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GuL 95 (2022), Heft 4 Oktober-Dezember 2022 n. 505 Notiz Jörg Nies SJ Bedingte Indifferenz [333-334] Nachfolge Jeroen Smith Hagiographie und Hagiologie. Walter Nigg und Hans Urs von Balthasar [336-344] Gotthard Fuchs "… wie sehr du nach uns verlangst". Gerichts- und Gottesrede in Joachim Kleppers Kirchenliedern [345-353] Josef Epping Gottes Präsenz. Zur Schächer-Episode bei Lukas [354-360] Nikolaas Sintobin SJ Magis. Ignatianische Exzellenz und Bildung [361-365] Nachfolge | Kirche Ralph Kunz Und Maria? Mariologisches aus reformierter Perspektive [366-372] Hildegard Scherer Marienfrömmigkeit 2.0 [373-377] Edith Kürpick FMJ Spirituelle Vernachlässigung [378-384] Burkhard Neumann "Im Anfang war das Wort" (Joh 1,1). Über die Worte der Menschen und das Wort Gottes [385-393] Nachfolge | Junge Theologie Florian Lüthi Gedankenfreiheit und Universalität. Simone Weils Verständnis des Christentums [394-398] Reflexion Bradford E. Hinze SJ "Konflikt" bei Michel de Certeau SJ. Ignatianische Implikationen [400-408] Marisa Gasteiger "Vor albernen Gebeten behüte uns Gott". Gebet und Vernunft [409-415] Raphaela Brüggenthies OSB "Niemand ist da, der mich beachtet". Gedanken über das Sehen und Gesehen-Werden [416-424] Lektüre Willibald Sandler Eine Frage von Gottes Handeln. Eine Replik auf Martin Blay [426-433] Buchbesprechungen [434-440]
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Heft 4 | Oktober–Dezember 2022
Jahrgang 95 | Nr. 505
Notiz
Bedingte Indifferenz
Jörg Nies SJ
Nachfolge
Hagiographie und Hagiologie. Walter Nigg und Hans Urs von Balthasar
Jeroen Smith
„… wie sehr du nach uns verlangst“.
Gerichts- und Gottesrede in Joachim Kleppers Kirchenliedern
Gotthard Fuchs
Gottes Präsenz.
Zur Schächer-Episode bei Lukas
Josef Epping
Magis.
Ignatianische Exzellenz und Bildung
Nikolaas Sintobin SJ
Nachfolge | Kirche
Und Maria?
Mariologisches aus reformierter Perspektive
Ralph Kunz
Marienfrömmigkeit 2.0
Hildegard Scherer
Spirituelle Vernachlässigung
Edith Kürpick FMJ
„Im Anfang war das Wort“ (Joh 1,1).
Über die Worte der Menschen und das Wort Gottes
Burkhard Neumann
Nachfolge | Junge Theologie
Gedankenfreiheit und Universalität.
Simone Weils Verständnis des Christentums
Florian Lüthi
Reflexion
„Konflikt“ bei Michel de Certeau SJ.
Ignatianische Implikationen
Bradford E. Hinze SJ
„Vor albernen Gebeten behüte uns Gott”.
Gebet und Vernunft
Marisa Gasteiger
„Niemand ist da, der mich beachtet“.
Gedanken über das Sehen und Gesehen-Werden
Raphaela Brüggenthies OSB
Lektüre
Eine Frage von Gottes Handeln.
Eine Replik auf Martin Blay
Willibald Sandler
Buchbesprechungen;
Jahresinhaltsverzeichnis
GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christliche Spiritualität. Begründet 1926 als Zeitschrift für Aszese und Mystik
Erscheinungsweise: vierteljährlich
ISSN 0016–5921
Herausgeber:
Zentraleuropäische Provinz der Jesuiten
Redaktion:
Christoph Benke (Chefredakteur)
Britta Konlechner-Mühl (Redaktionsassistenz)
Redaktionsbeirat:
Margareta Gruber OSF / Vallendar
Stefan Kiechle SJ / Frankfurt
Bernhard Körner / Graz
Edith Kürpick FMJ / Köln
Ralph Kunz / Zürich
Jörg Nies SJ / Stockholm
Andrea Riedl / Dresden
Klaus Vechtel SJ / Frankfurt
Redaktionsanschrift:
Pramergasse 9, A–1090 Wien
Tel. +43–(0)664–88680583
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Dominikanerplatz 8, D–97070 Würzburg
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Jahresabonnement € 45,00
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Vertrieb: Zu beziehen durch alle Buchhandlungen oder direkt beim Verlag. Abonnementskündigungen sind nur zum Ende des jeweiligen Jahrgangs möglich.
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Auslieferung für die Schweiz: AVA Verlagsauslieferung AG, Centralweg 16, CH–8910 Affoltern am Alibs
Diesem Heft liegen folgende Prospekte bei:
Gottes Wort im Kirchenjahr, Echter Verlag
Flesch, Die Betroffenen, Echter Verlag
Wir bitten um Beachtung.
Der Begriff der Indifferenz kann sehr unterschiedliche Assoziationen hervorrufen. Während einige in ihm etwas Negatives, einen Ausdruck der Gleichgültigkeit und des Desinteresses erkennen, drückt er für andere einen erstrebenswerten Zustand aus, eine innere Ruhe, aus der Gleichmütigkeit oder Gelassenheit entsteht. Die positive Zuschreibung ist häufig verknüpft mit einer spirituellen Haltung, die aus verschiedenen Traditionen kommen kann.
In christlicher Perspektive spielt Ignatius von Loyola für das Verständnis der Indifferenz eine wichtige Rolle. Mit den Geistlichen Übungen will Ignatius Menschen helfen, „über sich selbst zu siegen“ und das „Leben zu ordnen, ohne sich bestimmen zu lassen durch irgendeine Anhänglichkeit, die ungeordnet wäre“ (GÜ 21). Es geht um ein zweifaches Freiheitsgeschehen, die „Freiheit von“ und die „Freiheit zu“. Erste ist als negative Freiheit zu beschreiben, als die Freiheit von Abhängigkeiten und von Ängsten. Sie ist Voraussetzung für die positive Freiheit, in der dann eine echte Wahl geschehen kann. Doch ist eine solche Freiheit realistisch? Sind wir nicht immer – mehr oder weniger bewusst – von Zwängen, Verhaltensmustern und Unfreiheit beeinflusst?
Ignatius weiß, wie stark eingeschränkt die menschliche Freiheit ist. Er setzt zunächst grundsätzlich an und formuliert das Ziel, zu welchem der Mensch geschaffen ist: „Gott unseren Herrn zu loben, ihm Ehrfurcht zu erweisen und ihm zu dienen und mittels dessen seine Seele zu retten“ (GÜ 23,2). Dieser Maxime wird alles unter- bzw. auf sie hingeordnet: „Deshalb ist es nötig, dass wir uns gegenüber allem, was der Freiheit unserer freien Entscheidungsmacht gestattet und ihr nicht verboten ist, indifferent machen“ (GÜ 23,5). Die Freiheit ist diesem Verständnis nach insofern eingeschränkt, als sie sich nur auf bestimmte Dinge beziehen kann. Dazu muss der Mensch aktiv werden und sich-indifferent-machen. Indifferenz ist so gesehen das Resultat einer Selbstbestimmung und einer Anstrengung, sie ist jedoch kein dauerhafter Zustand. Sich-indifferent-Machen ist in zweifacher Hinsicht bedingt, zum einen dadurch, dass es zeitlich begrenzt ist, zum anderen durch den Gegenstand, auf den es sich bezieht – beide Größen werden durch die Geistlichen Übungen vorgegeben.
Heute gibt es viele Formen von Geistlichen Übungen, allen gemeinsam ist aber, dass sie einen bestimmten Rahmen haben, einen Anfang und ein Ende. Auch wenn sie in den Alltag integriert werden, sind sie doch von diesem unterschieden, sie sind eine Auszeit. In den gewohnten Abläufen des Lebens ist es oftmals schwer, sich indifferent zu machen. Viele Entscheidungen sind zeitnah zu treffen. Gelegentlich fehlt die Kraft, um gleichmütig zu werden. Die Geistlichen Übungen helfen daher nicht unmittelbar. Aber sie üben eine Haltung ein und geben durch die in ihnen getroffenen Grundentscheidungen eine Richtung vor. Jeder Wahl soll eine geraume Zeit des Gebets und der Betrachtung vorausgehen. Die Wahl selbst kann sich dann auf Verschiedenes beziehen: „Dinge, die unter unveränderbare Wahl fallen, wie es etwa Priestertum, Ehe usw. sind.“ (GÜ 171,1) Zum anderen gebe es aber auch „Dinge, die unter veränderbare Wahl fallen, wie es etwa sind: Pfründen nehmen oder sie lassen, zeitliche Güter nehmen oder sie abweisen.“ (GÜ 171,2)
Die Geistlichen Übungen wurden vor fast fünfhundert Jahren geschrieben und müssen an einen heutigen Kontext angepasst werden. Was könnten heute passende Beispiele für eine veränderbare Wahl sein? Aber noch wichtiger: Sollen das Priestertum und die Ehe für die unveränderbare Wahl einstehen oder sind heute nicht auch andere Lebensformen und Partnerschaften zu berücksichtigen?
Ignatius betont, dass es notwendig ist, „dass alle Dinge, über die wir eine Wahl treffen wollen, indifferent oder in sich gut seien und dass sie innerhalb der hierarchischen heiligen Mutter Kirche Kriegsdienst leisten“ (GÜ 170,2). Nicht nur in einem westeuropäischen Kontext ruft dieses Kirchenbild Widerstand hervor. Vor dem Hintergrund, dass heute nicht nur Schwächen, sondern gerade das Unheilige der Kirche deutlich wird, scheinen die Sprache und die Bilder, aber auch der Inhalt der Spiritualität des Ignatius einer Revision zu bedürfen. Die Frage, wie diese aussehen könnte, fordert insbesondere heraus, wenn die Provokation einer konkreten Kirchlichkeit nicht einfach als ein überkommenes Relikt abgetan werden soll. Ignatius und die ersten Jesuiten standen für die Gestalt der katholischen Kirche ein und machten sich für den Papst stark. Zugleich bemühten sie sich, die Kirche geistlich zu erneuern und Missstände zu bekämpfen. Diese Haltung war ein Ausdruck der Erfahrung, die sie in den Geistlichen Übungen gemacht hatten. Vielleicht liegt gerade in einem sich-indifferent-Machen ein wiederzuentdeckendes Potential für eine heutige Kirchlichkeit, die gleichermaßen auf einer Freiheit und einem Vertrauen auf Gottes Wirken in der Kirche beruht.
Wie vieles in der Kirche hat auch die Heiligenverehrung eine neue Farbe und einen neuen Schwung bekommen. Man wagt es, die Heiligen realistischer als bisher zu sehen, mit ihren Grenzen und ihrem schrittweisen Glaubenswachstum. Die Heiligen wurden ihren Schablonen entnommen und zu lebendigen Personen, die auf einzigartige Weise ihren Weg gehen. Gott wiederholt sich nicht. Gerade darin sind sie als Geschenk Gottes und der Kirche an uns wiederentdeckt worden.
Hagiographie beschreibt das Leben der Heiligen, die Hagiologie studiert diese Beschreibung. Beide haben sich seit den 1940er-Jahren weiterentwickelt. Sie stellen deutlicher als zuvor die Frage: Was will Gott der Kirche heute und in Zukunft durch das Leben, die Schriften und den nachhaltigen Einfluss dieses oder dieser Heiligen sagen? Zur Weiterentwicklung haben zwei bedeutende Autoren beigetragen, ein protestantischer Hagiograph und ein katholischer Hagiologe, beide Schweizer des 20. Jahrhunderts.
Walter wurde am 6. Januar 1903 in Luzern geboren.1 Sein Vater war katholisch, seine Mutter evangelisch, Walter wurde evangelisch getauft. Mit 13 Jahren wurde er Waise und zog bei einer katholischen Tante und einem katholischen Onkel ein. Deren Versuch, ihn in die katholische Kirche zu bringen, hatte eine lebenslange Abneigung gegen „Bekehrung“ zur Folge. Walters Jugend war schwierig, begleitet von Armut und Not. Nigg las viel, zusätzliches Geld ging zur Gänze in Büchern auf, und er hatte ein ehernes Gedächtnis. Er suchte seinen Weg in Theologie und Kirchengeschichte. Seine Dissertation über den Schweizer Pädagogen und Theologen Pestalozzi wurde mit summa cum laude ausgezeichnet.
Inzwischen war er mit Lily Kölliker verheiratet und wurde Pfarrer in einem kleinen Dorf im Kanton Appenzell-Ausserrhoden. Erste Veröffentlichungen erschienen. 1931 wurde Nigg Professor für Kirchengeschichte in Zürich und 1939 Pfarrer in den Dörfern Dällikon und Dänikon. Walter Nigg verlor seine erste Frau durch Freitod und seine zweite Gattin Isabel Tiefenthaler an Krebs. Danach ging er nochmals eine Verbindung ein und heiratete Gertrud Hättenschwiler (1915–2004). Sie tippte seine schwer lesbaren Manuskripte, begleitete ihn auf Vortragsreisen und war Gastgeberin für Besucher.
1970 ging er in den Ruhestand. Die Niggs lebten ab 1963 im Dorf Dänikon in einem selbst gestalteten Haus, das voller Bücher war. Der Vormittag war nach der Bibellektüre dem Schreiben gewidmet, der Nachmittag und der Abend gehörten der Lektüre. Viele weitere Veröffentlichungen folgten, bis Walter Nigg am 17. März 1988 an den Folgen eines Herzinfarkts starb. Er wurde hinter der kleinen Kirche in Dällikon bestattet, deren Hirte er dreißig Jahre lang war. 2020 wurden seine Urne und jene seiner dritten Frau im Garten in Dänikon beigesetzt.
Unter Walter Niggs Namen gibt es etwa 55 Titel, dazu Artikel und mehrere von ihm verfasste Sammelbände und Texteditionen, versehen mit einem Voroder Nachwort.2 Sein Oeuvre lässt sich in drei Perioden einteilen:
Die Anfangszeit (1927–1945) war eine Suche nach den passenden Themen und Formen. Ersten kirchengeschichtlichen Publikationen folgte 1941 Religiöse Denker über Kierkegaard, Dostojewski, Nietzsche und Van Gogh. Das Buch hatte 397 Seiten, ein Signal, dass Niggs Feder kaum an ein Ende kam. Er schien seine Methode gefunden zu haben: vorbereitend lesen, nachdenken und dann die Person, ihr Werk und ihre Erkenntnisse thematisch darstellen, zu guter Letzt die Frage nach einer Hilfe für ein gläubiges Leben in der Gegenwart.
Die zweite Periode (1946–1966) begann mit dem Buch, das Nigg berühmt machte, Große Heilige.3 Dabei ging er über alle Konfessionsgrenzen hinaus und zeigte darin sein großes Einfühlungsvermögen: Franziskus von Assisi, Jeanne d’Arc, Teresa von Ávila, Johannes vom Kreuz, Franz von Sales, Niklaus von Flüe, der Pfarrer von Ars und Thérèse von Lisieux erschienen in einem neuen Licht. Er fügte Gerhard Tersteegen als „protestantischen Heiligen“ hinzu. Besonders in katholischen Kreisen wurde dieses Buch mit Dankbarkeit gelesen, begleitet von leichter Eifersucht …
Es folgte eine Reihe von Büchern mit dem gleichen Ansatz und Umfang. Nigg entdeckte immer wieder neue faszinierende Gestalten: Heilige, Künstler, Dichter, Philosophen, Pilger oder „heilige Narren“. Er scherte sich nicht um konfessionelle Grenzen: „Persönlich bin ich überkonfessionell eingestellt.“4 Drei Werke aus dieser Zeit haben seinen Namen und Ruhm weiterbestimmt. 1949 erschien Das Buch der Ketzer, in dem er zeigte, dass die „Ketzer“ keine lauwarmen Christen waren, sondern wichtige Erinnerungen in die Kirchengeschichte eintrugen. Viele katholische Leser(innen) waren schockiert, aber Nigg schaffte mit seinem Buch Vom Geheimnis der Mönche über die großen katholischen Ordensgründer eine „Wiedergutmachung“. Als eine Art Ergänzung dazu kam danach ein umfangreiches Werk über die protestantischen Mystiker, Heimliche Weisheit, später als „das liebste meiner Bücher“ bezeichnet.5
Die dritte Periode (1967–1988) nutzte er, um möglichst viele Heilige und große Christ(inn)en in kürzeren und in oft gebündelt erscheinenden Viten der Öffentlichkeit zu zeigen. Dort stoßen wir auf Namen von Personen, die vielen damals unbekannt waren. Einige sind mittlerweile (fast) seliggesprochen, wie Abbé Stock, Albertus von Polen, Marie Noël, Mary Ward … Eine Reihe von reich illustrierten Monographien (Franziskus, Niklaus von Flüe, Teresa von Ávila, Elisabeth von Thüringen, Benedikt von Nursia, Katharina von Siena, Thomas Morus, Maximilan Kolbe, Antonius von Padua) fand eine breite Leser(innen)-schaft. Sein origineller Ansatz zeigte sich in Büchern über Büßer und verborgene Heilige ohne „Heiligenschein“. Als erster schrieb er über große „Unheilige“, also über solche, die auf dramatische Weise auf dem Weg zur Heiligkeit steckengeblieben sind.
Insgesamt bearbeitete Walter Nigg etwa 140 Personen ausführlich aus dem breiten Spektrum der Kirchengeschichte und aus allen Konfessionen. Mehr als die Hälfte waren katholische Heilige. Er hat die Hagiographie mit seinem Ansatz und Stil erneuert. Lassen wir dazu Walter Nigg selbst sprechen: „Als Kirchenhistoriker bin ich an der Kirchengeschichte beinahe verzweifelt, weil in ihr so viele schreckliche Dinge geschahen, die einer neuen Verurteilung von Christus gleichkommen. Als ich mich nach den Lichtseiten der Kirchengeschichte umschaute, bin ich dann auf die Heiligen gestossen.“6 Aber er entdeckte auch große Schriftsteller (Susman, von Droste-Hülshoff, Orabuena etc.), Maler (Barlach, Kollwitz, Servaes, Chagall etc.) und Personen, die seiner Meinung nach „bleiben sollten“ (Buber, Guardini, Wust etc.). Sein erstes wirklich hagiographisches Buch Große Heilige wurde sofort zum Bestseller. Ida Görres, selbst Hagiographin, schrieb: „Nigg aber ‚entdeckte‘ sie wie Kolumbus Amerika, als hätte sie noch keiner vorher gesehen, und er spricht mit einer flammenden Liebe und Begeisterung von ihnen, die manche Formel und Schablone wie Sturmwind hinwegfegt und das ‚alte Wahre‘ beglückend bloßlegt – auch für uns.“7
Nigg hatte hier seinen Stil gefunden: keine Biographie, sondern Hagiographie. Er verstand sie als Versuch, den Glanz hervorzuheben, der von dieser Person ausgeht. Nigg selbst sagt, er habe für die „neue Hagiographie“ drei Blickwinkel gewählt:8 erstens Realismus und Wahrhaftigkeit, die die Heiligen in ihrer Entwicklung prägen. Er wollte nicht in die Falle tappen, sie zu moralisch vollkommenen Menschen zu machen. Nigg zögerte nicht, auch die Fehltritte und Beschränkungen der Heiligen in ihrem Werdegang herauszuarbeiten. Diese Perspektive ist ein Gebot der Wahrhaftigkeit. Sie unterstreicht umso mehr das Wirken Gottes im Leben der Heiligen und bringt sie menschlich näher. Zweitens räumte W. Nigg der Psychologie einen gebührenden Platz ein. Er suchte das Wesen, die Seele der Person, nicht die vielen wundersamen Ereignisse, die es rund um sie herum auch gegeben haben mag. Nigg verstand die Kunst, die einmalige Essenz eines Lebens zum Vorschein zu bringen, die sich oft unter dem ersten Eindruck verbirgt. „Zu der immer größer werdenden Unkenntnis der Heiligen in der neuen Zeit hat auch die falsche Stilisierung derselben beigetragen, die alle in das gleiche Schema hineinpresste, ohne zu fragen, ob die Schablone passe oder nicht.“9 Schließlich wollte Walter Nigg dem göttlichen Geheimnis Raum geben: „Eine Hagiographie, die sich nicht ernsthaft bemüht hat, die Transzendenz sichtbar zu machen, verdient ihren Namen nicht.“ Gott wirkt sichtbar im Leben der Heiligen.
Dieser dreifache Ansatz sowie die Tatsache, dass er keine Biographien, sondern Hagiographien intendierte, machten seinen typischen Schreibstil aus. Nigg reihte nicht Ereignisse aneinander, sondern lässt die Charaktere lebendig erscheinen, mehr erzählend und mit Worten „malend“ als beschreibend. Häufig beginnt er mit einem charakteristischen Zitat oder einem vermeintlich unauffälligen Ereignis, um vor diesem Hintergrund die gesamte Person in den Blick zu nehmen. Wörter wie „Fluidum“, „irrational“ und die Präposition „über“ (überfraulich, über-literarisch, über-geschichtlich etc.) tauchen immer wieder auf. Zeitgebunden sind auch einige moralistische Bemerkungen über die Oberflächlichkeit des Menschen und die „Neuzeit“. Aber insgesamt überrascht er immer wieder: „Die Subjektivität des Schreibers ist unvermeidlich daran beteiligt. Er muss ein Sensorium für das Entscheidende am Geschehen haben, er muss einen Sinn für Wert und Unwert einer Persönlichkeit besitzen, und er muss auch fesselnd zu schreiben verstehen.“10
Walter Nigg sah die Heiligen als Antwort auf den zunehmenden Nihilismus. All dies hatte zur Folge, dass er von der akademischen Welt nicht mehr beachtet wurde. Erst 30 Jahre nach seinem Tod plädierte Bernd Jaspert dafür, Niggs Bücher als ernsthaften kirchenhistorischen Beitrag anzusehen, nicht zuletzt deshalb, weil seine Bücher im deutschsprachigen Raum noch immer gelesen werden.11
Hans Urs wurde am 12. August 1905 in Luzern geboren.12 Sehr begabt absolvierte er mehrere Studien und spezialisierte sich in Germanistik. Mit 24 Jahren trat er dem Jesuitenorden bei, um im Alter von 35 Jahren Studentenpfarrer in Basel zu werden. Einen Lehrauftrag an der Gregoriana lehnte er ab. Die Begegnung mit Adrienne von Speyr (1902–1968) beeinflusste zutiefst seine weitere Theologie und sein Leben. Der Orden gab Balthasar keinen Raum, ein Säkularinstitut mit Adrienne zu formen, so dass er vor Ablegung der ewigen Gelübde die Gesellschaft Jesu verließ. Nach einer Zeit in Zürich lebte er in Basel, im Haus Adriennes und deren Gatten, später in einem Haus des Säkularinstituts, das sie gegründet hatten, der Johannesgemeinschaft. In der Zwischenzeit wurde Balthasar als Theologe bekannt, hielt allerdings zum akademischen Wissenschaftsbetrieb auch Distanz. Er veröffentlichte Adriennes zahlreiche Werke, gab Exerzitien und schrieb sein eigenes umfangreiches Œuvre. Papst Johannes Paul II. wollte ihn, in Anerkennung seiner theologischen Arbeit und seines Engagements für die Kirche, zum Kardinal ernennen. Zwei Tage zuvor starb Hans Urs von Balthasar am 26. Juni 1988. Er ist bei der Hofkirche St. Leodegar in Luzern begraben. Neben seinen eigenen Büchern übersetzte von Balthasar unzählige Werke, veröffentlichte 60 Bände von Adrienne von Speyr, schrieb viele Artikel und Buchbesprechungen. Daneben pflegte er eine umfangreiche Korrespondenz, die sich aus Zeitgründen zunehmend auf Kurzkarten beschränkte.
Balthasars Werk kann an dieser Stelle nicht angemessen gewürdigt werden. Für unseren Zusammenhang ist festzuhalten, dass es im Dialog mit vielen Gestalten aus Vergangenheit und Gegenwart, aus der katholischen, orthodoxen und protestantischen Welt entstand. Neben der Gottesmutter Maria nehmen der Apostel Johannes und Ignatius von Loyola eine zentrale Stellung ein. In gewissem Sinne sind die übrigen Heiligen insofern „heilig“, als sie die marianisch-johanneisch-ignatianische Bereitschaft erfahren und je neu interpretieren, den Willen des Herrn aus Liebe zu tun.
Nach der Gründung eines eigenen Verlages betrieb Balthasar viele Texteditionen großer Heiliger. Zu vielen dieser Editionen verfasste er eine Einführung, um die Bedeutung ihrer Sendung zu erklären. In seinem Werk Herrlichkeit zeichnete Balthasar zwölf theologische Porträts: Irenäus, Augustinus, Dionysius, Anselm, Bonaventura, Dante, Johannes vom Kreuz, Pascal, Hamann, Solowjew, Hopkins und Peguy. Nach eigenen Angaben bereitete ihm die Arbeit an diesen Porträts große Freude. Seine umfangreichen Bücher über Reinhold Schneider und George Bernanos sind in gewisser Weise auch Studien darüber, wie diese Autoren die Heiligkeit in den Charakteren ihrer Romane konkret darstellten. Hier treffen sich Theologie und Hagiologie. Für Balthasar ist Hagiologie immer mit Theologie verbunden, und echte Theologie kann ohne Hagiologie nicht auskommen.
An Balthasars Entdeckung der Heiligen und ihrer wahren Bedeutung hatte Adrienne von Speyr wesentlichen Anteil. Sie berichtete, dass ihr verschiedene Heilige erschienen und ihr vom Himmel her Einblick in ihr spirituelles Leben auf Erden gewährten. Daraus entstand das Allerheiligenbuch.13 Balthasar erlebte auch selbst diverse charismatische Phänomene an Adrienne, die ihn das Leben der überlieferten Heiligen tiefer sehen ließen. Adrienne unterstrich stets, dass derartige Phänomene dem Wesentlichen, nämlich der Sendung, dienen müssen. Es sind also drei Aspekte, in denen Balthasar die Hagiologie erneuerte: erstens im Hinblick auf die Berufung und Sendung der Heiligen, zweitens deren Ort in einer Typologie und drittens ihr Beitrag zur Theologie.
Wie Nigg distanziert sich auch Balthasar von der Heiligkeit als moralische Vollkommenheit. Gewiss, Heiligkeit hat mit einem tugendhaften Leben zu tun, aber sie ist weit mehr: „Die Hauptsache an ihnen [den Heiligen, JS] ist nicht die ‚heroische‘ persönliche ‚Leistung‘, sondern der entschlossene Gehorsam, mit dem sie sich ein für allemal zu Knechten einer Sendung hergegeben haben und ihre ganze Existenz nur noch als Funktion und Hülle um diese Sendung verstehen.“14 Damit wird deutlich, dass es nicht mehr um die Person geht, sondern darum, was Gott durch diese Person leisten kann. Auf zweierlei Weise wird eine „Radikalität“ wiederentdeckt. Nicht die „radikale Form“ an sich zählt, sondern welche Form Gott wählt. Fasten ist also nicht unbedingt radikaler als Essen, Zölibat nicht radikaler als Ehe… Zweitens ‚konfrontieren‘ die Heiligen direkter mit dem Auftrag aller Getauften, sich für den Wink des Heiligen Geistes verfügbar zu halten.
„Was am Heiligen vollkommen ist, das ist primär seine Sendung.“ All diese Sendungen sind einzigartig und aufeinander abgestimmt, wie die Rollen im großen Drama der Theodramatik. Balthasar bringt eine Unterscheidung über den Ursprung der Heiligkeit ein. Ihm zufolge gibt es sowohl „gewöhnliche“ als auch „repräsentative“ Heilige. Jeder bzw. jede Getaufte soll zu den „allgemeinen“ Heiligen gehören, wie es das Zweite Vatikanische Konzil formuliert hat. Zu den repräsentativen Heiligen zählen diejenigen, die den Getauften auf dem Weg zur gewöhnlichen Heiligkeit helfen. Beispiele sind Claire de Castelbaljac (1953–1975) und der junge Selige Carlo Acutis (1991–2006). Aber Balthasar unterscheidet darüber hinaus: „Es gibt innerhalb der Kirche, die der Leib Christi ist, Heiligkeitssendungen und -wege, die mehr vom Leib zum Haupt hin, und solche, die mehr von Haupte zum Leib hin streben.“ Die ersten „kommen von Gott“ und die zweiten „stammen aus der Kirche“. Ihr Ursprung ist also ein anderer: vom Himmel her oder aus der Communio der Kirche. Aber beide erfüllen ihre Sendung. Nur die erste Gruppe zeichnet sich durch eine spezifische Sendung aus, die in der Kirche breitere Wirkung entfaltet, wie jene der großen Ordensgründer. Es gibt somit „Weltheilige“ wie Augustinus, Franziskus und Thérèse und es gibt „Lokalheilige“ wie Anna Schäffer in Deutschland, Franz Jägerstätter in Österreich und Marguerite Bays in der Schweiz. Diese Einsichten verdienen es, weiter ausgearbeitet zu werden. Laut Balthasar tragen die Heiligen „von oben“ gewissermaßen „automatisch“ zur Theologie bei, weil dies Teil ihres göttlichen Auftrags ist. Sie zeigen uns einen oder mehrere Aspekte der Offenbarung, manchmal auf originelle Weise. Thérèse entdeckt wieder, wie die barmherzige Liebe die Gerechtigkeit Gottes umfasst.
Balthasar beschrieb verschiedentlich, wie bis in die Neuzeit hinein große Theologen heilig waren, aber danach, im 17. Jahrhundert, Theologie und Heiligkeit auseinanderdrifteten. Theologie geriet zu einem akademischen Studium, Heiligkeit wurde in „Spiritualität“ subsumiert.15 Balthasar prägte in diesem Zusammenhang den sprichwörtlich gewordenen Ausdruck: Kniende Theologie wurde durch sitzende Theologie ersetzt. „Nur wer selbst im Raum der Heiligkeit steht, kann Gottes Wort verstehen und deuten.“ Balthasars Anliegen war, den Heiligen in der Theologie eine Stimme zuzuerkennen, ob sie nun Theologen (im akademischen Sinn) sind oder nicht: „Auch wenn sie (die Heiligen) selber nicht Theologen oder Gelehrte waren, ihre Existenz als ganze ist ein theologisches Phänomen, das eine lebendige, vom Heiligen Geist geschenkte und daher sehr zu beachtende, zeitgemäße und fruchtbare Lehre enthält, an der – da sie sich an die ganze Kirche richtet – niemand achtlos vorübergehen darf.“ Heilige bringen etwas an der Offenbarung zum Leuchten, sie sind eine Art lebendige Exegese; nicht anstelle von Tradition und Lehramt, sondern als Teil dieser lebendigen Tradition.
Balthasar schrieb keine Hagiographie im engeren Sinn, aber hagiologische Studien im eben dargelegten Sinn. Sein Diptychon über Thérèse von Lisieux und Elisabeth von Dijon („Schwestern im Geist“) und seine zwölf Porträts in Herrlichkeit bleiben ein Beispiel seiner neuen „theologischen Hagiologie“. In seinem gesamten Werk bezog er sich auf die Heiligen als eigenständige Stimme des Heiligen Geistes, als Zeug(inn)en der katholischen Freude, der marianischen Bereitschaft für die Sendung und der Hoffnung auf Gottes barmherziges Gericht.
Seit den frühen 1960er-Jahren kam es zu mehreren Begegnungen zwischen Walter Nigg und Hans Urs von Balthasar, mit wachsendem Respekt. Niggs Buch Der Christliche Narr (1956), eines seiner originellsten Werke, beeinflusste mit Sicherheit Balthasars theologisches Kapitel über „Narrentum und Herrlichkeit“ in Herrlichkeit (1965). Nigg schickte an Balthasar sein reich illustriertes Buch Bleibt, ihr Engel, bleibt bei mir mit der Widmung: „Dem einsamen, kraftvoll wirkenden Mann an der vordersten Front in Verehrung von Walter Nigg“. Umgekehrt findet sich „Walter Nigg dankend für unerschöpfliche Reichtümer! Hans Balthasar“ handschriftlich in ein Buch geschrieben, das Balthasar an Nigg sandte.
Nigg ging mit seinen Hagiographien und seinem poetischen Stil eigene Wege: „Abschließend bewerte ich meine hagiographische Beschäftigung als einen bescheidenen Neuanfang auf diesem Gebiet. Ich hoffe nicht nur, dass andere Hagiographen kommen, welche diese Thematik fortsetzen, sondern dass diese es noch viel besser machen, als ich es vermochte.“16 Eine fundierte Studie seiner hagiographischen Arbeit liegt noch nicht vor, und die Nachfolger, die er wünscht, sind noch nicht gekommen. Gewiss, es gibt sehr gute neuere Darstellungen, aber verbleiben sie nicht meist im Genus der bloßen Biographie?
Die Hagiologie aber hat sich weiterentwickelt. So führen etwa François-Marie Lèthel, Antonio Sicari oder Karl-Heinz Menke Balthasars Ansatz weiter, und zwar dahingehend, dass die einzigartigen Sendungen großer Heiliger einander ergänzen.17 Was vor wenigen Generationen undenkbar war, ist heute selbstverständlich: Die Heiligen gehören (wieder) zum katholischen Leben und Denken. Zwei Schweizer Studien- und Schreibgenies, Walter Nigg und Hans Urs von Balthasar, haben, so unterschiedlich sie in ihrem religiösen Hintergrund, ihrer Persönlichkeit und ihrem Lebensweg waren, dazu wichtige Anstöße gegeben.
1Näheres bei U. Wolff, „Das Geheimnis ist mein“ – Walter Nigg. Eine Biographie. Zürich 2009.
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