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Der deutsche Ingenieur Werner Kronegg übernimmt den Bau einer Straße durch Afrika. Bei ihm sind seine Frau, sein Töchterchen und der junge Tommy Rainer, ein anhänglicher Freund der Familie. Während der entbehrungsreichen Jahre in einem primitiven Lager ist Tommy der unentbehrliche Spielgefährte der kleinen Ursula Kronegg. Kurz bevor die Kroneggs nach Deutschland zurückkehren wollen, bricht ein Aufstand aus und zerstört jäh das Glück der Familie. Tommy Rainer kann sich nun dankbar erweisen; unter seinem Schutz fährt die junge Ursula in ihre Heimat. Hier besteht das zarte Geschöpf die ersten Begegnungen mit der Welt der Zivilisation, und hier beginnt auch die rührende Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen...
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Seitenzahl: 173
Cover
Impressum
Da sah er eine blonde Frau
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Anne von Sarosdy/Bastei Verlag
E-Book-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-2189-0
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Da sah er eine blonde Frau
Roman um einen jungen Mann, der in einen gefährlichen Zwiespalt gerät
Nachdenklich blickte Werner Kronegg seine Frau an.
Wie viel Glück und Frieden hatte Regine in sein Leben gebracht! Noch heute erschien es ihm wie ein Wunder, dass sie sich für ihn, den armen Ingenieur, entschieden hatte. An der Seite Rudolf Schrotts, der sie damals auch umworben hatte, wäre ihr gewiss ein glänzendes Los zuteil geworden.
Schrott war damals bereits Oberingenieur gewesen und später zum Direktor der Firma aufgestiegen, in der auch Werner Kronegg bis vor kurzem gearbeitet hatte. Nie hatte Rudolf Schrott es verwunden, dass Regine ihn abgewiesen hatte, und aus Rache hatte er Werner immer deutlicher seinen Hass spüren lassen. Vor wenigen Wochen nun hatten sich die beiden Männer endgültig überworfen, und Direktor Schrott hatte Werner daraufhin die fristlose Kündigung ausgesprochen. Er wollte auch dafür sorgen, dass Werner in Deutschland keine Arbeit mehr finden würde.
Doktor Heinz Brand, ein guter Freund der Kroneggs, war Werner dann zu Hilfe gekommen. Ihm hatte er es zu verdanken, dass er jetzt für den Bau einer Autostraße von Kapstadt nach Ostafrika zuständig sein sollte. Der Hauptsitz der Firma Vandervelde, Körner & Co., bei der Werner für die nächsten zehn Jahre Anstellung gefunden hatte und deren Mitinhaber Heinz Brands Onkel war, war in Transvaal. Und das war nun Werners Reiseziel.
Anfang April war er mit seiner Frau und seiner siebenjährigen Tochter Ursula nach Hamburg abgereist. Heinz Brand war auch am Bahnhof gewesen, um seinen Freunden Adieu zu sagen. Es war kein leichter Abschied; für beide Teile nicht.
Frau Regina stiegen die Tränen in die Augen, denn es war ja nicht nur ein Abschied von dem Freund, sondern auch von der Heimat.
War es ein Abschied für immer?
Hand in Hand standen die beiden Gatten im Zug und richteten diese Frage an das Schicksal.
Klein Ursula drückte das Näschen an die Fensterscheibe. Mit großen Augen schaute sie hinaus in die vorbeigleitende Landschaft. Wachte auch in ihrer jungen Seele ein unsicheres Begreifen auf, dass sie jetzt heimatlos geworden war?
Unruhig forschend sah sie zu den Eltern empor. „Väterchen, Mutti! Wohin fahren wir denn?“, fragte sie.
Die Eltern schraken aus ihrer schmerzvollen Versunkenheit auf und umfassten beide zugleich ihr Kind. Eng umschlungen standen alle drei.
„Wir fahren weit, weit fort, in ein fremdes Land, Urselchen, aber wir bleiben zusammen, du, Vater und Mutti. Und wir wollen uns nun noch viel lieber haben als bisher“, erwiderte Werner Kronegg mit rauer Stimme. Und er küsste seine Frau und küsste sein Kind und sagte tief erschüttert: „Dass ich euch das nicht ersparen konnte, ihr meine Liebsten!“
Da schluckte Frau Regine tapfer die aufsteigenden Tränen hinunter, und ihre Augen strahlten wieder hell und zuversichtlich. „Wir fahren ins Glück, Werner, sei ganz getrost, wir fahren ins Glück“, sagte sie, das eigene Bangen beschwichtigend. „Alles, was quälend und drückend war, lassen wir hinter uns. Froh und unverzagt wollen wir vorausblicken. Gott wird weiterhelfen!“
Regina sah, wie Werner mit sich kämpfen musste, wie Angst und Sorge um sie und Ursula immer wieder in ihm hochkamen – die Angst, ob er Weib und Kind nicht Elend brächte.
Da konnte sie wieder lachen um ihm Mut zu machen. Ursula wurde schnell wieder vergnügt, und auch Regina zwang alles Bangen nieder, um dem Gatten über seine Sorgen hinwegzuhelfen.
So kamen die drei Auswanderer in leidlich guter Stimmung in Hamburg an und begaben sich an Bord des Dampfers. Eine hübsche Kabine wurde den dreien angewiesen, in der zwei große Betten und ein Kinderbett standen.
Man ging gleich daran, sich wohnlich einzurichten. Bald darauf wurde auf Deck der Tee serviert, und Ursula tat sich gütlich an all den guten Dingen, die dazu gereicht wurden.
„Hier gefällt es mir, Mutti! Hier wollen wir recht lange bleiben. Oder müssen wir schon bald wieder aussteigen?“
„Nein, Ursula, noch lange nicht.“
„Erst heute Abend wohl, wenn es ganz dunkel ist?“
Regine lächelte. „Nein, wir bleiben viele Tage hier an Bord des Dampfers.“
„Oh! Viele Tage? Das ist fein! Und ich brauche all die Tage nicht zur Schule zu gehen?“
„Nein, aber lernen musst du trotzdem jeden Tag mit Mutti“, erklärte der Vater.
Ursula nickte vergnügt. „Mit Mutti lerne ich gern, das macht mir Spaß. Aber wenn wir den Dampfer verlassen, werde ich wohl in dem fremden Land in eine andere Schule gehen müssen?“
„Wahrscheinlich wirst du von jetzt an immer bei Mutti lernen.“
Ursula strahlte. „Oh, dann will ich gern in dem fremden Land bleiben!“ Und äußerst zufrieden mit dem Stand der Dinge, nahm sie sich einen leckeren kleinen Kuchen und verspeiste ihn mit Genuss.
Dann wurde wieder zugesehen, wie neue Passagiere an Bord kamen. Dabei verging die Zeit sehr schnell.
Als zum Abendessen geläutet wurde, begab man sich in den Speisesaal, und wieder war Ursula sehr zufrieden mit der Mahlzeit, ihre Eltern übrigens auch.
Die Nacht verbrachte Ursula in tiefem Schlaf, aber die Eltern lagen noch lange wach. Die ungewohnte Umgebung allein war es nicht, die sie am Einschlafen hinderte; allerlei sorgenvolle Gedanken ließen sich nicht so schnell verscheuchen. Und sehr frühzeitig standen die Eltern wieder auf. Auch Ursula wurde zeitig wach. Sie nahmen zusammen das Frühstück ein, das ebenfalls Ursulas Beifall fand, und gleich danach wurden die Anker gelichtet. Langsam setzte sich der Dampfer in Bewegung.
Während der ganzen Reise hatten sie gute Fahrt, kaum, dass zuweilen die Wogen etwas heftiger gegen die Bordwand klatschten. Ursula war auf dem Dampfer bald ganz zu Hause. Sie hatte viele Freunde unter den Passagieren gefunden. Es waren wenige Kinder an Bord, aber doch genug, dass Ursula einige Spielgefährten hatte. Aber auch unter den Erwachsenen hatte Ursula ihre besonderen Freunde, die sich gern mit dem reizenden Mädchen beschäftigten.
***
Dreißig Tage nach der Abreise von Hamburg legte der Dampfer in Swakopmund an. Hier verließ eine Anzahl der Passagiere den Dampfer, aber es kamen wieder neue dazu, die von Swakopmund nach Kapstadt fahren wollten.
Auch Werner Kronegg verließ mit seiner Familie in Kapstadt den Dampfer. Sie wollten erst am übernächsten Tag nach Pretoria weiterfahren und gaben gleich ein Telegramm an Justus Körner, Heinz Brands Onkel, auf, das ihre genaue Ankunftszeit meldete. Das große Gepäck ließen sie weitergehen, so dass sie sich bis zu ihrer Ankunft in Pretoria nicht darum zu kümmern brauchten.
Eine Weile standen sie in dem sie umgebenden Menschengewühl und hielten Umschau nach einem Kofferträger.
In diesem Augenblick trat ein junger Mann an sie heran. Er mochte die Mitte der Zwanzig erreicht haben. „Darf ich Ihnen meine Dienste anbieten, mein Herr?“
Werner wandte sich erstaunt um. Die ersten Worte, die hier im fremden Land an ihn gerichtet wurden, waren in deutscher Sprache gesprochen worden. Auch Regina wandte sich dem jungen Mann zu.
„Sie sind ein Deutscher?“, fragte Werner.
„Ja, ich bin, gleich Ihnen, mit diesem Dampfer eingetroffen, doch ich kam erst in Swakopmund an Bord.“
„Also kommen Sie aus Südwestafrika?“
„Jetzt ja! Ich versuchte vergeblich in Südwest Arbeit zu finden. Es glückte mir nicht. Man sagte mir, in Transvaal sei eher Arbeit zu finden, entweder in den Minen oder bei dem großen Autostraßenbau. Da bin ich erst einmal nach Kapstadt gefahren und will sehen, dass ich von hier weiterkomme. Denn mein letztes Geld habe ich für die Fahrt nach Kapstadt ausgegeben. Ich muss mir erst etwas verdienen, ehe ich die Reise fortsetzen kann. Darf ich Ihre Koffer tragen?“
Werner nickte und lächelte ein wenig. „Gut, Landsmann, tragen Sie uns die Koffer ins Hotel, das gleich hier in der Nähe liegt! Haben Sie denn wenigstens noch Geld genug, um ein Unterkommen für diese Nacht zu finden?“
„Nein. Aber es ist nicht das erste Mal, dass ich eine Nacht im Freien kampieren muss; wenn ich nur so viel verdiene, dass ich mir etwas zu essen kaufen kann. Das Weitere sei dem Himmel anheim gestellt.“
Reginas Interesse an dem jungen Menschen wurde immer stärker. Sie merkte sehr wohl, dass er sich für einen Arbeiter sehr gebildet ausdrückte und dass er nicht aussah wie ein Mensch niedrigster Herkunft.
Sie sah ihren Mann bittend an und flüsterte ihm zu: „Werner, mir scheint, diesem jungen Mann ist die deutsche Heimat auch etwas schuldig geblieben. Er hat ein ehrliches Gesicht und offen Augen. Lass das Erste, was wir auf fremder Erde tun, eine gute Tat sein! Sieh, ob du diesem deutschen Jungen helfen kannst! Mir ist, als müsse uns das Segen bringen.“
Lächelnd nickte ihr Werner zu. „Ich will sehen, was sich tun lässt, Regi“, sagte er und wandte sich dann an den jungen Mann. „Warum haben Sie uns deutsch angesprochen?“
„Weil ich einige deutsche Worte von Ihnen auffing und weil Sie mit einem deutschen Dampfer angekommen sind.“
„Und Sie sind nur der deutschen Sprache mächtig?“
Der junge Mann sah in Frau Reginas teilnahmsvolle Augen, und jähe Röte stieg in seine Stirn. „Nein, ich spreche auch perfekt englisch und ziemlich gut französisch.“
„Wie heißen Sie?“, fragte Werner weiter.
„Tommy Reiner.“
„Oh, Mutti, ist das Tom der Reimer?“, fragt Ursula, die diesem Gespräch gelauscht hatte.
Ihre Mutter, die eine sehr schöne Stimme hatte, sang daheim oft die Löwesche Ballade von Tom dem Reimer. Der ähnliche Klang dieses Namens hatte das Kind daran erinnert.
Tommy Reiner fuhr zu Ursula herum, die er bisher kaum beachtet hatte, und ihre Eltern mussten lachen.
„Nein, Urselchen, du hast falsch verstanden, der junge Mann heißt Tommy Reiner“, belehrte der Vater, und zu Tommy gewandt fuhr er fort: „Tommy ist ein bei uns wenig gebräuchlicher Vorname.“
Tommy Reiner lachte, dass man alle seine weißen Zähne sah. „Es ist nur eine Abkürzung von Thomas. Ich heiße eigentlich Thomas Reiner. Aber meine Mutter nannte mich Tommy, und weil ich so allein in der Fremde bin, will ich wenigstens diesen Namen führen, mir ist, als müsse dann meine Mutter mir nahe sein. Menschen gegenüber, die ich nicht leiden mag, nenne ich mich Thomas.“
Werner und seine Frau sahen sich an. Der junge Mann gefiel ihnen immer mehr. Er sprach mit so warmer Stimme von seiner Mutter – das konnte kein schlechter Mensch sein.
Werner sagte nun mit einem Lächeln: „Da Sie sich uns gegenüber Tommy nannten, können wir wohl annehmen, dass wir nicht zu den Leuten gehören, die Sie nicht leiden mögen?“
Tommys Blick flog bewundernd zu Frau Regina hinüber, dann blickte er lächelnd in Ursulas reizendes Gesicht, und zuletzt traf sein Blick groß und klar in Werners Augen. „Erlassen Sie mir darauf die Antwort, ich möchte nicht den Anschein erwecken, als wollte ich Ihnen schmeicheln.“
Werner nickte ihm zu. „Gut, Tommy Reiner, kommen Sie mit uns zum Hotel! Dort können Sie uns erzählen, wie Sie aus der Heimat hierher verschlagen worden sind, und wenn der gute Eindruck, den Sie auf uns machen, bleibt, dann können Sie übermorgen mit uns nach Transvaal reisen – vorläufig als unser Diener. Und dann werden wir weiter sehen.“
Tommys Augen leuchteten auf, aber er sagte nichts. Er griff nach den beiden immerhin nicht leichten Handkoffern, die er aufhob, als seien es leere Attrappen.
Bald hatten sie das bezeichnete Hotel erreicht. Hier erhielten sie Zimmer und wurden sehr gut aufgenommen. Auch für Tommy Reiner fand sich ein Zimmerchen. Als Werner ihm sagte, dies sei für heute Nacht für ihn bestimmt, sah Tommy mit einem dankbaren Blick zu Regina hinüber. Er wusste, dass er alles ihrer Fürsprache zu verdanken hatte.
„So, Herr Reiner, nun ziehen Sie sich in ihr Zimmer zurück, damit Sie sich ein wenig erfrischen können“, sagte Werner lächelnd. „Gepäck haben Sie wohl nicht bei sich?“
Tommy atmete tief auf. „Ich habe all meine Habseligkeiten in einem Pappkarton verwahrt, und den gab ich am Hafen einem Matrosen in Verwahrung. Wenn sie gestatten, hole ich ihn mir gleich.“
„Gut. Wenn Sie sich dann umgezogen und erfrischt haben, können Sie mit uns speisen.“
„Ich danke Ihnen sehr. Hoffentlich kann ich einmal wettmachen, was Sie Gutes an mir tun“, stieß Tommy heiser hervor und lief davon, um seine Habseligkeiten zu holen.
Als er nach einer halben Stunde in den Speisesaal trat, wohin ihn Werner hatte rufen lassen, hatte er ein frisches Hemd angezogen. So sah er schon viel besser aus.
„Nehmen Sie Platz, Herr Reiner!“, forderte Regina ihn freundlich auf.
Mit einer fast weltmännisch eleganten Verbeugung ergriff er ihre Hand und führte sie respektvoll an die Lippen. „Ich danke Ihnen sehr, gnädige Frau, dass Sie mir das gestatten“, sagte er.
Bescheiden setzte er sich etwas entfernt von seinen Gastgebern nieder.
Das Essen wurde aufgetragen, und mit einem heimlichen Lächeln sahen sich Werner und Regina an, als sie merkten, wie gründlich Tommy seine Portion vertilgte. Aber er aß mit so guten Manieren, dass Frau Regina darin wieder einen Beweis erblickte, dass er aus einer guten Familie stammte.
Als er fertig war, fragte ihn Werner: „Sind Sie gesättigt, oder möchten Sie noch eine Portion essen?“
Tommys Stirn rötete sich. „Ich danke sehr, ich wollte nur nichts umkommen lassen, deshalb habe ich so gründlich aufgeräumt. Aber ich bin vollkommen gesättigt. Nochmals tausend Dank für Ihre Güte. Ich bitte Sie nur, mir zu vergönnen, dass ich das alles abarbeiten kann, denn – es ist mir ungewohnt, mir etwas schenken zu lassen.“
Es lag etwas in diesen Worten, das nun auch Werner Kronegg veranlasste, seine Reserve diesem jungen Mann gegenüber aufzugeben. „Nun, ich werde Ihnen schon Gelegenheit geben, alles abzuarbeiten. Ich kann es Ihnen sehr wohl nachfühlen, dass Sie uns nichts schuldig bleiben wollen. Nun rücken Sie nur etwas näher, meine Frau und ich haben schon längst herausgefunden, dass Sie nicht sind, was Sie auf den ersten Blick zu sein schienen. Wenn Sie wollen, erzählen Sie uns, wie Sie hierher verschlagen worden sind.“
Tommy sah erst Frau Regina forschend an und blickte dann Werner fest in die Augen. „Ja – Ihnen kann ich es sagen; ich fühle, Sie werden Verständnis für meine Lage aufbringen. Sie, gnädige Frau, haben so gütige Augen, und Ihr Herr Gemahl sieht aus, als könne man Vertrauen zu ihm haben. Zuerst gestatten Sie mir, Ihnen meinen Pass vorzulegen, mein Abgangszeugnis vom Gymnasium, einige Belege, dass ich an der Landwirtschaftlichen Hochschule mehrere Semester studiert habe, und was ich sonst noch an Papieren besitze.“
Bei diesen Worten entnahm er einem Lederbeutel, den er unter dem Hemd auf der Brust trug, eine abgegriffene Brieftasche und breitete die darin enthaltenen Papiere vor Werner aus.
Während dieser sie prüfte, zog Tommy aus der Brieftasche noch eine etwas vergilbte Fotografie. Die hielt er Regina hin.
„Das ist das einzige Bild von meiner verstorbenen Mutter, das ich besitze.“
Regina nahm das Bild und sah in ein edel gebildetes, durchgeistigtes Frauengesicht. „Ihre Mutter ist tot?“
„Ja, gnädige Frau, sonst würde sich mein Leben wohl anders gestaltet haben.“
Mit einem forschenden Blick auf Tommy gab Werner Kronegg ihm seine Papiere zurück. Tommy steckte alles wieder zu sich, und dann begann er zu erzählen.
Seine Stimme klang erst rau und leise, die Worte kamen ihm schwer über die Lippen; aber nach und nach löste sich seine Zunge.
„Sie werden vielleicht nicht begreifen, was es für mich bedeutet, dass Sie sich meiner so gütig annehmen. Seit Jahren hat kein Mensch mehr so freundlich und teilnahmsvoll zu mir gesprochen, wie Sie es tun. Ich war ein verbitterter, trotziger Geselle geworden und habe mich immer tiefer in meinen Groll hineingesteigert. Was ich in mir habe unterdrücken müssen, bis ich soweit kam, wie ich heute bin, das kann mir kaum jemand nachfühlen. Nicht um die Welt hätte ich in all der Zeit einem Menschen offenbart, was mich aus der Heimat trieb und was mir am Herzen nagte. Ihnen gegenüber kommt es mir nun doch über die Lippen, wenn es mir auch immer noch schwer fällt.
Es ist jetzt über zwei Jahre her, dass ich Deutschland verlassen habe. Ich will Ihnen erzählen, wie das gekommen ist. Mein Vater war, ehe er meine Mutter heiratete, schon einmal verheiratet. Aus seiner ersten Ehe stammte mein Halbbruder Kurt. Er ist zehn Jahre älter als ich und – er hat meine Mutter gehasst vom ersten Tag an, da sie in meines Vaters Haus kam. Als ich nach dem zweiten Ehejahr meiner Eltern geboren wurde, zeigte Kurt seine Abneigung auch gegen mich. Ihn brachte der Gedanke auf, wir würden ihm sein Erbe schmälern. Und je älter er wurde, umso tiefer fraß sich der Hass gegen uns in sein Herz.
Als Kurt dann erwachsen war, verstand er es besser, seine Gefühle vor uns zu verbergen. Scheinbar begegnete er uns freundlicher. Hauptsächlich in meines Vaters Nähe heuchelte er diese Freundlichkeit, was ihn jedoch nicht hinderte, meiner Mutter und mir heimlich viele schlimme Streiche zuspielen.
So verging Jahr um Jahr, und ich habe an diese Zeit nur die Erinnerung, als schwebe immer irgendeine Gefahr, ein Verhängnis über meiner Mutter und mir. Wie es Kurt gelang, den Vater meiner Mutter und mir nach und nach vollends zu entfremden, so dass er kaum noch Notiz von uns nahm, weiß ich nicht. Sicherlich arbeitete er mit den verwerflichsten Mitteln. Einmal, als ich ungefähr fünfzehn Jahre zählte, hörte ich zufällig meinen Bruder zu meinem Vater sagen: „Lass dich scheiden von dieser Frau, Vater! Du bist nun doch wohl endlich davon überzeugt, dass sie dich nur deines Reichtums wegen geheiratet hat.“
In jener Zeit stellte der Arzt bei meiner Mutter ein schweres Herzleiden fest und machte zur Bedingung, dass ihr jede Aufregung erspart werden müsse. Ich war in banger Sorge um die Mutter, sah sogar in den Augen meines Vaters etwas wie Besorgnis. Aber Kurt zog ihn mit sich fort und redete auf ihn ein, und danach schien Vater kaum noch auf Mutters Leiden zu achten. Und mein Bruder legte es geradezu darauf an, meine Mutter zu ärgern und aufzuregen. Wieder und wieder erschreckte er sie mit allerlei Alarmnachrichten, die sich hinterher als erfunden herausstellten.
Meine Mutter litt in den folgenden Jahren dauernd unter Atemnot und starkem Herzklopfen, und meine Sorge um sie wurde immer größer. In jener Zeit hatte ich mein Abitur gemacht, danach sollte ich die Landwirtschaftliche Hochschule besuchen. Als ich dorthin abreiste, war mir das Herz sehr schwer, weil ich meine Mutter mit einem lieblosen Gatten und einem hasserfüllten Stiefsohn allein lassen musste.
Ich kam nur in den Ferien heim, und jedes Mal fand ich Mutter elender und schwächer, aber sie klagte nie. Sie war immer nur sehr glücklich, wenn sie mich wiedersah.
So kam ich wieder eines Tages in den Ferien heim. Ich muss hier gesteh’n, dass ich, von meiner jungen Freiheit berauscht, ein bisschen leichtsinnig gelebt hatte. Obwohl mein Vater mir einen anständigen Wechsel zahlte und in dieser Beziehung nicht knauserig war, hatte ich mich doch zu sehr als Sohn eines reichen Mannes gefühlt und zu flott gelebt. So kam es, dass ich diesmal beichten musste, ich hätte zweitausend Mark Schulden gemacht. Es war für unsere Verhältnisse keine hohe Summe, aber mein Vater schlug es rundweg ab, meine Schulden zu bezahlen.
Ich musste nun meiner Mutter beichten, was ich nicht gern tat, um sie nicht aufzuregen, und ich gab ihr mein Wort, dass es nie wieder vorkommen werde. Mutter sagte mir auch sogleich zu, dass sie mir das Geld verschaffen werde; ich erfuhr erst später, dass sie ein wertvolles Schmuckstück verkauft hatte, um das Geld für mich zu beschaffen.
Zu jung und leichtlebig, um mir wegen Geld und Geldeswert den Kopf lange heiß zu machen, war ich froh, dass ich den Betrag von Mutter bekommen würde, und ich gab mich ganz der Freude hin, wieder mit Mutter zusammen sein zu können.
Aber dann geschah etwas, was mir immer noch wie ein böser Traum erscheinen will. Am anderen Morgen saß ich mit Mutter beim Frühstück, und als gleich darauf Kurt erschien, war er gegen uns besonders freundlich, was uns immer unheimlich war.
Plötzlich kam mein Vater mit großer Erregung ins Zimmer gestürzt, trat mit zornentstelltem Gesicht vor mich hin und sagte: „Du hast mir zweitausend Mark aus meinem Schreibtisch entwendet!“
Ich sprang auf und verteidigte mich in energischer Weise. Dass mein Vater mir einen Diebstahl zutraute, brachte mich fast von Sinnen. Meine Mutter hatte einen Schreckensruf ausgestoßen.
Ich sah mich nach ihr um, erschrocken daran denkend, dass sie nicht aufgeregt werden sollte. „Mutter, um Gottes willen, Mutter, du glaubst doch nicht, dass ich das getan habe!“, rief ich.
Sie richtete sich hoch auf und trat neben mich. „Nein, mein Sohn, du nicht – du nicht – das weiß ich. Aber der dort – dein Bruder – der hat das Geld entwendet – um dir zu schaden. Er will den Verdacht auf dich lenken, um mich vollends aus dem Herzen deines Vaters zu verdrängen; er ist der Dieb!“ So sagte sie, meine Hand mit krampfhaftem Druck fassend.
Kurt hatte die Farbe verloren, fing sich aber schnell und lachte höhnisch.