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Seit ihrer Kindheit muss Romana auf alle Freuden des Lebens verzichten. Sie ist auf der Flucht vor gewissenlosen Verbrechern, die ihr Heimat und Familie genommen haben und nun noch sie selbst beseitigen wollen, um in den Besitz ihres großen Vermögens zu gelangen. Doch trotz ihrer zurückgezogenen Lebensweise lernt Romana eines Tages einen jungen Mann kennen und lieben - und das machen sich ihre Verfolger zunutze. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt ...
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Seitenzahl: 162
Cover
Impressum
Du bist meine Heimat
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Bastei Verlag/Eigenproduktion
E-Book-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-2181-4
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Du bist meine Heimat
Ereignisreicher Roman um Leid und Glück eines jungen Mädchens
Vom Meer herüber kam eine frische Brise und fegte das Dünengras auf und nieder. Es sah aus, als wenn grüngelbe Wogen die Hänge überfluteten und dem zerzausten Kiefernwald zuflössen. Die ganze Nacht hatte es gestürmt, nun war der Wind abgeflaut und trieb nur noch sein Spiel mit all den Dingen, die er zuvor so wütend geschüttelt hatte.
Sehnsüchtig flogen die Blicke der jungen Dame zum viel besuchten Seebad hinüber, das etwa eine Wegstunde entfernt am Strande lag. Es war jedoch strikt untersagt, nach Swinemünde zu gehen, solange sich dort Badegäste aufhielten. Ganz still und zurückgezogen musste sie den ganzen Sommer mit ihren Pflegeeltern, Herrn und Frau Dürkopp, in dem Haus am Waldrand leben, und erst wenn alle Gäste abgereist waren, durfte sie wieder frei und ungehemmt umherstreifen und auch zuweilen nach Swinemünde hinübergehen.
Sobald aber dann die ersten Fremden in Swinemünde auftauchten, musste Romana wieder in ihre Einsamkeit zurück.
Warum, wusste sie nicht – sie wusste nur, dass ein Geheimnis über ihrem Leben stand und dass irgendeine große Gefahr ihr drohte, wenn sie nicht dem strengen Gebot ihrer sonst sehr liebevollen Pflegeeltern folgte und sich von allem Verkehr mit Fremden zurückhielt. Sie wusste auch, dass ihr Vater, der von seiner letzten großen Reise nach Rußland nicht wiedergekehrt war, vor seiner Abreise alles so bestimmt hatte. Und die Liebe zu diesem ihr so früh entrissenen Vater, den sie angebetet hatte und den sie schon verlor, als sie kaum fünfzehn Jahre zählte, hatte ihr immer wieder geholfen, sich in alles zu fügen, was man von ihr verlangte.
Ihr Vormund, der Justizrat Harland, der sie nach dem Tod ihres Vater zu ihren Pflegeeltern, Herrn Geheimrat Dürkopp und dessen Frau, gebracht hatte, sagte ihr immer, wenn sie ihn zuweilen nach diesem und jenem fragte, was ihr unklar erschien und sie quälte: „An deinem fünfundzwanzigsten Geburtstag sollst du alles erfahren, was man dir jetzt aus Fürsorge verschweigen muss. Und solltest du früher heiraten, dann wirst du es schon am Tag deiner Hochzeit wissen. So hat es dein lieber, unvergessener Vater bestimmt.“
Immer noch blickte Romana traurig auf das lustige Strandleben, das sich nun drüben in Swinemünde, da sich der Sturm gelegt hatte, wieder entwickelte. Ihre Augen rissen sich endlich los, und sie wandte sich um und schritt langsam, in Gedanken verloren, die Dünen hinunter, dem Wald zu, hinter dem das Fischerdorf mit dem Namen Hornklippe lag, in dem sie jetzt lebte.
***
Es war eine Woche später. Romana hatte wie so oft die Zeit der Nachmittagsruhe ihrer Pflegeeltern dazu benutzt, ihr Lieblingsplätzchen im Wald aufzusuchen. Dort hatte sie sich eine Bank und einen Tisch aufstellen lassen. Mit ihrer Hängematte begab sie sich dorthin, während ihr der alte Friedrich, der Diener des Geheimrats, mit ihrer Staffelei und einigen Büchern folgte.
Über den Tisch wurde schnell eine hübsche bunte Decke gebreitet, darauf wurden die Bücher gelegt, in denen Romana lesen wollte. Friedrich machte die Hängematte zwischen den großen Buchen fest, die diesen Platz wie ein grüner Dom überschatteten, stellte die Staffelei neben dem Tisch auf und fragte Romana, ob sie noch Befehle habe.
Lächelnd schüttelte sie den Kopf. „Nein, Friedrich. Ich bitte Sie nur, mich zur Teestunde wieder abzuholen, weil ich nicht alles allein tragen kann.“
„Ich werde pünktlich um halb fünf Uhr hier sein, gnädiges Fräulein“, erwiderte der Diener und ging.
Romana setzte sich auf die Bank und schlug eines der Bücher auf. Auf der ersten Seite lag ein Brief, den sie aufnahm und entfaltete. Sie hatte ihn heute Morgen mit der Post bekommen und war durch ihn in freudige Aufregung versetzt worden. Nun las sie ihn noch einmal durch. Er lautete:
Meine liebe Romana!
Dein alter Onkel Justizrat kommt also Ende August nach Hornklippe; früher wird es nicht möglich sein. Sage bitte der lieben Mama Dürkopp, dass ich vierzehn Tage in ihrem Hause bleiben möchte. Länger geht es diesmal nicht, denn ich habe mir gesagt, dass es endlich einmal Zeit wird für dich, ein wenig mehr von der Welt zu sehen als das kleine Fischerdorf Dein Vater, wäre er noch am Leben, würde selbst die Notwendigkeit einsehen, dass du ein wenig unter die Leute kommst. Kurzum, du sollst Hornklippe verlassen, mit mir eine hübsche Reise machen, und dann bringe ich dich in das Haus eines meiner Freunde, dessen liebenswürdige, frohsinnige Gattin dich so herzlich aufnehmen wird, wie Mama Dürkopp es getan hat, und die dich in einen geselligen Kreis einführen wird, wie er dir zukommt. Du wirst aber auch dort als Romana Harland, und nicht unter deinem richtigen Namen, auftreten müssen.
Alles andere besprechen wir, wenn ich nach Hornklippe komme. Ich freue mich sehr auf das Wiedersehen und sende dir herzliche Grüße.
Dein alter Onkel Justizrat
Romana faltete den Brief zusammen und sah mit großen, verträumten Augen in die grünen Baumwipfel hinauf. Seit sie diesen Brief erhalten hatte, war sie in einer freudig unruhigen Stimmung und kam sich sehr undankbar vor, als sie merkte, wie Mama Dürkopp mit den Tränen kämpfte und wie Papa Dürkopp seine Pfeife ausgehen ließ, was sonst nur geschah, wenn er krank war.
Romana hatte die beiden alten Herrschaften liebreich getröstet. „Ich komme doch wieder, wir sehen uns wieder. Gönnt mir doch diesen Ausflug in die Welt!“, hatte sie gesagt.
Da hatten sich die beiden alten Leute gefasst und mit ihr Pläne gemacht für die Zukunft.
Und nun, da Romana hier in ihrem geliebten Waldwinkel allein war, hätte sie vor Freude singen und tanzen mögen. Aber obwohl sie sich hier ganz ungestört wusste – kam doch nie ein fremder Mann hier vorüber –, summte sie nur still ein Liedchen vor sich hin und setzte sich an ihre Staffelei, auf der ein fast fertiges Ölgemälde stand.
Als Romana das Bild vollendet hatte, legte sie sich in die Hängematte. Ganz gegen ihre Gewohnheit schlief sie ein, als sie eine Weile ruhig vor sich hingeblickt hatte.
Wie lange sie so geschlafen hatte, wusste sie nicht, als sie plötzlich erwachte.
Erschrocken sah sie in zwei hell leuchtende graue Männeraugen hinein, die aus einem gebräunten Gesicht bewundernd in die ihren blickten, so sehr bewundernd, dass Romana das Blut in die Wangen jagte und sie mit einem Satz aus der Hängematte heraus war. Und jetzt erblickte sie hinter dem hoch gewachsenen Mann eine zweite Männergestalt, die vor ihrem Bild stand und es mit Vergnügen betrachtete.
Während der junge Herr, den sie zuerst erblickt hatte, stumm mit einer Verbeugung zurückwich, wandte sich der vor dem Bild stehende jetzt lachend zu Romana. „Verzeihen Sie, Gnädigste, dass wir Ihren Schlummer gestört haben. Wir berieten soeben, ob wir Sie wecken oder uns noch länger an dem reizenden Bildchen, dessen Malerin Sie vermutlich sind, erfreuen sollten. Da Sie nun, ehe wir einen Entschluss fassen konnten, ohne unser Dazutun aufgewacht sind, dürfen wir Sie wohl bitten, uns zu sagen, wo es nach Swinemünde geht. Wir haben uns im Wald verirrt, und da wir das Meer hier nicht sehen, wissen wir nicht, in welcher Richtung wir gehen müssen.“
Obwohl Romana strenge Weisung hatte, sich nie in ein Gespräch mit Fremden einzulassen, sagte sie sich, dass es ungezogen und unfreundlich aussehen würde, wenn sie keine Auskunft gab. Und sie wollte weder das eine noch das andere in den Augen dieser beiden Herren sein. Also erklärte sie den Weg und deutete dabei die Richtung an, die die Herren einschlagen mussten.
Diese verneigten sich, artig dankend, und der eine der beiden sagte: „Verzeihen Sie, dass wir Sie durch unser Anschauen in Ihrem Schlummer gestört haben. Wir meinten, die Waldfee in höchsteigener Person habe sich hier zur Ruhe niedergelassen.“
Etwas Seltsames stieg in Romanas Herz auf. Je länger sie in die grauen Augen des jungen Mannes sah, desto bestimmter fühlte sie, dass ihr von diesem Menschen keine Gefahr drohte. Und auch der andere sah durchaus nicht aus, als könne er etwas Böses im Schilde führen.
Diese beiden Herren sahen so vertrauenerweckend aus, dass sie gar zu gern noch ein wenig mit ihnen geplaudert hätte, trotzdem wandte sie sich von den beiden Fremden ab, setzte sich nieder und vertiefte sich in ein Buch. So gern sie noch ein wenig mit den beiden Herren geplaudert hätte, so wusste sie doch, dass es nicht sein durfte.
Der Blonde zog seinen Begleiter am Arm. „Komm, Gunter, mich verlangt nach einem Imbiss, und wir haben bestimmt noch ein gutes Stück Wegs vor uns.“
Doktor Gunter Valberg, der Grauäugige, seufzte tief auf, warf noch einen Blick auf Romana, die keinerlei Notiz mehr von ihnen nahm, und folgte dem Freund.
Dieser lachte. „Warum seufzest du denn so abgrundtief, Gunter?“
„Habe ich geseufzt?“
„Sehr tief! Hat die Waldfee einen so tiefen Eindruck auf dich gemacht? Das wäre doch ganz außergewöhnlich. Du bist immer so wählerisch in Bezug auf Frauen und hast selten einen Blick für eine übrig.“
„Hier konnte man doch nur restlos bewundern. Ich habe jedenfalls noch nie eine reizvollere Frau gesehen, als dieses schöne Mädchen. Es hat noch nie eine Frau auf mich gleich auf den ersten Blick einen so tiefen Eindruck gemacht. Auf dich also nicht, Bernd?“
„Das war sonderbar, Gunter, solange die Dame schlief, fand ich sie auch sehr reizend, aber als sie dann erwacht war und dich mit ihren Augen so groß ansah, da …“
„Da?“, drängte Gunter Valberg.
Bernd schüttelte nachdenklich den Kopf. „Da musste ich so intensiv darüber nachdenken, an wen mich die junge Dame erinnerte. Wenn ich nur wüsste, wo ich dieses Gesicht schon einmal gesehen habe – ich muss noch immer darüber nachgrübeln.“
„So ein Gesicht kann es doch nur einmal auf der Welt geben“, sagte Gunter Valberg mit einem seltsamen Klang in der Stimme.
Die beiden Freunde waren rüstig in der angegebenen Richtung davongeschritten. Nach einer knappen halben Stunde standen sie auf der Düne in der Nähe der Hornklippe. Von hier aus sahen sie Swinemünde liegen, und nun wanderten sie weiter auf dem feuchten, festgespülten Strand.
Mit klopfendem Herzen eilte Romana unterdessen zur Villa Elisabeth zurück, wohin Friedrich schon ihre Sachen getragen hatte.
Sie überreichte Mama Dürkopp das fertige Bildchen, wofür diese ihr überschwänglich dankte. Erst als sie mit den beiden alten Herrschaften beim Tee saß, erzählte sie dann, scheinbar ganz unbefangen, dass sie zwei jungen Herren aus Swinemünde den Weg hatte zeigen müssen, weil sie sich im Wald verirrt hatten.
Der Geheimrat und seine Gattin sahen sich erschrocken an. „Was waren das für Herren, Romana, beschreib sie uns.“
Romana dachte nach und sagte dann: „Es waren zwei elegante Badegäste aus Swinemünde. Der eine war hellblond und hatte blaue, lustige Augen, der andere aber hatte dunkles Haar und graue Augen.“
„Wie alt waren die Herren, Kind?“
„Vielleicht Anfang der Dreißig.“
„Und sprachen Sie geläufig deutsch?“
Verwundert sah Romana ihre Pflegeeltern bei dieser Frage an.
„Gewiss, ein ganz reines Deutsch, wie es nur gebildete Deutsche sprechen.“
Da atmeten die alten Herrschaften erleichtert auf, schärften aber Romana nochmals ein, dass sie vorsichtig sein müsse und lieber gleich das Haus aufsuchen solle, falls ihr wieder einmal ein Fremder begegnen sollte. Das versprach Romana auch.
Sie musste sehr, sehr viel an den jungen Mann mit den grauen Augen denken. Ob sie ihn wohl jemals wiedersehen würde?
Am nächsten Tag gingen die beiden Freunde gemeinsam baden. Sie wohnten beide in einer Pension am Strand. In derselben Pension wohnte seit einigen Tagen auch eine sehr schicke und interessante Dame, die sich ebenfalls auf dem Weg zum Bad befand und dabei fleißig mit Bernd kokettierte. Diese unleugbar reizende junge Dame hatte sich als Witwe ausgegeben und fand daher sehr viele Verehrer. Anscheinend begünstigte sie aber Bernd von Altdorf.
Bernd von Altdorf ging niemals einem amüsanten Flirt aus dem Weg und kokettierte fleißig mit ihr. Obwohl er sich angeregt mit Gunter unterhielt, fand er reichlich Gelegenheit, mit der jungen Witwe immer wieder Blicke zu wechseln.
Als sie in der Pension zu Mittag aßen, bemerkte Gunter Valberg das sehr wohl. Er kannte den Freund und ließ ihn gewähren. Keine Miene von ihm verriet, dass er das kokette Spiel zwischen den beiden bemerkte.
Plötzlich senkte Bernd die Stimme. „Lieber Gunter, ich glaube, du wirst den heutigen Nachmittag ohne mich verbringen müssen, denn ich habe vor, mich mit der reizenden jungen Dame zu einem Ausflug zu verabreden. Hoffentlich zürnst du mir nicht, wenn ich dich deinem Schicksal überlasse.“
Gunter wandte sich dem Freund zu und sagte gutmütig: „Ich zürne dir nicht, Bernd, wenn du mir versprichst, dir von ‚Madame‘ nicht allzu feste Fesseln überstreifen zu lassen.“
„Warum betonst du das ‚Madame‘ so stark?“
„Weil ich ein wenig daran zweifle, dass sie jemals verheiratet gewesen ist. Sieh dich vor – sie scheint etwas mit dir vorzuhaben.“
„Keine Sorge, du weißt doch, dass ich ein Schmetterling bin.“
„Auch Schmetterlinge können in ein Netz fliegen. Und deine junge Witwe scheint darauf aus zu sein, einen guten Fang zu tun.“
„Daran zweifle ich nicht – sie hält mich nämlich für sehr reich, weil man weiß, dass du reich bist. Sie lässt sich durch dein Auftreten bestechen und ahnt nicht, dass ich neben dir nur ein bescheidenes Zimmerchen bewohne. Sollte sie zu sehr aufs Ganze gehen, dann brauche ich ihr nur zu verraten, dass ich ein armer Schlucker bin. Vorläufig sonne ich mich noch ein wenig im Glanze deines Reichtums – das gibt mir den rechten Hintergrund, verstehst du?“
„Nun, ich bin beruhigt, du scheinst es wirklich nur auf ein kleines Abenteuer abgesehen zu haben.“
Die beiden Freunde blieben noch eine Weile im Speisesaal, dann erhob sich Gunter und zog sich diskret zurück.
***
Romana war wieder zu ihrem Lieblingsplätzchen gegangen, wie fast jeden Tag. Heute hatte sie die Staffelei zu Hause gelassen, denn sie hatte sich vorgenommen, kein Bild mehr anzufangen, bis Onkel Justizrat kam. So brauchte sie Friedrich weder zu begleiten noch später abzuholen, und das war diesem lieb, da er im Garten viel zu tun hatte.
Romana hatte sich nur eine Handarbeit mitgenommen, denn auch zum Lesen fehlte ihr die Lust. Es war so viel Neues in ihr Leben getreten, dass sie darüber nachdenken musste und sich nicht durch Bücher ablenken wollte.
Während sie an einer feinen Stickerei arbeitete, ließ sie ihren Gedanken immer wieder freien Lauf. Und diese Gedanken beschäftigten sich hauptsächlich mit den beiden Herren – oder vielmehr nur mit dem einen von ihnen – mit dem, in dessen Augen sie zuerst geschaut hatte, als sie aus dem Schlummer erwachte.
Sie vertiefte sich so sehr in die Erinnerung an die gestrige Begegnung, dass sie nicht bemerkte, wie ein schlanker junger Herr vom Meer herüber durch den Wald auf den Platz zukam, wo sie saß. Auf dem weichen Waldboden verklangen seine Schritte, und seine Augen flogen suchend umher, als hoffe er, eine weiß gekleidete Mädchengestalt zu sehen.
Er konnte jedoch Romana noch nicht erblicken, weil die Gebüschgruppe, vor der die Bank und der Tisch standen, sie ihm verbarg. Erst als er ganz nahe herangekommen war, erblickte er sie und blieb mit laut klopfendem Herzen stehen. Ohne sich zu rühren, sah er zu Romana hin. Ihm war, als habe er etwas Köstliches gefunden, das er schmerzlich gesuchte hatte.
Übte sein Blick eine magnetische Kraft auf sie aus wie gestern, da er sie aus dem Schlaf geweckt hatte, oder beirrte sie sonst ein unerklärliches Gefühl – sie ließ plötzlich ihre Stickerei sinken und hob den Blick in die Richtung, wo er im Anschauen versunken stand. Romana zuckte zusammen, und dunkle Röte stieg verräterisch in ihre Wangen. Sie sah hilflos erschrocken in die grauen Männeraugen, die schon gestern einen so tiefen Eindruck auf sie gemacht hatten.
Gunter Valberg verbeugte sich tief und ehrerbietig. „Verzeihung, mein gnädiges Fräulein, wenn ich abermals störend in Ihre Einsamkeit dringe, dieser idyllische Waldfrieden unter den schönen Buchen hat es mir angetan. Man findet sonst hier in der Nähe fast nur Nadelwald. Darf ich ein wenig hier verweilen? Außerdem möchte ich mich Ihnen vorstellen.“ Er verbeugte sich und nannte seinen Namen.
Romana hatte sich mühsam gefasst und zögerte eine Weile mit der Antwort. Aber die grauen Augen zwangen sie, zu sagen: „Der Wald ist für jeden Menschen frei! Und wenn ich auch gewöhnt bin, dass sich niemand hierher verirrt, der nicht ins Dorf gehört, so habe ich doch nicht darüber zu bestimmen, ob Sie hier verweilen dürfen oder nicht. Ich werde mich ohnedies sogleich entfernen, denn ich muss bald nach Hause.“
Er ließ sich ihr gegenüber auf einem Baumstumpf nieder und sah sie mit großen, ernsten Augen an. „Bald – aber nicht gleich, mein gnädiges Fräulein – ich möchte Sie um die Auszeichnung bitten, mir zu gestatten, bei Ihren Angehörigen einen Besuch machen zu dürfen.“
Sie sah rasch auf und blickte ihn erschrocken an. „O nein!“, rief sie unbedacht.
Er sah sie mit brennenden Augen an. „Ganz offen, mein gnädiges Fräulein, es war der Zweck meines Kommens heute, Ihren Aufenthalt auszukundschaften und mich Ihren Angehörigen vorzustellen, denn – ich muss es Ihnen sagen – Ihre Persönlichkeit hat einen so starken Eindruck auf mich gehabt, dass mich der Wunsch, Sie näher kennen zu lernen, nicht mehr losließ. Ich machte mir fortwährend Vorwürfe, dass ich gestern von Ihnen schied, ohne zu wissen, wo und wann ich Ihnen wieder begegnen könnte. Nun bin ich hier, um diesen Fehler wiedergutzumachen, und will Ihnen sagen, dass ich mich Ihnen mit den ehrlichsten und ehrerbietigsten Absichten genähert habe. Darf ich auch nach dieser Erklärung nicht die Ehre haben, Ihre Angehörigen kennen zu lernen? Wollen Sie mir nicht sagen, wo Sie wohnen?“
So unerfahren Romana auch war, fühlte sie doch, dass dieser fremde Mann etwas sehr Schwerwiegendes gesagt hatte. Ihre Augen flogen scheu zu ihm hinüber und schlossen sich gleich wieder im Erschrecken über den flehenden Blick der seinen.
Dann sagte sie leise: „Da drüben im Dorfe Hornklippe wohnt der Geheimrat Dürkopp mit seiner Gattin. Das sind meine Pflegeeltern. Drüben am Waldrand, die größte der kleinen Villen, gehört ihnen, und da bin ich zu Haus. Aber – ich bitte Sie, obwohl ich Ihnen das gesagt habe, nicht zu meinen Pflegeeltern zu gehen. Wenn Sie ihnen Ihren Besuch machen und sie erfahren, dass ich wieder mit Ihnen gesprochen habe, dann – wird man wohl dafür sorgen, dass – dass wir uns nie wiedersehen.“
Fragend sah er sie an. „Warum sollten Ihre Pflegeeltern so grausam sein? Hat irgendein Mensch Rechte auf Sie, die es mir verwehren würden, mich Ihnen zu nähern, Sie besser kennen zu lernen?“
In Romanas Gesicht hatte die Farbe verschiedentlich gewechselt. Ihr war, als müsse sie aufstehen und sich, ohne noch ein Wort mit ihm zu reden, entfernen.
Aber sein Blick hielt sie fest, ließ sie alle Ermahnungen ihrer Pflegeeltern vergessen. Sie konnte nicht anders, als ihm zu antworten: „Die Rechte eines anderen Menschen verletzen Sie nicht – es hat niemand anders über mich zu bestimmen als ich selbst und mein Vormund.“
Er atmete auf. „Oh, wenn Sie es mir nur nicht streitig machen mit Ihrem Vormund will ich schon fertig werden“, sagte er rasch, annehmend, dass der Geheimrat Dürkopp ihr Vormund war.
Es zuckte ein leises Lächeln um ihren Mund. „Wer weiß, ob es sich für Sie lohnt, mich näher kennen zu lernen.“
Dies Lächeln machte ihm das Herz warm. „Ganz sicher. Ich finde Sie sehr reizend.“