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Weil sie seit langem Carol Magnus, den gefeierten Violinvirtuosen, liebt, trennt sich Leonore Strasser von ihrem Mann. Die sechsjährige Dagmar bleibt bei ihrem Vater. Aber Rudolf Strasser quälen fortan finstere Zweifel: Ist Dagmar wirklich seine Tochter? Er beschließt, sie fortzugeben, damit das kleine Mädchen ihn nicht ständig an die Untreue seiner Frau erinnert und den tiefen Schmerz in ihm nicht immer wieder aufwühlt. Als Rudolf Strasser Jahre später sein Unrecht einsieht, ist es schon fast zu spät...
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Seitenzahl: 177
Cover
Impressum
Die verstoßene Tochter
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Anne von Sarosdy/Bastei Verlag
E-Book-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-2185-2
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Die verstoßene Tochter
Ein junges Mädchen auf seinem dornenreichen Weg ins Glück
Tante Brigitte, weshalb ist Vati jetzt so böse?“
„Er ist doch nicht böse, Dagmar.“
„Hast du nicht bemerkt, wie finster und böse er mich ansah, als er eben einen Augenblick ins Zimmer kam? Gleich ging er wieder hinaus. Sonst hat er mich immer in den Arm genommen und mich geküsst und gestreichelt und hat ‚Mein süßes Kind‘ zu mir gesagt. Jetzt ist er nie mehr zärtlich zu mir, immer sieht er mich so böse an.“
„Er ist gewiss nicht böse – nur sehr unglücklich.“ Bei diesen Worten streichelte Tante Brigitte liebevoll und mitleidig über das seidenweiche Haar.
Dagmar sah mit großen Augen zu ihr auf. „Unglücklich?“
Die alte Dame seufzte und zog das Kind voll tiefen Mitleids in ihre Arme. „Unglücklich sein ist etwas sehr Trauriges und Schlimmes, mein liebes Kind. Dein Vati ist nicht böse, nur sehr unglücklich. Alle Sonne ist fort aus seinem Leben.“
Das reizende Kindergesicht wurde blass, und die Augen wurden noch größer und furchtsamer.
„Deshalb sieht Vati so finster aus, weil die Sonne fort ist. Warum ist sie von ihm fort?“
„Das verstehst du nicht, Dagmar, dazu bist du noch zu klein.“
„Kann man für Vati die Sonne nicht wiederholen? Kann ich es nicht tun? Ich wollte so weit wandern, bis ich ganz müde wäre, um ihm die Sonne wiederzuholen.“
Es zuckte in Tante Brigittes Gesicht wie verhaltenes Weinen. „Armes, liebes Kind!“
„Bin ich arm? Ich denke, arme Leute haben nichts zu essen und kein Geld, um sich Kleider zu kaufen. Aber daran fehlt es mir doch nicht.“
„Nein, daran nicht, aber man kann auch anders arm sein.“
„Jetzt weiß ich es. Du nennst mich arm, weil es mir weh tut, dass Vati so – wie sagtest du doch – unglücklich ist. Kann ich ihm denn nicht helfen – auch sonst kein Mensch, wenn ich ihn sehr darum bitte?“
Brigitte Hartmann schüttelte den Kopf. „Nein, kein Mensch. Nur der liebe Gott kann helfen.“
„Oh, dann will ich ihn bitten, jeden Abend, wenn ich mein Abendgebet sage.“
Die alte Dame sah nach der Tür, hinter der vor einer Weile ihr Vetter Rudolf Strasser, Dagmars Vater verschwunden war. Sie hatte sehr wohl den finster grübelnden Blick bemerkt, den er auf Dagmar geworfen hatte. Wenn er jetzt gehört hätte, was das Kind zu ihr sprach, ob es ihn gerührt hätte, ob er seinen finsteren Argwohn dann nicht begraben hätte? Sie seufzte.
Dagmar spielte jetzt wieder mit ihren Puppen, die sie aus den Händen gelegt hatte, als ihr Vater die Tür geöffnet hatte. Zärtlich streichelte sie jetzt eine ziemlich ramponierte Puppe, während die neuen, schöneren Puppen nur artig aufgereiht in den Kissen saßen. Liebevoll drückte sie die hässliche Puppe an sich.
„Tante Brigitte, ist das nicht sonderbar, meine Puppe Lisa hat keinen Vater, und ich habe keine Mutter. Warum ist nur meine Mutter fortgegangen von Vati und mir?“
Erschrocken sah Frau Brigitte das Kind an. „Schweig, Dagmar, du sollst doch nicht von deiner Mutter sprechen. Du weißt, wenn Vati es hört, wird er böse.“
Ängstlich sah Dagmar nach der Tür. Sie hob sich auf die Zehenspitzen, schmiegte sich dicht an die Tante, ihr Puppenkind krampfhaft festhaltend, und flüsterte: „Vati ist ja nicht hier, er kann es nicht hören. Aber zu dir darf ich doch von Mutti sprechen, dir tut es doch nicht weh, nicht wahr? Und – ich möchte dich so gern etwas fragen.“
„Was denn, Dagmar?“
„Warum meine Mutti fort ist, auf eine so weite, weite Reise, dass sie nie mehr wiederkommen kann? Früher reiste sie doch immer nur mit Vati und mir, und da war Vati immer lieb. Seit Mutti fort ist, ganz allein auf weite Reise, seitdem hat Vati mich nie mehr geküsst und gestreichelt. War ich vielleicht unartig?“
Wieder zog Brigitte Hartmann das Kind in ihre Arme. „Nein, du warst gewiss nicht unartig, Kind; nur darfst du niemals von Mutti sprechen, wenn Vati es hören kann.“
„Nun sag mir doch noch schnell, warum Mutti ohne mich auf die weite Reise gegangen ist.“
„Weil man kleine Mädchen auf so weite Reisen nicht mitnehmen kann.“
„Oh, ich war doch mit Vati und Mutti schon dreimal an der See und einmal bei den großen Bergen, die ganz weiße Schneemützen aufhaben, mitten im Sommer.“
„Ja, aber deine Mutti ist noch viel, viel weiter fort, weißt du, über das große, weite Meer, in ein fernes Land.“
Dagmar schüttelte bekümmert den Kopf. „Und da ist meine Mutti ganz allein hingereist? Wie sie sich nach mir bangen wird!“
Die alte Dame biss sich auf die Lippen, um einen Ausruf zu unterdrücken. „Du musst nicht so viel fragen, Kind, du bist noch zu klein, als dass man es dir erklären könnte. Komm, spiele mit Lisa, wir wollen ihr ein neues Kleid nähen.“
Dagmar hielt wie schützend die Hand über ihre Puppe. „Nein, nein – Lisa soll kein anderes Kleid tragen als dieses. Mutti hat es selbst genäht, als sie mir Lisa schenkte. Für die anderen kannst du neue Kleider machen, die putzen sich gern und können nicht genug neue Kleider haben. Lisa ist mein süßes Herzkind, wie ich Muttis süßes Herzkind war.“
Frau Brigitte holte schnell einen Flickenkasten hervor und ließ Dagmar auswählen, was für Kleider die Puppen haben sollten. Dagmar war schnell mit Interesse dabei.
Eine Stunde spielte Frau Brigitte mit dem Kind, dann meldete der Diener, das Mittagessen werde gleich aufgetragen, und der gnädige Herr sei gekommen.
Frau Brigitte warf Dagmar schnell ein frisches Kleidchen über, bürstete ihr die Locken und mahnte besorgt: „Nun sei recht artig, dass Vati nicht schelten muss.“
Beklommen nickte das Kind, deckte schnell noch ihre Lisa zu und ließ sich von der Tante hinausführen. Sie gingen beide hinunter, durch die schöne Wohndiele hinüber in das Speisezimmer, das, wie alle Räume der Villa Strasser, mit gediegener Pracht, aber ohne überladen zu wirken, ausgestattet war. Eine kleinere runde Tafel war im Erkerausbau gedeckt, wenn keine Gäste anwesend waren. Jetzt wurden schon lange keine Gäste mehr empfangen – seit die Hausfrau fehlte. Vor der großen Anrichte stand ein Diener bereit, um die Suppe aufzufüllen. Er wartete nur noch auf den Hausherrn. Dieser trat gleich nach Frau Brigitte und dem Kind ein. Seine dunklen Augen blickten wirklich, wie Klein Dagmar gesagt hatte, finster und unfroh. Ein herber, bitterer Schmerzenszug lag um seinen Mund, seine Bewegungen waren hastig und verkrampft wie bei einem Menschen, der sich unfrei fühlt.
Mit einem Kopfneigen grüßte er seine Kusine, aber er sprach kein Wort. Das Kind schien er gar nicht zu beachten. Stumm löffelte er seine Suppe, die Augen auf den Teller geheftet.
In diesem Moment glitt ein Sonnenstrahl zum Fenster hinein über sein Haupt. Das bemerkte Dagmar. Sie vergaß, dass sie bei Tisch nicht sprechen solle, und rief froh und erregt: „O Vati, Vati, sieh doch, die Sonne ist wieder bei dir, sie scheint auf deinen Kopf! Wie schön, nun wirst du nicht mehr unglücklich sein, nun wirst du wieder froh, nicht wahr?“
Der Vater erblasste. Er warf Messer und Gabel auf den Tisch, erhob sich so jäh, dass der Sessel umfiel, und sagte heiser: „Ich ertrage das nicht, Brigitte, bring das Kind aus dem Zimmer – schaffe es mir aus den Augen!“
Die alte Dame erhob sich schnell, sah ihn erschrocken an und führte Dagmar hinaus. Draußen übergab sie sie einem Hausmädchen und strich ihr tröstend über ihr Haar. Dagmar wusste gar nicht, weshalb sie fortgeschickt wurde. Die alte Dame gab Befehl, Dagmar etwas von der süßen Speise zu geben und sie dann für den Mittagsschlaf zu Bett zu bringen.
„Ich komme nachher noch zu dir, Dagmar“, sagte sie so ruhig wie möglich.
Dagmar hielt die Tante fest, als diese wieder in das Speisezimmer zurückgehen wollte. „Ich hab’ doch gar nicht von Mutti gesprochen, Tante Brigitte; warum war Vati so böse?“, flüsterte sie ängstlich.
„Er ist krank, mein Kind, du musst nicht mehr daran denken. Schlaf, mein armes Herz, ich komme nachher zu dir.“
Das Kind herzlich küssend, nickte sie ihm noch einmal zu und ging in das Speisezimmer zurück. Dort stand Rudolf Strasser abgewandt am Fenster. Frau Brigitte winkte dem Diener, sich zu entfernen. Dann trat sie neben ihren Vetter ans Fenster. Draußen lag der schöne große Garten, der die Villa umgab, in voller Frühlingsblüte, und die Sonne schien warm wie im Sommer. Aber der unglückliche Mann am Fenster schien dies alles nicht zu sehen.
Sie legte die Hand auf seinen Arm. „Rudolf – so geht das nicht weiter“, sagte sie leise.
Er wandte sich hastig nach ihr um. „Nein! Nein, so geht es nicht weiter, Brigitte, ich fühle es selbst. Das Kind muss fort, muss mir aus den Augen. Ich ertrage seinen Anblick nicht länger.“
„Aber Rudolf, sei doch nicht ungerecht. Was kann dein armes Kind dafür, dass du so unglücklich geworden bist?“
Er lachte scharf und schneidend. „Mein Kind? Wie kann ich wissen, ob es mein Kind ist?“
„Rudolf!“
Wie ein Verzweifelter fuhr er über seine Stirn. „Du bist entrüstet, Brigitte, du kannst mich eben nicht verstehen. Dein Leben ging immer im ruhigen Gleichmaß dahin. Freilich verlorst du deinen Mann, aber du verlorst ihn nach langer, harmonischer Ehe durch den Tod – er wurde dir nicht durch das Leben, durch einen unerhörten Verrat genommen. Mir nahm die Frau, die ich liebte, alles! Du ahnst ja nicht, wie unsagbar ich Leonore geliebt habe. Ich war bis zu meinem fünfundvierzigsten Jahr Junggeselle geblieben, weil keine Frau mir wert genug erschien, ihr meine Freiheit zu opfern. Dann lernte ich Leonore kennen, sah sie in Armut und Abhängigkeit – und sie erschien mir wie eine Königin! Alles legte ich ihr zu Füßen, was ich besaß – und mich selbst auch. Ich liebte sie, die Zwanzigjährige, wie nur ein reifer Mann in meinen Jahren lieben kann – ich betete sie an. Sie nahm mein ganzes Leben, nahm es in ihre spielerischen Hände – und zerbrach es. Aber sie tat es grausamerweise erst, nachdem sie mir Jahre unaussprechlichen Glücks beschert, nein, vorgetäuscht hatte. Denn dies Glück war Lüge – Lüge wie alles, was sie tat und sprach! Weißt du, ahnst du, was ich gelitten habe, als ich dies erkannte, als sie eines Tages von einer Ausfahrt nicht mehr wiederkam, als mir der Diener, der sie begleitet hatte, jenen Brief überreichte, in dem sie mir das Furchtbare mitteilte? Sie habe mich nie geliebt, sie sei nur meine Frau geworden, weil sie den täglichen Sorgen habe entgehen wollen, weil sie auch einmal hätte spüren wollen, wie es sei, keine pekuniären Sorgen zu haben und … weil sie keine Möglichkeit gesehen habe, die Frau jenes anderen zu werden, mit dessen Bild im Herzen sie meine Frau geworden sei. Und nun habe es plötzlich eine Möglichkeit gegeben, sich mit diesem Manne verbinden zu können, und da gäbe es kein Zögern, kein Halten, sie müsse – müsse dem Mann folgen, den sie mit jeder Faser ihres Seins liebe! Lange habe sie gekämpft, aber sie könne nicht anders. Ich möge ihr verzeihen. Es tue ihr weh, mir Schmerzen bereiten zu müssen, denn sie wisse, dass ich sie liebe.“ Er lachte rau und schlug sich mit den Fäusten vor die Stirn.
Frau Brigitte sah ihn erschüttert an. So hatte er sich noch nie gehen lassen, so tief hatte er sie noch nie in sein zerrissenes Inneres sehen lassen. Sie vermochte kein Wort zu seinem Trost hervorzubringen.
Er aber fuhrt fort, als müsse endlich einmal alles von seiner Seele herunter: „Ja – ja, sie wusste, was sie mir antat – und ging doch! Was galt ich ihr? Nichts! Und das Kind? Ja, das Kind ließ sie mir zurück, weil sie, wie sie mir schrieb, so ein kleines zartes Wesen nicht mit hinausreißen wollte in das unruhige Leben, das ihrer warte. Ja, das Kind ließ sie mir, zur ewigen Marter, zum ewigen Zweifel, denn weiß ich denn, wie weit sie mich betrog? Weiß ich, ob sie einem andern nicht die gleichen Rechte einräumte wie mir, solange sie in meinem Haus lebte? Weiß ich denn, ob dieses Kind mein Kind ist? Brigitte, ich sage dir, es ist die härteste Qual für einen Mann, wenn ein Kind in seinem Hause aufwächst, und er weiß nicht, ob es sein Kind ist.“ Aufstöhnend warf er sich in einen Sessel und schlug die Hände vors Antlitz.
Sie trat voll Erbarmen an seine Seite. „Rudolf, wenn Dagmar nicht dein Kind wäre, wenn sie das jenes anderen wäre, meinst du nicht, dass sie es dann mitgenommen hätte in die Ehe mit jenem Mann?“
Er machte eine finster abwehrende Bewegung. „Vielleicht wollte sie nur nicht ihr Kind, das standesamtlich als das meine beglaubigt ist, eines reichen Erbes verlustig gehen sehen. Weise ich Dagmar aus meinem Hause, so mag Gott es mir verzeihen. Ich will Dagmar auch keines ihrer durch das Gesetz verbrieften Rechtes entziehen, sie soll alle pekuniären und gesellschaftlichen Vorteile genießen, als wäre sie mein Kind. Nur sehen kann ich sie nicht länger, wenn ich nicht den Verstand verlieren soll. Wir müssen ein Unterkommen für sie finden, wo sie gut aufgehoben ist und unbeschwert von Sorgen aufwachsen kann. Ich muss nur nachdenken, ich finde schon etwas. Und ich bin gewiss, wenn sie fort ist, werde ich ruhiger.“
Brigitte Hartmann wurde ganz still. Sie sah ein, dass sie das Schicksal einer Verstoßenen nicht von Dagmar abwehren konnte. Das Herz tat ihr weh – Rudolfs wegen und Dagmars wegen. Sie liebte die Kleine herzlich, liebte sie mit der ganzen Innigkeit einer Kinderlosen, die nie Mutterglück genossen. Brigittes sonst so glücklicher Ehe hatte der Kindersegen gefehlt, und als ihr Mann nach fünfundzwanzigjähriger Ehe starb, war sie ganz einsam zurückgeblieben. Trotzdem sie ein sorgloses Leben hätte führen können, da sie ein Vermögen besaß, von dessen Zinsen sie ihren Lebensunterhalt hätte bestreiten können, nahm sie Rudolf Strassers Angebot, ihm die Hausfrau zu ersetzen, an, als Leonore in die weite Welt gegangen war.
Sie war schon vorher oft im Strasserschen Haus gewesen, hatte die junge Frau ihres Vetters wegen ihrer Schönheit und Grazie und wegen vieler liebenswerter Eigenschaften bewundert. Auch ihr hatte es sehr weh getan, dass dieses liebenswerte Geschöpf geflohen war aus der sicheren Hut eines reichen Hauses, um nun ein unsicheres Leben an der Seite eines Künstlers zu führen, der sie vielleicht nicht so zärtlich und sorgfältig behüten würde, wie es Rudolf getan. Wohl mochte sie der andere auch lieben, sonst hätte er sie nicht mit sich genommen auf den Weg, auf dem er Ruhm und Ansehen gewinnen wollte. Würde Rudolf nie vergessen, was Leonore ihm geopfert hatte, als sie eine ruhige, sichere Existenz aufgab, einen Gatten, der sie anbetete, und ein geliebtes Kind verließ?
Sich aus schmerzlichen Gedanken aufrichtend, sagte Brigitte: „So tue, was du musst, Rudolf – ich kann leider nichts weiter zu Dagmars Gunsten anführen, als ich es schon getan. Nur tue dir selbst nicht weh! Du hast doch dein Kind geliebt.“
Er fuhr auf. „Das ist alles zerstört, vernichtet! Wenn das Kind mich ansieht mit seinen unschuldigen Augen, ist mir, als sähe ich die Lüge darinnen, denn – sie hat ihrer Mutter Augen, die mich auch belogen haben. Und dann ist mir, als wenn Hass gegen das Kind in meiner Seele aufsteige. Verstehst du das? Also wirst du einsehen, dass Dagmar mir aus den Augen muss – für immer!“
Brigitte Hartmann neigte erschüttert das Haupt. „Ja, Rudolf, ich sehe es ein.“
Er erhob sich und atmete wie erleichtert auf. Rasch nahm er ihre Hand. „Ich danke dir, Brigitte, dass du mich zu verstehen suchst, und dass du mir die Wohltat gewährtest, alles einmal aussprechen zu können. Behalte es für dich. Ich weiß, ich kann dir vertrauen. Und nun muss ich gehen. Geschäfte erwarten mich noch zum Wochenschluss. Gut, dass ich so viel Arbeit habe, sie allein lässt mich das Leben noch ertragen. Ich werde mich also nach einem passenden Unterkommen für Dagmar umsehen. Möglichst weit weg will ich sie bringen. Sie ist jung und wird schnell vergessen und sich an eine neue Umgebung gewöhnen. Auf Wiedersehen am Abend, Brigitte!“
Und er verließ schnell das Zimmer, als fürchte er, Brigitte könne noch einen Versuch machen, ihn umzustimmen.
***
Von jenem Tag an, als Rudolf Strasser den Entschluss gefasst hatte, Dagmar fortbringen zu lassen, schien es, als wäre mit dem kleinen Mädchen alle Freude aus dem großen, düsteren Haus fortgegangen. Nie mehr durfte Dagmars Namen vor ihrem Vater erwähnt werden, denn wenn dieser auch erleichtert schien, dass ihn nun nichts mehr an den Treuebruch seiner Frau erinnern und den tiefen Schmerz wieder in ihm aufwühlen konnte, so quälte ihn doch fortan das Gefühl einer unbestimmten Schuld. Zwar erfüllte Tante Brigitte seinen Wunsch, ihm gegenüber nie wieder von ihrem geliebten kleinen Mädchen zu sprechen, aber oft las er in den kummervollen Blicken, mit denen sie ihn bedachte, leisen Vorwurf und tiefe Sorge um Dagmars Schicksal.
Das kleine Mädchen war in die Obhut von Rudolfs Vetter Egon Strasser nach Italien gegeben worden. Dagmar sollte nun in dessen Castello gemeinsam mit seiner Tochter Elena aufwachsen, die ungefähr im gleichen Alter war. Für Dagmars Wohl war durch ein reiches Nadelgeld gesorgt.
Rudolf Strasser hatte sich von seinem Vetter Egon regelmäßig Berichte über Dagmars Ergehen ausgebeten, die jedoch nach seinem Willen rein sachlich gehalten sein sollten und nur Dagmars Gesundheitszustand und die Ergebnisse ihrer Erziehung zum Inhalt haben durften.
Sehr zum Kummer von Tante Brigitte entsprach Egon Strasser dem Wunsche seines Vetters und vermied in seinen Briefen jede Nachricht über das seelische Wohlergehen seines Schützlinges, um das sich die alte Dame mit Recht die meisten Sorgen machte.
Brigitte Hartmann hatte nämlich vor Jahren bei Egons Hochzeit dessen Gattin, die Marchesa Caterina, kennen gelernt und dabei den Eindruck gewonnen, dass diese eine kaltherzige, egoistische und vergnügungssüchtige Frau sei, die bei all ihrem Tun nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht war. Die Vorstellung, dass ihr kleiner Sonnenschein Dagmar nun auf Wohl und Wehe von einem solchen Menschen abhängig sein sollte, lag wie eine schwere Last auf ihrer Seele. Diese Last konnte sie aber mit niemandem teilen, denn sie hatte Rudolf Strasser ihr Wort gegeben, Dagmars Namen nie wieder zu erwähnen.
Der einzige Mensch, der sich aber außer ihr noch ehrlich um das Wohlergehen des kleinen Mädchens sorgte, war Werner Falkner. Der Sohn von Rudolf Strassers Prokuristen Hermann Falkner hatte Dagmar oft gesehen, bevor sie das Elternhaus verlassen musste, und war von ihrem empfindsamen, liebreizenden Wesen tief berührt worden. Er hatte nie verstanden, warum Dagmar fortgeschickt worden war, ahnte aber, dass ein düsteres Geheimnis zwischen Vater und Tochter stehen müsse. Aus diesem Grund vermied er es, Rudolf Strasser danach zu fragen, obwohl er dazu oft Gelegenheit gehabt hätte.
Da seines Vaters Chef nämlich nicht mit einem männlichen Erben gesegnet war und er Dagmar zwar das Besitzrecht, nicht aber die Aufsicht über seine Firma übertragen konnte, hatte er schon lange nach einem jungen Mann Ausschau gehalten, der geeignet war, einmal sein Nachfolger zu werden. Und je länger er den jungen Werner Falkner kannte, und seine Entwicklung beobachtete, desto mehr war in ihm die Überzeugung herangereift, dass der junge Mann das Zeug hatte, sein Werk in seinem Sinne fortzuführen, wenn er sich einmal zurückzog oder abberufen wurde.
So war es gekommen, dass Rudolf Strasser Werner im Lauf der Jahre als seinen Vertrauten in das große Unternehmen Strasser & Sohn einführte. Da er ihn auch menschlich sehr schätzte, suchte er oft und gern seine Nähe, um in langen Gesprächen die Leere und Trostlosigkeit seines Lebens zu vergessen.
Jahre waren vergangen. Zwischen Werner und Rudolf Strasser hatte sich ein sehr harmonisches Verhältnis herausgebildet. Rudolf Strasser hängte sein vereinsamtes Herz an diesen jungen Mann, fast, als sei er sein eigener Sohn.
Jede Woche verbrachte Werner mindestens einen Abend in der Villa Strasser. Er saß dann mit dem Hausherrn und Brigitte Hartmann beim Abendessen zusammen. Sie hatte inzwischen ganz weißes Haar bekommen und war etwas schwerfällig geworden, weil sie an Rheumatismus litt, aber sie war geistig noch sehr rege und hatte noch immer die Zügel des Haushalts fest in Händen. Beim Abendessen plauderten die drei sehr lebhaft miteinander.
Aber nie wurde bei diesen Unterhaltungen Dagmars Namen erwähnt. Werner Falkner wusste von Frau Brigitte, dass Rudolf Strasser um keinen Preis an seine Tochter erinnert werden wollte. Warum nicht, hatte sie ihm nicht gesagt, aber er war feinfühlig genug, um auch ohnedies zu merken, dass etwas Schweres, Düsteres zwischen Vater und Tochter liegen müsse. Es tat ihm sehr Leid, dass Dagmar noch immer nicht in ihr Vaterhaus zurückgekehrt war.