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Für Lisa Limbach ist es die große Liebe und ein Herzenswunsch. Für ihren Schwarm, den Baron Ronald von Stolle-Hechingen, vor allem eine Möglichkeit um dem finanziellen Ruin zu entgehen. Eine Hochzeit zwischen ihm und dem reichen Mädchen. Doch dies erfährt Lisa erst nach der Trauung. Genausie wie die Tatsache, dass Roland eigentlich eine andere liebt...-
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Seitenzahl: 317
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Hedwig Courths-Mahler
Saga
Gib mich frei
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1914, 2021 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726950267
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
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Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com
Lisa stand in dem langschleppenden weissen Brautkleide vor dem Spiegel. Vor zwei Stunden war sie auf dem Standesamt nach Recht und Gesetz die Gattin des Barons Ronald von Stolle-Hechingen geworden. Nun sollte die kirchliche Einsegnung der Ehe stattfinden. Lisas Tante, Frau Konsul Limbach, stand vor ihr und betrachtete sie durch ihre Stiellorgnette mit kritischen Blicken. Sie gab der Jungfer, die noch um Lisa beschäftigt war, in vornehm lispelndem Ton Anweisungen, was noch an dem Kleide geordnet werden musste.
Lisa selbst sagte kein Wort dazu. Sie stand in gerader, gezwungener Haltung da und blickte mit grossen, verträumten Augen in den Spiegel. Ein scheues, verklärtes Lächeln huschte zuweilen um ihren Mund, und leise Seufzer entstiegen ihrer Brust, als sei sie zu eng für das, was sie empfand. Sie war keine Schönheit, die blasse, scheue Lisa. Ihre mittelgrosse Gestalt war entschieden noch zu schlank und unentwickelt; die Linien entbehrten der Rundung. Dieser Eindruck wurde noch durch eine steife, gezwungene Haltung verschärft. In ihrem Wesen lag etwas Gedrücktes, Uniselbständiges, wie man es bei Menschen findet, die sich nicht frei entwickeln konnten. — Ihr Gesicht war zu farblos und besass wenig Reiz. Zwar hatte sie wunderschöne dunkelblaue Augen, reiches, braunes Haar und einen hübsch geschnittenen Mund; aber die Lippen lagen meist fest aufeinander, die Augen verbargen sich zu oft unter den Lidern, und das Haar war straff und unkleidsam über die Stirn zurückgenommen. Es bildete am Hinterkopf einen dicken, abstehenden Knoten und gab dem Kopf eine unvorteilhafte Form.
Diese von Frau Konsul Limbach für ihre Nichte gewählte Frisur legte für die Geschmacklosigkeit und den mangelnden Schönheitssinn dieser Dame beredtes Zeugnis ab.
Die Jungfer hatte versucht, der Konsulin wenigstens für heute die Erlaubnis abzuringen, der jungen Braut eine gefälligere, moderne Frisur machen zu dürfen. Sie schlug einen locker fallenden, welligen Scheitel vor, und Lisa hatte bei dieser Bitte mit scheuem Verlangen in die kalten, immer halbgeschlossenen Augen der Tante geblickt. Sie fand ihre eigene Frisur greulich und unschön und hätte ihr Haar schon längst gern anders geordnet. Aber Tantes Befehl verbot das ein für allemal. Auch heute schüttelte sie, die Lippen vornehm kräuselnd, den Kopf.
„Frisieren Sie die Frau Baronin wie alle Tage, Minna. Derartige Frisuren passen für Kellnerinnen und Ladenmädchen, oder für Künstlerinnen, — aber nicht für eine wirklich vornehme Dame.“
Lisas Lippen zuckten bei diesen Worten. Sie hätte gern gesagt, dass viele Damen der Gesellschaft sich so frisierten, weil es Minna für sie in Vorschlag gebracht; aber ein Blick in Tante Hermines kaltes, strenges Gesicht hielt sie davon ab. Sie wusste ja aus Erfahrung, dass Tante nie von dem abging, was sie bestimmte. Sie nannte das Konsequenz, ihr Gatte bezeichnete es jedoch im stillen als Starrköpfigkeit.
Wie immer, ordnete sich Lisa auch heute dem despotischen Willen der Tante unter. Die Jungfer suchte mitleidig durch Brautkranz und Schleier die strengen Linien der Frisur zu mildern. Dazu lag heute ein leises Rot auf den sonst so blassen Wangen, und die Augen strahlten intensiver. So sah die junge. Braut nicht gar so reizlos aus.
Lisa legte auch nicht viel Gewicht auf Äusserlichkeiten. Schliesslich war es gleich, ob sie so oder so frisiert war, — ihrem Ronald gefiel sie doch. Er liebte sie, wie sie war; ihm galt ihre Seele mehr als ihr Äusseres. Sonst hätte er sie doch nicht zum Weibe begehrt, — er, ihr Höchstes, Bestes im Leben, ihr herrlicher Ronald, ihr Gatte!
Welch ein wunderbares, unfassbares Glück, dass er sie liebte, sie, die unscheinbare stille Lisa, die weder schön noch glänzend, weder besonders geistreich noch interessant war! Nie wäre es ihr eingefallen, an seiner Liebe zu zweifeln. So unverdient und märchenhaft ihrem bescheidenen Sinn ihr Glück erschien, so demütig sie sich auch vor der Grösse desselben beugte, nie suchte sie nach einem anderen Grund für seine Werbung. Dass er sie liebte und zur Frau begehrte, war ihr ein holdes Wunder, dem sie sich mit gläubigem Herzen beugte.
Es kam ihr nie in den Sinn, dass vielleicht ihr Reichtum ihn dazu bewogen haben konnte. Reichtum war ihr so etwas Gewohntes, Gleichgültiges. Weil sie es immer besessen hatte, kannte sie die Macht des Geldes nicht. Sie wusste so wenig vom Leben überhaupt und ahnte nicht, dass Geld ein viel mächtigerer Faktor war als Liebe.
Das einzige Gute hatte Tante Hermines Erziehung bei ihr erzielt, dass sie nicht stolz auf die Macht des Geldes pochte wie andere Erbinnen. Lisa wusste wohl, dass ihr die Eltern ein sehr grosses Vermögen hinterlassen hatten, dass sie einst auch Onkel und Tante Limbach und auch noch eine Schwester ihres Vaters, Frau von Rahnsdorf, beerben würde. Aber der Begriff, dass sie mit diesen Aussichten eine glänzende Partie war, ging ihr vollständig ab. Dazu hatte sie Tante Hermine viel zu sehr in Bescheidenheit und Demut erzogen. Tante Hermine war einst ein sehr armes adeliges Fräulein gewesen, und obgleich sie bei ihrer Verheiratung sehr wohl mit dem Vermögen ihres Gatten gerechnet hatte, liebte sie es, wegwerfend vom ‚schnöden Mammon‘ zu sprechen. Sie verherrlichte die Geburtsaristokratie sehr auf Kosten der Geldaristokratie. Da nun Lisa nicht gleich ihrer Tante adeliges Fräulein war, sondern nur ein reiches bürgerliches Mädchen, so fiel es ihr nicht ein, diesen Reichtum als etwas besonders Erstrebenswertes anzusehen.
Zu ihrer heimlichen Beschämung musste sie sich indessen eingestehen, dass sie gar nicht das hohe Glück zu würdigen verstand, eine Baronin Stolle-Hechingen zu werden. Die Tante führte ihr dies Glück täglich vor Augen; aber Lisa wusste ganz genau: wenn ihr Ronald irgendein Schulze oder Lehmann gewesen wäre, sie hätte ihn ebenso liebgehabt und wäre ebenso stolz gewesen, seine Frau zu werden. Aber das durfte Tante um Himmels willen nicht wissen; und auch Ronald hätte sie das nicht zu sagen gewagt, wenn er auch gar nicht stolz auf seinen Namen pochte, wie es Tante immer tat.
Die Konsulin hatte Lisa in ihrer despotischen Weise erzogen, seit diese als achtjährige Waise in ihr Haus kam. Lisa war der Gegenstand einer Erziehungsmethode, die jede persönliche Eigenart erstickt i und willensschwache Menschen schafft. Sie war erfüllt von dem Bewusstsein, dass es ihre Pflicht war, sich bedingungslos der Tante unterzuordnen, gleichviel, ob sie Lust dazu hatte oder nicht. Tante Hermine war vom Unfehlbarkeitsteufel besessen, und das schüchterne Kind glaubte an diese Unfehlbarkeit. Wenn sich später auch leise Zweifel daran einstellten, so war Lisa doch inzwischen so willenlos gemacht worden, dass sie nie zu revoltieren wagte.
Onkel Karl, Frau Herminens Gatte, war viel zu gutmütig, friedliebend und bequem, um seiner Gattin gegenüber seinen Willen zur Geltung zu bringen. Er war zwar mit ihrer Erziehungsmethode gar nicht einverstanden; aber er traute sich doch nicht genug pädagogische Fähigkeiten zu, um einzugreifen. Ausserdem blieb ihm bei seinen ausgedehnten Geschäftsverbindungen wenig Zeit, sich um Lisa zu kümmern.
Äusserte er jedoch einmal sein Missfallen an der sklavischen Unterdrückung jeder Willensregung seiner Nichte, dann sah ihn seine Gattin mit dem erstauntesten, kältesten und vornehmsten Blick an, den sie auf Lager hatte, und sagte:
„Lieber Karl,“ — ,lieber‘ wurde stark betont. „Ich wünsche, dass du mir überlässt, Lisa zu einer wahrhaft vornehmen und wohlerzogenen jungen Dame zu erziehen. Davon verstehst du nichts. Da der Himmel uns leider selbst ein Kind versagte, will ich die Tochter deines Bruders mit all der Sorgfalt erziehen, die ich einer eigenen Tochter widmen würde. Ich hoffe, du machst mir mein schweres Amt nicht durch gedankenlose und gefährliche Weichherzigkeiten noch schwerer. Du weisst, ich wurzle noch mit allen Fasern in dem Boden, dem ich entstamme. In meiner Familie, in der Familie der Freiherrn von Schlorndorf, werden alle jungen Damen in dieser wahrhaft vornehmen, bescheidenen Weise erzogen.“
Damit wurde Karl Limbach stets zum Schweigen gebracht. Wenn seine Gattin die Geborene von Schlorndorf ins Treffen führte, war er geschlagen. Nicht, weil er diese wohledle Familie so sehr ehrfurchtsvoll zu betrachten pflegte, sondern weil seine Gattin, wenn sie dies Thema anschnitt, überhaupt kein Ende fand und sich so in Selbstheräucherung gefiel, dass er trotz seiner Friedfertigkeit wild wurde. Eheliche Szenen waren ihm aber verhasst; deshalb gab er dann meist lieber Fersengeld.
Solange seine Frau noch jung und hübsch war, hatte er ihr zuweilen den Gefallen getan, sich überzeugen zu lassen, wie beneidenswert er sei, eine Geborene von Schlorndorf zur Frau bekommen zu haben. Später wurden ihm diese Ergüsse langweilig, und jetzt trieben sie ihn in die Flucht.
So war Lisa den Erziehungsprinzipien ihrer Tante auf Gnade und Ungnade überliefert.
Sie besass zwar noch eine Tante, die energisch genug war, um Frau Hermine nachdrücklich genug den Standpunkt klarzumachen; aber Frau von Rahnsdorf hatte sich vollständig mit ihrer Schwägerin überworfen, und jeder Verkehr zwischen ihnen hatte aufgehört.
Anna von Rahnsdorf war seit Jahren Witwe, und da sie auch keine Kinder besass, hätte sie Lisa sehr gern zu sich genommen. Hermine hatte das jedoch zu hintertreiben gewusst. Sie nahm Lisa hauptsächlich in ihr Haus, um ihre Schwägerin, die sie hasste, zu ärgern. Dadurch war die Feindschaft der Schwägerinnen noch verstärkt worden.
Zwar hatte Hermine einwilligen müssen, dass Frau von Rahnsdorf zu Lisas Hochzeit eingeladen wurde, aber diese hatte abgelehnt, zu kommen.
Während Lisa noch vor dem Spiegel stand, wurde ein Brief für sie gebracht. Errötend schaute sie auf die Adresse:
„Frau Baronin Elisabeth Stolle-Hechingen.“ Wie sonderbar fremd und doch vertraut ihr dieser neue Name erschien.
„Von wem ist der Brief, Lisa?“ fragte die Konsulin ungeduldig. „Du musst dich beeilen, wenn du ihn noch lesen willst.“
Lisa öffnete ihn und blickte nach der Unterschrift.
„Von Tante Anna,“ sagte sie erstaunt.
Die Konsulin machte ein verkniffenes Gesicht, und in ihren kalten Augen zuckte es bösartig auf. Wie unwillkürlich streckte sie die Hand aus, um Lisa den Brief fortzunehmen. In dem selben Augenblick wurde sie in einer wichtigen häuslichen Angelegenheit abgerufen. Mit einem unschlüssigen Blick auf den Brief in Lisas Hand rauschte sie hinaus. Die junge Frau las den Brief nur flüchtig durch und faltete ihn dann schnell zusammen, um ihn in einer kleinen Ledertasche zu bergen, die zu ihrer Reisetoilette gehörte. Sie wollte ihn später, auf der Reise vielleicht, noch einmal aufmerksam durchlesen, da ihr der Inhalt wichtig erschien. Jetzt konnte sie sich nicht näher damit befassen, da Tante Hermine jeden Augenblick zurückkehren konnte. Diese durfte den Brief um keinen Preis lesen, weil er durchaus nicht in schmeichelhaften Ausdrücken von ihr sprach.
Die Konsulin kehrte wirklich gleich darauf zurück.
„Nun, wo hast du den Brief, Lisa?“ fragte sie hastig.
Die junge Frau blickte scheu und beklommen auf.
„Ich habe ihn schon fortgelegt, Tante; er war nur für mich bestimmt.“
„Nur für dich bestimmt? Was soll das heissen?“ fragte die Konsulin scharf.
Lisa war betreten.
„Es war ein Glückwunsch zu meiner Hochzeit.“
Die Konsulin blickte sie misstrauisch an; aber ehe sie noch etwas erwidern konnte, wurde an die Tür geklopft, und eine klare Männerstimme rief draussen: „Bist du fertig, Lisa?“
Ein strahlendes Leuchten flog über das Gesicht der bräutlichen Frau. Sie eilte zur Tür und öffnete. Ein grosser, schlanker Offizier stand auf der Schwelle. Lisa sah mit strahlender Innigkeit zu ihm auf. Er war eine vornehme, elegante Erscheinung. Schlanke, sehnige Figur, gebräunter Teint, rassige, festgefügte Züge und klare graue Augen vereinigten sich zu einem sympathischen Ganzen. Der kleine, gestutzte Lippenbart war etwas heller als das soldatisch verschnittene Haupthaar.
Seine Augen fingen den strahlenden Blick Lisas auf, und einen Augenblick zog sich seine Stirn wie im Schmerz zusammen.
„Du bist da,“ sagte Lisa mit einem so warmen, jubelnden Ausdruck, dass seine Stirn sich rötete.
Er führte ihre kleine schmale Hand ritterlich an die Lippen. Dann sah er mit einem Lächeln in ihr Gesicht, einem Lächeln, dem sie nicht anmerkte, wie gezwungen es war.
„Es ist Zeit, Lisa. Wir müssen fort,“ sagte er mit freundlicher Ruhe. Schnell begrüsste er noch die Konsulin; dann zog er Lisas Arm durch den seinen und führte sie hinaus. Die Konsulin gab der Jungfer noch Weisung, mit dem Reisekostüm der jungen Frau um sechs Uhr im Hotel Fürstenhof zu sein, um dieser beim Umkleiden zu helfen.
Die Hochzeitsfeier des jungen Paares wurde in diesem vornehmsten Hotel abgehalten, weil eine solche Menge Einladungen dazu ergangen war, dass die Räume der Villa Limbach nicht ausgereicht hätten. Ausserdem liebte Frau Hermine grosse Umwälzungen im Haushalt nicht.
Da viele Gäste von auswärts geladen waren, hatten diese auch zugleich im Hotel Wohnung genommen.
Etwas verstimmt darüber, dass sie den Brief ihrer Schwägerin nicht zu lesen bekommen hatte, fuhr die Konsulin neben ihrem Gatten nach der Petrikirche, wo die Trauung des jungen Paares stattfand.
* * *
Die Hochzeitsgesellschaft sass in dem grossen Festsaal des Fürstenhofes in fröhlicher Stimmung an der festlich geschmückten Tafel. Man hatte sich bereits am Abend vorher mit den sympathischen Festteilnehmern angefreundet, und die formelle Steifheit war unter der Einwirkung des Weines verschwunden.
Ausser einigen Mitgliedern der freiherrlich Schlorndorfschen Familie waren noch verschiedene Vertreter der Geburtsaristokratie anwesend. Unweit des Brautpaares sassen Mutter und Schwester des Bräutigams. Die verwitwete Baronin von Stolle-Hechingen sah mit frohen Augen auf ihren stattlichen Sohn. War doch durch seine Verbindung mit der reichen Erbin eine schwere, drückende Last von ihrer Seele genommen.
Lotte Hechingen, Ronalds Schwester, eine bildhübsche schlanke Blondine, blickte jedoch zuweilen besorgt in das ernste Gesicht des Bruders. Sie war von Kind auf seine Vertraute gewesen und wusste, dass er nicht mit freiem, leichtem Herzen in diese Ehe ging.
Neben Lotte sass Kurt Mallwitz, Ronalds bester und intimster Freund und Regimentskamerad. Er unterhielt sich eifrig und angeregt mit seiner reizenden Tischnachbarin. Seine Augen sahen dabei mit Wohlgefallen in Lottes Gesicht.
Sie sprachen von schönen, vergangenen Tagen, die sie gemeinsam verlebt hatten. Als Kadett hatte Kurt Mallwitz seinen Freund Ronald zuweilen nach Hechingen begleiten dürfen. Es war schon damals teure Zeit auf Hechingen gewesen; aber Ronalds Vater hatte noch immer gehofft, sein Stammgut halten zu können. Jedenfalls hatte sich das Jungvolk die Stimmung nicht durch drohende Zukunftsbilder trüben lassen. Schön, wunderschön war es immer gewesen in den Ferien. Sie zehrten noch jetzt davon.
Die beiden jungen Menschen verkehrten in einem heiter freundschaftlichen Ton miteinander, der nur zuweilen, in unbewachten Augenblicken, ein ernsteres Gepräge erhielt. Dann blickten sie sich seltsam weich und tief in die Augen, selbstverloren, selbstvergessen. — Aber schnell retteten sie sich wieder hinter den neckenden, lustigen Ton.
Sie wussten ganz genau voneinander, dass sich hinter diesem leichten Geplänkel etwas anderes, viel Wertvolleres versteckte; aber sie wussten auch, dass sie sich das nicht sagen durften, dass sie nie einander angehören konnten. Denn sie waren beide sehr arm.
Kurt Mallwitz erhielt von einem Vetter seiner Mutter eine schmale Zulage. Seine verwitwete Mutter lebte bei diesem Vetter, dem Majoratsherrn von Brachwitz auf Brachwitz, als Hausdame.
Brachwitz hatte zwar keine Kinder. Sein einziger Sohn war vor Jahren auf einem Ritt tödlich verunglückt, und der Schmerz darüber hatte auch der Mutter desselben das Leben gekostet. Aber Brachwitz war Majorat und fiel nach dem Tode des jetzigen. Besitzers an eine Seitenlinie. Mallwitz hatte also keine Hoffnung, jemals in eine bessere Vermögenslage zu kommen.
Trotz dieser Aussichtslosigkeit liebten sich Lotte Hechingen und Kurt Mallwitz. Aber sie waren tapfer und vernünftig und wussten, dass sie vom Schicksal nichts Unmögliches ertrotzen konnten. Vorläufig waren sie auch noch jung und lebensfroh genug, um sich an der Gegenwart genügen zu lassen, und eins half dem andern, damit die Herzen nicht zu schwer wurden.
Lotte Hechingen war heute auch zu sehr mit ihres Bruders Schicksal beschäftigt, um viel an das eigene zu denken. So lieb sie auch die scheue, stille Lisa mit dem weichen, warmen Herzen gewonnen hatte, fürchtete sie doch, dass ihr Bruder nicht mit ihr glücklich werden würde, weil sein Herz einer andern gehörte. Ronald liebte Lili Sanders, Lottes Pensionsfreundin. Lili, die Tochter eines vermögenslosen Majors, war ein bildschönes, anmutiges Geschöpf voll Geist und Temperament; und wenn sie auch kaum so gut und grossherzig war wie Lisa, so stellte sie diese doch durch ihre äusseren Vorzüge zu sehr in den Schatten. Ronald würde Lili wohl so bald nicht vergessen, wenn er auch viel zu ehrenhaft war, um sich nicht gegen diese heimliche Neigung zu wehren.
Ausser Lotte wusste nur Kurt Mallwitz um diese Herzensangelegenheit Ronalds.
Lotte seufzte leise, und Mallwitz blickte sie forschend an.
„Was ist Ihnen, Baroness?“
„Ach, Herr von Mallwitz, Sie wissen ja, wie ich mich um Ronald sorge. Schauen Sie ihn an, wie blass er aussieht.“
„Sie sehen in Ihrer Sorge vielleicht mehr als ich. Ein bisschen ernst sieht er aus; aber das ist doch kein Wunder bei einem so ernsten Schritt,“ suchte er sie zu trösten.
Sie schüttelte den Kopf.
„Nein, nein; mir brauchen Sie nichts vorzumachen, Herr von Mallwitz. Wir zwei wissen doch, wie es um ihn steht.“
„Ja, — aber wir können ihm mit aller Trübsal nicht helfen. Machen Sie nicht ein so bekümmertes Gesicht, liebe Lotte. Morgen abend muss ich wieder in die Garnison zurück, und da möchte ich mir die Erinnerung an Ihr frohes, lachendes Gesicht mitnehmen. Wenn ich dann abends allein auf meiner Bude sitze, dann denke ich an Ihr frohes Lachen und bilde mit ein, ich sei wieder als froher Kadett in Hechingen.“
Sie nickte verträumt.
„Das alte liebe Hechingen! Wie ich mich manchmal danach zurücksehne.“
„Und nun hausen fremde Menschen dort in den traulichen Räumen. Daran darf man gar nicht denken. Und die herrliche grosse Wiese Hinter dem Park! Wir spielten dort so wunderschön, — Räuber und Prinzessin und dergleichen. Jetzt soll eine grosse Konservenfabrik dort stehen; der neue Besitzer verwendet Obst und Gemüse nutzbringend.“
„Ja,“ erwiderte Lotte seufzend, „und sie soll viel Geld einbringen.“
„Das sagen Sie beinahe schwärmerisch, als wenn Geld etwas ganz märchenhaft poetisches wäre,“ neckte er.
Sie nickte eifrig.
„Es ist auch etwas Märchenhaftes, das liebe Geld. Eine goldene Wünschelrute ist es, mit der man sich so viel Gutes und Schönes herbeizaubern kann. Diese Erkenntnis haben aber immer nur Leute, die nicht im Besitze dieser Wünschelrute sind.“
„Was würden Sie sich wohl mit solch einer famosen Wünschelrute herbeizaubern, Baroness?“ fragte er lächelnd.
Sie sann mit drolliger Wichtigkeit nach.
„Ein stolzes Schloss am Meer,“ sagte sie dann lachend.
„Und einen Prinzen dazu?“
„O — der käme dann von selbst, wenn ich Schlossherrin wäre.“
Er sah ihr voll ernster Weichheit in die Augen.
„Ich glaube, er käm’ schon, wenn die Kraft der Wünschelrute für eine kleine feste Hütte ausreichte, meinen Sie nicht auch, liebe Lotte?“
Sie erwiderte seinen Blick in gleicher Weise.
„Ja, — das glaube ich bestimmt.“ Und sich zur heiterkeit zwingend, fuhr sie fort:
„Aber wir wollen ja fröhlich sein; dazu taugen solche Wenn und Aber nicht. Also morgen abend geht Ihr Urlaub schon zu Ende?“
„Leider.“
„Dann sehen wir Sie wohl nicht mehr morgen?“
„Doch, Baroness; ich komme, mich von Ihnen und Ihrer Frau Mutter zu verabschieden.“
Die Tafel wurde aufgehoben. In dem allgemeinen Tumult, der hierdurch entstand, trat die Konsulin an das Brautpaar heran.
„Es dürfte für dich an der Zeit sein, dich jetzt unbemerkt zurückzuziehen, Lisa. Du musst dich umkleiden.“
Die junge Frau blickte errötend zu ihrem Gatten empor. Scheu streifte ihr glückstrahlender Blick sein ernstes Gesicht, dieses Gesicht, das sie so unsagbar liebte.
Er sah mit ernster Freundlichkeit auf sie herab.
„So geh, Lisa. In einer Stunde erwarte ich dich im Vestibül. Bis dahin kannst du doch bequem fertig sein, nicht wahr?“
Sie nickte nur und drückte leise seine Hand. Dann flüsterte sie der Tante ein paar hastige Abschiedsworte zu, bestellte noch einen Gruss an Onkel Karl, den sie in der Menge nicht sah, und schlüpfte durch das fröhliche Gedränge hinaus.
Die Konsulin sprach noch einige Worte mit Ronald und betrachtete ihn mit stolzerfülltem Herzen. Was sie erstrebt, hatte sie erreicht. Ihre ehrgeizigen Pläne waren erfüllt. Immer hatte es bei ihr festgestanden, dass Lisa eines Tages den Träger eines hochadeligen Namens heiraten würde. Darin gipfelte für sie alle Glückseligkeit. In ihrer Art hatte sie Lisas Wohl und Wehe im Auge und glaubte, mit dieser Ehe ihr Glück begründet zu haben.
Die junge Frau ahnte nicht, wie sehr ihre Tante bei dem Zustandekommen ihrer Ehe beteiligt gewesen war.
Als Ronald Hechingen eines Tages im Hause ihres Onkels erschienen war, erwachte in ihrer Seele eine tiefe, schwärmerische Neigung für den hübschen, eleganten Offizier, dessen ernstes Wesen ihr sofort sympathisch war. Wie ein Traum war es ihr gewesen, als er dann eines Tages um ihre Hand anhielt; wie in einem wundersamen Traum hatte sie ihm ihr Jawort gegeben und war unfähig gewesen, die Grösse ihres Glückes zu fassen.
Und nun, nach kurzer Brautzeit, war sie seine Frau. Ohne so recht zum Bewusstsein zu kommen, war diese Zeit an ihr vorübergerauscht. —
Mit fliegenden Pulsen stieg Lisa draussen die Hoteltreppe empor. Minna wartete bereits, um ihr beim Umkleiden zu helfen.
Sie führte die junge Frau in ein Zimmer im ersten Stock, welches unbewohnt war und ihr zum Umkleiden zur Verfügung gestellt wurde. Die Reisetoilette lag bereits ausgebreitet. Schnell machte sich die Jungfer an ihr Werk, denn Lisa hatte etwas Kopfschmerz und wollte noch ein halbes Stündchen ruhen, bis sie unten wieder mit Ronald zusammentraf.
Lisa brauchte nicht viel länger als eine Viertelstunde, um die Kostüme zu wechseln. Sie machte sich vollständig fertig bis auf Hut und Handschuhe und entliess dann das Mädchen.
Als sie allein war, warf sie sich in einen Lehnstuhl und versank in holde Träumerei. Reglos blickte sie zur Decke empor, als wenn dort oben ein lockendes Zukunftsbild ausgebreitet wäre.
* * *
Ronald Hechingen hatte sich inzwischen von Lisas Onkel verabschiedet. Karl Limbach war ein mittelgrosser, etwas beleibter Herr mit graumeliertem Haar und Vollbart. Seine gutmütigen Augen ruhten mit Wohlgefallen auf Ronald. Er klopfte ihm auf die Schulter.
„Dann wünsch’ ich euch glückliche Reise, Kinder. Grüss’ mir die Lisa noch einmal herzlich, mein Sohn, — und sei gut mit ihr. Das Küken ist noch ein bisschen still und verschüchtert; weisst ja, wie meine Frau mit ihr umgegangen ist. Aber sie wird sich schon rausmachen, wenn sie sich nur erst nach Herzenslust regen kann,“ sagte er väterlich.
Ronald blickte mit ernsten Augen in sein Gesicht.
„Ich will alles tun, was möglich ist, um Lisa glücklich zu machen.“
„Glaub’ ich dir, Ronald. Du bist ein ehrlicher, vernünftiger Mensch; und ich habe von Anfang an Vertrauen zu dir gehabt, obwohl mir nicht entgangen ist, dass meine Frau ein bisschen mehr als nötig Vorsehung gespielt hat. Die Lisa hat dich lieb, — na — und du wirst gut mit ihr sein.“
Sie reichten sich stumm die Hände, und Ronald ging durch den Saal.
Mallwitz vertrat ihm den Weg.
„Willst du auch schon fort, Ronald? Ich sah deine junge Frau schon vor einer Weile verschwinden.“
„Eine halbe Stunde hab’ ich noch Zeit.“
„Famos; dann können wir noch ein wenig schwatzen miteinander. Inzwischen wird hier der Saal zum Tanzen eingerichtet. Komm, wir suchen einen stillen Winkel, wo wir ungestört sind.“
Die Herren fanden aber nirgends ein solches Fleckchen.
„Weisst du was, — komm mit hinauf in mein Zimmer,“ schlug Mallwitz vor. „Da können wir in aller Gemütlichkeit noch eine Abschiedspfeife rauchen. Brauchst dann gar nicht in der Saal zurück. Oder hast du dich noch nicht von deiner Mutter und Schwester verabschiedet?“
„Doch, das ist bereits geschehen. Also komm.“
Sie schritten Arm in Arm hinaus und begaben sich in Mallwitz’ Zimmer, das er seit dem vorigen Tage bewohnte. Als sie eingetreten waren, schob er Ronald einen Sessel hin.
„So, mein Alter, — nun nimm Platz. Da sind auch Zigaretten und Feuerzeug. Die erste Zigarette als Ehemann, — hm — wie schmeckt sie denn?“
Er warf sich in einen andern Sessel und sah forschend in des Freundes Gesicht.
„Danke,“ antwortete dieser kurz.
Mallwitz atmete tief auf. Dann sagte er ernst:
„Weisst du, — wie ein fröhlicher Hochzeiter hast du heute den ganzen Tag nicht ausgesehen. Mensch, nimm dich doch ein bisschen zusammen.“
Ronald lachte hart auf und fuhr sich über die Stirn.
„Ich hab’, weiss Gott, das Möglichste geleistet an Selbstbeherrschung. Denkst du vielleicht, mir sei rosig zumute? Der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe, — so bin ich in diese Ehe gegangen.“
„Weiss ich ja, Ronald. Aber trotzdem — du hast bei alledem noch Glück. Deine Frau ist gar nicht so übel. Nach deiner Beschreibung hatte ich eine ganz andere Vorstellung von ihr. Reizlos, unbedeutend, indolent; nichts weniger als hübsch, geschmacklos in der Kleidung, — so hast du sie mir geschildert. Ich kann nur sagen, dass sie heute sehr hold und lieblich aussah in ihrem weissen Kleide. Eine Schönheit ist sie freilich nicht; aber sie kann sich noch recht hübsch herausmachen. Du hast sie entschieden unterschätzt.“
„Guter Kerl, du willst mich trösten. Aber sprich nicht zu laut; man könnte uns im Nebenzimmer hören.“
„Unbesorgt, — rechts bin ich ohne Nachbar; das Zimmer ist unbewohnt, und links ist mein Schlafzimmer. Es hört uns kein Mensch.“
„Vesto besser. Übrigens, um noch einmal auf meine Braut — oder Frau — zu kommen: Du kannst über ihr Aussehen nicht erstaunter sein als ich. Freilich, im Brautkleid wird die Hässlichste verschönt; und der Kranz verbirgt diese grässlich geschmacklose Frisur. Du hättest sie nur sonst sehen sollen. Sie kleidet sich nach den Angaben und Wünschen ihrer Frau Tante, — unglaublich. Die teuersten Kostüme, kostbare Stoffe auf Seide, — aber ohne Sinn und Verstand ausgesucht. Sie sieht immer darin aus, als hätte sie geliehene Sachen an.“
„Das wird sich ändern unter deinem Einfluss, wenn sie erst nicht mehr von der Konsulin abhängig ist. Entre nous, — diese hoheitsvolle Dame ist mir sehr unsympathisch. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass sie es war, die dich aus einer scheusslichen Klemme befreite. Es war höchste Zeit für dich, dass Hilfe kam. Armer Kerl, ich hatte Angst um dich. Nun weiss ich dich geborgen. Die Lili Sanders hättest du doch nicht heiraten können. Und offen heraus, — ich hätte es dir auch nicht gewünscht. Sie ist zwar ein bezauberndes Geschöpf, aber, so viel ich beurteilen kann, kein wertvoller Mensch.“
Ronald seufzte.
„Es war auch gar keine Gefahr, dass ich sie heiraten würde. Sie ist ja arm wie ich. Ich will mir auch Mühe geben, sie zu vergessen. Seit Hechingen unter den Hammer kam, wusste ich, dass ich sie vergessen muss. Was hätte das werden sollen! Meine Mutter und Lotte können doch nicht hungern. Die paar Kröten, die aus dem Verfall gerettet wurden, fristen kaum ihr Leben. Also musste ich nach Vaters Tode ohne Zulage auskommen und mich von meinen Schulden mästen. Elender Zustand, — ich danke.“
„Na, siehst du, da bist du doch jetzt fein heraus. Donnerwetter noch mal — von drei Seiten ist deine kleine Frau mit Geld und Gut erblich belastet. Und da machst du noch ein Gesicht, als sei dir die schönste Petersilie verhagelt,“ sagte Mallwitz in gutmütig zuredenden Tone.
„Lass nur gut sein, ereifere dich nicht, Kurt. Trotz allem ist mir schauderhaft zumute.“
„Herrgott ja, — aber du wirst die blonde Lili bald vergessen, und dann wird noch alles gut.“
Ronald fuhr sich ungestüm durchs Haar.
„An Lili denke ich dabei gar nicht. Das muss abgetan sein. Aber ganz davon abgesehen. Dass ich mich verkaufen musste, das zehrt an mir. Herrgott, das verfluchte Geld! Es macht einen zum Narren oder zum Schurken.“
Mallwitz dachte an Lottes Ausspruch: „Das Geld ist eine goldene Wünschelrute.“ Ein wehmütiger Ausdruck erschien in seinen Augen; aber er raffte sich auf, um dem Freund aufzuhelfen.
„Nun, nun, mein Alter, sei doch nicht so rabiat. Solche Ehen werden doch massenhaft geschlossen. Wirst dich ja, wie ich dich kenne, deiner Frau gegenüber als anständiger Kerl aus der Affäre ziehen.“
Ronald war aufgesprungen und blieb vor ihm stehen.
„Als anständiger Kerl! Nun ja; ich werde sie selbstverständlich nicht entgelten lassen, dass ich sie nicht liebe, — das arme Ding! Aber sie liebt mich, — siehst du; das ist der Fehler in meinem kühlen Rechenexempel. In ihren Augen liegt eine so schrankenlose Ergebung und Innigkeit, ein so unbegrenztes Vertrauen, wenn sie mich überhaupt ansieht, — denn meist hält sie die Augen gesenkt. Solche Blicke quälen mich unbeschreiblich, weil sie mich daran mahnen, was ich ihr schuldig bleiben muss. Wenn es wenigstens auch von ihrer Seite eine Vernunftheirat gewesen wäre! Das hatte ich ja angenommen, als mir ihre Tante so deutlich Avancen machte. Ich glaubte, Lisa gelüste es, Baronin Stolle-Hechingen zu werden. Aber später überzeugte mich ihr Verhalten, dass mein Name ihr ganz gleichgültig ist, — dass sie mich liebt. Unter der Beihilfe der Konsulin ging alles wie am Schnürchen; und meine Mutter war selig, dass ich mich entschloss, um Lisa anzuhalten. Hätte ich vorher gewusst, dass mich das stille, scheue Geschöpf liebt, — ich glaube, ich hätte mich noch in letzter Stunde besonnen.“
„Das verstehe ich nicht, Ronald; das kann dir doch nur lieb sein.“
Ronald lachte bitter auf.
„Lieb sein? Ja, begreifst du denn nicht, wie erbärmlich ich mir vorkomme, wenn ich heucheln und Komödie spielen muss, um sie nicht unglücklich zu machen?! Schauderhaft! Wie eine Kette legt sich das um mich. So einfach wäre es gewesen, wenn sie gleich mir mit kühler Berechnung in die Ehe ginge. Dann stände man auf kameradschaftlichem Standpunkt mit ihr. Aber so! — Den Verliebten spielen, lügen, heucheln, vor solchen gläubigen Kinderaugen, die wie zu einem Gott zu einem aufschauen! Das erniedrigt mich vor mir selber, und darüber komme ich nicht hinweg.“
„Du nimmst das entschieden zu tragisch, Ronald. Sei doch vernünftig. Deine Frau liebt dich und ist glücklich, dass sie dir angehören kann. Glück ist doch in den meisten Fällen Illusion. Erniedrigt brauchst du dich wahrhaftig nicht zu fühlen.“
„Du meinst es gut, Kurt; ich weiss aber, dass du in meinem Falle genau so empfinden würdest wie ich. Sieh, wenn ich Lisa im Arm halte und fühle, wie ihr Herz so stark gegen das meine pocht, dann komme ich mir vor wie ein Unmensch. Als Junge hatte ich mal ein Rotkehlchen gefangen. Ich fühlte in meiner Hand das angstvolle Herzklopfen des Tierchens. Das ging mir wie elektrische Schläge durch den Körper. Die Angst des Tierchens teilte sich mir mit, und doch gab ich es nicht frei. Nur um so fester hielt ich es umschlossen; denn es war mir ein erstrebenswerter Besitz. Nach wenig Tagen war es tot, — weil ich ihm die Freiheit nicht wiedergab. An das Rotkehlchen muss ich immer denken, wenn ich Lisa im Arm halte. Genau so elend ist mir zumute, wie damals, als das Rotkehlchen krepiert war. Schön ist das nicht.“
„Wenn du dich in solche Stimmung hineinredest, dann machst du dir alles noch viel schwerer.“
Ronald stöhnte auf und streckte die Arme wie verlangend aus.
„Herrgott im Himmel, — wäre ich doch frei, frei! Könnte ich diese letzten Wochen ungeschehen machen!“ rief er mit qualvollem Ausdruck.
Mallwitz trat mit besorgtem Gesicht neben ihn.
„Fasse dich, Ronald. Jetzt musst du durch. Also mutig vorwärts, — es hilft nichts. Und nun ist es wohl Zeit für dich zum Umkleiden.“
Ronald richtete sich auf und fuhr sich mit der Hand über das blasse Gesicht.
„Du hast recht, — es hilft nichts,“ sagte er bitter.
In demselben Augenblick hörten sie eine Tür in das Schloss fallen.
„Still, — da trat jemand in das Nebenzimmer,“ sagte Mallwitz warnend.
„Du sagtest doch, es sei unbewohnt.“
„Vielleicht ist ein Zimmermädchen eingetreten. Jedenfalls sprich nicht mehr so laut.“
„Ich habe auch nichts mehr zu sagen.“
Mallwitz fasste seinen Arm.
„Es tut mir furchtbar leid, dass ich dich in so deprimierter Stimmung sehe. Aber ich hoffe, du föhnst dich bald mit deinem Geschick aus. Deine Frau ist doch ganz nett, weder hässlich, noch dumm und unleidlich. Sie besitzt ein reiches Gemüt und Herzensgüte. Vielleicht fällt es dir gar nicht schwer, sie liebzugewinnen. Aber nun muss ich dich wirklich fortschicken.“
Ronald reichte ihm die Hand und zwang sich zu einem Lächeln.
„Nimm’s nicht übel, dass ich dich gequält habe mit meiner Jeremiade. Aber es musste einmal herunter vom Herzen. Und wem soll ich mich sonst anvertrauen? Lotte sorgt sich ohnedies um mich, und meine Mutter — die ist so glücklich, dass ich nicht den Rock ausziehen und über den grossen Teich gondeln musste. Also hast du stillhalten müssen. Nichts für ungut, — leb wohl!“
„Auf frohes Wiedersehen in der Garnison, mein Alter! Eine Empfehlung an deine Frau.“
Sie trennten sich mit einem kurzen Händedruck. Ronald ging, um die Uniform mit einem eleganten Reisezivil zu vertauschen, und Mallwitz suchte die Gesellschaft wieder auf.
Unten im Saal spielte die Musik eben zum Tanz auf, und Lotte Hechingen kam Mallwitz schon entgegen.
„Sie haben noch mit Ronald gesprochen, nicht wahr?“
„Ja, Baroness.“
„War er sehr bedrückt?“ fragte sie besorgt.
Er lächelte beruhigend.
„Wir haben in aller Gemütlichkeit eine Zigarette geraucht. Sie brauchen nicht so sorgenvoll auszusehen. Jetzt wollen wir tanzen und fröhlich sein, Baroness. Jede Minute wollen wir mit Bewusstsein auskosten.“
Sie nahm seinen Arm und liess sich zum Tanze führen.
* * *
Ronald hatte sich mit dem Umkleiden beeilt. Schon vor der verabredeten Zeit betrat er das Vestibül. Draussen fuhr eben der Wagen vor, der das junge Paar zum Bahnhof bringen sollte. Als der Portier den jungen Ehemann erblickte, dienerte er auf ihn zu und meldete ihm, dass die Frau Baronin bereits fortgefahren sei. Sie habe zu Hause etwas vergessen, was sie noch holen müsse. Der Herr Baron möge die Güte haben, den wartenden Wagen zu benutzen. Die Frau Baronin erwarte ihn in der Villa Limbach.
Ronald sah den Portier erstaunt an. Es war doch eine sonderbare Idee von Lisa, allein von hier wegzufahren.
„Warum hat meine Frau nicht auf mich gewartet?“ fragte er verständnislos.
„Ich wollte hinaufschicken, um es dem Herrn Baron melden zu lassen; aber Frau Baronin meinten, der Herr Baron sei noch nicht fertig, und wenn sie warte, würde es zu spät für den Zug. Deshalb ist sie in einer Droschke vorausgefahren.“
Ronald nickte ihm dankend zu und stieg in den Wagen, nachdem er dem Kutscher befohlen hatte, nach Villa Limbach zu fahren.
Der Portier sah dem Wagen nach und blickte dann auf die Uhr.
„Wenn sich die Herrschaften nicht sehr beeilen, werden sie den Zug versäumen,“ dachte er besorgt.
Ronald lass verstimmt im Wagen und ärgerte sich über Lisas Verhalten. Statt einfach einen Boten nach Hause zu schicken, der das Vergessene nach dem Bahnhof brachte, fuhr sie selbst davon und überliess es ihm, ihr zu folgen. Natürlich kam man zu spät zum Zug. Dass Frauen nie zur Zeit fertig werden können!
Er berechnete die Zeit. Sie schien ihm sehr knapp bemessen, wenn er den weiten Weg bis zum Hause des Konsuls in Betracht zog. Nervös biss er sich auf die Lippen, und die Falten auf seiner Stirn vertieften sich. Lächerliche Situation! Da fuhr er nun gehorsam hinter seiner Gattin her, die wahrscheinlich wegen einer unbedeutenden Kleinigkeit diese törichte Rundfahrt veranstaltete.
Endlich hielt der Wagen vor der vornehmen Villa in der Karl-Tauchnitz-Strasse. Ronald sprang heraus und klingelte. Ein Diener öffnete ihm. Er trat ein.
„Melden Sie meiner Frau, dass ich hier warte. Sie soll sich beeilen,“ sagte er hastig.
„Frau Baronin sind bereits wieder fort, — zum Bahnhof. Sie fürchtete, zu spät zu kommen. Hier dies Billett soll ich dem Herrn Baron überreichen.“
Ronald hätte in seinem Ärger fast eine Verwünschung ausgestossen. Solch ein Unsinn von ihr! Statt ihn nun hier zu erwarten, fuhr sie wieder ohne ihn fort.
Ärgerlich nahm er dem Diener das kuvertierte Billett aus der Hand.
„Es ist gut. Empfehlen Sie uns noch einmal den Herrschaften,“ sagte er und beeilte sich, den Wagen zu besteigen.
„Nach dem Bayerischen Bahnhof, — schnell,“ befahl er.
Erst als der Wagen davonrollte, öffnete er das Kuvert. Eine Visitenkarte zog er heraus. Bei dem matten Schein der Laternen, der in den Wagen fiel, entzifferte er die wenigen Worte und starrte wie entgeistert darauf nieder. Was da geschrieben stand, traf ihn so unerwartet, so unvorbereitet, dass er es zunächst nicht fassen konnte. Noch einmal las er die flüchtig mit Bleistift geschriebenen Zeilen:
„Ich gebe Dich frei! Sieh, dass Du Aufsehen vermeiden kannst, — in Deinem Interesse. Sobald ich eine Unterkunft gefunden, sende ich Nachricht. Bitte beruhige Tante und Onkel. Lisa.“
Was war geschehen? Was sollten diese Worte bedeuten? Das sah doch aus, als hätte Lisa die Flucht vor ihm ergriffen. Warum? — „Ich gebe dich frei!“ Die Worte bohrten sich in sein Hirn. Eine unheimlich beklemmende Ahnung stieg in ihm auf. Aber er wehrte sich dagegen und wies sie von sich.
Grosse Schweisstropfen perlten auf seiner Stirn. Mechanisch trocknete er sie ab. Wieder las er die Karte, aber die Worte blieben stehen. „Ich gebe dich frei!“ War das nicht wie eine Antwort auf seinen leidenschaftlichen Ausbruch von vorhin Mallwitz gegenüber? Aber nein, nein. Das musste ein Irrtum sein, der sich aufklären würde! Lisa würde auf dem Bahnhof auf ihn warten und ihm Aufklärung geben. Er fasste fick mühsam und steckte die Karte zu sich.
Wie langsam der Wagen fuhr! Er kam kaum von der Stelle. Nahm denn die Albertstrasse gar kein Ende? Ah, — da fuhr er an der Kirche vorüber, wo er heute mit Lisa vor dem Altar gestanden hatte. „... bis dass der Tod euch scheide.“ Er meinte die klare Stimme des Predigers zu hören: „Bis dass der Tod euch scheide.“ — Und er fuhr allein zum Bahnhof.
Gottlob, — da sah er bereits die hellerleuchtete Bahnhofsuhr. Nun war er gleich da und wurde von der lähmenden Angst befreit. Ihm war plötzlich zumute, als müsse es eine grosse Herzensfreude sein, wenn er jetzt seine kleine scheue Frau vor sich sehen würde, wenn ihre grossen, zärtlichen Augen ihm so voll Liebe und Vertrauen entgegensehen würden wie immer.
Aber wenn sie nun nicht da war?
Ein heisser Schrecken durchfuhr ihn wieder. Was dann, wenn sie nicht da war, wenn die Worte auf der Karte doch kein Irrtum waren?
Der Wagen hielt. Mit einem Satz war er heraus und stürmte auf den Perron. Am Ausgang kam ihm der Diener entgegen, der das Gepäck aufgegeben hatte. Er hielt ihm die Fahrkarten entgegen.
„Der Zug ist leider soeben abgefahren, Herr Baron.“
„Und meine Frau?“ stiess Ronald hastig hervor.
Der Diener sah ihn verdutzt an.
„Frau Baronin sind noch nicht hier.“
Es ging wie ein schmerzhafter Schlag durch Ronalds Körper. Er fasste sich gewaltsam.