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Hedwig Courths-Mahlers "Märchen für Erwachsene", wie sie ihre Romane selbst nannte, sind ebenso zeitlose Klassiker wie die Themen, die sie behandeln: die Liebe, ihre Gefährdung und deren Überwindung, die Verwirrung der Gefühle und der Weg zum Glück. Seit über 100 Jahren verzaubert sie ihre Leserinnen und Leser mit ihren wundervollen Geschichten immer wieder neu, und mit einer Gesamtauflage von über 80 Millionen Exemplaren gilt Hedwig Courths-Mahler heute als DIE Königin der Liebesromane.
Dieser achte Sammelband enthält die Folgen 22 - 24:
DAS VERSCHWUNDENE DOKUMENT
Seit dem frühen Tod ihrer Eltern lebt Ruth Alving bei dem Industriellen Rochus Bernd. Sie führt ihm den Haushalt und umsorgt ihn mit selbstloser Liebe. Mit neidischen Blicken beobachten die nächsten Verwandten des alten Herrn, Lena und Kurt Bernd, das harmonische Verhältnis dieser beiden unterschiedlichen Menschen. Sie fürchten um ihr Erbe.
Als Rochus Bernd an einem Herzanfall stirbt, sind sie entschlossen, Ruth Alving vor die Tür zu setzen. Doch alles kommt ganz anders, denn Rochus Bernd besitzt einen leiblichen Enkel, von dem er selbst nie etwas erfuhr...
UNSER TAG WIRD KOMMEN
Gilda hat früh ihren geliebten Vater verloren. Als die Mutter nun zum zweiten Mal heiratet, ahnt sie so wenig wie ihre Tochter, dass sie einem Spieler in die Hände gefallen ist. Herbert Greif ist nicht nur egoistisch, sondern auch rücksichtslos. Als er alles Geld seiner Frau verspielt hat und keinen Ausweg mehr findet, bietet er dem Millionär Gustav Kronau seine blutjunge Stieftochter zur Frau an. Kronau willigt ein und macht Gilda einen Heiratsantrag, den das Mädchen schweren Herzens und nur der Mutter zuliebe annimmt...
SIE HATTEN EINANDER SO LIEB
Als Gast seines Freundes Hendrik van der Straaten ist Rüdiger Lersingen nach Gut Hagenau gekommen. Hier lernt er die bezaubernde junge Malve Betram kennen.
Sie ist eine reiche Erbin, die bis zur Volljährigkeit unter der Vormundschaft ihres Onkels Franz Marlitz steht. Und genau dieser Onkel wirft jedem Mann, der Malve zu nahe kommt, vor, ein Mitgiftjäger zu sein. So auch Rüdiger. Marlitz ersinnt eine heimtückische Intrige, die die beiden Liebenden ahnungslos in ihr Unglück stürzen wird ...
Über 240 Seiten Romantik und Herzenswärme!
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Seitenzahl: 493
Hedwig Courths-mahler
Hedwig Courths-Mahler Collection 8 - Sammelband
Cover
Impressum
Das verschwundene Dokument
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Bastei Verlag
E-Book-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-8387-5389-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Das verschwundene Dokument
Spannender Schicksalsroman der unvergessenen Schriftstellerin
Ruth Alving stand mit bedrückter Miene am Fenster und sah hinaus in den verschneiten Garten. Sie hatte den Mund fest zusammengepresst, und in die klare weiße Stirn hatte sich eine senkrechte Falte eingegraben.
Aus dem Nebenzimmer klangen Stimmen an ihr Ohr. Dort befanden sich der Hausherr, Rochus Bernd, und seine beiden einzigen Verwandten, die Enkelkinder eines Cousins von ihm, die auch seinen Namen trugen.
Rochus Bernd war ein weißhaariger Greis. Er saß in müder, abgespannter Haltung in einem Lehnstuhl und sah unter den weißen buschigen Brauen hervor auf die beiden jungen Menschen, die ihm gegenüber Platz genommen hatten.
In seinen grauen Augen lag kein freundlicher Ausdruck. Er war nicht sehr gut auf seine beiden Verwandten zu sprechen und sah es nicht gern, wenn sie ihn besuchten.
Lena und Kurt Bernd waren weit davon entfernt, die Schuld daran bei sich selbst zu suchen. Sie waren fest davon überzeugt, dass Ruth Alving, das Mündel ihres Großonkels, ihn gegen sie beeinflusste. In ihren Augen war Ruth Alving eine gefährliche Erbschleicherin.
Rochus Bernd hatte Ruth Alving zu seinem Mündel gemacht, nachdem ihre beiden Eltern bei einem Eisenbahnunglück ums Leben gekommen waren: Sie hatten ein Landgut, das Rochus Bernd gehörte, bewirtschaftet und waren ihm treu ergeben gewesen.
Eines Tages hatte er sie, wie zuweilen, nach Berlin beordert, um mit ihnen Geschäfte zu besprechen. Er selbst stand damals noch mitten im geschäftlichen Leben, und seine Zeit war ihm zu kostbar, um auf das Gut zu reisen.
Kurzum, auf seinen Wunsch hatten sie auch diese Reise angetreten, die ihre letzte sein sollte. Der von ihnen benutzte Zug war entgleist. Unter den Toten, die der Unglücksfall forderte, befand sich das Ehepaar Alving. Mitten aus einem blühenden, schaffensfreudigen Leben wurden sie herausgerissen.
Rochus Bernd hatte sich nicht freimachen können von dem Gedanken, er sei indirekt schuld am Tod von Ruths Eltern, und dieses Gefühl trieb ihn dazu, sich in großmütigster Weise der verwaisten Ruth anzunehmen. Eine Tat, die ihm in Zukunft reichen Segen bringen sollte, denn Ruth wurde ihm lieb wie ein eigenes Kind und erhellte und erwärmte sein einsames Alter.
Rochus Bernd war seit langen Jahren Witwer, und seine einzige Tochter, die er sehr geliebt hatte, war ihm, als sie zweiundzwanzig Jahre zählte, auf tragische Weise genommen worden. So stand er ganz allein im Leben, bis er Ruth in sein Haus nahm.
Sie war jetzt zwanzig Jahre alt und Rochus Bernds rechte Hand in allen Dingen. Sie versah das Amt einer Sekretärin bei ihm und nahm sich des Haushalts in jeder Weise an. Sie erhielt alle Schlüssel von Wäschekammern, Vorratsräumen und Silberschränken, bestellte bei Lieferanten, rechnete mit ihnen ab und führte so genau über alles Buch, dass Onkel Rochus, wie sie ihren Vormund auf seinen Wunsch nannte, sie oft neckend damit aufzog und sich weigerte, die Bücher zu kontrollieren.
Dann pflegte sie ihn ernst und bittend anzusehen und zu sagen: „Ich tue das nicht deinetwegen und nicht meinetwegen, Onkel Rochus, du vertraust mir, wie ich mir selber vertraue. Aber ich will auch jederzeit imstande sein, anderen Menschen zu beweisen, dass alles korrekt ist. Du weißt, dass man mich mit misstrauischen Augen ansieht.“
Sie wussten beide, dass Ruth damit Lena und Kurt Bernd meinte, und so ließ der alte Herr sie gewähren und machte unter jede Monatsabrechnung, die Ruth ihm vorlegte, sein Abschlusszeichen.
Als der Vormund im Spätherbst ernstlich an einer schweren Grippe erkrankte, war ihm Ruth eine treue, nimmermüde Pflegerin. Sie teilte sich mit seinem alten Diener Heinrich die Nachtwachen und ließ dem verehrten Greis liebevolle Fürsorge angedeihen.
Das brachte die beiden Menschen einander noch näher, ein Umstand, der seinen auf seine Erbschaft wartenden Verwandten natürlich ein Dorn im Auge war.
Als er Ruth ganz zu sich ins Haus nahm, lebte der Vater von Lena und Kurt Bernd noch. Schon er hatte vergeblich von Tag zu Tag auf den Tod des alten Herrn gewartet. Er war Zeit seines Lebens ein Leichtfuß gewesen. Jede ernste Arbeit war ihm verhasst; er verbrachte seine Tage im Bett, seine Nächte in Bars und im Spielklub. Seine Gattin hatte auch nur ihrem Vergnügen gelebt und die Kinder sich selbst und den Dienstboten überlassen. Als sie an den Folgen einer Erkältung, die sie sich nach einer durchtanzten Ballnacht zugezogen hatte, starb, hinterließ sie keine Lücke. Aber nach ihrem Tod wurden die Verhältnisse ganz unhaltbar. Ihr Gatte gab sich vollends seinem ausschweifenden Leben hin, und die inzwischen unter der Obhut gewissenloser Dienstboten aufgewachsenen Kinder, die nie ein gutes Beispiel vor Augen gehabt hatten, traten ganz in die Fußstapfen der Eltern.
Lena, eine üppige Brünette mit schwarzen Feueraugen, hielt fleißig Umschau nach einem reichen Freier und entwickelte sich mehr und mehr zu einer raffinierten Kokotte. Aber reiche Freier waren auch in der zügellosen Nachkriegszeit nicht so leicht zu finden. Und so richteten sich Lenas Gedanken mehr und mehr auf das Erbe, das der Großonkel hinterlassen würde.
Kurt war das getreue Abbild seines Vaters. Er war faul, genusssüchtig, hatte trotz seiner Jugend schon einen durch Ausschweifungen zerrütteten Körper und pendelte zwischen Tanzbars und Spieltischen hin und her. Und sehr oft nahm er seine Schwester mit zu solchen Veranstaltungen, denn sie hingen wie die Kletten aneinander, nicht, weil sie sich liebten, sondern weil sie die gleichen Lebensziele hatten.
Einen Beruf übte Kurt so wenig aus, wie es sein Vater getan hatte. Wie er, suchte auch der Sohn am Spieltisch, beim Rennen oder durch nicht sehr einwandfreie Gelegenheitsgeschäfte zu Geld zu kommen. Und wenn er einmal ganz auf dem Trockenen war und nicht mehr aus und ein wusste, dann ging er zu Rochus Bernd, jammerte ihm von den schlechten Zeiten vor und bat um seine Hilfe.
Der alte Herr versagte diese Hilfe nie, obwohl ihm der Lebenswandel seiner Verwandten so gut bekannt war wie ihre Charaktereigenschaften. Aber er wollte sie nicht vollends in die Gosse kommen lassen, weil sie doch nun einmal seinen Namen trugen. Er half aber immer nur so weit, wie es unbedingt nötig war, denn er hatte keine Lust, sein in einem arbeitsreichen Leben erworbenes Vermögen sinnlos verschwenden zu lassen.
Als Rochus Bernd sein Mündel Ruth Alving ins Haus nahm, erfüllte seine Verwandten großes Missbehagen. Sie fürchteten, dass Ruth Alving ihren Einfluss geltend machen könnte, um sich zum mindesten einen Teil der Erbschaft zu erschleichen. Sie begrüßten es als ein großes Glück, dass Rochus Bernd, wie viele alte Leute, sich immer noch nicht entschließen konnte, ein Testament zu machen. Starb er, ohne ein Testament zu hinterlassen, dann musste ihnen alles zufallen. Machte er aber ein Testament, dann würde er sicher Ruth Alving hervorragend bedenken.
Und damit vermuteten sie richtig. Wenn Rochus Bernd schon einmal den Gedanken an ein Testament erwog, dann stand es bei ihm fest, dass Ruths Zukunft unbedingt sichergestellt werden sollte. Sie stand ihm näher als seine Verwandten. Und wenn er auch nicht daran dachte, sie zu übergehen, so war er doch willens, ganz anders zu testieren, als sie es erhofften. Der alte Herr hatte auch schon zuweilen mit seinem Notar, Dr. Jungmann, über seine Testamentspläne gesprochen, aber zur Ausführung waren diese Pläne noch nicht gekommen. Jedenfalls aber feindeten seine Verwandten die völlig unschuldige Ruth in gehässiger Weise an, und wenn in ihren frivolen Herzen noch Raum für ein Gebet gewesen wäre, so hätten sie sicher darum gebetet, Rochus Bernd möge recht bald, und ohne ein Testament zu hinterlassen, sterben.
Der Vater der beiden Geschwister sollte jedoch nicht in die Lage kommen, Rochus Bernd zu beerben. Er starb nach einem kurzen Krankenlager und ließ seine Kinder in nichts weniger als geordneten Verhältnissen zurück. Die Geschwister verkauften einen Teil der Möbel, bezogen zusammen eine Dreizimmerwohnung, hielten sich zur Bedienung ein Dienstmädchen und verjubelten bald den Erlös aus diesen Verkäufen. Und wenn sie nichts mehr hatten, musste der Großonkel helfen. Oft genug malten die Geschwister sich aus, wie sie leben wollten, wenn erst des Oheims Reichtum ihnen gehörte, wenn sie in der Villa Bernd wohnen und mit dem eigenen Auto fahren würden.
Sooft es der Großonkel erlaubte, besuchten sie ihn, schon um Ruth Alving zu kontrollieren, ihr das Leben schwer zu machen und sie in den Augen des alten Herrn herabzusetzen.
Auch heute hatten sie bei ihrer Ankunft Ruth in ziemlich ungezogener Art behandelt. Ruth hatte sie im Vestibül empfangen und hatte ihnen gesagt, Onkel Rochus sei noch immer nicht ganz wohl, sie möchten daher recht vorsichtig sein, um den alten Herrn nicht aufzuregen.
Während Kurt mit seinen begehrlichen Augen Ruths Jugendschöne Gestalt sah, saß Lena sie von oben herab ab.
„Wir bedürfen keiner Verhaltensmaßregeln, Fräulein Alving, die können Sie sich sparen.“
Und Kurt fuhr mit überlegenem Lächeln fort: „Ihre Fürsorge für unseren teuren Verwandten ist rührend, aber Ihre Verhaltensmaßregeln sind in der Tat überflüssig.“
Ruth, die diesen Ton von den Geschwistern gewöhnt war, blieb ruhig.
„Ich wollte Ihnen keine Vorschriften machen, sondern Ihnen nur mitteilen, dass Onkel Rochus noch nicht wieder ganz gesund ist.“
Lena hatte mit den Schultern gezuckt und Ruth von oben bis unten angesehen.
„Mein Gott, diese Anmaßung! Und das ist es doch wohl, wenn Untergebene widersprechen.“
Ruths Lippen zuckten, aber sie verlor ihre Selbstbeherrschung nicht.
„Ich bin nicht Ihre Untergebene, Fräulein Bernd, und was ich für meine Pflicht halte, werde ich tun, ob es Ihnen gefällt oder nicht.“
„Unverschämt!“, zischte Lena sie an und ging an ihr vorüber ins Zimmer.
Ihr Bruder folgte, Ruth mit einem unverschämten Lächeln musternd. Das junge Mädchen blieb, nach Fassung ringend, zurück und musste hören, wie Fräulein Bernd zu dem alten Herrn sagte: „Weißt du, Großonkelchen, dieses Fräulein Alving benimmt sich, als sei sie die Herrin dieses Hauses. Sie bekommt immer mehr Prinzessinnenallüren. Ich begreife nicht, dass du diese anmaßende und dabei langweilige Person Tag für Tag um dich leiden magst.“
Der alte Herr sah Lena bei diesen Worten mit seinen durchdringenden Augen seltsam an. „Hast du schon wieder etwas an Ruth auszusetzen? Sie ist mir eine treue, aufopfernde Pflegerin, eine nimmermüde Gesellschafterin. Ohne sie wäre mein Leben einsam und leer.“
„Aber liebes Großonkelchen, wenn du mir doch gestatten würdest, immer bei dir zu bleiben, ich würde dich noch viel aufopfernder und liebevoller pflegen.“
Mit einem sarkastischen Lächeln sah er sie an. „Du hast ja nicht einmal deinen Vater gepflegt, als er krank war. Er starb, während du dich auf einem Tanztee amüsiertest.“
„Ich konnte doch nicht vorher wissen, dass er starb.“
„Nein, aber du wusstest, dass er todkrank war und ließest ihn doch allein. Du besitzt jedenfalls nicht die aufopfernden Eigenschaften einer Krankenpflegerin, und ich würde einen sehr schlechten Tausch machen.“
Lena machte ein allerliebstes Schmollmäulchen und sah ihn kokett an. „Das käme doch auf die Probe an.“
Er wehrte ab. „Darauf will ich es nicht erst ankommen lassen.“
„Nun, ich stehe dir doch näher als Fräulein Alving.“
„Meinst du?“, fragte er mit seltsamer Betonung.
Lena konnte nur schwer ihren Ärger meistern.
„Sie darf immer bei dir sein – uns hältst du fern“, schmollte sie.
Der alte Herr sah sie scharf an. „Das hat seine Gründe, Lena.“
Nun verlor sie ihre Ruhe. „Oh, ich weiß, Fräulein Alving macht sich breit in deinem Herzen und verdrängt uns daraus. Sie berichtet dir allerlei Ungünstiges über uns, um sich bei dir einzuschmeicheln und uns in deinen Augen herabzusetzen.“
Rochus Bernd lachte hart und trocken auf. „Da kennst du Ruth Alving schlecht, die ist von anderer Art als ihr. Und von euch braucht sie mir nichts Ungünstiges zu berichten, das besorgen andere Leute zur Genüge. Also, lasst mir endlich Ruth ungeschoren! Sie ist der Sonnenschein meines einsamen Alters, und ich habe sie viel zu lieb, um zu dulden, dass ihr sie mit Feindseligkeiten verfolgt.“
Ruth hatte auch diese Worte gehört. Sie trieben ihr das Blut ins Gesicht. Und hastig wandte sie sich vom Fenster ab, um ins Zimmer zu treten. Es wurde ihr bewusst, dass Onkel Rochus nicht wusste, dass sie sich hier nebenan befand und alles hören konnte, was über sie gesprochen wurde. Deshalb trat sie schnell über die Schwelle des Zimmers.
„Ich bin hier, Onkel Rochus. Wenn du mich nicht brauchst, kann ich mich wohl zurückziehen?“
Der alte Herr richtete sich lächelnd auf. „Nein, bleib hier und komm herein! Ich wusste nicht, dass du nebenan warst. Hast du gehört, was gesprochen wurde?“
„Ja, ich konnte es leider nicht verhindern.“
Lächelnd nickte er ihr zu. „Es war wohl nicht für deine Ohren bestimmt; aber da du es gegen deinen Willen hörtest, mache es dir zunutze. Man hat hier nicht viel Gutes über dich gesagt.“
„Ich habe es gehört.“
„Hat es dich geärgert, Ruth?“
„Du sprachst ja Gutes von mir. Geärgert habe ich mich nicht.“
„Das ist gescheit, Ruth, manche Dinge muss man nicht so wichtig nehmen, dass man sich darüber ärgert. Aber nun lass den Tee servieren, kleine Hausfrau, denn nach dem Tee wollen die Herrschaften gewiss wieder aufbrechen!“
Ruth entfernte sich, und die Geschwister sahen ihr mit feindseligen Augen nach.
Rochus Bernd fing diese Blicke auf und wurde nachdenklich.
Als Ruth in Begleitung des alten Dieners Heinrich zurückkam, der den Teewagen hereinrollte, wurde der Tee eingenommen. Die Geschwister wagten keine weiteren Ausfälle gegen Ruth. Sie begnügten sich damit, sie voll Gehässigkeit anzusehen.
Als der Tee eingenommen war, verabschiedete Rochus Bernd die Geschwister ohne viel Umstände. Er bedürfe der Ruhe, sagte er.
Sie entfernten sich ohne Widerrede und verließen stumm das Haus. Sie sprachen auch kein Wort, während sie durch den großen, winterlich verschneiten Garten gingen, der die Villa Bernd umgab. Erst als sie die Straße hinabschritten, stieß Kurt Bernd zwischen den Zähnen hervor: „Ich könnte diese scheinheilige Erbschleicherin kalten Bluts umbringen.“
Seine Schwester sah ihn mit ihren schwarzen Flammenaugen spöttisch an. „Ich dachte, du hättest sie neulich mit sehr verliebten Blicken angesehen.“
Er zuckte die Schultern. „Nun ja, hübsch ist diese Person. Aber um mich in sie zu verlieben, ist sie mir zu gefährlich. Der alte Schwachkopf ist imstande, ihr den größten Teil seines Vermögens zu vererben, wenn er dazu kommt, ein Testament zu machen. Ein Glück, dass er immer wieder zögert, aus Angst, dass er abfahren muss, wenn er seinen letzten Willen niedergelegt hat. Er denkt durchaus nicht gern an den Tod und an alles, was damit zusammenhängt. So ist unsere einzige Hoffnung, dass er sich so lange vor einem Testament fürchtet, bis es zu spät ist. Sonst schnappt sie das fette Erbe, und wir werden mit einem Bettelgroschen abgespeist.“
Lenas dunkle Augen bekamen einen raubtierähnlichen Ausdruck. „Dann soll sie sich hüten; ich weiß nicht, wozu ich imstande wäre, wenn ihre Erbschleicherei Erfolg hätte.“
„Was könnte man nur tun, um sie unschädlich zu machen?“
Lena wickelte sich fröstelnd in ihren weiten schwarzen Samtmantel, der mit Skunkspelz besetzt war.
„Ich habe mir schon den Kopf zerbrochen, aber es fällt mir nichts ein. Sie sitzt zu fest in seiner Gunst, das hast du ja heute wieder gesehen. Unsere einzige Hoffnung bleibt, dass er sich fürchtet, ein Testament zu machen.“
„Anscheinend denkt er noch nicht an den Tod. Du hast ja gehört, er macht Reisepläne. Sobald er sich wieder kräftig genug fühlt, will er nach Italien, um sich vollends zu erholen.“
„Und diese Person wird ihn begleiten! Sie reist mit nach Italien – und wir bleiben zu Hause; sie fährt im Auto nach der Stadt, und wir stapfen hier durch den Schnee nach der Elektrischen; sie lebt wie eine Prinzessin in der Villa und wir müssen uns in einer Dreizimmerwohnung ducken. Wie ich sie hasse, diese hergelaufene Person!“
„Dass man so ohnmächtig zusehen muss“, knirschte Kurt zwischen den Zähnen hervor. „Sie sitzt in der Wolle, hat alles, was ihr Sinn begehrt, und wir müssen uns begnügen mit den Brosamen, die von seinem Tisch fallen.“
„Dabei spielt sie sich auf wie die Herrin des Hauses! Aber das kann ich dir sagen, Kurt, ich zahle es ihr heim, wenn wir erst mal die Erbschaft antreten. Dann kann sie etwas erleben!“
***
Ruth Alving hatte, als die Geschwister fortgegangen waren, Rochus Bernd in sein Arbeitszimmer begleitet. Er hatte ihr einige geschäftliche Briefe diktiert. Ruth kannte alle seine geschäftlichen Angelegenheiten. Sie wusste Bescheid über den Stand seines Vermögens, über seine Einkünfte, seine Ausgaben und war ihm auch sonst in allen Dingen eine verständnisvolle Helferin. Aber nie war ihr dabei der Gedanke gekommen, dass Rochus Bernd sie einmal in seinem Testament bedenken könne. Es erschien ihr zweifellos, dass die Geschwister Bernd als die einzigen Verwandten von Rochus Bernd auch seine Erben sein würden. Wenn auch der alte Herr nicht viel von ihnen hielt, so war er doch ein Mann, der Familienbande hochhielt.
Was aus ihr selbst wurde, wenn ihr Wohltäter eines Tages starb, darüber machte sich Ruth keine Sorgen. Sie traute sich zu, auf eigenen Füßen stehen zu können. Auch besaß sie für den Fall der Not ein Sparkassenbuch, auf das sie einzahlte, was sie von ihrem Taschengeld, das Onkel Rochus ihr auszahlte, übrig behielt.
Sie war ein tapferes, unverzagtes Geschöpf und ein vornehmer, uneigennütziger Charakter. An ihren Vormund band sie tiefe Dankbarkeit und große Verehrung: Er galt nach außen als ein harter, stolzer Mann, aber im Innern war er gütig und herzlich. Freilich, einmal hatte er, vor vielen Jahren, seiner Härte und seinem Stolz ein Opfer gebracht, er hatte mit dieser Härte sein eigenes Kind, seine einzige Tochter, gequält und hatte noch geglaubt, im Recht zu sein. Aber der tiefe Schmerz über den Verlust dieser geliebten Tochter hatte alle Härte in ihm ausgelöscht.
Zuweilen sprach er mit Ruth von seiner Tochter Maria, deren Bild über seinem Schreibtisch hing. Er hatte ihr erzählt, was geschehen war, ehe er sie verlor. Sie hatte ihm den Schmerz angetan, sich in einen Mann zu verlieben, den er nicht als Schwiegersohn anerkennen wollte, weil er ein Angestellter in seinem Geschäftsbetrieb war. Er war als Korrespondent bei der Firma Bernd tätig gewesen, war ein tüchtiger, fleißiger Mensch und aus guter Familie. Aber Rochus Bernd, der für seine schöne Tochter die Sterne vom Himmel hätte herabholen mögen, fand es unerhört, dass dieser Mann es gewagt hatte, seine Augen zu der Tochter seines Chefs zu erheben.
Als seine Tochter behauptete, sie heirate nur diesen Mann oder keinen, war er in Zorn geraten. Er wollte ihr diese unvernünftige Liebelei gründlich austreiben und schickte sie kurzerhand auf ein Jahr nach England zu einer Cousine ihrer verstorbenen Mutter, die in dem Dorf Longvillage ein reizendes Häuschen bewohnte.
Den Korrespondenten hatte er noch vorher entlassen und so die Beziehungen zwischen den beiden Liebenden unterbrochen.
Schwer genug war es ihn angekommen, sich auf ein Jahr von seiner Tochter zu trennen, aber er hatte seinem Stolz dieses Opfer gebracht; die einzige Tochter von Rochus Bernd sollte nicht mit einem simplen Angestellten ihres Vaters Hochzeit machen.
Als das Jahr der Trennung vorüber war, ließ er seine Tochter wieder heimkehren. Sie war auch gekommen, und er hatte seine Augen ergötzt an ihrer reifer gewordenen Schönheit, und zugleich hatte ihm das Herz weh getan, weil sie blasser und zarter als sonst aussah, fast, als sei sie krank gewesen. Einige Zeit lebten sie nebeneinander dahin, einer den anderen schonend und jede kritische Frage vermeidend. Maria war dem Vater gegenüber sehr lieb und zärtlich, und er überhäufte sie mit liebevollen Aufmerksamkeiten. Und eines Tages nahm er sie bei den Schultern und fragte lächelnd: „Nun, Maria, hast du nun die Torheit überwunden, um derentwillen ich dich von mir gehen ließ?“
Da war ein Zittern über sie dahingeflogen und eine dunkle Glut in ihr Gesicht gestiegen. Und mit einem tiefen Atemzug hatte sie erwidert: „Nein, Vater, ich liebe Claus Herfurt heute noch wie einst und werde nie eines anderen Mannes Frau werden.“
Da hatte ihn der Stolz noch einmal gepackt, und in zorniger Empörung hatte er sie eine sentimentale Närrin gescholten, die ihrem Vater mit ihrem Eigensinn nur Kummer mache. Sie war sehr bleich geworden und hätte, die Hände flehend zu ihm erhebend, etwas sagen wollen, aber er war aus dem Zimmer gestürzt und hatte ihr zugerufen: „Nie wirst du zu einer solchen Verbindung meine Einwilligung bekommen. Herfurt hat dich längst vergessen, komme endlich zur Vernunft!“
Und so war er im Zorn von ihr geschieden.
Seine Tochter hatte, während er in Geschäften abwesend war, mit einem neuen Chauffeur, den er erst vor einigen Tagen engagiert hatte, eine Autofahrt unternommen.
Und von dieser Fahrt war Maria Bernd nicht lebend zurückgekehrt. Das Auto hatte sich überschlagen und seine Tochter und den Chauffeur unter sich begraben. Beide waren tot.
Rochus Bernd brach verzweifelt an der Bahre seines Kindes zusammen und konnte es nicht verwinden, sich im Zorn von ihr getrennt zu haben. Jetzt hätte er mit Freuden eingewilligt, dass sie Claus Herfurts Gattin würde, wenn er sie damit ins Leben hätte zurückrufen können.
Völlig gebrochen sandte er an Marias Tante nach Longvillage ein Telegramm, das ihr den Tod seiner Tochter meldete. Aber am Tag danach traf von Longvillage ein Telegramm ein, dass Miss Jenny Brown, Marias Tante, an einer Lungenentzündung gestorben sei.
Die Nachricht vom Heimgang der alten Dame ging ziemlich eindruckslos an Rochus Bernd vorüber. Er war in jener Zeit unempfänglich für alles. Fast menschenscheu verbiss er sich in seinen Gram, und nur langsam fand er sich wieder im Leben zurecht. Seither lebte er nur seiner Arbeit, seinen Geschäften – und der Erinnerung an seine Tochter. Erst nach vielen Jahren vermochte er dem Leben wieder einiges Interesse abzugewinnen.
Und nun, seit Ruth Alving in seinem Haus lebte, war ihm zuweilen, als sei Maria in veränderter Gestalt wieder zu ihm zurückgekehrt. Wenn sie sich so fürsorglich und liebevoll um ihn bemühte, konnte er sich einbilden, seine Tochter sei ihm wiedergeschenkt worden. Zweiunddreißig Jahre waren seit dem Tod seiner Tochter vergangen, und niemand als Ruth gegenüber hatte er ihre Erwähnung getan.
Ruth hatte ihn eines Tages gefragt: „Und jener Claus Herfurt – kam er nicht, um deiner Tochter das letzte Geleit zu geben? Hast du nie mehr etwas von ihm gehört?“
Rochus Bernd hatte finster den Kopf geschüttelt. „Er scheint sie schnell genug vergessen zu haben. Ich habe nie mehr etwas von ihm gehört.“
Ruth hatte lang in Maria Bernds schönes Gesicht gesehen. Ihr Bild über dem Schreibtisch war so lebendig, so sprechend. Konnte der Mann, der dieses entzückende Geschöpf geliebt hatte, jemals diesen süßen Reiz vergessen?
Auch heute, nach Beendigung der Geschäftsbriefe, sah Ruth sinnend zu dem schönen Frauenbild empor. Große graue Augen, von schwarzen Wimpern eingesäumt, schauten aus diesem Bild lächelnd und voll Güte heraus.
Sie hat dieselben Augen wie ihr Vater, aber sonst gleicht sie ihm nicht, dachte sie. Und dann fragte sie, sich aufrichtend: „Hast du noch etwas für mich zu tun, Onkel Rochus?“
„Nein, Ruth, für heute ist das Geschäftliche erledigt. Aber wir wollen noch ein wenig plaudern.“
„Wie du willst, Onkel Rochus.“
Er nickte ihr zu. „Immer wie ich will. Du hast wohl nie einen eigenen Willen?“
Lächelnd blickte sie ihn an. „Doch, Onkel Rochus, ich glaube, ich habe sogar einen recht kräftigen Willen. Aber der schaltet aus, wo du in Frage kommst. Da gilt nur dein Wille.“
„Und warum?“
„Weil du für mich die höchste Instanz bist. Ich bin dir so viel Dank schuldig, dass ich jede Gelegenheit ergreife, dir meine Dankbarkeit zu beweisen. Viele solche Gelegenheiten habe ich nicht.“
„Mehr als genug. Und Dank bist du mir nicht schuldig. Vergiss nicht, dass ich es war, der dir deine Eltern nahm. Nie kann ich das ganz gutmachen.“
Mit ernsten Augen sah sie ihn an. „Meine Eltern nahm mir Gott, nicht du, Onkel Rochus. Du sollst das nicht immer wieder sagen.“
„Nun ja, mein Kind, ich war nur sein Werkzeug. Aber du sollst nicht von Dank sprechen; wenn wir genau abwägen, wer mehr Grund zur Dankbarkeit hat, dann bin ich es bestimmt. Aber wir wollen nicht streiten und von etwas anderem sprechen, was mir heute besonders auf der Seele lastet. Vorhin, als Kurt und Lena Bernd hier waren, ist mir ein Gedanke gekommen, der mich sehr beunruhigt hat. Die beiden sind nach dem Gesetz meine Erben, falls ich keine testamentarischen Bestimmungen hinterlasse. Da ist es mir schwer auf die Seele gefallen, was aus dir werden soll, wenn diese beiden Menschen hier in meinem Haus nach Willkür schalten und walten können. Ich fing da einige Blicke auf, die dir galten und dir nichts Gutes prophezeiten. Deshalb habe ich mich entschlossen, endlich mein Testament zu machen, und zwar noch vor der Reise nach Italien. Ich will in den nächsten Tagen den Notar herausbitten. Das wollte ich dir sagen.“
Ruth drückte ihre Lippen auf seine Hand. „Ich bitte dich, sorge dich nicht um mich und bitte, kürze meinetwegen nicht das Erbe deiner Verwandten! Ich weiß ohnedies, dass sie in mir eine Erbschleicherin sehen.“
Sanft streichelte er ihre Hand. „Das darf dich nicht bedrücken, Ruth, ich kenne dich besser. Diese beiden Menschen sind nicht fähig, einen Charakter wie den deinen zu verstehen. Sie sind sehr unglücklich veranlagt und hatten keine richtige Erziehung – ich kann deshalb nicht einmal so streng mit ihnen ins Gericht gehen. Aber sie werden auch, wenn ich dich bedenke, noch genug haben, und ich werde, zu ihrem Heil, ihr Erbteil so anlegen, dass sie nur über die jeweiligen Zinsen verfügen können. Sonst sind sie sehr bald damit fertig und stehen doch wieder vor dem Nichts. Aber nun ein erfreulicheres Thema.“
Und sie plauderten von anderen Dingen.
***
Die Villa Bernd lag etwas abseits in einem Vorort der Stadt. Nach allen Seiten sah man im Sommer von den Fenstern der Villa aus ins Grüne. Ruth machte täglich Spaziergänge ins Freie. Vor seiner Krankheit hatte Onkel Rochus sie begleitet. Jetzt durfte er nur an sonnigen Tagen um die Mittagszeit hinaus.
Deshalb richtete Ruth ihre Spaziergänge immer für die Zeit ein, da der alte Herr ihrer nicht bedurfte.
Am nächsten Vormittag, während Rochus Bernd nach ärztlicher Vorschrift badete, wobei er von seinem alten Diener Heinrich bedient wurde, unternahm Ruth, wie fast täglich um diese Zeit, ihren Spaziergang. Schnell und elastisch schritt sie vom Haus her auf das schmiedeeiserne Gartentor zu. Etwas befremdet sah sie einen hoch gewachsenen jungen Herrn langsam am Gartengitter entlangschreiten, den sie schon, vor einer halben Stunde etwa, vom Fenster aus bemerkt hatte. Es war ihr aufgefallen, dass er sehr interessiert durch das Gitter nach dem Haus gesehen und sich das blanke Messingschild, das den Namen Bernd trug, betrachtet hatte.
Nun ging er noch immer da draußen auf und ab.
Der junge Herr war gediegen, aber ohne auffallende Eleganz gekleidet. Er machte einen vornehmen Eindruck, sah aber ein wenig wie ein Ausländer aus. Vielleicht ein Engländer oder ein Amerikaner, dachte Ruth.
Unwillkürlich sah sie sich den Fremden etwas genauer an, als es sonst ihre Art war.
Und als sie ihm näher kam und sein Gesicht erkennen konnte, stutzte sie. Irgendetwas in diesem großzügigen, interessanten Gesicht fiel ihr auf – eine unbestimmte Ähnlichkeit, die sie an jemand erinnerte. Sie wusste nur nicht, an wen.
Sinnend blickte sie ihm entgegen, und nun hatte sie auch der Fremde erblickt. Er wandte sich hastig um, als sei es ihm unangenehm, dass man ihn bemerkt hatte. Langsam schlenderte er weiter.
Als Ruth aus der kleinen Nebenpforte heraustrat und ihren Weg fortsetzte, musste sie an ihm vorübergehen. Wie einem inneren Zwang gehorchend, sah sie in sein edel geschnittenes Gesicht, und wieder fragte sie sich, an wen er sie erinnerte.
Seine Augen hefteten sich jetzt auch groß und forschend in die ihren, und unter dem Blick dieser tief liegenden grauen Männeraugen, die hell aus einem gebräunten Gesicht herausleuchteten, stieg plötzlich eine dunkle Röte in ihr Gesicht. Und ihr Herz begann schneller zu pochen.
Einen Moment schien es, als wolle er vor ihr stehen bleiben und etwas fragen. Unschlüssig stockte jedenfalls dicht neben ihr sein Fuß, aber dann ging er doch zögernd weiter.
Während ihres Spaziergangs musste sie immerfort an den Fremden denken. An wen erinnerte er sie nur? So sehr sie auch darüber nachsann, wollte es ihr nicht einfallen.
Als sie wieder zu Hause anlangte, sagte ihr der alte Heinrich, dass Herr Bernd Besuch habe. Ein Geschäftsfreund, der oft ein Stündchen mit ihm plauderte, war gekommen. Ruth wusste, dass Onkel Rochus jetzt gut versorgt war, und legte Hut und Jacke ab. Als sie die Treppe hinauf nach ihrem Zimmer gehen wollte, kam ihr eine Dienerin entgegen und lieferte ihr einige Schlüssel ab.
„Wir haben die Speicherkammern sauber gemacht, – Fräulein Ruth, hier sind die Schlüssel. Aber es wäre wohl gut, Sie gingen selbst hinauf und sähen nach den Sachen, die oben hängen. Es sind da einige abgelegte Anzüge und Mäntel vom gnädigen Herrn, die offen dahängen. Da flogen Motten heraus, und es sind verschiedene Mottenschäden daran zu sehen. Und mir schien, als wäre auch eine Motte aus einem der großen Koffer gekommen, die da oben stehen und mit Kleidern gefüllt sind. Sie müssten auch mal nachgesehen werden.“
Ruth nickte freundlich. „Das werde ich gleich tun, Berta, ich habe gerade Zeit. Heinrich, wenn Herr Bernd nach mir verlangt, rufen Sie mich, ich gehe auf den Speicher.“
„Es ist gut, Fräulein Ruth.“
Sie holte aus ihrem Zimmer das Körbchen mit den Schlüsseln und stieg hinauf ins Dachgeschoss. Sie war schon oft hier oben gewesen und wusste, dass die beiden großen Koffer, von denen Berta gesprochen hatte, die Kleider Maria Bernds enthielten. Die beiden Koffer hatte sie mit in England gehabt.
Als sie die Speicherkammer betrat, sah sie sich erst mit kritischen Augen die abgelegten Anzüge und Mäntel an. Es waren wirklich Mottenschäden vorhanden. Es ist schade, wenn die Sachen verderben. Ich werde Onkel Rochus bitten, dass ich sie verschenken darf. Das ist etwas für Max Reichert, den Laufburschen von unserem Kolonialwaren. Seine arme Mutter weiß ohnedies nicht, wie sie für ihre drei Jungen Sachen beschaffen soll. Da bekommt jeder einen Anzug und auch einen warmen Mantel, dachte sie. Und dann suchte sie im Schlüsselkorb nach den Kofferschlüsseln. Sie öffnete damit die beiden großen Koffer und schlug die Deckel zurück.
Sie waren angefüllt mit Wäsche und Kleidern, die nach einer längst vergessenen Mode gearbeitet waren. Ruth nahm eines der Kleider nach dem anderen heraus, schüttelte sie aus und legte sie beiseite. Auch das weiße Kleid war dabei, das Maria Bernd getragen hatte, als sie dem Maler zu dem Bild gesessen hatte, das unten über dem Schreibtisch ihres Vaters hing.
Seine Trägerin war längst zu Staub und Asche geworden. Werke von Menschenhand überdauern so oft die Menschen selber. Und unter all diesen Kleidern hatte einst ein warmes, tief empfindendes Herz geschlagen, ein Herz, das heiß und treu geliebt hatte.
Ob jener Mann, dem diese Liebe und Treue gegolten hatte, ihrer wert gewesen war? Warum hatte er nie wieder etwas von sich hören lassen, seit ihn Rochus Bernd entließ? Hatte er nichts von dem tragischen Ende Maria Bernds gehört, oder hatte er sich nur ihrem Vater nicht wieder nähern wollen, nachdem die Geliebte gestorben war? Maria Bernd musste ein schönes, liebenswertes Mädchen gewesen sein. Konnte ein Mann so schnell vergessen, was er einmal geliebt hatte – oder hatte er Maria nicht so geliebt, wie sie es verdiente?
Verträumt hielt Ruth in ihrer Beschäftigung inne und schaute durch das Fenster der Speicherkammer hinaus auf die verschneiten Bäume. Und sie musste wieder an ihre Begegnung mit dem Fremden denken. Selbst der Gedanke an ihn verursachte ihr Herzklopfen – sie wusste, dass sie ihn nie wieder vergessen würde.
Ärgerlich über sich selber richtete sie sich empor und strich das blonde Haar aus der Stirn zurück. Hastig setzte sie ihre Arbeit fort, als wollte sie ihre Gedanken verscheuchen. Sie war bis auf den Grund des Koffers gekommen und packte nun die Sachen sorglich wieder ein.
Als sie ein feines, weiches Wollkleid zusammenlegte, freute sie sich über den prachtvollen, weichen Stoff und strich mit der Hand noch einmal wie liebkosend darüber hin. Und da fühlte sie plötzlich, dass es unter dem Stoff knisterte, als sei ein Papier darunter verborgen. Sie untersuchte es und fand in dem Rock des Kleides eine Tasche, und in dieser Tasche steckte, wie schnell hineingeschoben, ein zusammengefalteter Brief.
Ruth zog ihn heraus und sah darauf nieder. Vielleicht hatte dieser Brief, den man beim Einpacken übersehen hatte, Interesse für ihren Vormund.
An das Speicherfenster tretend, entfaltete sie das Schreiben und sah, dass es Schriftzüge von einer festen, charakteristischen Männerhand zeigte. Unwillkürlich las sie diesen Brief, der sie mehr und mehr fesselte. Er lautete:
Mein innig geliebtes Weib!
Wüsstest du, wie unruhig ich bin, weil ich dich allein heimkehren lassen musste zu deinem Vater. Viel lieber wäre ich mit dir zusammen vor seine Augen getreten, um ihm zu sagen: Wir zwei haben uns deinem strengen Gebot nicht fügen können, unsere Liebe war stärker als dein Wille, der uns auseinander reißen wollte. Wir haben uns in England wieder zusammengefunden und sind längst Mann und Frau. Und wir haben ein Kind, einen prächtigen Jungen, und sind unsagbar glücklich. Nur eines fehlt meiner angebeteten Maria zu ihrem Glück – der Segen ihres Vaters. Enthalten Sie uns diesen Segen nicht vor. Sie werden nicht das Herz haben, uns jetzt noch auseinander zu reißen.
So hätte ich zu deinem Vater gesprochen Maria. Aber du wolltest es nicht. Du wolltest selbst deinem Vater dieses Geständnis machen, wolltest ihn zart und schonend darauf vorbereiten, dass wir uns in Longvillage heimlich trauen ließen. Ach, Liebste, wie danke ich dir immer wieder von neuem, dass du mir diesen Beweis deiner Liebe gabst, dass du mich so unsagbar glücklich machtest und dass du mir vor deiner Abreise sagtest: „Wäre auch nun plötzlich alle Sonne aus meinem Leben, es wäre doch ein reiches, glückseliges Leben gewesen, da ich dieses eine wunderselige Jahr mit dir verleben und mein geliebtes Kind sehen durfte.“
Auch Tante Jenny bin ich in tiefstem Herzen dankbar, dass sie uns auf deine Bitte half, unser Glück zu begründen. Ich sehe dich noch im Geist in der winzig kleinen Dorfkirche vor dem Altar, schön und lieblich wie ein Engel des Lichts. Der alte Priester fügte unsere Hände ineinander, nachdem wir vor dem anwesenden Gemeindevorstand unsere Unterschrift abgegeben hatten. Wie schlicht und einfach war die Hochzeit der einzigen Tochter des reichen Rochus Bernd, des gewaltigen Fabrikherrn. Die Tatsache, dass sie des simplen Claus Herfurts Gattin geworden war, steht nun in dem vergilbten Kirchenbuch, in dem die Eheschließungen der einfachen Dorfbewohner auch eingetragen wurden. Du wurdest mein Weib – und alle Engel jauchzten. Große Förmlichkeiten gab es nicht. Ein schlichtes Stück Papier – unser Trauschein – zeugt von dem großen Ereignis. Und du bist mein – mein. Und mein und dein ist der goldene Bub, der mich mit den Augen seiner Mutter anstrahlt. Unser Gert! Mein liebes Weib, wie reich hast du mich gemacht! Und nun sitze ich hier und warte voll Unruhe auf Nachricht von dir.
Manchmal kommt eine jähe Angst über mich. dein Vater könnte dich gewaltsam zurückhalten. Ich muss dann hinaus ins Freie stürmen oder unseren kleinen Gert fest an mich drücken. Nein, wie kann ich solche unsinnigen Gedanken fassen! Du kommst wieder, Maria, kommst zu deinem Kind zurück, nichts und niemand kann dich uns fernhalten. Und dein Vater hat keine Macht über dich. Du bist ja mündig, als du mein Weib wurdest. So tröste ich mich, wenn mich diese Angst überfällt, dass ich dich nicht wieder an meinem Herzen halten dürfe. Und ich zähle die Stunden bis zu deiner Wiederkehr oder bis du mich rufst. Unser Bub schläft süß und sanft neben mir, seine Amme ist eben wieder heim zu Mann und Kindern. Sie hat ihn sorglich gebettet, und Nelly Flead, Tante Jennys Dienerin, schaut immer wieder mit ganz verliebten Augen nach ihm. Tante Jenny selbst kann sich heute nicht um ihn kümmern, sie fühlt sich krank und muss das Bett hüten. Wir werden den Arzt holen lassen müssen. Hoffentlich ist ihr Zustand nicht Besorgnis erregend.
Sonst weiß ich dir von hier nichts zu melden, als dass dein Claus vor Sehnsucht nach dir ganz unleidlich ist. Wäre ich doch bei dir! Sei nicht traurig, wenn dein Vater dir zürnt und nicht verzeihen will – dann kommst du in meine Arme. Ich verdiene ja gottlob mit meinen Übersetzungen genug, um allein für Weib und Kind sorgen zu können, denn mein Verlag will mich durch einen langjährigen Vertrag binden. Und du und ich werden auch in bescheidenen Verhältnissen unsagbar glücklich sein. Sag deinem Vater, dass du nichts als seinen Segen willst. Ich küsse dich heiß und innig, meine Maria.
Dein Claus
Ruth hatte diesen Brief in tiefster Bewegung gelesen. Obwohl sie merkte, dass er nicht für fremde Augen bestimmt war, vermochte sie ihren Blick nicht davon loszureißen. Als sie zu Ende war, ließ sie den Brief mit einem tiefen Atemzug sinken und fiel kraftlos in einen alten Sessel.
Was sollte sie mit diesem Brief tun? Sollte sie ihn in die Tasche des Kleides zurückstecken und darüber schweigen? Oder sollte sie ihn hinuntertragen zu Onkel Rochus, der ganz sicher keine Ahnung hatte von dem Geheimnis, das dieser Brief barg?
Ruth war sonst nicht leicht aus der Fassung gebracht. Sie hatte frühzeitig gelernt, sich zu beherrschen und mit ihren Gefühlen fertig zu werden. Aber jetzt zitterte sie vor Aufregung, wenn sie an Onkel Rochus dachte, wenn sie sich ausmalte, was er beim Lesen dieses Briefes empfinden musste.
Durfte sie ihm diesen Brief ausliefern? Es würde vielleicht seinen Zustand verschlimmern, wenn sie es tat.
Aber – durfte sie es wagen, ihm diesen Fund zu verheimlichen?
Nein, nein, es war wohl Gottes Fügung, dass er sie diesen Brief finden ließ. Nach mehr als dreißig Jahren – sollte er erfahren, dass Maria einen Sohn hinterlassen hatte – seinen Enkel. Während er solange liebeleer durchs Leben ging, hatte irgendwo in der Welt ein Enkel gelebt, lebte vielleicht noch. Und wenn, so musste er inzwischen zum Mann herangereift sein. Warum hatte er aber niemals seinen Großvater aufgesucht? Hatte ihn sein Vater davon zurückgehalten?
Ruth grübelte über diese Fragen nach, bis sie sich erinnerte, dass unten Pflichten auf sie warteten. Sie richtete sich auf, las den Brief noch einmal durch und steckte ihn zu sich.
Schnell packte sie nun die Koffer wieder ein und verschloss sie. Dann verließ sie den Speicher.
Sie kam gerade unten im Vestibül an, als sich der Besuch ihres Vormunds entfernen wollte.
Der alte Herr, Kommerzienrat Seidel, begrüßte sie lächelnd und sagte anerkennend: „Sie haben meinen alten Freund Bernd wieder hübsch gesund gepflegt, Fräulein Ruth, er hat sich famos erholt. Ich melde mich auch bei Ihnen zur Pflege, wenn es mich mal packen sollte.“
Ruth lächelte ein wenig geistesabwesend. „Das tun Sie nur, Herr Kommerzienrat. Aber ich rate Ihnen, lieber erst gar nicht krank zu werden. Nicht wahr, Sie finden Onkel Rochus gut erholt?“
„Sehr gut. Er freut sich auf die Reise mit Ihnen und macht Pläne wie ein Junger. Wenn Sie von Italien zurückkommen, wird er wieder ganz der alte sein.“
„Das mag Gott geben, Herr Kommerzienrat.“
„Also – auf Wiedersehen, Fräulein Ruth. Ihr Vormund wartet auf Sie, ich will Sie nicht länger aufhalten.“
„Auf Wiedersehen, Herr Kommerzienrat.“
Als Ruth in Rochus Bernds Arbeitszimmer trat, nickte er ihr lächelnd zu. „Ich habe mich mit meinem alten Freund Seidel verplaudert, wir haben ein wenig von der guten alten Zeit geschwärmt, wo man für einen Taler ein ganzes Schlemmersouper haben konnte. Solche Zeiten kommen nicht wieder, Kind.“
„Das glaube ich auch nicht, Onkel Rochus.“
„Aber nun musst du mir vor Tisch noch einen Brief schreiben, und dann führst du mich ein Viertelstündchen draußen im Garten herum.“
„Gern, Onkel Rochus. Also, bitte – was soll ich schreiben?“
Sie hatte an der Schreibmaschine Platz genommen, und er erwiderte: „Schreib an meinen Notar, Dr. Jungmann, er möge in den nächsten Tagen, sobald er Zeit hat, zu mir herauskommen, damit ich über mein Testament mit ihm beraten könne. Es müsse unter allen Umständen noch vor meiner Abreise fertig sein.“
Ruth begann zu schreiben, und da fiel ihr plötzlich ein, dass Onkel Rochus vielleicht ganz anders testieren würde, wenn er erfuhr, dass er wahrscheinlich einen direkten Erben hatte, den Sohn seiner Tochter. Ob sie es ihm jetzt gleich sagen sollte? Aber vielleicht war es besser, sie wartete damit, bis er nach Tisch sein Mittagsschläfchen gemacht hatte. Dann war er ausgeruht und konnte die Aufregung besser verkraften.
Als sie den Brief beendet und postfertig gemacht hatte, begleitete sie den alten Herrn ins Freie. Langsam gingen sie auf dem hart gefrorenen Schnee im Sonnenschein auf und ab. Plötzlich zuckte Ruth zusammen. Drüben am Gartenzaun kam wieder der junge Mann vorüber. Als er Ruth neben dem alten Herrn erblickte, blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen und sah mit großen Augen herüber.
Auch Rochus Bernd erblickte jetzt den Fremden. Seine scharfen, durchdringenden Augen ruhten forschend auf der kraftvollen Erscheinung des jungen Mannes. Und dann sagte er lächelnd: „Sieh nur, Ruth, du scheinst da eine Eroberung gemacht zu haben, denn nach mir dürfte der junge Herr da draußen nicht so intensiv herüberschauen.“
Ruth war jäh errötet, in ihrer Verwirrung wusste sie nicht, was sie sagen sollte.
Der alte Herr lachte.
„Nun, nun, darum brauchst du nicht so rot zu werden. Ich verdenke es dem jungen Herrn nicht, dass er dich gern anschaut. Er ist es übrigens auch wert, dass ihn ein hübsches Mädel ansieht, denn er ist ein stattlicher Bursche. Schade, jetzt geht er weiter.“
Der Fremde war wohl zur Einsicht gekommen, dass sein Anstarren den beiden Menschen lästig sein konnte. Mit einem tiefen Atemzug wandte er sich ab und ging erst zögernd, dann schnell davon.
***
Als Rochus Bernd nach seinem Mittagsschlaf herunterkam, erwartete ihn Ruth schon in seinem Arbeitszimmer.
„Hast du gut geschlafen, Onkel?“, fragte sie herzlich.
„Vorzüglich, Ruth. Ich würde mich wieder ganz wie früher fühlen, wenn ich nicht zuweilen die beklemmenden Herzbeschwerden hätte. Aber das hat wohl kaum noch etwas mit meiner überstandenen Krankheit zu tun, sondern ist sicher eine Alterserscheinung. Ich bin nur so gar nicht gewöhnt, dass an meinem Organismus etwas nicht in Ordnung ist.“
„Auch das wird sich wieder verlieren, Onkel Rochus.“
„Ich will es hoffen.“
Damit ging er auf einen Schrank zu. Sie sah ihm lächelnd nach.
„Wenn man dich so kräftig und aufrecht gehen sieht, merkt man von deinem Alter nichts. Wie ein Junger schreitest du noch aus.“
Lächelnd, wie zur Probe, ging er im Zimmer auf und ab, sich Mühe gebend, recht elastisch auszuschreiten. Ruth sah ihm nach – und plötzlich zuckte sie zusammen. Wie eine Erinnerung flog es über ihr Antlitz. Mit einem Mal wurde ihr klar, an wen sie der junge Fremde erinnert hatte – an Onkel Rochus.
Ja, er hatte denselben Gang, dieselbe stolze Haltung. Genauso trug er den Kopf auf den breiten Schultern.
Wie ein Blitz zuckte diese Erkenntnis durch ihre Seele, und dann dachte sie an den Brief, den sie gefunden hatte, dachte daran, dass Onkel Rochus einen Enkel hatte und dass dieser Enkel, wenn er lebte, am Beginn der Dreißig stehen musste. Und der Fremde war in diesem Alter, er hatte mit einem seltsamen, brennenden Interesse nach der Villa Bernd – nach Rochus Bernd gesehen.
Ruth sah in zitternder Erregung vor sich hin. Konnte es möglich sein, dass der Fremde der Enkel ihres Vormunds war?
„Du scheinst ein wenig zerstreut zu sein, liebe Ruth“, hörte sie jetzt Onkel Rochus sagen.
Sie zuckte zusammen und sah erschrocken zu ihm auf. „Wie meinst du das, Onkel Rochus?“
Er drohte lächelnd mit dem Finger. „Deine Eroberung von heute Mittag hat dich entschieden zerstreut, Ruth. Ich habe dich schon zweimal gefragt, ob du spazieren warst, und du gabst mir keine Antwort.“
Sie strich sich das Haar aus der Stirn. „Ach, Onkel Rochus, die Eroberung hast du gemacht, nicht ich. Aber ich war wirklich etwas zerstreut, verzeih mir. Mich beschäftigt etwas – und … und ich möchte es mit dir besprechen.“
„Nun? Was hast du auf dem Herzen?“
„Bitte, setz dich erst hier in deinen bequemen Lehnstuhl, es dauert vielleicht ein wenig lange!“
Der alte Herr nahm lächelnd Platz und ließ sich willig ein Kissen in den Rücken legen. „So, Ruth, nun sitze ich bequem. Deine Vorbereitungen machen mich gespannt.“
Ruth nahm ihm gegenüber Platz und atmete tief auf. „Onkel Rochus, ich war heute vor Tisch, als du Besuch hattest, auf dem Speicher. Da hängen einige alte Anzüge und Mäntel von dir, an die sich die Motten gewagt haben. Es wäre schade, wenn die Sachen verderben. Man könnte jemanden noch sehr glücklich damit machen. Ich habe an den Laufburschen Max Reichert gedacht. Er ist ein so braver, fleißiger Junge, und seine Mutter ist Witwe und hat noch zwei schulpflichtige Knaben zu ernähren. Darf ich ihm die Sachen schenken?“
Er nickte. „Kleine Samariterin, also das hat dich so zerstreut? Also, meinetwegen, beglücke den braven Max mit den Sachen!“
„Das wird ihn sehr freuen, Onkel Rochus. Da oben auf dem Speicher sind überhaupt noch allerlei Schätze aufgestapelt. Zum Beispiel stehen da auch noch die beiden Koffer mit Kleidern, die deine Tochter mit in England hatte.“
Seine Augen blickten hinüber zu dem Bild seiner Tochter. „Richtig, Marias Koffer! Ich habe sie da hinaufstellen lassen, weil ich die Erinnerung damals nicht ertrug. Die Zeit hat auch hier heilend eingegriffen. Trotzdem – auch wenn du meinst, dass man diese Kleider jetzt nutzbar verwenden sollte, muss ich dir sagen, verwenden ich es nicht übers Herz bringe, sie an fremde Menschen fortzugeben. Mögen sie liegen – bis ich nicht mehr bin.“
Sie ergriff seine Hand. „Ich meinte das auch nicht, Onkel Rochus, ich – ich wollte nur einmal mit dir sprechen, über deine Tochter. Weißt du, wenn ich so ihr Bild ansehe, dort über deinem Schreibtisch, so meine ich, es war sehr grausam vom Schicksal, dass so viel Schönheit, Güte und Liebreiz vergehen musste. Nicht wahr, du hast sie namenlos geliebt?“
Er nickte mit trüben Augen. „Nach dem frühen Tod meiner lieben Frau war Maria mein alles – und ich habe sie geliebt, wie ein Vater nur sein Kind lieben konnte.“
„Und doch versagtest du ihr den heißesten Herzenswunsch.“
Er seufzte auf. „Dass ich’s getan habe! Wie kleinlich erscheint mir heute meine Weigerung, die mir damals mein eitler Vaterstolz abnötigte.
„Nicht wahr, du hättest ihr eines Tages doch deine Einwilligung gegeben, hättest du gemerkt, dass sie um keinen Preis von dem Mann ihrer Liebe lassen wollte?“
Rochus Bernd starrte vor sich hin. „Mein liebes Kind, ein Unglück, wie es mich betraf, macht mürbe. Ich weiß heute nicht, wie lange ich mich noch gegen diese Verbindung gesträubt hätte. Nur das weiß ich – glücklich wollte ich meine Tochter sehen, nur sah ich ihr Glück nicht in einer Verbindung mit jenem Mann, er schien mir nicht gut genug für meine Tochter. Ob ich ihm damit unrecht tat, weiß ich nicht, weiß nur, dass ich mein Leben und alles, was ich besitze, willig drangegeben hätte, wenn ich mein letztes Zorneswort an sie hätte widerrufen können. So erbärmlich erschien mir mein Widerstand gegen diese Verbindung, als ich mein Kind tot vor mir liegen sah!“
„Nicht wahr, du hättest ihr alles vergeben, wenn du sie hättest wieder ins Leben zurückrufen können?“
Wehmütig lächelte er. „Es hätte nichts gegeben, was ich ihr nicht verziehen hätte.“
Jetzt erhob sich Ruth und trat zu ihm heran.
„Onkel Rochus“, sagte sie bleich vor Erregung und mit bebender Stimme, „ich habe dich aus einer ganz besonderen Veranlassung auf dieses Thema gebracht. Es sollte dich langsam vorbereiten auf eine Kunde, die dich vielleicht ein wenig erregen wird.“
Überrascht sah er zu ihr auf. „Was meinst du?“
Sie presste seine kalten Greisenhände in ihre jungen, warmen. „Nicht wahr, du wirst dich nicht zu sehr aufregen, wenn ich dir sage, dass ich in der Tasche eines Kleides, das deiner Tochter gehörte, einen Brief fand, der etwas sehr Seltsames enthält?“
Er richtete sich auf und sah sie durchdringend an. „Einen Brief fandest du? Einen Brief von meiner Tochter?“
„Nein, ein Schreiben, das an sie gerichtet war – ein Schreiben von Claus Herfurt.“
Ein tiefer Atemzug hob seine Brust. „Ein Liebesbrief also von ihm an meine Tochter? Wohl aus der Zeit, ehe ich ihn entließ?“
„Nein, er ist nach dieser Zeit geschrieben – erst nach ihrer Rückkehr aus England.“
Es zuckte in seinem Gesicht. „Wirklich? Er hatte sie also nicht vergessen – nicht aufgegeben? Sieh, Ruth, das freut mich. Ich habe mir oft Vorwürfe gemacht in all den Jahren, dass ich zerstörend in das Liebesglück meiner Tochter eingriff. Ich sagte mir, sie hat hingehen müssen mit dem Bewusstsein, dass der Mann, den sie liebte, sie nicht einmal eines Kampfes wert gefunden hat. Ohne sich zu wehren, ließ er sich fortschicken und ließ nichts mehr von sich hören. Nun sagst du mir, dass sie noch brieflich in Verbindung miteinander standen. Sie wusste also, dass er sie nicht vergessen hatte, und das befähigte sie, mir zu sagen, dass sie nie einem anderen als ihm angehören würde. Ihr Liebesglück blieb ihr also wenigstens treu bis zum Tod. Dafür soll er gesegnet sein.“
Ruth nahm seine Hand und presste ihre Lippen darauf. „Lieber, lieber Onkel Rochus, nun habe ich den Mut, dir diesen Brief zu geben.“
Er lächelte. „Gehört denn so viel Mut dazu?“
„Mehr, als du denkst.“
Sie zog den Brief aus dem Ausschnitt ihres Kleides.
„Aber bitte, sei recht ruhig, mache dich auf eine große Überraschung gefasst.“
Durchdringend sah er sie an, während er nach dem Brief griff. Er entfaltete ihn und begann zu lesen.
Ruth beobachtete ihn in großer Besorgnis. Und ihre Angst war nicht umsonst gewesen.
Als er zu Ende war mit seiner Lektüre, sank er wie zerbrochen in sich zusammen und stöhnte tief auf. Mit einem erschütternden Blick auf Ruth sagte er mit rauer, versagender Stimme: „Ich hatte einen Enkel – und wusste es nicht. Meine Tochter hinterließ einen Sohn, der Blut war von meinem Blut – und niemand hat es mir gesagt. Einsam hat man mich gelassen – und ich hätte so reich sein können.“
Es lag ein erschütternder Klang in diesen Worten.
„Hätte ich dir diesen Brief nicht geben sollen, Onkel Rochus? Hab ich dir weh damit getan?“
Er legte die Hand auf ihren Scheitel. „Wenn du mir diesen Brief vorenthalten hättest, wärst du grausam gewesen. Das bist du gottlob nicht – ich danke dir.“
„Sag mir, Onkel Rochus – wirst du deinen Enkel anerkennen, wenn er noch lebt?“
Er stöhnte auf. „Will er denn etwas von mir wissen? Wenn er noch lebt – warum hat er denn nicht ein einziges Mal den Weg zu mir gefunden?“
„Vielleicht wagte er es nicht, vielleicht glaubte er, du würdest ihn nicht anerkennen, weil du seine Eltern trennen wolltest. Er war vielleicht zu stolz, als um diese Anerkennung zu bitten. Sein Vater zeigte dich ihm vielleicht im Licht eines harten, unerbittlichen Menschen. Möglich auch, sie warteten beide, Vater und Sohn, dass du sie rufen würdest, weil sie glaubten, deine Tochter habe dir ihr Geheimnis enthüllt. Aber da nach dem Telegramm an die Tante, aus dem Claus jedenfalls die schreckliche Nachricht vom Tod seiner Frau erfuhr, nichts mehr erfolgte, musste er annehmen, dass du weder von ihm noch von seinem Sohn wusstest oder wissen wolltest. Und aufdrängen wollte er sich nicht. Ein stolzer, gerader Mensch muss er gewesen sein. Gott mag wissen, wie ihn der Tod seiner über alles geliebten Frau getroffen hat. Wie sehr er sie liebte, das klingt doch aus jedem Wort seines Briefes.“
Er nickte schwer. „Ja, der Wahrheit dieses Gefühls kann ich mich nicht verschließen. Aber grausam war es dennoch von ihm, mir mein Fleisch und Blut vorzuenthalten. Er hätte wohl einen Weg finden können, wie er es mich wissen lassen konnte, dass ich einen Enkel habe, ohne dass er sich zu demütigen brauchte. Und im Herzen meines Enkels muss, wenn er noch am Leben ist, kein Funken eines Zusammengehörigkeitsgefühls mit mir leben, sonst hätte er den Weg zu mir gefunden.“
Ruth dachte an den jungen Fremden, und in ihrem Herzen lebte jetzt die Gewissheit, dass er Ruth Bernds Enkel sein musste. Alles, was sie an ihm beobachtet hatte, stimmte damit überein. Und fliegend vor Erregung sagte sie: „Onkel Rochus, ich glaube, dein Enkel war auf dem Weg zu dir – vielleicht schon früher, aber heute gewiss.“
Er fuhr empor aus seiner gebrochenen Haltung und starrte sie an. „Wie kommst du zu diesem Glauben?“
Ruth erzählte von ihrer Begegnung mit dem jungen Fremden am Vormittag. Und dann fuhr sie fort: „Sieh, als ich dich vorhin hier hin und her gehen sah, da kam mir wie ein Blitz die Gewissheit, dass er dein Enkel ist. In Gang und Haltung ist er dir so ähnlich, wie zwei Menschen es nur sein können. Und er hat deine Züge, nicht so hart und fest, aber doch unverkennbar. Wie ein Wunder erscheint es mir, dass ich gerade heute den Brief fand, nachdem ich ihm begegnet war. Und wenn er dein Enkel ist, wie ich jetzt fest glaube, dann steht er dir ganz gewiss nicht gleichgültig gegenüber, denn er sah mit brennenden Augen zu dir herüber. Nicht mir galt sein Interesse, sondern dir allein.“
Er erfasste ihre Hände und drückte sie, dass es ihr weh tat.
„Ruth, wenn du Recht hättest! Wenn er es war! Aber … wenn er nun nicht wiederkäme, wenn dieser Blick auf ihn der einzige gewesen wäre, den mir das Schicksal gegönnt hat? Ruth, wie sollte ich ihn finden, wenn er nicht wiederkehrt?“
Sie atmete tief auf, und ihre Augen leuchteten. „Er wird wiederkehren, sei gewiss. Wie ihn die Sehnsucht nach deinem Anblick hier hertrieb, so wird er auch wiederkommen.“
Schwer und mühsam arbeitete seine Brust.
„Dann halte ihn fest und bringe ihn mir! Lass ihn nicht wieder davongehen. Ruth, liebe kleine Ruth, wie reich hast du mich gemacht! Ich habe einen Enkel! Gut, dass du schon an meinen Notar geschrieben hast, Ruth. Jetzt macht mir das Testieren Freude, jetzt freue ich mich wieder meines Reichtums. Ach, er würde ja auch ohne Testament meinem Enkel gehören. Nur für dich will ich etwas festlegen. Alles andere gehört meinem Enkel!“
Und erschüttert barg er sein Gesicht in den Händen.
***
Der junge Herr, den Ruth Alving nach seiner Ähnlichkeit mit Rochus Bernd für dessen Enkel hielt, war in der Tat Gert Herfurt.
Als er der Villa Bernd den Rücken gekehrt hatte, ging er mit schnellen Schritten zu seinem Hotel zurück. In seinem Zimmer warf er sich in einen Sessel und stützte den Kopf auf die Hand. Seine Gedanken umflatterten die Villa Bernd. Sie suchten dort einen alten weißhaarigen Herrn und eine reizende, junge blonde Dame, die er heute Morgen zum ersten Mal gesehen hatte und die auf ihn gleich auf den ersten Blick einen tiefen Eindruck machte. Wer mochte die junge Dame sein? In welchem Verhältnis stand sie zu Rochus Bernd, seinem Großvater, der doch, wie er in Erfahrung gebracht hatte, ganz allein und einsam in seiner vornehmen Villa lebte? Die junge Dame gehörte aber sicher ins Haus, sie musste auch in einem sehr innigen Verhältnis zu seinem Großvater stehen, das hatte er aus dem Verhalten der beiden Menschen entnommen, als er sie im Garten sah.
Sie hatte ihm sehr gefallen. Etwas in ihrer Art hatte gleich zu seinem Herzen gesprochen, und fast hatte er über ihrem Anblick vergessen, was ihn nach der Villa Bernd geführt hatte.
Er war von England herübergekommen, um seinen Großvater zu sehen. Vor kurzer Zeit war sein Vater gestorben, und erst kurz vor seinem Tod hatte er ihm eröffnet, dass sein Großvater mütterlicherseits noch am Leben sei. Und dabei hatte Claus Herfurt seinem Sohn die Geschichte seines Lebens, seiner Liebe erzählt.
Als Sohn eines Offiziers hatte er Sprachstudien betrieben, nach dem Abitur hatte er die Universität bezogen. Aber als sein Vater starb, konnte er das Studium nicht fortsetzen, er musste Geld verdienen. So hatte er eine Anstellung als Korrespondent bei der Firma Bernd angenommen.
Er hatte sein Amt zur größten Zufriedenheit seines Chefs ausgefüllt. Rochus Bernd hatte ihn zuweilen in seine Privatwohnung kommen lassen, um sich Briefe von ihm übersetzen zu lassen.
Und bei einer solchen Gelegenheit hatte er Maria Bernd kennen gelernt. Eines Tages hatte er auf Rochus Bernd warten müssen, und da hatte ihn seine Tochter in ihrer lieben, gütigen Art unterhalten, bis der Vater kam. Dieses kurze Alleinsein war für die beiden Menschen entscheidend gewesen. Claus Herfurt liebte von diesem Tag an die Tochter seines Chefs, und als er merkte, dass Maria ihn wiederliebte, kannte sein Glück keine Grenzen.
Die beiden Liebenden sahen sich fortan zuweilen heimlich, und Maria gab ihrer Besorgnis Ausdruck, dass der Vater nie seine Einwilligung zu ihrer Vereinigung geben würde. Aber sie gab ihm ihr Wort, dass sie nie von ihm lassen und, wenn es nicht anders ging, auch ohne des Vaters Zustimmung sein Weib werden würde.
Und dann hatte ihr Vater eines Tages entdeckt, wie sie zu Claus Herfurt stand. Er hatte sie zur Rede gestellt, und sie hatte sich mutig zu ihrer Liebe bekannt.
Der Vater hatte nichts von einer Verbindung der Liebenden wissen wollen und hatte seine Tochter nach England geschickt und Claus Herfurt entlassen. Die Liebenden hatten jedoch schon vorher miteinander eine Chiffre verabredet, unter der sie sich Nachrichten zukommen lassen wollten.
Und so erhielt Claus Herfurt von Maria ein Schreiben, in dem sie ihm mitteilte, dass der Vater sie nach England, in die Grafschaft Cornwall, zu einer Cousine ihrer Mutter, Miss Jenny Brown, schicken würde. Ihre Tante bewohnte ein Häuschen im Dorf Longvillage. Sie erwarte ihn dort.
Und Claus Herfurt hatte keinen Augenblick gezögert, Marias Wunsch Folge zu leisten.
Maria hatte Tante Jenny bereits auf ihre Seite gebracht. Die gutmütige alte Dame war zornig über den harten Vater, und als Claus Herfurt dann in seiner stattlichen, bezwingenden Männlichkeit vor ihr stand und seine Bitten mit denen Marias vereinigte, willigte sie in alles ein.