Hedwig Courths-Mahler - Folge 161 - Hedwig Courths-Mahler - E-Book

Hedwig Courths-Mahler - Folge 161 E-Book

Hedwig Courths-Mahler

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Beschreibung

Als Heinz Roland im Sterben liegt, gilt seine einzige Sorge seiner blutjungen Tochter Nanda. Um ihre Zukunft gesichert zu wissen, bestellt er seinen Freund Georg Halden zu ihrem Vormund und bittet Nanda, sich mit dessen Sohn Jürgen zu verloben. Bemüht, den Vater zu beruhigen, willigt Nanda schweren Herzens in diese Verbindung ein. Sie ahnt, dass Georg Haldens Freundschaft nicht aufrichtig und der skrupellose und geldgierige Mann nicht auf ihr Wohl bedacht ist, sondern es nur auf den Rolandschen Familienbesitz abgesehen hat. Nach dem Tod des Vaters werden ihre schlimmsten Befürchtungen noch übertroffen, und sie beschließt, ihrem schweren Schicksal zu entfliehen...

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Inhalt

Cover

Impressum

Die entflohene Braut

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Anne von Sarosdy/Bastei Verlag

E-Book-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-2192-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Die entflohene Braut

Zu Herzen gehender Roman um das Schicksal der jungen Nanda

„Und wann kommt dein Sohn heim, Georg?“

„Die Ferien beginnen in den nächsten Tagen, und dass er diesmal sofort nach Hause kommen muss, habe ich ihm klar gemacht. Bisher hatte ich nichts dagegen, dass er sich während seiner Ferien draußen in der Welt umsah, denn sitzt er erst auf eigener Scholle, kommt er doch nicht mehr sehr viel heraus. Außerdem … nun ja, ich hielt es für richtig, dass er deine Tochter nicht zu Gesicht bekam. Er kennt sie nur von ihrer Kinderzeit her. Wie alt war sie denn, als er das Gymnasium besuchte?“

„So ungefähr neun oder zehn Jahre!“

„Richtig. Und da ist er auch immer nur flüchtig mit ihr zusammengetroffen. Das war auch gut und richtig, denn wenn sie sich zu gut von Kind auf kennen, entsteht eher ein freundschaftliches oder geschwisterliches Verhältnis. Und wir haben doch beide schon seit Jahren beschlossen, dass sie mal Mann und Frau werden sollen.“

„Ja, Georg, ich versprach es dir bereits an dem Tage, da du mir in einer höchst kritischen Situation so tatkräftig beistandest. Ich weiß, ohne deine Hilfe wäre es damals mit Heidersberg schief gegangen, und dass ich mich wiederfand und wieder emporkam, danke ich dir. Deshalb gab ich dir auch ohne weiteres meine Einwilligung, dass unsere Kinder eines Tages heiraten und dadurch unsere beiden Besitzungen vereinigt werden sollten. Und wir sind wohl beide nicht von diesem Wunsche abgekommen.“

„Ich bestimmt nicht“, sagte Georg Halden energisch, den Freund fast herrisch ansehend. Er war immer von beiden der energischere, zielbewusstere gewesen. Und fast lag es wie eine heimliche Drohung in seiner Stimme, so dass sich Heinz Roland zu sagen beeilte: „Ich selbstverständlich auch nicht, Georg. Ich kann mir ja keinen besseren Mann für meine Tochter wünschen, ganz abgesehen davon, dass die Verhältnisse so gut zusammenstimmen.“

Georg Halden nickte befriedigt. „Also machen wir jetzt, wenn mein Junge heimkommt, die Verlobung perfekt!“

Unsicher sah Heinz Roland zu dem tatkräftigen Freunde auf. „Aber was werden die beiden dazu sagen?“

„Die werden wir nicht lange fragen. Sie haben sich beide zu fügen, und so viel Autorität werden wir doch wohl noch besitzen, unsern Wünschen Geltung zu verschaffen!“

Heinz Roland richtete sich im Bett, in dem er seit Wochen krank lag, mit Anspannung aller seiner Kräfte hoch, gleichsam durch des Freundes Willen bestärkt in seinen Entschlüssen, die eigentlich nicht die seinen waren, sondern ihm nur durch den energischen Freund suggeriert worden waren.

„Selbstverständlich, so viel Autorität besitzen wir schon, um das durchzuführen, was wir zum Besten unserer Kinder beschlossen haben.“

„Hast du mit Nanda schon darüber gesprochen?“

„Nein! Sie ist ja mit knapp fünfzehn Jahren noch zu kindlich, um das alles mit dem nötigen Ernst aufzunehmen.“

„Jetzt ist es aber die höchste Zeit dazu, Heinz; wenn Jürgen heimkommt, muss alles bereit sein, damit wir das Verlöbnis gleich vornehmen können.“

„Ja, allerdings. Ich werde noch heute Abend mit ihr sprechen.“

Georg Halden nickte befriedigt.

„Und du hast doch dafür Sorge getragen in deinen letztwilligen Verfügungen, dass Fräulein Sanders, Nandas Erzieherin, in Heidersberg bleibt, bis Nanda mündig ist oder sich verheiratet?“

„Ja, dafür habe ich gesorgt, wenn mir Fräulein Sanders auch zuweilen zu hart und zu tyrannisch erscheint.“

„Nun, das wird für Nanda sehr gut sein. Sie ist ziemlich eigenwillig und selbstbewusst, und wenn sie eine gute Ehefrau werden soll, muss ihr das ein wenig abgewöhnt werden.“

Der Kranke seufzte. „Sie ist eben ohne Mutter aufgewachsen, und ich habe ihr wohl etwas zu viel Willen gelassen seit dem Tode meiner Frau.“

„Richtig, und das muss ausgemerzt werden. Nun, schließlich bin ja auch ich noch da, um der Sanders die nötigen Direktiven zu geben. Du hast mich ja für alle Fälle zu Nandas Vormund bestimmt, falls dir, was Gott verhüten möge, etwas geschehen sollte, bevor sie sich verheiratet.“

Vertrauensvoll richtete der Kranke die Augen auf den Freund. „Ja, Georg, dir vertraue ich meine Nanda an, wie ich dich auch zu ihrem Geschäftsführer bestimmt habe, bis sie sich verheiratet. Ich hoffe, dass ich so alles bestens eingerichtet habe, und ich danke dir schon im Voraus für alle Mühe, die du haben wirst.“

Georg Halden drückte ihn, da er alles erreicht hatte, was er erreichen wollte, befriedigt die Hand und lächelte ihm mit einer gut gespielten Herzlichkeit, die leider nie ganz echt war, zu.

Nachdem Georg Halden sich verabschiedet hatte, ließ Heinz Roland seine Tochter zu sich kommen.

Als Nanda zu ihrem Vater ins Zimmer trat, sah er ihr mit sehnsüchtigen Augen entgegen. Sie lief auf sein Bett zu und kniete neben ihm nieder.

„Vater, lieber Vater, du hast dich doch nicht zu sehr angestrengt? Onkel Georg sollte dich doch jetzt, da du krank bist, nicht mit geschäftlichen Dingen quälen.“

Er strich sanft über ihr Haar. „Es war ja nichts Geschäftliches, was wir zu besprechen hatten, Nanda.“

„Aber warum musste ich dann hinausgehen?“

Er zögerte eine Weile, dann ergriff er ihre Hand und sah sie liebevoll an. „Weil wir etwas über dich zu besprechen hatten, Nanda, was ich dir selber sagen will, nun wir allein sind.“

Unruhig sah sie ihn an. „Über mich, Vater?“

„Ja, mein Kind. Und gerade heute will ich das mit dir besprechen, und du musst mir beweisen, dass ich dir vertrauen und mich auf dich verlassen kann, sonst machst du mich sehr traurig.“

Unruhig und angstvoll sah sie ihn an, aber sie nahm sich fest vor, alles, was er ihr sagen würde, so aufzunehmen, dass sein Vertrauen zu ihr belohnt würde. Ganz ernst und feierlich sagte sie: „Ich werde es dir beweisen, lieber Vater, du sollst schon merken, dass ich viel vernünftiger und zuverlässiger bin, als du glaubst.“

„Gut! Gib mir erst noch ein wenig Limonade.“

Sorglich reichte sie ihm das Glas, ihn liebevoll dabei stützend, und er trank. Dann lehnte er sich wieder zurück.

„Setz dich auf meinen Bettrand, Nanda, und gib mir deine Hand. Also jetzt ganz tapfer, mein liebes Kind! Du musst dich mit dem Gedanken vertraut machen, dass ich nicht mehr lange bei dir bleiben kann. Meine Krankheit ist ernster, als ich dich glauben ließ – sie kann zum Tode führen.“

Wie unter einem Schlage zuckte sie zusammen und wurde totenbleich. Ihre Augen verloren allen Glanz, und die Lippen zuckten in verhaltenem Schmerz. Aber sie dachte daran, dass sie dem Vater beweisen müsse, dass sie vernünftig und zuverlässig sei. Mit aller Kraft zwang sie den qualvollen Aufschrei nieder, der sich über ihre Lippen drängen wollte, und schluckte krampfhaft, damit sie sprechen konnte. Er sah ihren stillen Kampf und war gerührt.

„Vater, lieber Vater, jetzt hast du mich aber auf die härteste Probe gestellt“, flüsterte sie mit versagender Stimme.

„Ich weiß, mein Kind, und … ich bin stolz auf dich. Aber ich muss noch weiter an deine Vernunft und Zuverlässigkeit appellieren.“

Sie erschauerte. „Oh, Vater, was könnte mich noch härter treffen als das?“

„Nein, härter wird dich jetzt nichts treffen können, das weiß ich, aber was ich dir noch zu sagen habe, wird auch einige Kraft von dir fordern. Sieh, mein Kind, wenn ich sterben muss, lasse ich dich allein, und mein Besitz muss in feste Hände kommen, damit dein Erbe nicht verlottert wird. Schon seit langer Zeit habe ich deshalb mit Onkel Georg besprochen, was geschehen muss, wenn ich die Augen schließe. Er wird dein Vormund sein.“

Sie presste die Lippen fest aufeinander. Der Vater hatte Recht, das traf sie fast so hart wie das andere, was er ihr eröffnet hatte.

Sie hegte, seit sie klar denken konnte, eine unbestimmte Antipathie gegen den „Freund“ ihres Vaters, weil sie nicht an seine Freundschaft glaubte. Ihre scharfen Augen hatten mancherlei beobachtet, was ihr diese Antipathie eingeflößt hatte. Aber dieses junge Geschöpf besaß große Seelenstärke. Was war denn noch wichtig, wenn sie den Vater hergeben musste? Mochte doch Onkel Georg in Heidersberg die Geschäfte erledigen. Leise fragte sie: „War er der Beste dafür, lieber Vater?“

„Ja, mein Kind! Er hat mir einst einen großen Dienst erwiesen, als ich dicht vor dem Ruin stand.“

„Ah, und das band dich an ihn deine Dankbarkeit!“

„Nicht wahr, Nanda, das verpflichtet. Und … seit Jahren haben wir uns deshalb vorgenommen, unsere Kinder miteinander zu verheiraten, wenn sie erwachsen wären. Du wirst Jürgen Haldens Frau werden, Nanda.“

Sie zuckte empor und sah ihn mehr erstaunt als erschrocken an. „Jürgen Haldens Frau? Aber Vater, ich bin doch noch ein Kind. Und ich kenne ihn doch kaum, er war doch so lange fort von daheim. Verzeihe, Vater, aber das kommt mir so … so unwahrscheinlich vor.“

Und sie lachte ein wenig vor sich hin, als amüsiere sie der Gedanke mehr, als er sie erschrecken könnte. Junge Mädchen in ihrem Alter spielen wohl zuweilen schon mit dem Gedanken, dass sie sich eines Tages verheiraten werden. Doch liegt ihnen diese Zeit in so traumhafter, unwirklicher Ferne, dass sie noch keinen festen Begriff damit verbinden.

Für Fernanda Roland tauchte nun dieser Gedanke zum ersten Male auf, und da sie in ihrer Unerfahrenheit nicht wusste, was eine Ehe bedeutete, war der Gedanke für sie mehr komisch als schrecklich. Nur fühlte sie, dass es ihr viel lieber gewesen wäre, wenn der für sie bestimmte Gatte nicht gerade der Sohn von Onkel Georg gewesen wäre. Aber Vater jetzt widersprechen und ihn betrüben, das kam gar nicht in Frage, da er leider viel schlimmer krank war, als sie geglaubt hatte. Sie sah ihn unsicher an.

„Es ist aber doch sehr komisch, lieber Vater, dass ich jetzt schon an eine Heirat denken soll …“

„Vorläufig ja nur an eine Verlobung, Nanda. Jürgen kommt in den Ferien nach Hause, und dann soll eure Verlobung perfekt werden. Mit der Heirat hat es noch einige Jahre Zeit.“

„So bald schon soll ich mich verloben?“

„Nur, um mich zu beruhigen, Nanda.“

Sie drückte seine Hand an ihre Lippen. „Selbstverständlich, wenn es dich beruhigt! Dann wirst du auch wieder gesund, ich will sehr darum beten. Aber, wenn nun Jürgen Halden mich gar nicht heiraten will?“

„Er wird ebenfalls dem Wunsche seines Vaters nachkommen.“

Es zuckte um ihren Mund. „Aber wenn nun nicht, es wäre doch möglich, dass er nicht will, dann brauche ich mich doch auch nicht mit ihm zu verloben?“

Er merkte aus ihren Worten, wie sehr kindlich ihre Einstellung zu dieser Frage noch war. Und um sie nicht zu beunruhigen, meinte er: „Dann allerdings nicht, Nanda.“

Sie nickte abschließend. „Nun gut, ich will dich beruhigen, so gut ich kann, und dir gehorsam sein; also willige ich in alles ein, was du gut heißt, das verspreche ich dir.“

Heinz Roland seufzte. „So weiß ich dich in guten Händen, müssen wir doch mit dem Schlimmsten rechnen. Die einzige Verwandte, die dir noch bleibt, wenn ich nicht mehr bin, ist Susanna, die Schwester deiner Mutter.“

„Vater bitte, sprich nicht so!“

Er lächelte milde und beschloss, das Thema zu wechseln, um seine Tochter nicht noch mehr zu beunruhigen. „Du erinnerst dich doch an deine Tante Sanna, nicht wahr? Sie war bei uns, solange deine Mutter noch lebte.“

„Ja, ich erinnere mich an sie. Warum ist sie eigentlich fortgegangen? Du hast mir erzählt, dass sie sich nach Argentinien begeben habe.“

Es zuckte ein wenig unruhig in seinem Gesicht. „Ja, erst wollte sie ja hier bei uns bleiben. Aber, du kannst es ja jetzt wissen, es geschah in jener Zeit, da auch Onkel Georg Witwer wurde, und … er hatte Sanna lieb gewonnen und wollte sie heiraten. Ich weiß selbst nicht, was geschehen war … jedenfalls sagte sie mir, sie könne nicht länger bleiben, Georg Halden mache ihr das unmöglich. Er habe sie zu sehr gedrängt, seine Frau zu werden. Sie habe aber ihr Herz anderweitig verschenkt, an einen Mann, der in Argentinien lebe und zu dem sie nur nicht habe gehen wollen, solange ihre Schwester sie brauche. Er schreibe aber nun so sehnsüchtige Briefe, dass sie sich entschlossen habe, ihn zu heiraten. In Buenos Aires würde er sie erwarten, und dort sollte sogleich die Trauung stattfinden, ehe sie mit ihm ins Innere des Landes ginge, wo er seine Besitzungen habe.“

„Oh, wie romantisch das ist! Ich kann mir sehr gut denken, dass sie nicht Onkel Georgs Frau werden mochte“, seufzte Nanda auf.

„Nun, damals war er ja ein junger, stattlicher Mann, und ich denke wohl, hätte sie ihr Herz nicht schon verschenkt gehabt, wäre sie seine Frau geworden. Was zwischen ihnen vorgefallen ist, habe ich freilich nie erfahren, auch er hat darüber geschwiegen. Ein Mann spricht niemals gern von einer Niederlage.“

Nanda konnte aber ihre Tante sehr wohl verstehen. Wie hätte sie einem Manne wie Onkel Georg angehören können! Unmöglich! Zum Glück glich Jürgen Halden seinem Vater gar nicht. Außerdem wollte sie es schon so einrichten, dass er gern von einer Verlobung mit ihr zurücktrat. Und aufatmend fragte sie weiter: „War Tante Sanna meiner Mutter ähnlich?“

„Sehr, sie hießen überall die schönen Schwestern, und man hätte sie für Zwillinge halten können. Du wirst ihnen mit jedem Tag ähnlicher, hast dieselben hellen Grauaugen, dasselbe kastanienbraune Haar und dasselbe Lachen. Manchmal, wenn ich dich draußen lachen höre, erschrecke ich, weil ich denke, es sei das Lachen deiner Mutter. Ach, wie gern lachten damals die Schwestern ein herrliches Duett. Sie wirkten wie das blühende Leben selbst – und doch raffte eine böse Grippe deine Mutter so früh hinweg.“

Traurig sah er vor sich hin. Aber obwohl Nanda selbst die Tränen aufsteigen wollten, sie durfte es nicht dulden, dass der Vater traurig wurde. „Stundenlang könnte ich dir zuhören, Vater, aber du darfst dich nicht zu sehr anstrengen.“

„Lass mich nur, dies Plaudern von deiner Mutter strengt mich nicht an, es weckt in mir so schöne und liebe Erinnerungen.“

„Du hast Mutter wohl sehr lieb gehabt?“

Er seufzte. „Sie galt mir mehr als mein eigenes Leben. Ich habe ihr auch nie eine Nachfolgerin geben mögen.“

Mit feuchten Augen sah sie ihn an. „Wie glücklich macht es mich, dich so von meiner Mutter reden zu hören, lieber Vater. Hast du nicht ein Bild von ihr?“

Er nickte lächelnd. „Mehrere, auch eines, auf dem sie mit ihrer Schwester zusammen fotografiert ist. Ich habe diese Bilder alle in meinen Schreibtisch geschlossen, denn immer kann ich ihren Anblick nicht ertragen. Der Schmerz um den Verlust deiner Mutter wird dann wieder allzu stark. Aber jetzt will ich sie dir zeigen.“

Er gab ihr seine Schlüssel und sagte ihr, in welchem Fache seines Schreibtisches in seinem Arbeitszimmer die Bilder lägen. „Sie befinden sich in einem großen Kuvert, Nanda; bringe mir das herüber.“

Sie ging schnell hinaus, und ihr Herz klopfte erwartungsvoll.

Bald war sie mit dem Umschlag zurück, und nun zeigte ihr der Vater ein Bild nach dem andern. Und Nanda war dabei zumute, als wisse sie erst seit heute, was ihr der Tod genommen hatte. Sie bat den Vater innig, ihr doch eines dieser Bilder zu schenken, und er nahm nur eines davon an sich, von dem er sich nicht trennen wollte. Die andern stellte er ihr zur Wahl. Sie entschied sich für das Doppelbild ihrer Mutter und deren Schwester, weil es ihr am besten gefiel. „Dann habe ich sie gleich alle beide, Vater; würdest du mir das geben, wenn ich darum bitte?“

Er nickte ihr zu. „Nimm es nur, Nanda, und halte es jederzeit in Ehren. Wenn ich einmal nicht mehr bin, wirst du ja auch die anderen bekommen. Jetzt begnüge dich mit diesem.“

Nanda nahm das ihr geschenkte Bild und trug es gleich in ihr Zimmer. Sie wollte es dort über ihrem Bett befestigen. Die anderen Bilder verschloss sie wieder in des Vaters Schreibtisch, nur das eine behielt er bei sich, das er ihr nicht mit zur Wahl gestellt hatte. Es musste wohl eine sehr liebe Erinnerung an ihm hängen.

Als Nanda zu ihrem Vater zurückkam, hielt er dieses Bild mit beiden Händen auf seine Brust gepresst und lag mit geschlossenen Augen da. Ganz leise setzte sie sich an seinem Lager nieder und sprach kein Wort.

Diese stille Stunde am Bette ihres schlafenden Vaters wirkte seltsam reifend und vertiefend auf das junge, wilde und ungestüme Kind.

***

Es war eine Woche später. Im Heidersberger Herrenhaus herrschte wie immer seit der Krankheit des Hausherrn tiefste Ruhe. Eugenie Sanders, die dreiundvierzigjährige Erzieherin, stand in Nandas Zimmer und betrachtete diese missbilligend durch ihr Lorgnon.

„Also mache dich so hübsch wie möglich, aber bändige dein Haar, dass es dir nicht so wild und unordentlich um den Kopf steht. Dein Vater hat mir gesagt, dass du dich heute mit Herrn Jürgen Halden verloben wirst. Es erscheint mir allerdings sehr verfrüht, dass du schon Braut werden sollst.“

Nanda musste kurz auflachen. „Mir allerdings auch, Fräulein Eugenie, ich würde auch gern darauf verzichten. Aber mein Vater will es, und ich muss mich fügen.“

Eugenie Sanders konnte sich nicht denken, dass ein Mädchen sich dagegen zur Wehr setzen könnte, sich zu verloben, und ungläubig starrte sie Nanda an.

„Du willst mir doch nicht einreden, dass dein Vater dich zu dieser Verlobung zwingen will?“, fragte sie maliziös.

Nanda setzte sich mit einem eleganten Schwung auf die Tischkante. „Ich will Ihnen gar nichts einreden, Fräulein Eugenie, aber Sie können mir schon glauben, dass ich mich schweren Herzens zu dieser Verlobung entschlossen habe und sie nur eingehen werde, um meinen Vater über meine Zukunft zu beruhigen. Es beruhigt ihn nämlich, wenn ich meine Hand eines Tages in die Jürgen Haldens lege, und ich habe nicht das Herz, mich zu weigern. Aber – ich hoffe sehr, dass Jürgen Halden sich dafür bedanken wird, sich mit mir zu verloben, und was ich dazu tun kann, werde ich tun. Dann brauche ich Vater seinen Wunsch nicht zu versagen und bleibe frei.“

Fräulein Eugenie schüttelte ungläubig den Kopf. „Das sagst du nur so. Aber glaube nur nicht, dass du nun, wenn du Braut geworden bist, bereits eine fertige Dame sein wirst. Herr Georg Halden hat mir schon einen Wink gegeben, er hoffe sehr darauf, dass ich mein Erziehungswerk an dir zu seiner Zufriedenheit vollende.“

Nanda warf stolz und trotzig den Kopf zurück.

„Zu seiner Zufriedenheit? Ich will nur zu Vaters Zufriedenheit erzogen werden, es geht sonst keinen Menschen etwas an, wie ich erzogen werde.“

Höhnisch sah Fräulein Eugenie wieder durch ihre Lorgnette. „Das wird sich finden. Dein Vater ist leider Gottes sehr nachsichtig allen deinen Fehlern gegenüber.“

„Vater ist zufrieden mit mir, so, wie ich bin, und das genügt mir.“

„Aber nicht mir, und ich bin für deine Erziehung verantwortlich und habe immerhin darüber zu bestimmen. Also mache dich jetzt fertig, kleide dich an, in einer halben Stunde werden die Herren hier sein.“

Nanda machte einen tadellosen Hofknicks. „Wie Sie befehlen, Fräulein Eugenie!“

Diese ging wieder einmal mit dem Gefühl von Nanda, als habe sie eine Niederlage erlitten, und das erboste sie sehr. Sie hatte absolut keinen Sinn für Humor und nahm jeden Scherz, zu Nandas Leidwesen, übel. Kaum war Nanda wieder allein, schwenkte sie auf dem Absatz herum.

„Also machen wir jetzt Toilette, damit der Bräutigam das Grausen kriegt und davonläuft“, sagte sie vor sich hin.

Und dann begann sie Maske zu machen. Sie suchte aus einem Winkel ihres Garderobenschrankes das älteste ihrer Kleider hervor, mit dem sie in den Bäumen herumzuklettern und durch Ställe und Scheunen zu tollen pflegte. Es zeigte nicht nur allerlei Flecke, sondern auch verschiedene Risse. Das legte sie an. Auch ihre ältesten und hässlichsten Schuhe zog sie an, den einen Strumpf schob sie ganz herab bis auf den Schuhrand, und den anderen ließ sie lieblich in Wasserfalten herabrutschen. Das Haar begoss sie mit Kölnisch Wasser, dass es ganz nass wurde, und zog es dann so lange nach hinten, bis sie es mit einem Bande fest zusammenbinden konnte. Es lag nun glatt und straff um den Kopf, und die fest zusammengeschnürten Haarenden standen im Nacken wie ein steifer, praller Wurstzipfel geradeaus. Sie jauchzte auf, als sie sich im Profil betrachtete. Sie sah einfach grotesk aus.

Mit sehr gemischten Gefühlen hatte Jürgen Halden seinen Vater nach Heidersberg begleitet. Zwar hatte er seinem Vater versprochen, seinem Wunsche nach einer Verlobung mit der Tochter des Freundes zu entsprechen, aber jetzt kamen ihm doch erhebliche Bedenken. Erstens gab er seine Freiheit jetzt ungern schon auf, und dann gefiel ihm diese ganze Art der Verlobung absolut nicht. Er hatte es sich ganz anders gedacht, wie es sein würde, wenn er einmal eine Frau bitten würde, seine Lebensgefährtin zu werden. Aber er hatte es nun einmal seinem Vater zugesagt und konnte jetzt nicht zurücktreten. Immerhin bestand ja die Möglichkeit, dass aus dieser Verlobung nicht auch eine Ehe entstehen musste. Das würde die Zeit zeigen. Er sagte sich freilich heute, dass er von seinem Vater überrumpelt worden sei. Das half jetzt aber alles nichts, ermusste sich zu dieser Verlobung bereit erklären.