Die Teufelstrommeln dröhnten.
Die Wände der viktorianischen Villa in Kensington waren
perfekt schallisoliert. Wer an dem Prachtgebäude in dem Londoner
Nobelstadtteil vorbeiging, ahnte nichts von dem satanistischen
Gipfeltreffen, das gerade im Inneren stattfand. Teufelsanbeter und
andere Dämonenknechte aus ganz Großbritannien hatten sich
versammelt. Es war der Tag ihres jährlichen Gipfeltreffens. Nur die
Hohepriester des Dunklen Kultes waren zu dieser Konferenz geladen
worden.
Keiner von ihnen ahnte, dass viele von ihnen schon sehr bald
zur Hölle fahren würden. Und zwar unfreiwillig…
Villa Satania, Old Queen Street, London
Als die Glocken des berühmten Big Ben Mitternacht schlugen,
waren alle geladenen Gäste anwesend. Im flackernden Schein
schwarzer Kerzen beäugten sich die zum Teil rivalisierenden Diener
des Bösen gegenseitig.
Keiner fehlte.
Da gab es die Anhänger des altpersischen Ahriman mit ihren
grässlichen Schlangenmasken. Als Kontrast zu ihnen eher unauffällig
gekleidete Höllenknechte, die Handlanger der Großen Schlange. Sie
hielten sich offenbar genauso gerne im Hintergrund wie ihre
außerirdische Meisterin selbst.
Andere, vermummte, Dämonenknechte hatten sich dem Dienst des
Wüstendämons Asasel verschrieben. Und es gab noch viele andere,
deren Besessenheit nicht sofort deutlich wurde.
Gemeinsam war ihnen allen nur eines.
Die absolute Hingabe an das Böse.
Nackte Dienerinnen servierten Kelche roten Weinen, der mit
Blut versetzt war. Die Dämonenknechte und Teufelsanbeter tranken
schweigend, nach einem genau festgelegten Ritus.
Dann verstummten plötzlich die Trommeln. Totenstille senkte
sich über den Versammlungssaal.
Ein bärtiger Alter mit Geiergesicht ergriff das Wort. Er trug
ein schlichtes, kaftanähnliches schwarzes Gewand.
»Ich grüße Euch, die Ihr trotz aller Meinungsverschiedenheiten
eins seid in Eurer Hingabe an die Mächte des Bösen, wie Sie auch im
Einzelnen heißen mögen…«
Da wurde er von einer schneidenden weiblichen Stimme
unterbrochen.
»Du hast es erfasst, Opa! Dämonenknechte seid ihr, allesamt!
Und darum werdet ihr jetzt krepieren!«
Die Ereignisse überschlugen sich.
Die Diener des Bösen wandten sich zum Saaleingang. Wer wagte
es, ihre Versammlung zu stören?
Eine junge, schlanke Frau stand in der offenen Saaltür. Doch
im Gegensatz zu den Dienerinnen war sie nicht nackt. Vielmehr trug
sie eine kakifarbene Uniform mit Lederkoppel und Schirmmütze. Ihr
schwarzes Haar war im Nacken zu einem strengen Knoten
zusammengebunden. Der Hautfarbe nach konnte sie aus Indien oder
Pakistan stammen. Doch das interessierte die Satansanbeter momentan
weniger.
Wichtiger waren die beiden Pistolen, von denen die Fremde
jeweils eine in der linken und der rechten Faust hielt.
Und diese Waffen spuckten nun Feuer und Blei!
Das schöne Gesicht der Lady in Uniform war zu einer
hassverzerrten Grimasse geworden. Ihre erste Kugel hackte in die
Stirn des weißbärtigen Dämonenknechts, der gerade die Versammlung
eröffnen wollte. Er kippte rückwärts weg. Noch bevor er auf den
Boden aufschlug, war er tot.
Einige Satansdiener, die in der Nähe der Schützin gesessen
hatten, sprangen von dem großen ovalen Tisch auf. Sie versuchten,
die Frau anzuspringen. Das bekam ihnen schlecht.
Innerhalb weniger Sekunden feuerte die Frau sechs oder sieben
Kugeln ab. Blutüberströmt sanken die Dämonenknechte zu Boden.
Breitbeinig stand die Killerin mitten in dem einzigen Ausgang
des Saales. Was nun einsetzte, wurde später in den Polizeiakten als
»Gemetzel« bezeichnet. Die anwesenden Höllendiener wurden entweder
direkt durch Kugeln oder durch Querschläger getroffen. Der eine
oder andere rief seine höllischen Herren um Hilfe an. Aber es
nutzte überhaupt nichts.
Die Frau ging trotz ihres offensichtlichen Hasses systematisch
und planvoll vor. Wenn sie eine Pistole leer geschossen hatte,
wechselte sie in aller Ruhe das Magazin. Dann feuerte sie weiter.
Und weiter. Und weiter.
Nun rächte es sich, dass die Villa Satania so perfekt
schallisoliert war. Die Polizei konnte erst alarmiert werden, als
eine der Dienerinnen Stunden später aus der Bewusstlosigkeit
erwachte. Die Killerin hatte nämlich die Girls verschont und sie
lediglich mit wohl dosierten Kolbenschlägen betäubt.
Die meisten Satansdiener hingegen waren tot.
Nur einige überlebten schwer verletzt. Einer von ihnen war der
englische Satanist Andrew Gladstone. Er war es auch, der als
Einziger die Killerin eindeutig identifizieren konnte. Er hatte
nämlich früher schon einmal das zweifelhafte Vergnügen ihrer
Bekanntschaft gemacht. [1]
Die Massenmörderin war niemand anders als Police Inspector
Asha Devi von der India Demon Police!
***
Das Loireufer bei Château Aranaque, Frankreich
Professor Moronthor und seine Lebens- und Kampfgefährtin
Nicandra Darrell nutzten das schöne Wetter für einen ausgiebigen
Spaziergang. Die Sonne meinte es gut in diesen späten Augusttagen;
die teilweise brütende Hitze der Juliwochen war einer gemäßigten
Wärme gewichen. Der Wasserstand der Loire hatte sich wieder auf ein
normales Maß eingepegelt.
Moronthor machte sich den Spaß, aus einfachen Wiesenblumen
einen Blütenkranz zu flechten, den er Nicandra wie eine Krone
aufsetzte.
Nicht mehr lange, und das Grün würde den bunten Herbstfarben
und dann dem tristen Wintergrau weichen. Irgendwie, fand Moronthor,
gingen die Jahreszeiten und Jahre immer schneller vorüber, je älter
er wurde, ohne dabei zu altern. Seit Nicandra und er vom Wasser der
Quelle des Lebens getrunken hatten, blieben sie biologisch auf dem
Stand von damals, sie erkrankten nicht mehr - sie konnten ewig
leben, wenn man sie ließ.
Wenn nicht irgendwelche Dämonen es schafften, sie
umzubringen…
Aber die relative Unsterblichkeit brachte auch ihre Probleme
mit sich. Schon jetzt wurden Moronthor und seine Gefährtin oft
darauf angesprochen, dass sie sich ja überhaupt nicht veränderten
und nach all den Jahren immer noch jung und frisch aussahen.
Irgendwann musste jemand misstrauisch werden und Nachforschungen
anstellen.
Dann half vermutlich nur noch ein Identitätswechsel.
Aber es war müßig, jetzt darüber nachzudenken. Die beiden
Spaziergänger wollten sich einfach nur ein wenig entspannen und den
Tag genießen, ohne auf die Zeit zu achten.
Die Erholung hatten sie sich redlich verdient, denn die
vergangenen Wochen waren doch reichlich anstrengend gewesen.
Das erneute Auftauchen der rätselhaften Unsichtbaren, die
Zerstörung des Meegh-Raumschiffs im unterirdischen Geheimlabor der
Tendyke Industries… Moronthor begriff immer noch nicht richtig, wie
es der Agentin der SIPPE DER EWIGEN gelungen war, die
Hochsicherheitssperren zu durchdringen und ihren Sabotageakt
durchzuführen. Auf jeden Eall hatte sie Robert Tendyke und
Professor Moronthor damit einen bösen Schlag versetzt. Sie
verfügten jetzt nur noch über zwei dieser gefährlichen Raumschiffe.
Und eines davon wurde von den Experten der Tendyke Industries
zerlegt, um seine Technik zu erforschen.
Weniger, um diese Raumschiffe irgendwann nachbauen zu können,
sondern allgemein. Was an elektronischen Raffinessen in den
Schiffen verbaut war, konnte der Tendyke Industries einen ähnlichen
technologischen Vorsprung bringen wie vor Jahren die heimliche
Zusammenarbeit mit der Dynastie.
Und vor ein paar Tagen erst mussten sie in Rom gegen Vampire
vorgehen. Dabei war ein Vampir auf dem Plan erschienen, der sich
Don Jaime deMoronthor nannte und dem Dämonenjäger gegenüber
behauptete, sie seien Brüder!
Aber auf solche Verwandtschaft konnte Moronthor gern
verzichten.
Er hatte schon Probleme genug. Mit einem alten Freund, der in
Depressionen zu verfallen begann. Ted Ewigks langjährige Freundin
Carlotta war spurlos verschwunden, hatte nur eine handschriftliche
Nachricht hinterlassen, Ted möge nicht nach ihr suchen. Einen Grund
für ihr Verschwinden nannte sie nicht, und Ted behauptete immer
wieder, sie sei von Agenten der Dynastie entführt worden. Er ließ
sich nicht davon abbringen.
Moronthor glaubte nicht an diese Theorie. Carlotta hatte sich
schon längere Zeit recht merkwürdig verhalten. Ihr Verschwinden
musste einen anderen Grund haben.
Moronthor seufzte.
»Ich habe ein ungutes Gefühl.«
Nicandra wandte ihr schönes Gesicht dem Dämonenjäger zu.
»Wieso denn, Cheri?«
»Ach, ich weiß auch nicht. Es läuft momentan alles zu
verquer…«
Er wollte noch mehr sagen. Doch dann erblickte er den leblosen
Körper.
Aus der größeren Entfernung hatte der Dämonenjäger zunächst
geglaubt, dass ein Kleiderbündel an das Ufer der Loire gespült
worden war. Doch während sie näher kamen, stellte sich heraus, dass
dort offenbar ein Mensch lag!
Lebte er noch oder war er tot?
Moronthor und Nicandra eilten zu dem Körper hin. Die
Dämonenjägerin ging neben ihm in die Knie. Vorsichtig drehte sie
ihn auf den Rücken.
Der Mann lebte noch. Er trug abgeschabte, unmodische Kleidung.
Seiner Hautfarbe nach zu urteilen konnte er aus dem Nahen Osten
oder auch vom indischen Subkontinent stammen. Auf jeden Fall schien
er ohnmächtig zu sein.
»Wie der arme Kerl wohl hierher gekommen ist?«, dachte
Nicandra laut nach. Gleich darauf beantwortete sie ihre Frage
selber. »Vielleicht ist er aus einem der Sammellager abgehauen, in
die Frankreich seine abgelehnten Asylbewerber pfercht…«
»Kann sein«, sagte Moronthor geistesabwesend. Sein Misstrauen
war erwacht. Etwas stimmte hier nicht. Aber was? Und dann fiel es
ihm auf.
»Seine Kleidung ist knochentrocken«, bemerkte Moronthor. »Wenn
er nicht im Wasser gewesen ist, dann frage ich mich, wieso er hier
am Ufer…«
Der Dämonenjäger kam nicht dazu, den Satz zu beenden.
Plötzlich hörte er ein leises Sirren. Instinktiv drehte Moronthor
den Kopf zur Seite. Keinen Moment zu früh.
Ein Totschläger sauste herab!
Der mit Leder überzogene Eisenknüppel verfehlte Moronthors
Schädel um Haaresbreite. Stattdessen erwischte die Waffe ihn
schmerzhaft an der Schulter.
Der Dämonenjäger wirbelte herum.
Zwei muskulöse Kerle hatten sich ihm lautlos von hinten
genähert. Es mussten ausgebuffte Profis sein. Sonst hätte entweder
der Professor oder seine Gefährtin sie unweigerlich bemerkt.
Merlins Stern gab kein Alarmsignal. Schwarzmagischen Ursprungs
konnten die beiden Schufte also nicht sein. Doch das war irgendwie
kein Trost. Denn nun nahmen sie den Dämonenjäger in die
Mangel!
Natürlich wollte Nicandra ihrem Gefährten gegen den
heimtückischen Angriff helfen. Doch sie musste sich nun selbst
ihrer Haut wehren. Der vermeintlich Ohnmächtige schlug nämlich die
Augen auf und packte Nicandra mit beiden Armen.
Die Dämonenjägerin beherrschte verschiedene Kampfsportarten
und hatte sowohl genügend Mut als auch genug Kraft, um sich ihrer
Haut wehren zu können.
Doch dieser Kerl war ihr leider überlegen.
Es musste sich um einen Meister des waffenlosen Kampfes
handeln. Er schnellte halb vom Boden hoch, ließ Nicandras Schläge
ins Leere gehen und drehte ihr in Windeseile den rechten Arm auf
den Rücken.
Natürlich gab es diverse Griffe und Würfe, um sich auch aus
dieser Lage zu befreien. Doch noch bevor Nicandra einen davon
anbringen konnte, hatte der Angreifer einen Wattebausch aus seiner
Jackentasche gezaubert.
Er presste ihn mit der freien Hand auf Nicandras Mund und
Nase. Die Dämonenjägerin versuchte verzweifelt, den Kerl
abzuschütteln. Doch von Sekunde zu Sekunde wurden ihre Bewegungen
schwächer. Das Chloroform tat seine Wirkung. Schließlich
erschlaffte Nicandras schlanker Körper. Ohnmächtig sank sie zu
Boden…
Moronthor hatte inzwischen mit den beiden Angreifern alle
Hände voll zu tun. Obwohl der Dämonenjäger schon oft genug gegen
mehrere Feinde gleichzeitig gekämpft hatte, musste er sich
eingestehen, dass er es jetzt mit besonders harten Brocken zu tun
hatte.
Moronthor schickte einen der Kerle mit einem kräftigen
Eausthieb zu Boden. Doch schon schnellte der Angreifer wie ein
Stehaufmännchen wieder hoch. Inzwischen war es dem anderen
gelungen, auf Moronthors Rücken zu springen!
Während der Dämonenjäger noch damit beschäftigt war, ihn
abzuschütteln, konnte der von Moronthor zuerst Getroffene in aller
Ruhe maßnehmen.
Und noch bevor Moronthor ausweichen konnte, krachte die Faust
des Dunkelhäutigen gegen sein Kinn. Der Angreifer hatte genau auf
den Punkt getroffen.
Bei Moronthor gingen die Lichter aus.
***
Der Palast von Ramesh Devi, New Delhi, Indien
Nicandra Darrell erwachte zwischen seidenen Laken.
Dem Chloroform hatte die Dämonenjägerin stechende
Kopfschmerzen zu verdanken.
Bewirkt das Zeug vielleicht auch Halluzinationen?, fragte sich
die Französin. Langsam richtete sie sich auf. Nicandra lag in einem
weichen Bett. Draußen, vor dem nicht vergitterten Fenster, konnte
sie Palmen und farbige exotische Blüten erkennen. Aber auch der
Verkehrslärm einer modernen Großstadt war zu hören, allerdings
weiter entfernt.
Nicandra schwang ihre langen, wohl geformten Beine aus dem
Bett. Sie war nackt. Jemand musste sie gewaschen und mit duftenden
Essenzen eingerieben haben. Das stellte sie fest, als sie diskret
an sich schnupperte.
Aber wer tat so etwas? Wer chloroformierte und entführte sie,
um sie dann im größten Luxus aufwachen zu lassen?
Als wären ihre Gedanken gelesen worden, öffnete sich eine mit
reichen Schnitzereien versehene Tür.
Eine junge Frau trat ein. Sie trug einen gelbroten Sari, das
traditionelle Frauengewand Indiens. Als sie Nicandra erblickte,
faltete sie zum Gruß die Hände vor den Brüsten. Außerdem schenkte
sie der Französin ein freundliches Lächeln, das diese nicht
erwiderte.
»Wo bin ich hier?«
»In New Delhi, Memsahib.«
Das Lächeln der Inderin verschwand nicht. Sie sprach mit
Nicandra in perfektem Französisch.
»Wie schön. Und was soll ich hier?«
»Das wird Ihnen mein Herr persönlich erläutern.«
»Und wer ist Ihr Herr?«
»Ramesh Devi«, entgegnete die Inderin schlicht.
Ramesh Devi!
Nun wurde Nicandra einiges klar. Während die Französin der
einheimischen Dienerin in ein Ankleidezimmer folgte, sortierte sie
ihre Gedanken.
Irgendjemand hatte ein dezentes Business-Kostüm, hochhackige
Pumps und Seidenunterwäsche sowie eine Strumpfhose in Nicandras
Größe besorgt.
Während die Französin diese Kleidung anlegte, ging sie noch
einmal innerlich durch, was sie über Ramesh Devi wusste.
Er war einer der reichsten und mächtigsten Männer Indiens,
vielleicht sogar der reichste und mächtigste überhaupt. Als
Geschäftsmann und Politiker der nationalistischen BJP-Partei konnte
er getrost als einer der inoffiziellen Herrscher des Landes
angesehen werden.
Auf jeden Fall aber war er der Vater von Asha Devi, der
rabiaten Inspektorin von der India Demon Police.
Moronthor und Nicandra hatten schon mehrere Fälle gemeinsam
mit Asha Devi gelöst, wenn man das so nennen wollte. Denn normal
Zusammenarbeiten konnte man mit der Inderin eigentlich nicht. Dafür
war sie viel zu dominierend und egozentrisch. Wenn nicht alles nach
Asha Devis Pfeife tanzte, dann rastete sie regelmäßig aus. Und das
kam ziemlich häufig vor.
Doch trotz ihrer harschen Art konnte Asha Devi sehr mitfühlend
sein, wenn es darum ging, die Opfer von Dämonen zu beschützen und
ihnen Mut zu machen.
Im persönlichen Umgang war sie trotzdem eine furchtbare
Kratzbürste. Jedenfalls sah Nicandra das so.
Und Asha Devis Vater hatte also Nicandra und vielleicht auch
Moronthor in seinen Palast entführen lassen. Warum? Die Französin
brannte darauf, diese Frage beantwortet zu bekommen.
Nachdem sie sich mit Kajal und einem Lippenstift noch flüchtig
geschminkt und zu Ende angekleidet hatte, folgte sie der
Dienerin.
Die Inderin führte Nicandra über eine breite Marmortreppe zu
einer Teakholztür, vor der zwei Muskelmänner in Anzügen Wache
hielten.
Nicandra erkannte in ihnen sofort die Kerle wieder, die
Moronthor angegriffen hatten. Hämisch registrierte sie, dass die
Visagen der beiden Inder ziemlich ramponiert waren.
Einer der Leibwächter öffnete die Tür.
Nicandra betrat ein Büro, das von den Ausmaßen her eher an
einen kleinen Ballsaal erinnerte.
Hinter einem modernen Designerschreibtisch thronte Ramesh
Devi. Obwohl Nicandra ihn erst einmal kurz persönlich gesehen
hatte, erkannte sie ihn sofort wieder.
Der Inder hatte dieselbe haselnussfarbene Haut wie seine
streitbare Tochter. Er war ungefähr sechzig Jahre alt. Der
sorgfältig gepflegte Schnurrbart war noch pechschwarz, während sein
Haupthaar ergraut war. Er trug es straff zurückgekämmt. Ramesh Devi
war in einen silbergrauen Maßanzug westlichen Schnitts
gekleidet.
Als er Nicandra erblickte, sprang er auf und ließ ein
schmieriges Lächeln sehen.
»Miss Darrell! Welch eine Ehre, Sie in meinem bescheidenen
Haus begrüßen zu dürfen!«
Er streckte der Französin seine Hand entgegen, doch Nicandra
übersah sie geflissentlich.
»Ihre Schergen haben ja kräftig nachgeholfen, damit Sie mich
hier begrüßen können!«
Der Millionär lachte laut, als ob Nicandra einen besonders
guten Witz gemacht hätte.
»Sie müssen das verstehen, Miss Darrell! Ich weiß, dass Sie
und der hochverehrte Herr Professor viel beschäftigte Menschen
sind! Ich wollte sichergehen, dass Sie meiner Einladung auf jeden
Fall unverzüglich Folge leisten!«
»Was haben Sie mit Moronthor gemacht?«, knurrte
Nicandra.
»Was ich…? Aber, da kommt er ja schon!«
Wie auf Stichwort öffnete sich nun eine andere Tür. Der
Dämonenjäger trat ein, begleitet von einem indischen Diener.
Beruhigt registrierte Nicandra, dass ihrem Lebengefährten
nichts zu fehlen schien. Wenn man einmal von einem blauen Fleck am
Kinn absah.
Sein muskulöser, durchtrainierter Körper steckte in einem
weißen Anzug, mit dem dazu passenden unvermeidlichen knallroten
Hemd.
Nicandra musste davon ausgehen, dass Ramesh Devi die Kleidung
hatte besorgen lassen, genau wie ihre eigene. Immerhin konnte man
davon ausgehen, dass er sich über den Dämonenjäger und seine
Gefährtin informiert hatte. Anzüge dieser Art hatte der Professor
schon vor langer Zeit vorzugsweise getragen.
Ramesh Devi streckte den Arm aus, als ob er Moronthor auf die
Schulter klopfen wollte. Doch dieser vermied es, in die Nähe des
Politikers zu kommen.
»Was soll diese Schmierenkomödie, Devi?«, rief der
Dämonenjäger wütend. Dann durchquerte er den Raum und stellte sich
direkt neben Nicandra.
»Ich stelle fest, dass Sie mich ebenfalls kennen«, sagte Ashas
Vater geschmeichelt. »Nun, Prominenz hat eben ihren Preis. Ich
sagte bereits zu Ihrer bezaubernden Begleiterin, dass ich dringend
Ihre Hilfe brauche!«
»Und darum lassen Sie uns entführen?«
Nicandra antwortete an Stelle des Politikers.
»Ist doch logisch, Chef! Wir würden doch nicht freiwillig für
diese type arbeiten, oder?«
»Die Type will ich überhört haben«, sagte Ramesh Devi jovial,
»aber warten Sie erst einmal ab, worum es geht. Dann werden Sie
Ihre Meinung gewiss ändern!«
Er machte eine einladende Handbewegung. Moronthor und Nicandra
setzten sich auf zwei Besucherstühle. Sie hatten ihr Missfallen
geäußert. Nun gab es keinen Grund mehr, stehen zu bleiben wie
trotzige Kinder.
Ramesh Devi nahm ebenfalls wieder Platz. Als er das Wort
ergriff, wirkte er plötzlich um Jahre gealtert.
»Meine Tochter Asha - sie steht unter Mordanklage.«
Moronthor verzichtete auf ironische Bemerkungen. Genau wie
auch Nicandra spürte er, dass diese Sache sehr ernst war.
»Was ist geschehen, Devi?«
»Offenbar hat es in London eine Zusammenkunft von
unterschiedlichen Teufelsanbetern gegeben. Plötzlich drang eine
Frau in den Saal ein und eröffnete das Feuer aus zwei Pistolen. Das
Ergebnis waren fünfzehn Tote und sieben schwer Verletzte.«
Moronthor und Nicandra wussten, dass Ramesh Devi ein harter
Brocken war. Und trotzdem bemerkten sie, dass ihm das
Weitersprechen nun schwer fiel.
»Einer der Überlebenden behauptet, die Täterin sei meine
Tochter Asha gewesen. Lachhaft! Trotzdem sprechen alle Indizien
gegen mein Kind.«
»Wieso?«, hakte Moronthor nach.
»Die Pistolen wurden in ihrer Wohnung gefunden. Außerdem ein
Rückflugticket New Delhi - London. Darüber hinaus hat Asha für die
Tatzeit kein Alibi. Hinzu kommt, dass die Täterin eine indische
Polizeiuniform anhatte. Genau so eine, wie meine Asha sie
trägt.«
»Was lässt Sie eigentlich annehmen, dass Asha nicht die
Killerin ist?«, fragte Nicandra.
»Ganz einfach. Sie hat es geleugnet. Und eine Devi lügt
nicht.«
Diese Logik mussten Moronthor und Nicandra erst einmal
verdauen. Doch dann sagte der Dämonenjäger: »Es wäre immerhin
möglich, dass einer von Ashas dämonischen Feinden dahinter steckt.
Jemand, der ihr die Tat in die Schuhe schieben will, um sie
auszuschalten. Die Indizienkette ist nämlich zu perfekt. Die
Pistolen beispielsweise -wie soll Asha die beiden Tatwaffen im
Flugzeug zurück nach New Delhi geschafft haben und damit durch die
Sicherheitskontrolle gekommen sein? Und überhaupt, wer so eine Tat
begeht, wirft die Waffen hinterher weg!«
»Das sehe ich auch so!« Ramesh Devi war offenbar mit dem
Verlauf des Gesprächs hochzufrieden.
»Und wir sollen also Ashas Unschuld beweisen?«, schaltete
Nicandra sich ein.
»Ja, das ist mein Wunsch.«
»Aber warum ausgerechnet wir?«
»Weil Sie die einzigen Freunde sind, die Asha auf dieser Welt
hat«, entgegnete der mächtige Mann schlicht. »Jedenfalls ist das
mein Eindruck.«
»Darf ich Sie etwas Persönliches fragen, Devi?«
»Aber selbstverständlich, Professor Moronthor.«
»Sie wollten doch Asha töten, als sie noch ein Kind war!«,
sagte der Dämonenjäger hart. »Sie wollten Ihre Tochter den Göttern
opfern, um sich bei ihnen einzuschmeicheln! Warum sind Sie jetzt
plötzlich so um Asha besorgt?«
Ramesh Devis Gesicht wurde zu einer wütenden Fratze.
»Sie… verfluchter…«, begann er. Doch dann hatte er sich wieder
in der Gewalt. Er war eben ein Politiker. »Das ist lange her«,
sagte er unverbindlich lächelnd. »Ich war noch jung, und junge
Leute machen Fehler. Meine Asha ist doch eine hervorragende
Polizeioffizierin geworden. Es wäre wirklich schade, wenn die
Dämonenwelt mit einer solchen Intrige gegen sie durchkäme, nicht
wahr?«
Ramesh Devi wusste genau, dass Moronthor und Nicandra die
Höllenkräfte bekämpften, wo sie nur konnten. Der Inder hatte seine
Worte so gewählt, dass es dén Dämonenjägern unmöglich war,
abzulehnen.
Allerdings hätte Moronthor den Fall wohl auch dann näher unter
die Lupe genommen, wenn er Asha Devi nicht persönlich gekannt
hätte. Ein Massenmord an Teufelsanbetern musste das Interesse und
die Neugier des Parapsychologen zwangsläufig erregen.
Moronthor wandte sich wieder Ashas Vater zu.
»Also gut, Devi. Miss Darrell und ich werden uns der
Angelegenheit annehmen. Aber zuerst würde ich gerne mit Asha selbst
sprechen, wenn es möglich ist. Um ihre Version der Geschichte zu
hören. In welchem Gefängnis befindet sie sich?«
»In keinem Gefängnis«, sagte der Politiker. »Zum Glück konnte
ich meine Verbindungen einsetzen. Wie Sie wissen, habe ich hier zu
Lande einigen Einfluss…«
Das war noch ziemlich untertrieben ausgedrückt, wie Moronthor
fand.
»Dann ist also Asha noch auf freiem Fuß?«
»Das leider auch nicht, verehrter Professor. Sehen Sie, ich
konnte einige Amtsärzte dazu… hm… anregen, meiner Tochter eine
vorübergehende geistige Verwirrung zu bescheinigen. Davon
abgesehen, dass dieses Blutbad in London wirklich die Tat einer
Wahnsinnigen sein muss.«
»Ich verstehe«, schaltete sich Nicandra ein. »Dann befindet
sich Asha also in einer…«
»In einer Nervenklinik, ganz genau«, seufzte Devi
senior.
***
Gandhi Mental Hospital, Kanpur, Indien
Die Nervenklinik erinnerte eher an ein Luxushotel als an ein
Krankenhaus. Der weitläufige Gebäudekomplex war unmittelbar am Ufer
des Ganges gelegen, inmitten eines üppig wuchernden Ziergartens.
Nur die hohen, gesicherten Mauern erinnerten daran, dass hier nicht
nur Verbrecher am Eindringen gehindert werden sollten. Sondern auch
Insassen am Entkommen…
Moronthor und Nicandra waren in Ramesh Devis Rolls Royce
dorthin verfrachtet worden. Während der Fahrt hatten sie genügend
Zeit zum Reden. Die Trennscheibe zwischen ihnen und den beiden
Leibwächtern vorne im Wagen war absolut schalldicht.
»Ich kann immer noch nicht glauben, dass Ashas Vater uns als
die einzigen Freunde seiner Tochter betrachtet, Chef. Als wir Asha
das letzte Mal gesehen haben, hat sie gebrüllt und getobt. Und dann
hat sie uns an den Kopf geknallt, dass sie uns nie wieder sehen
will.« [2]
»Vielleicht ist das ja ihre Art, ihre Sympathie zu zeigen,
Nici.«
»Sehr witzig!«
»Ich meine das durchaus ernst. So gut kenne ich Asha nicht.
Aber dass sie einen kleinen Knacks hat, ist durchaus möglich.
Überleg doch mal. Ihr eigener Vater will sie den Göttern
opfern…«
»… und ihr Bruder ist ein Dämon«, ergänzte Nicandra. »Du hast
Recht. Um solche Dinge wegstecken zu können, muss man schon ein
ziemlich dickes Fell haben. Und Asha ist wohl viel sensibler, als
es den Anschein hat. Ich frage mich allerdings inzwischen, ob sie
den Massenmord an den Teufelsanbetern nicht wirklich auf dem
Gewissen hat. In ihrem Hass auf Dämonen kann sie jedenfalls
ziemlich blindwütig sein.«
Moronthor schüttelte den Kopf.
»Das glaube ich nicht. Dafür ist Asha zu sehr Polizistin. Sie
hätte die ganze Bande eingelocht, das ja. Wahrscheinlich wäre ihr
dabei auch öfter mal die Hand ausgerutscht. Aber trotz allem waren
es ja Menschen und keine Dämonen. Und dass Asha auf unbewaffnete
Menschen schießt, glaube ich nicht. Noch nicht einmal, wenn es
Dämonenknechte sind.«
»Ich bin gespannt, welche Version wir von Asha zu hören
bekommen.«
Der Rolls Royce fuhr durch das bewachte Tor des
Anstaltsgeländes. Ein Sicherheitsdienst in Fantasieuniformen sorgte
offenbar dafür, dass sich keiner der Patienten in die Freiheit
verirrte. Ansonsten sah man von weitem Krankenschwestern, Pfleger
und Ärzte in ihrer weißen Kluft geschäftig hin- und hereilen.
Die britische Nobelkarosse wurde vor dem Hauptgebäude geparkt.
Einer von Ramesh Devis Männern führte Moronthor und Nicandra zu
einem Arzt, der sich als Dr. Singh vorstellte. Unter dem offenen
weißen Kittel trug er einen Geschäftsanzug. Er wirkte wie ein
Mediziner, der in seiner Freizeit mit Aktien handelte. Oder wie ein
Börsenspekulant, der in seinen Mußestunden Patienten therapierte.
Je nachdem, wie herum man es sehen wollte.
Moronthor und Nicandra stellten sich vor.
»Ah, Herr Kollege!« Dr. Singh schüttelte Moronthors Hand.
»Mister Devi hat mir schon telefonisch Ihren Besuch angekündigt.
Sie sind Freunde von Mister Devi?«
Im Blick des Arztes flackerten Furcht und Respekt auf.
»Ja«, log Moronthor, um die Sache nicht unnötig zu
verkomplizieren. Er wollte jetzt endlich mit Asha sprechen.
»Ein interessanter Fall, die Tochter Ihres Freundes.« Dr.
Singh rieb sich geschäftig die Hände. »Wenn Sie gestatten, gehe ich
voran…«
Der Nervenarzt führte Moronthor und Nicandra über eine
Marmortreppe in einen Seitenflügel der Klinik. Dabei redete er
ununterbrochen.
»Miss Devi hat an die eigentliche Tat keine Erinnerung, was
mich aber angesichts ihres Krankheitsbildes nicht wundert. Nach
umfangreicher Diagnostik…«
»Welches Krankheitsbild haben Sie denn festgestellt?«, fragte
Moronthor dazwischen.
»Akute Psychose!«, verkündete Dr. Singh gewichtig. »Die
Patientin glaubt fest daran, dass es überall Dämonen gibt. Sowohl
in unserer Welt als auch in irgendwelchen Paralleluniversen!
Stellen Sie sich vor, sie hält sogar ihren eigenen Bruder für einen
Dämon!«
»Das ist ja entsetzlich«, sagte Moronthor mit einer Ironie,
die der indische Mediziner nicht verstehen konnte. »Ich hatte
einmal einen Fall, wo sich der Patient einbildete, einen kleinen
sprechenden Drachen als Hausgenossen zu haben…«
»Tragisch.« Dr. Singh nickte zustimmend. »Da ist eine
langjährige medikamentöse Therapie notwendig.«
Nicandra blinzelte hinter Dr. Singhs Rücken ihrem
Lebensgefährten schelmisch zu. Der Inder hielt vor einer Tür
inne.
»Wir mussten Miss Devi leider ruhig stellen, weil sie zu
erregt war. Wundem Sie sich also nicht, wenn sie einen etwas
schläfrigen Eindruck macht.«
Er öffnete die Tür.
Der Raum wirkte eher wie ein gemütlich eingerichtetes
Single-Apartment, nicht wie ein Krankenzimmer. Erst auf den zweiten
Blick bemerkte man, dass die Bewohnerin hier gefangen gehalten
wurde. Die Tür hatte innen keinen Griff. Und die Fenster ohnehin
nicht. Eine summende Klimaanlage ließ die brüllende Hitze
Zentralindiens draußen bleiben.
Asha Devi saß in einem bequemen Sessel am Fenster. Langsam
drehte sie den Kopf.
Sie wirkte völlig anders als bei der letzten Begegnung mit
Moronthor und Nicandra. Damals hatte sie ihre Uniform angehabt und
wie eine Furie getobt. Doch nun hingen ihre Augenlider auf
halbmast. Ihr langes, blauschwarzes Haar fiel ihr in Wellen auf die
Schultern, was ihr ein überraschend feminines Aussehen verlieh.
Üblicherweise trug sie nämlich ihre Haare zu einem strengen Knoten
im Nacken zusammengebunden. Auch der lachsfarbene Seidenpyjama, mit
dem sie bekleidet war, wirkte viel weicher als ihre von
Wäschestärke brettharte Polizeiuniform.
»Doktor Singh!«, sagte sie mit matter Stimme. »Sind Sie immer
noch nicht von den Dämonen gefressen worden? Wie geht es dem
Pfleger, der mir die Beruhigungsspritze verpasst hat? Ich hoffe,
sein Nasenbein ist nur angebrochen. Aber mit mir legt sich besser
keiner an!« Erst jetzt bemerkte sie Moronthor und Nicandra. »Was
wollen die denn hier? Raus aus meinem Kerker!«
»Ich habe die Patientin schon früher behandelt«, wandte sich
Moronthor an Dr. Singh. »Ein schwieriger Fall, wie Sie schon
treffend bemerkten, Herr Kollege. Dürften wir ungestört mit ihr
reden?«
»Selbstverständlich.« Der indische Arzt lächelte verbindlich.
»Klopfen Sie einfach an die Tür, wenn Sie fertig sind.«
Das tat er nun selbst, damit der draußen stehende Pfleger ihn
herauslassen konnte. Dr. Singh schien nicht unglücklich darüber zu
sein, nach draußen zu gelangen.
Asha Devi wandte sich nun an Moronthor und Nicandra.
»Ihr wollt wohl meinen Anblick so richtig auskosten? Das muss
doch eine ungeheure Befriedigung für euch sein, mich hier in der
Klapsmühle zu sehen! Asha Devi, ehemals erfolgreiche Inspektorin
der India Demon Police, als geisteskranke Massenmörderin in diesem
Goldenen Käfig! Na dann, viel Spaß!«
Trotzig verschränkte sie die Arme vor den Brüsten.
Moronthor runzelte die Stirn.
»Asha, wie kommst du eigentlich darauf, dass wir dir etwas
Böses wollen? Im Gegenteil, wir sind gekommen, um dir zu
helfen.«
»Ha!«
»Spar dir die Puste, Chef«, sagte Nicandra. »Hast du noch
nicht gemerkt, dass Asha unsere Unterstützung nicht will?«
»Verdammt scharfsinnig, Darrell!«, keifte Asha Devi. »Ich
brauche nämlich niemanden, kapierst du? Ich komme sehr gut alleine
zurecht!«
»Und es stört dich nicht, dass du hier drinnen eingesperrt
bist, obwohl du unschuldig bist?«, fragte Moronthor.
»Wie kommst du darauf, dass ich unschuldig bin?«
Asha blinzelte listig.
»Bist du es denn nicht?«
»Wer weiß, Moronthor? Die Beweislage spricht ja wohl gegen
mich. Wer immer mich reinreiten wollte, hat es perfekt
gemacht.«
»Lass uns gehen, Chef«, sagte Nicandra laut. »Asha hat
aufgegeben, das ist doch eindeutig. Diesmal wird dann eben die
Dämonenwelt den Sieg davontragen.«
Die Worte der Französin erzielten die gewünschte Wirkung. Es
gelang ihr, Asha Devi aus der Reserve zu locken.
»Du spinnst wohl, Darrell! Denen willst du den Sieg
überlassen? Weißt du nicht, dass die Menschheit keinen größeren
Feind hat als die Dämonenwelt?«
»Doch, das weiß ich. Und gerade deshalb solltest du mit uns
Zusammenarbeiten. Wir können da draußen nämlich deine Unschuld
beweisen. Die Möglichkeit hast du hier in deinem Goldenen Käfig,
wie du es nennst, nicht. Ich glaube nämlich, dass ein Dämon deine
Gestalt angenommen hat, um dieses Massaker zu verüben.«
»Aber warum?« Asha wirkte nun nicht mehr schlecht gelaunt,
sondern gespannt. Das betrachtete Moronthor zumindest schon einmal
als Fortschritt.
»Warum? Ich schätze mal, du bist ziemlich gefürchtet in der
Dämonenwelt. Wenn du aus dem Verkehr gezogen wirst, weil du im
Gefängnis oder in der Nervenklinik einsitzt, ist das für die
Dämonen schon mal ein enormer Vorteil.«
»Verdammt richtig!« Nun klang Asha Devi trotz
Beruhigungsspritze schon wieder wie in alten Tagen. »Ich bin
nämlich die Beste! Die Spitzenfrau von der India Demon Police! Ha,
was für ein Triumph für die schwarzmagischen Bestien, wenn ich
nicht mehr hinter ihnen her bin!«
Bevor sich Asha Devi weiter in Selbstbeweihräucherung ergehen
konnte, kam Moronthor auf den Mordfall zurück.
»Du hast kein Alibi für die Tatzeit, nicht wahr? Was hast du
in der Zeit getan, Asha?«
»Ich habe meditiert, Moronthor. Wie du weißt, bin ich ein
Liebling der Götter. Ich halte öfter mal Zwiesprache mit ihnen,
auch länger. Und da ich ein paar Tage Überstunden abbummeln musste,
habe ich eben meditiert.«
»Und wo? In deiner Wohnung?«
»Spinnst du? Bei mir im Wohnblock leben ungefähr hundert
Kinder, alle mit kräftigen Stimmbändern. Da ist jede Konzentration
unmöglich. Nein, ich war in einem verlassenen Tempel, ungefähr
dreißig Meilen südlich von New Delhi.«
»Dafür gibt es wohl keine Zeugen?«
Asha schüttelte den Kopf.
»Ich bin mit dem Überlandbus hingefahren. Von der nächsten
Station muss man noch zehn Meilen bis zu dem Tempel laufen. Kann
sein, dass sich der Busfahrer an mich erinnert. Kann aber auch
nicht sein. Die verfluchte Blechkiste war total überfüllt.«
»Jedenfalls reicht das nicht aus, um zu beweisen, dass du
nicht in London warst«, stellte Moronthor fest. »Sogar dein Pass
ist am Tag des Blutbades auf dem Flughafen Heathrow abgestempelt
worden.«
»Die verfluchten Dämonen haben eben an alles gedacht!«
»Nur nicht daran, dass dir jemand helfen könnte«, stellte
Moronthor fest. »Nicandra und ich werden nach London fliegen, heute
noch. Ich bin sicher, dass wir dort herausfinden, wer dich
reinreiten wollte. Oder hast du selbst schon einen bestimmten
Verdacht?«
»Was soll ich sagen?«, knurrte Asha. »Ich habe schon unzählige
Dämonen vernichtet. Okay, viele von ihnen waren Kroppzeug. Aber
einige dieser schwarzmagischen Prachtexemplare hatten auch mächtige
Beschützer in ihrer dunklen Welt. Beschützer, die es mir so richtig
heimzahlen wollen…«
»Wir werden jedenfalls deine Unschuld beweisen. Kopf
hoch!«
Mit einem aufmunternden Lächeln verabschiedete sich Moronthor.
Nicandra nickte Asha nur zu. Nach wie vor hatte sie Probleme mit
der aufbrausenden und selbstgerechten Art der indischen
Polizistin.
Moronthor klopfte an die Tür. Der Pfleger öffnete. Gleich
darauf traten die beiden Dämonenjäger auf den Flur hinaus. Asha
Devi war allein.
»Wie unendlich gnädig von euch«, sagte sie leise in Richtung
Tür, »dass ihr mir helfen wollt. Aber ich brauche niemanden. Ich
komme sehr gut alleine zurecht.«
***
Ein Abbruchhaus in White Chapel, London
Die Gegend war ziemlich heruntergekommen. Hier, unweit des
Hafens, lebte nur, wer sich kein besseres Quartier leisten konnte.
Die Wohnungen waren dunkel und feucht. Die nahe Trasse der modernen
Dockland Railroad zeugte davon, dass auch die Tage dieses uralten
Elendsviertels gezählt waren.
Wenn die Luxussanierer kamen, machten sie die Wohnungen hell
und schön. Die ursprünglichen Bewohner würden sie sich jedoch nicht
mehr leisten können. Doch bis es so weit war, hausten die Menschen
weiterhin in Bruchbuden, in die kaum ein Lichtstrahl drang.
Manchen allerdings war gerade das sehr recht…
Der Bewohner des Hauses Nummer vier in der Naples Road hatte
es sich am Fenster bequem gemacht. Er starrte in die Dunkelheit
hinaus. Selbst hatte er kein Licht entzündet. Und das war auch gut
so.
Denn ein einsamer Spaziergänger, der sich in die schmutzige
Gasse bei den Docks verirrte, hätte sich sonst leicht zu Tode
erschrecken können.
Denn das Wesen am Fenster war kein Mensch!
Auf den ersten Blick hatte sein Körper schon etwas
Menschenähnliches an sich. Arme, Beine und Kopf wies er jedenfalls
auf. Doch die Haut des Hausbewohners war von einem grünlichen
Kupferton, außerdem schuppig. Die Hände glichen eher Klauen eines
Raubtieres. Auf dem Rücken war ihm ein Paar Flügel angewachsen. Und
schließlich ragten aus seinen Schläfen zwei Hörner hervor!
Es war eine höllische Bestie, die in di eser regnerischen
Nacht an dem Fenster kauerte.
Scheinbar wartete der Unhold auf etwas. Doch lange musste er
sich nicht mehr gedulden. Aus den Geräuschen des nächtlichen London
filterte sein aufmerksames Gehör den Klang heraus, auf den er
gewartet hatte.
Flügelschlagen!
Es vergingen noch ein paar weitere Minuten. Doch schließlich
erschien ein Schatten in der Luft über den Hafenanlagen.
Der Teuflische schob das Fenster gänzlich nach oben und trat
zur Seite. Gleich darauf glitt im Gleitflug ei-. ne zweite Gestalt
in das Haus, die der ersten stark ähnelte.
Der Neuankömmling hatte sich geschickt durch das enge Fenster
gedrängt. Nun schlug er einmal kurz mit seinen Schwingen, um sie zu
sortieren.
Dann grüßte er den Wartenden ehrerbietig.
»Beim Geist von Calmac, ich bin zurück, o Meister!«
»Das sehe ich selber, Panah«, gab der wartende Dämon zurück.
»Hast du bekommen, was ich dir aufgetragen habe?«
Wortlos öffnete der mit Panah Angesprochene eine Tasche, die
er bei sich getragen hatte. Er holte ein paar Gegenstände
heraus.
»Ein Dreihalskolben, ein Exsikkator, zwei Messkolben, ein
Gebläsebrenner… ich habe alles bekommen.«
»Hast du auch nicht vergessen, menschliche Gestalt anzunehmen?
Wir wollen kein Aufsehen erregen!«
Panah lachte teuflisch. »Natürlich nicht, o Meister! Als eine
kleine, unbedarfte Studentin bin ich in die Läden marschiert und
habe das Gewünschte gekauft. Doch gestattet Ihr mir eine
Frage?«
»Du willst wahrscheinlich wissen, wozu ich den Krempel
benötige.«
»Ja, o Meister.«
»Calmacs Geist weilt zwar immer noch unter uns«, begann der
Oberdämon, »aber seit seinem Tod bin ich der Herrscher aller
Erddämonen Britanniens. Oder zweifelst du daran?«
»Natürlich nicht, o Meister!«, beeilte sich Panah zu
versichern. Kein Schwarzblütiger, der an seinem untoten Leben hing,
sollte die Machtposition des mit Meister Angesprochenen in Frage
stellen. In blutigen Rangkämpfen hatte es dieser verstanden, nach
Calmacs Tod der neue Anführer der Erddämonen zu werden.
»Das will ich dir auch geraten haben. Du weißt doch, wer den
großen Calmac vernichtet hat?«
Panah nickte hasserfüllt.
»Nicandra Darrell, die infame Gefährtin des verfluchten
Moronthor! Ich wünschte, ich könnte diese beiden einmal in meine
Krallen bekommen!«