothy erlebt Gottes Heimsuchungen herb und existenzialistisch. Sie kennt das Entzücken und spürt Gottes Gegenwart im Licht, in der unendlichen Schönheit, in der Güte. In Zeiten seelischer Trockenheit entwickelt sie das Bewusstsein, dass Gottesnähe nicht verdient, nicht erkauft, ja nicht einmal errungen werden kann. Gottesnähe schenkt sich. Verdunkelt Melancholie ihre Gründung in Gott, sucht sie Linderung durch Aktivitäten, nimmt sich vor, ihre Depressionen als Prüfung zu akzeptieren und Gott allezeit zu loben. Doch wenn die Ausrichtung zum Himmel keinen Trost bringt, flüchtet sie in ihr Zimmer, um tagelang bitterlich zu weinen.6 Dorothy lebt mit der Überzeugung, dass das Gehen auf dem Weg ihres Geliebten kein Spaziergang ist, aber auch himmlische Qualitäten hat. Sie berichtet von Alltagswundern und ist überzeugt, dass Gott ihr Zeiten der Verzweiflung schickt, damit sie nicht von der hohen Warte der Sicherheit mit verunsicherten Menschen spreche. Immer auf das Unendliche bezogen, bewahrt das Aushalten von Paradoxem Dorothy vor Fundamentalismus. Ihr Vertrauen, dass das Reich Gottes mit der Niederkunft Christi in die Lebenswelt der Menschen schon angebrochen ist, stärkt sie für ihr ungewöhnliches Leben, das vielen zum Vorbild wird.
Manchen gilt Dorothy als moderne Heilige, die ihr widersprüchliches Leben als Pilgerweg verstand. Mit der Zeitung The Catholic Worker verlieh sie dem linken Flügel der katholischen Kirche Amerikas eine Stimme und legte den Grundstein für eine radikale Bewegung, die wegweisend wurde für eine zeitgemäße katholische Laienspiritualität. Mit ihrem Lebenszeugnis (martyria), ihrem Dienst an den Mitmenschen (diakonia), ihrem Gebet (leiturgia