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Der Tod ihrer Mutter stürzt Ria Rottmann in große Verzweiflung. Da nimmt Rolf Matern, ein Jugendfreund ihres Vaters, sich der bezaubernden jungen Frau an. Jeder ist erstaunt darüber, wie sehr er um Rias Wohl besorgt ist - jeder, außer Ria selbst, denn sie weiß um die große Schuld, die er auf sich geladen hat. Doch Ria ist fest entschlossen, das dunkle Geheimnis für sich zu behalten, schlägt ihr junges Herz doch schon lange für Heinz Matern, den Sohn ihres Wohltäters. Lieber wird sie das Opfer eines skrupellosen Erpressers, als zuzulassen, dass Rolf Materns Name mit einem Makel behaftet würde - und damit auch der Name seines Sohnes ...
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Seitenzahl: 163
Cover
Impressum
Eine ungeliebte Frau
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Bastei Verlag/Wolf
E-Book-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-2183-8
www.bastei-entertainment.de
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www.bastei.de
Eine ungeliebte Frau
Roman um das Geheimnis der jungen Ria
Der Geheime Baurat Matern trat in das Zimmer seiner Gattin. Mit der ihm eigenen, raschen und energischen Art schloss er die Tür hinter sich und begrüßte seine Frau mit einem etwas unsicheren Blick. „Hast du eine halbe Stunde Zeit für mich, Malwine?“
Frau Malwine Matern, eine stattliche Erscheinung in der Mitte der Vierzig, mit noch immer schönem, aber etwas unbeweglichem Gesicht, blickte von einem Buch auf, in dem sie gelesen hatte. In ihren grauen Augen leuchtete aber kein wärmeres Licht auf, als sie ihren Gatten ansah. „Hast du etwas von Wichtigkeit, Rolf?“, fragte sie ruhig.
„Allerdings.“
„Dann nimm bitte Platz. Ich wollte zwar ausfahren, um Besorgungen zu machen, aber selbstverständlich verschiebe ich das.“
Rolf Matern zog sich einen Sessel heran und ließ sich nieder. Seine große, sehnige Gestalt vornüber neigend, wandte er das scharf geschnittene, kluge Gesicht seiner Frau zu und sagte, mit einer an ihm befremdenden Hast und Unsicherheit: „Frau Ilse Rottmann ist heute Morgen gestorben – ich komme soeben von ihrem Sterbelager.“
Malwine Materns Gesicht rötete sich ein wenig, sonst verriet aber nichts, dass diese Nachricht sie erregte.
„Das ist ja sehr bedauerlich“, sagte sie kühl, „ist aber sicher nicht die Sache von Wichtigkeit, die du mit mir besprechen willst. Frau Ilse Rottmann ist zwar dein besonderer Schützling gewesen aber ich stehe der Dame völlig fern.“ Es klang eine fast eisige Abweisung aus ihren Worten.
„Du vergisst, Malwine, dass Ilse Rottmann die Witwe meines früh verstorbenen Jugendfreundes war, dem ich mancherlei Dank schuldete“, sagte Rolf Matern, nervös mit der Hand durch das dichte, graue Haar fahrend.
„Nein – das vergesse ich nicht. Du hast es mir immer wiederholt, sobald ich meinem Befremden Ausdruck gab, dass du dieser Frau Rottmann so unendlich viele Wohltaten erwiesest.“
Rolf Materns Gesicht rötete sich – und sein Blick irrte zur Seite. „Ist es zu verwerfen, wenn man bedürftige Menschen von seinem Überfluss unterstützt?“, fragte er hastig.
„Allerdings nicht. Aber sonst hast du derartige Pflichten mir übertragen und dich nicht persönlich darum gekümmert. Ich muss gestehen, dass mir die Art, in der du dich dieser Frau Rottmann annahmst, immer auffiel. Dass du sie so reichlich mit Geldmitteln versorgtest, hätte ich deiner vornehmen Gesinnung zugeschrieben, aber dass du – der du dich deiner Familie fast gänzlich entzogst, um deinen rastlosen Ehrgeiz zu befriedigen – Zeit hattest, dich fast jeden Tag persönlich von dem Wohlergehen der Frau Rottmann zu überzeugen – das hat mir zu denken gegeben.“
Sie hatte auch jetzt mit beherrschter, ruhiger Stimme gesprochen, aber auf ihren Wangen brannten rote Flecken, ein Zeichen großer, innerer Erregung, und ihre Augen hatten einen gespannten Ausdruck angenommen.
Rolf Matern blickte eine Weile stumm auf seine schlanken, wohlgebildeten Hände hinab, die ein sehr charakteristisches Gepräge hatten. Endlich sagte er, den Blick langsam zu ihr hebend: „Malwine – was hast du dir für Gedanken darüber gemacht?“
Sie blickte ihn groß an. Ein tiefer Atemzug hob ihre Brust. nur einen Augenblick zögerte sie, dann sagte sie, ohne den Blick von ihm zu wenden: „Jetzt, da diese Frau nicht mehr am Leben ist, kann ich es dir sagen, ohne in den Verdacht kleinlicher Eifersüchtelei zu kommen: Ich habe geglaubt, dass du Frau Rottmann – geliebt hast.“
„Malwine!“, rief er erschrocken, und sein Gesicht verfärbte sich. „Das hast du also geglaubt?“
„Ja“, sagte sie tief und schwer, „das habe ich geglaubt. Und das ist begreiflich – nicht wahr? Seit dem Tod Fritz Rottmanns tratest du seiner Witwe näher. Vorher waren wir nie mit ihr zusammengekommen. Überhaupt, ich hatte nie gemerkt, dass dir Rottmann besonders befreundet war. Du trafst nur im Büro mit ihm zusammen. Ihr hattet gemeinsam studiert – nun ja –, aber nachher schien es, als ginge jeder seine eigenen Wege. Dann ließ er dich freilich am Tag vor seinem Tod zu sich rufen. Und da hat er dich, wie du mir später sagtest, gebeten, dich seiner Frau und seiner kleinen Tochter anzunehmen. Im Grunde konnten wir in unseren damaligen, mehr als bescheidenen Verhältnissen kaum etwas für andre tun. Bald darauf wurde das allerdings anders. Aber auch du wurdest ein anderer, seit du in persönliche Beziehungen zu Rottmanns Witwe tratest. Du warst seitdem nichts als ein ruheloser Gast am heimischen Herd.“
Er lehnte sich mit einem Seufzer zurück und blickte sie schmerzlich an. „Und da hast du gedacht, eine andere Liebe sei in mein Herz gezogen?“
„Musste ich das nicht?“
Sein Gesicht verzog sich qualvoll. „Malwine, warum hast du mir nie etwas von diesem Verdacht gesagt?“
„Sollte ich dir in kleinlicher Eifersucht Szenen machen? Sollte ich um deine Liebe betteln, die mir doch verloren war? Ich kannte dich genug, um zu wissen, dass du dich nicht in frivolem Leichtsinn von mir abgewendet hattest. Ein Herz aber, das in einer großen anderen Liebe aufgeht, ist nicht zurückzugewinnen.“
Es lag eine schlichte Größe in ihren Worten und ein Stolz, der sich mit tausend Schmerzen behauptet hat. Er strich sich über die Stirn, als sei ihm zu heiß geworden.
„Malwine – du hast einen ganz falschen, grundlosen Verdacht genährt. Nie – ich gebe dir mein Wort –, nie ist mir Ilse Rottmann etwas anderes gewesen als die Witwe meines Freundes, als eine schutzbedürftige Frau.“
sie blickte ihn an. In ihren Augen glomm ein unruhiges Forschen. „Und doch hat sie dich mir entfremdet. Du kannst nicht leugnen, dass du ein anderer geworden bist, seit du sie kennen gelernt hast.“
Er sah zu Boden, und sein Gesicht zuckte in stummer Qual. Aber schnell gewann er seine äußere Ruhe wieder. „Mit dieser Umwandlung meines Wesens hatte Ilse Rottmann nichts zu tun, Malwine. Weißt du nicht, dass gerade in jener Zeit die große Änderung in mein – in unser Leben trat?“
Sie seufzte tief auf. „Ja, du wurdest plötzlich ein berühmter Mann. Aus dem einfachen Ingenieur, der bei einem Brückenbau so ziemlich an letzter Stelle beschäftigt, der in dem Büro einer großen Firma mit einem kleinen Gehalt angestellt war, wurde über Nacht eine Größe. Jene Aufsehen erregende Erfindung, heimlich in jahrelanger Arbeit gemacht, stellte dich mit einem Schlag in die erste Reihe. Große Auszeichnungen wurden dir zuteil – und jene Erfindung brachte dir in kurzer Zeit ein Vermögen ein, lässt noch heute Unsummen in deine Kasse strömen. Glanz und Fülle umgaben uns. Das sogenannte Glück hielt seinen Einzug bei uns – aber das wahre Glück entfloh.“
Eine tiefe Bitterkeit klang durch ihre Worte. Er stützte den Kopf in die Hände und sah düster vor sich hin. „Ja – das Glück entfloh“, sagte er dumpf, „das Glück – und die Ruhe.“
Sie sah schmerzlich auf sein gesenktes Haupt. „Und in all der Hast und Unruhe jener Zeit verlor ich dich – an eine andere“, sagte sie herb.
Er fuhr auf. „Nein, Malwine nein –, bei Gott, du irrst dich. Ich gebe zu, dass ich ein anderer wurde. Der Ehrgeiz erfasste mich und trieb mich vorwärts. Alle meine Kräfte setzte ich an meine Arbeit. Ich wollte zeigen, dass ich etwas leisten konnte, dass ich allen Ruhm, alle Auszeichnungen wirklich verdiente, nicht nur durch den Zufall einer Erfindung, die nun ja –, die auch ein anderer an meiner Stelle hätte machen können, wenn ihm eben der Zufall günstig gewesen wäre.“
Er war aufgesprungen und lief im Zimmer hin und her. Sie sah ihn mit einem wärmeren Ausdruck an als bisher. „Warum bist du nur gerade in Bezug auf dein bestes Werk so bescheiden, Rolf? Nie magst du davon sprechen.“
„Nein – auch jetzt nicht, schweig, ich bitte dich, sprich mir nicht mehr davon. Ich habe anderes mit dir zu reden.“
Und ruhiger werdend, nahm er wieder Platz und fasste ihre Hand. „Malwine, willst du mir nicht glauben, dass mir Ilse Rottmann nichts gewesen ist als die schutzbedürftige Witwe meines Freundes?“
Ihr Gesicht rötete sich. „Ich glaube dir, dass du nichts Unrechtes getan hast, aber geliebt musst du sie haben, teuer muss sie dir gewesen sein, anders kann ich mir dein Verhalten ihr gegenüber nicht erklären.“
Er wollte heftig auffahren, aber dann presste er die Lippen fest aufeinander. Was nützte es, mit Worten gegen diesen Verdacht anzukämpfen, der sich seit langen Jahren in der Seele seiner Frau festgesetzt hatte? Den wahren Grund, der ihn immer wieder zu Ilse Rottmann zog, konnte er ihr nicht sagen.
Viel hatte ihm dieser Verdacht genommen, das erkannte er jetzt. In diesem Augenblick erst wurde ihm so recht bewusst, welch tiefe Entfremdung zwischen ihn und seine Gattin getreten war. Sie war so langsam gekommen, dass er sie, in seinem vollbeschäftigten Leben, in der starken Inanspruchnahme durch gesellige Pflichten im Anfang kaum wahrgenommen hatte. Sein ganzes Sein und Denken war zudem zu sehr von dem einen in Anspruch genommen worden, das er als düsteres Geheimnis in seiner Brust barg, das ihm Ruhe und Frieden geraubt und für das er nur in der angestrengtesten Tätigkeit Vergessen finden konnte.
Er seufzte tief auf. „Ich kann nichts tun, Malwine, als dir mein Wort geben, dass es nicht wahr ist. Ich habe Ilse Rottmann nicht geliebt, das muss ich dir immer wieder sagen. Hättest du sie nur einmal gesehen, dann hättest du nimmer glauben können, dass sie mir begehrenswerter erscheinen könne als du selbst.“
„Ich habe sie gesehen – einmal“, sagte sie langsam und schwer.
Überrascht sah er auf. „Du hast sie gesehen? Wann?“
„In jener Zeit, da ich mich noch wehrte gegen den Gedanken, dass ich deine Liebe ganz verloren haben könnte, als ich noch kämpfen wollte um mein Glück. Da bin ich eines Tages zu ihr gegangen – unter einem Vorwand unter falschem Namen. Ich glaubte eine glänzende Schönheit, eine kokette, sinnbetörende Zauberin zu sehen. Mit der hätte ich den Kampf aufgenommen. Beirrte Sinne lassen sich auf den rechten Weg zurückführen – wenn das Herz nicht mitspricht. Aber ich fand eine rührend zarte, anmutige Erscheinung, ohne blendende Reize. Diese Frau konnte nur mit dem Herzen, nicht mit den Sinnen geliebt werden. Die Erkenntnis machte mich wehrlos. Und seit jenem Tag habe ich versucht, mich in mein Los zu finden.“
Rolf Matern zog seine Frau erregt an beiden Händen zu sich heran. Mit einem warmen Blick der Bewunderung sah er in ihr Gesicht. „Törin – liebe Törin – wieviel Größe liegt in deinem Irrtum! Und ich, der ich dich, nur dich geliebt habe, sollte mein Herz an ein anderes Weib hängen? Nein, Malwine – mein Wort darauf –, du hast nie eine andere Nebenbuhlerin gehabt als meine Arbeit. Was ich an Ilse Rottmann tat, was mich zu ihr führte – ich kann es dir nicht erklären, nicht in Worte fassen. Glaube mir, Malwine, dass ich nie eine andere liebte, als dich – dich allein, und dass ich unter unserer Entfremdung auch gelitten habe, wenn mich auch meine Arbeit immer wieder abgelenkt hat.“
Malwines Gesicht überzog sich mit dunkler Glut. Einen Augenblick wallte es in ihr auf wie überquellendes Glück. Aber eine jahrelang aufgehäufte Bitterkeit löscht nicht eine Minute wieder aus. „Ich will versuchen, zu glauben, was du mir sagst, Rolf. Aber lass mir Zeit, ich kann mich so schnell nicht bekehren. – Nun sage mir vor allem, was du mir Wichtiges mitteilen wolltest.“
Er gab ihre Hände frei und lehnte sich zurück. „Ich kam mit einer großen Bitte zu dir, Malwine. Ilse Rottmann hat, wie du wohl weißt, eine junge Tochter hinterlassen. Ria Rottmann steht allein und schutzlos in der Welt. Sie ist etwas über siebzehn Jahre alt und ein scheues, stilles, sanftes Geschöpf. Würdest du dich des armen Kindes annehmen?“
Frau Malwine sah unbehaglich zu ihm hinüber. „Wie meinst du das? Soll ich mich für sie verwenden – sie in einer Familie oder in einer Pension unterbringen? Hat sie etwas gelernt?“
„Sie hat gelernt, was andere junge Mädchen aus guter Familie auch lernen, hat die Töchterschule besucht und in letzter Zeit, da ihre Mutter leidend war, den Haushalt ganz allein geführt. – Du hast mich aber falsch verstanden, wenn du annimmst, dass du dich anderweitig für sie verwenden sollst. Ich meine, du sollst dich ihrer persönlich annehmen, sollst gestatten, dass ich sie dir ins Haus bringe, sollst ihr hier eine Heimat bieten.“
Sie fuhr erregt empor: „Nein – nein! Die Tochter jener Frau, die mich so leiden ließ? Nein, das kann ich nicht“, rief sie, all ihre Beherrschung völlig verlierend.
„Ohne Grund, Malwine, bedenke das“, sagte er begütigend. „Ilse Rottmann wäre außer sich gewesen, hätte sie ahnen können, mit welchem Verdacht du dich gequält hast. Nie würde sie mich dann gebeten haben, ihrem Kind in meinem Haus eine Heimat zu geben. Ich habe ihr in ihre erkaltende Hand gelobt, dass ich es tun werde.“
Malwine erhob sich mit einem jähen Ruck. Ihr Gesicht war wieder kalt und unbewegt. Und mit eisiger Ruhe sagte sie: „Wenn du das fest versprochen hast, so ist mir jede Bestimmung vorweggenommen – und ich habe mich zu fügen.“
Auch er stand auf und trat zu ihr. „Nicht so, Malwine – nicht so. Bedenke, das arme Kind besitzt keinen Menschen mehr, dem es angehört, und sie ist ganz still und anspruchslos. Du wirst wenig Mühe mit ihr haben.“
Seine Worte klangen bittend und eindringlich. Sie sah aber an ihm vorbei. „Spare dir alle weiteren Worte, Rolf. Ich sagte dir ja, dass ich mich füge. Aber nun verlange auch nie mehr, dass ich glauben soll, Ilse Rottmann sei dir nichts gewesen. Solche Opfer bringt man nur, wenn man liebt.“
Er fuhr sich wild und erregt durchs Haar und stöhnte auf. Wie sollte er sie von diesem unseligen Verdacht befreien?
Ohne die geheime Schuld seines Lebens preiszugeben, konnte er ihr nicht erklären, was ihn zu seinem Verhalten gegen Ilse Rottmann bestimmt hatte. Und diese Schuld konnte und wollte er nicht beichten. Die lag für alle Zeiten begraben in seinem Herzen.
***
Maria Rottmann saß mit verweinten Augen neben dem letzten Lager ihrer toten Mutter und blickte in das stille, weiße Gesicht, das so starr wie ein Marmorbild auf dem weißen Kissen aussah. Nie mehr würde ihr die Mutter liebevoll und gütig zulächeln, nie mehr würde der blasse, stumme Mund sich öffnen, um liebe Worte zu ihr zu sprechen. Verwaist! Welch ein herbes, bitteres Wort! Niemand lebte ihr nun mehr, den sie lieben durfte, der ihr Liebe entgegenbrachte, niemand, auf den sie ein Anrecht hatte.
Sie legte den schmalen, feinen Kopf ermüdet zurück. So viele Nächte hatte sie in letzter Zeit bei der kranken Mutter gewacht, und immer mit der heimlichen, schrecklichen Gewissheit, dass sie die Teure verlieren würde. Onkel Rolf hatte ihr schonend mitgeteilt, dass die Mutter sterben müsse.
Das alles hatte ihre Kräfte erschöpft. Sie war sogar zu matt und müde, noch Tränen zu vergießen. Was getan werden musste, war geschehen. Nun lag die Mutter im Brautkleid, das sie immer verwahrt hatte und als Sterbekleid hatte tragen wollen, feierlich aufgebahrt. In wenigen Stunden würde man den Sargdeckel über sie breiten, sie hinaustragen und in die kalte, dunkle Erde einbetten.
Trüb sah sie um sich. Wie seltsam verwandelt dieses sonst so trauliche Zimmer war. Auch, wie friedlich und behaglich sie in der hübschen kleinen Wohnung mit der Mutter gelebt hatte! Und dieses sonnige, freundliche Heim hatte ihnen Onkel Rolf bereitet. Solange sie denken konnte, war Onkel Rolf der für sie gewesen, von dem ihr im Leben kam, was licht und schön war. Als Kind hatte sie das so hingenommen, als wenn es sein müsste, und nicht weiter darüber nachgedacht. Aber dann, als sie älter wurde, kam das Nachdenken von selbst.
Ihr eigener Stolz hatte begonnen, sich gegen den Wohltaten dieses ihr und der Mutter im Grunde fremden Mannes zur Wehr zu setzen. Sie hatte danach verlangt, etwas Tüchtiges zu lernen, etwas zu werden, selbst Geld zu verdienen, damit sie nicht mehr auf Onkel Rolfs Wohltaten angewiesen sein würde. Eines Tages – wenige Wochen vor der schlimmen Erkrankung der Mutter – hatte sie ihrem Gefühl in erregten Worten Ausdruck gegeben.
Die Mutter hatte ihr darauf mit ihrer weichen, zarten Hand über den Kopf gestrichen und ihr mit einem klaren Blick in die Augen geschaut. „Ich dachte es mir, dass du mich eines Tages danach fragen würdest, kleine Ria. Du sollst eine befreiende Antwort darauf haben. Lass dich durch die Wohltaten nicht demütigen – denn wir haben ein Recht daran. Wir sind es, die Onkel Rolf Wohltaten erweisen.“
„Wie soll ich das verstehen, liebe Mutter?“, hatte Ria gefragt.
Da hatte ihr die Mutter ein Geheimnis anvertraut, das bisher in ihrer Brust verschlossen geblieben war. Ria hatte mit klopfendem Herzen gelauscht, und mit großen Augen auf die Papiere gesehen, die ihr die Mutter zum Beweis ihrer Eröffnungen vorgelegt hatte.
Seit jenem Tag empfand Ria Rottmann die Wohltaten Rolf Materns nicht mehr als eine drückende Last.
Sie wusste nun gleich der Mutter, dass Rolf Matern ihnen nur so viel Gutes tat, um eine geheime Schuld abzutragen. Sie wusste, dass sie noch viel mehr von ihm zu fordern berechtigt war.
Aber gleich der Mutter verzichtete sie freiwillig, diese Rechte geltend zu machen.
„Wir haben, was wir brauchen, Kind“, hatte die Mutter gesagt, „Und Onkel Rolf wird, auch wenn ich einst nicht mehr bin, für dich sorgen, das weiß ich gewiss. Sollte er es aber vergessen, so nimm diese Papiere und lege sie ihm vor. Er ahnt nicht, dass sie existieren, aber er wird sich dann keinen Augenblick besinnen, alle deine Forderungen zu erfüllen. Dazu wird es, wie ich hoffe, nie kommen. So lange es nicht nötig ist, soll er nicht wissen, dass wir seine Schuld kennen, und du wirst es ihn so wenig fühlen lassen, wie ich es getan habe. Nicht wahr – nun bist du ruhig darüber, dass deine Mutter Wohltaten von einem fremden Mann annahm?“
Die Papiere, die ihr die Mutter vorgelegt hatte, lagen gut verwahrt in dem kleinen Schreibtisch, den Ria nun mit sich in Rolf Materns Haus nehmen wollte. Obwohl Ria nun wusste, dass Onkel Rolf ihr noch mehr schuldig war, als er gab, konnte sie sich nicht ganz von dem Druck befreien, der so lange auf ihr gelegen hatte.
Aber es war ganz sonderbar – lieber war er ihr geworden, seit sie wusste, dass er nicht der untadelige Mensch war, für den sie ihn immer gehalten hatte. Er erschien ihr nun menschlicher. Ihr weiches Herz litt mit ihm unter der Schuld, die er so edel zu sühnen suchte, obwohl er glaubte, dass kein Mensch darum wisse. Sie vermochte es nicht, verächtlich von ihm zu denken oder ihn zu verurteilen. Das lag wohl daran, dass ihr die Mutter sein Vergehen in so mildem Licht gezeigt hatte: „Kind, es ist so leicht, schuldig zu werden, und so schwer, schuldlos zu bleiben. Man soll niemand verdammen, der menschlich gefehlt hat.“
Seinem fast täglichen Kommen sah sie mit immer größerer Freude entgegen. Welch ein treuer Freund, welch eine Stütze war er ihr gewesen in den letzten, schlimmen Wochen! Die besten Ärzte hatte er an das Krankenbett der Mutter berufen, an nichts hatte er es fehlen lassen.
Leider hatte die geliebte Mutter trotzdem sterben müssen, und in Onkel Rolfs Hände hatte sie das Geschick ihres Kindes gelegt. Noch klangen Ria die Worte in den Ohren, die ihre Mutter ihm gesagt hatte: „Für das, was Sie an mir und meinem Kind tun – soll Ihnen der Vater im Himmel alle Schuld vergeben, die je Ihre Seele bedrückt hat und bedrücken wird. Ich flehe seinen Segen auf Sie herab.“
Bleich und erschüttert hatte sich Onkel Rolf über die segnende Hand gebeugt.