Hedwig Courths-Mahler - Folge 164 - Hedwig Courths-Mahler - E-Book

Hedwig Courths-Mahler - Folge 164 E-Book

Hedwig Courths-Mahler

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Beschreibung

Die Geschwister Heinz und Käthe Lindner standen am Ufer des Flusses, der die Arbeitersiedlung von den mächtigen Werken des Kommerzienrats Ruhland trennte. Sehnsüchtig flogen ihre Blicke hinüber zur festlich erleuchteten Villa Ruhland. Hinter welchem der Fenster mochte Rose, die reizende Tochter des Kommerzienrats, weilen? Heinz seufzte. "Wenn ich doch nur reich wäre", murmelte er. "Dann könnte ich um die Frau werben, die ich mit allen Fasern meines Seins liebe. Aber leider geschehen keine Wunder." Käthe lächelte verträumt. "Ist die Liebe allein nicht schon ein Wunder?", fragte sie und dachte dabei an Gert, den jüngsten Sohn des Kommerzienrats. Einmal nur hatte sie mit ihm gesprochen, dann war er für vier Jahre in die Fremde gegangen. Doch nun kehrte er zurück, und mit heißem Hoffen fieberte ihm Käthes Herz entgegen...

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Seitenzahl: 155

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Inhalt

Cover

Impressum

Das ist der Liebe Zaubermacht

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Bastei Verlag/Anne von Sarosdy

E-Book-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-2195-1

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Das ist der Liebe Zaubermacht

Ergreifender Roman um den Herzenskonflikt zweier Menschen

Käthe Lindner ging mit zielsicheren Schritten zwischen den Arbeitern dahin, die in Massen das Carolawerk verließen.

Sie erwiderte hier und da einen Gruß, gab auf eine Frage Bescheid. Obwohl sie sich den Arbeitern zugehörig fühlte, fiel sie doch durch ihre stolze Haltung, durch die beherrschte Anmut ihrer Bewegungen auf.

Noch ehe sie an das große Tor kam, erreichten sie zwei Männer, die sie sofort in ihre Mitte nahmen.

„Da sind wir auch, Käthe, guten Abend“, sagte der Ältere.

Lächelnd sah sie die beiden an. „Guten Abend, Vater – guten Abend, Heinz! Habt ihr‘s geschafft?“

„Wie du, Käthe. Bist du müde?“, fragte Heinz, Käthes Bruder.

Sie reckte die jungen Glieder.

„Nicht sehr, nur gerade genug, um mich auf die Feierabendstunden mit euch zu freuen. Aber du bist müde, Vater, nicht wahr?“

Friedrich Lindner richtete seine breitschultrige Gestalt mit einem Ruck empor.

„Ich nehme es schon noch auf mit euch zwei Jungen“, sagte er und blickte mit väterlichem Stolz auf seine beiden Kinder, die elastisch neben ihm herschritten. Käthe legte die Hand auf den Arm des Vaters und sah liebevoll zu ihm auf.

„Wir sind doch nicht aus der Art geschlagen, der Heinz und ich, Vater.“

Er schmunzelte.

„Ein wenig doch, Käthe. Du und Heinz, ihr seid schon ein wenig feiner geartet als ich, seid schon ein paar Sprossen weiter emporgeklettert auf dem Weg zur Höhe. Ihr habt halt mehr gelernt als euer Vater.“

„Und wem verdanken wir das? Hättest du nicht allezeit so fleißig geschafft, dann hättest du uns nicht eine so gute Schulbildung zuteil werden lassen können.“

„Nun, nun“, wehrte der Vater fast verlegen ab, „das habt ihr mehr eurer seligen Mutter zu verdanken als mir. Ich wäre wahrscheinlich gar nicht darauf gekommen, dass es nützlich für euch sein könnte, wenn ihr Französisch und Englisch lerntet. Ich hätte euch im gewohnten Trott dahingehen lassen, wie meine Eltern mich gehen ließen. Aber eure Mutter hat mir keine Ruhe gelassen. Immer wieder sagte sie: Das Beste, was du deinen Kindern geben kannst, ist eine gute Erziehung. Und so ist es gekommen, dass ich euch lernen ließ, was es nur zu lernen gab. Eurer Mutter müsst ihr es danken – ich hab das wenigste dazu getan.“

„Halt, halt, Vater“, sagte Heinz munter, „stelle nur dein Licht nicht gar zu sehr unter den Scheffel! Wärst du nicht dein Lebtag so fleißig und solid gewesen, dann hättest du nichts zurücklegen und wir hätten nicht eine so gute Schulausbildung erhalten können. Und wenn du uns nicht durch dein Beispiel gelehrt hättest, die Arbeit zu lieben, dann hätten wir dir nicht nachgeeifert. Die gute Schulbildung allein macht es nicht, sonst müssten ja alle Menschen, die eine gute Schule gehabt haben, Tüchtiges leisten. Und das ist nicht so. Der Fleiß ist die Hauptsache – und die Freude an der Arbeit.“

Der Vater nickte.

„Ja, Heinz, da hast du Recht.“

Die drei schwiegen. Die Menge, in der sie dahinschritten, hatte sich mehr und mehr gelichtet. Nach allen Seiten waren die Menschen in den Straßen der Siedlung verschwunden. In diesen Straßen standen die kleinen Häuser, die alle von Arbeitern der Werke bewohnt waren. Die ganze Siedlung lebte von den Werken, direkt und indirekt.

Lindners wohnten ein Stück weiter, wo die Straßen breiter wurden. Ihr Häuschen lag ziemlich frei, von einem Stück Garten umgeben.

Als Friedrich Lindner noch jung war, hatte er sich zusammen mit dem Vater, der auch in den Werken beschäftigt gewesen war, dieses Häuschen selbst gebaut. Es umfasste drei Zimmer und eine Küche im Erdgeschoss und ein Giebelstübchen, zu dem außen an der Rückseite des Hauses eine Holztreppe emporführte.

In diesem Giebelstübchen wohnte und schlief Heinz Lindner. Seine Schwester Käthe hatte ihr Schlafzimmer zwischen dem Wohnzimmer und dem Schlafzimmer ihres Vaters. Sie teilte es mit Tante Anna, der Schwester ihres Vaters, die, seit sie Witwe war, den Haushalt ihres Bruders besorgte.

Das Häuschen war weiß getüncht, und wilder Wein rankte sich an ihm empor. Rechts und links neben der Haustür standen große Fliederbüsche, die bereits dicke Blütentrauben angesetzt hatten. Einige begannen schon aufzublühen.

Als der Vater mit seinen Kindern vor der Haustür anlangte, zog Käthe eine der aufgeblühten Fliederdolden zu sich herab und sog ihren Duft ein.

„Es ist Frühling geworden, Heinz. Sieh nur, der Flieder fängt an zu blühen! Prachtvoll werden unsere Büsche wieder aussehen!“

Heinz nickte.

Hinter dem Vater betraten sie den Hausflur. Hier legten sie ihre Überkleider ab, und während Vater und Sohn das Wohnzimmer betraten, eilte Käthe in die Küche, wo Tante Anna am Herd hantierte.

„Guten Abend, Tante Anna! Kann ich dir etwas helfen?“

Frau Anna Bauer, die ihrem Bruder so ähnlich sah, wie eine Frau nur einem Mann ähnlich sein kann, blickte vom Herd auf.

„Guten Abend, Käthe! Ich werde schon allein fertig. Seid ihr alle drei zu Hause?“

„Ja, Tante, und wir haben einen Bärenhunger mitgebracht“, erwiderte Käthe lachend.

Die Tante nickte. „Dem wollen wir gleich zu Leibe gehen. Da, nimm die Suppenterrine mit hinein! Ich komme gleich mit dem anderen nach.“

Käthe verschwand mit der Terrine im Wohnzimmer.

Wie in der Küche blitzte und blinkte auch hier alles vor Sauberkeit. Die Möbel waren gepflegt. Auf dem Sofa lagen weiße Schutzdecken, und am Fenster hingen weiße Gardinen.

An einem der beiden Fenster stand ein Nähtisch, an dem anderen ein altmodischer Lehnstuhl. Inmitten des Zimmers stand ein viereckiger Tisch mit vier Stühlen.

Etwas fiel in diesem Arbeiterhaus besonders auf – das war ein hohes Bücherregal an der Wand, auf dem Reihen von Büchern aufgestapelt waren. Da standen die meisten Klassiker in Reih und Glied, daneben einige Werke von Gustav Freytag und Felix Dahn. Außerdem gab es Fachwerke, die Heinz Lindner gehörten, und ein Lexikon sowie verschiedene englische und französische Bücher.

Über dieses Bücherregal hatte man in der kleinen Arbeitersiedlung viel gesprochen. Bücher fielen eben aus dem Rahmen. überhaupt waren Lindners schon manchmal Gesprächsstoff gewesen. Dass Friedrich Lindner seinen Sohn Ingenieur werden ließ und dass seine Tochter fremde Sprachen erlernte, das sah doch sehr nach Überheblichkeit aus. Aber dass die Geschwister Lindner trotzdem mit bescheidener Freundlichkeit mit allen verkehrten, versöhnte wieder.

Käthe hatte die Suppe auf den Tisch gestellt. „Komm Vater, komm Heinz!“, lud sie Vater und Bruder zum Essen ein. Gleich darauf trat auch Tante Anna ein.

Es wurde mit gesundem Appetit gegessen. Man unterhielt sich angeregt dabei. Auch als die Mahlzeit beendet war, saß man noch eine Weile plaudernd zusammen. Der Vater rauchte dabei ein Pfeifchen, Heinz eine Zigarre. Man besprach die Ereignisse des Tages.

Später nahm Vater Lindner die Zeitung zur Hand und Tante Anna den Strickstrumpf.

Da sagte Heinz zu seiner Schwester: „Kommst du noch ein halbes Stündchen mit ins Freie, Käthe?“

Sie erhob sich bereitwillig. „Gern, Heinz. Ich bin froh, wenn ich mich noch ein wenig auslaufen kann.“

Die Geschwister verabschiedeten sich vom Vater und der Tante, zogen im Flur ihre Mäntel an und traten ins Freie.

Tief atmeten sie die köstliche Frühlingsluft ein, die noch ein wenig kühl, aber voller Düfte war.

Sie schritten vollends hinaus aus der kleinen Arbeiterstadt, am Ufer des Flusses entlang, der die Carolawerke von der Arbeiterkolonie trennte. Die Geschwister plauderten von ihren Zukunftsplänen und von allem, was junge Menschenherzen bewegt.

Käthe wusste, was Heinz vorläufig nicht einmal dem Vater anvertraut hatte, dass er seit zwei Jahren an einer Erfindung arbeitete. Alle seine Mußestunden waren dieser Erfindung gewidmet. Heinz erhoffte viel davon und wollte noch diesen Sommer damit zu Ende kommen.

Im Lauf des Gesprächs sagte Heinz: „Denk dir, heute blieb Herr Georg Ruhland lange bei mir stehen und sah meiner Arbeit zu. Und dann sprach er auch mit mir. Du weißt doch, dass er sonst ungemein hochmütig ist, im Gegensatz zu seinem Vater, dem Herrn Kommerzienrat, der stets freundlich ist. Bis heute hat mich Herr Georg nie beachtet. Heute zeigte er mir zu meinem Erstaunen ein ganz besonderes Interesse. Ich möchte wissen, weshalb er plötzlich so verändert war.“

Käthes Stirn hatte sich zusammengezogen.

„Vielleicht ist es ein Unrecht, Heinz, aber ich halte nicht viel von dieser Freundlichkeit. Es mag töricht sein, dass ich bei seinem Anblick immer das Gefühl habe, als sträube sich alles in mir gegen ihn. Jedenfalls habe ich das sichere Empfinden, dass er kein guter Mensch ist.“

Heinz nahm den Hut ab und ließ den Frühlingswind um seine Stirn wehen.

„Es ist ganz gut, dass du nichts von ihm hältst, Käthe. Du bist ein schönes Mädchen, und Georg Ruhland gilt als ein Don Juan ärgster Sorte. Er hat in dieser Beziehung viel auf dem Gewissen. Hoffentlich ist sein Bruder von anderer Art. Ich hörte, seine Heimkehr stehe bevor. Seit vier Jahren ist er den Carolawerken fern gewesen und soll die halbe Welt bereist haben. Soviel ich mich erinnere, war er ganz anders als sein älterer Bruder. Hoffentlich hat sich das in den vier Jahren seiner Abwesenheit nicht geändert.“

In Käthes Gesicht stieg ein rosiger Schimmer. Aber Heinz sah es nicht, da es dunkel geworden war.

„Ich glaube, er ist mehr wie seine Schwester. Fräulein Ruhland ist sehr liebenswürdig. Sie ist zu allen Arbeitern freundlich, und so habe ich ihren jüngeren Bruder auch im Gedächtnis“, sagte Käthe.

Ihr Bruder sah eine Weile schweigend vor sich hin. Als Käthe von Fräulein Ruhland sprach, hatte es seltsam in seinen Augen aufgeleuchtet. Die Geschwister blieben jetzt am Flussufer stehen und sahen nach dem anderen Ufer hinüber. Da lag die große, vornehme Villa Ruhland, die der Chef der Carolawerke mit seiner Frau und seiner Tochter bewohnte. Etwas abseits davon stand eine kleinere Villa. Die bewohnte jetzt der älteste Sohn des Kommerzienrats Ruhland, Georg, ganz allein. Aber sie war zugleich als Wohnung für seinen jüngeren Bruder Gert bestimmt. Georg bewohnte das Hochparterre der Villa Carola, und für Gert war die erste Etage reserviert.

Der Kommerzienrat hatte seinen Söhnen möglichst viel Freiheit schaffen wollen, als er ihnen die Villa Carola bauen ließ.

In der Villa Ruhland waren fast alle Fenster erleuchtet, in der Villa Carola nur wenige im Hochparterre. Heinz Lindners Augen suchten die hellen Fenster in der Villa Ruhland. Und sein Herz klopfte unruhig. Hinter welchem dieser Fenster mochte Rose Ruhland weilen?

Er sah sie im Geist vor sich, die schlanke Gestalt, ihr feines, zartes Gesicht, die großen dunklen Augen mit dem sanften Ausdruck. All diese Einzelheiten hätte er aus dem Gedächtnis malen können, wäre er ein Maler gewesen. So oft schon war sie an ihm vorübergegangen in kostbare Gewänder gehüllt, umflossen von dem undefinierbaren Hauch, der die Frauen der bevorzugten Gesellschaftsklasse umgab. Er war bezaubert worden vom Anblick der jungen Dame. Aber am meisten hatte ihn ihr freundliches Lächeln entzückt. Wenn er an dieses Lächeln dachte, wurde ihm das Herz warm und weit.

Während Heinz sehnsüchtig nach der Villa der Ruhlands schaute, blickte Käthe in Gedanken verloren auf die dunklen Fenster im ersten Stock der Villa Carola. Dort würde Gert Ruhland wohnen, wenn er von seiner Weltreise zurückkehrte!

Käthe konnte sich seiner noch ganz genau erinnern. Vor allem die letzte Begegnung mit ihm war ihr unvergesslich. Eines Sonntagmorgens, kurz bevor er seine Weltreise antrat, war er ihr hoch zu Ross entgegengekommen.

Käthe war damals siebzehn Jahre gewesen. In Trauerkleidern war sie vom Friedhof gekommen, wo sie das Grab ihrer kürzlich verstorbenen Mutter besucht hatte.

Gert Ruhland hatte sein Pferd neben ihr angehalten und sie mit seinen guten, offenen Augen teilnahmsvoll angesehen.

„Sie haben einen schweren Verlust erlitten, Fräulein Lindner.“

Unsicher hatte sie zu ihm aufgesehen. „Ja, Herr Ruhland, meine Mutter habe ich verloren“, hatte sie geantwortet.

Da hatte er ihr vom Pferd herab die Hand gereicht. „Gestatten Sie mir, Ihnen meine herzlichste Anteilnahme auszusprechen.“

Mit großen, ernsten Augen hatte sie zu ihm aufgesehen. „Ich danke Ihnen, Herr Ruhland“, hatte sie geantwortet.

Darauf hatte er sich verabschiedet.

Das war die ganze Unterhaltung gewesen, die einzige, die er je mit ihr geführt hatte. Aber es war ihr gewesen, als sei es ein großes Ereignis in ihrem Leben. Sie hatte es nie vergessen, und in ihren Träumen hatte sie oft Gert Ruhland hoch zu Ross gesehen, und seine Augen hatten dann immer gütig und freundlich in die ihren geblickt.

Wann würden sich die dunklen Fenster da drüben erhellen? Während sich Käthe diese Frage vorlegte, schrak sie plötzlich zusammen. Hinter den dunklen Fenstern flammten plötzlich die Lampen auf, eine nach der anderen, bis alle Zimmer erleuchtet waren. Und die Geschwister sahen silhouettengleich die Schatten von Menschen vorüberhuschen.

Heinz fasste den Arm seiner Schwester. „Hast du gesehen, Käthe?“

Sie richtete sich aus ihrer Versunkenheit auf. „Was denn, Heinz?“

„Dass die Wohnung Gert Ruhlands eben erleuchtet wurde.“

„Ja, ich habe es bemerkt. Was schließt du daraus?“

„Dass Gert Ruhland entweder schon heimgekehrt ist oder noch heute Abend erwartet wird.“

Käthe neigte das Haupt: „So wird es sein.“

Heinz richtete sich auf.

„Nun haben wir aber lange genug hier gestanden. Lass uns heimgehen, Käthe! Ich möchte noch einige Stunden arbeiten.“

Käthe riss ihren Blick von den hellen Fenstern los. Dann wandten sich die Geschwister zum Gehen.

***

Ein Auto hielt vor der Villa Ruhland. Ein hochgewachsener junger Herr sprang heraus.

Es war Gert Ruhland.

In der Vorhalle kamen ihm die Seinen schon entgegen, die er mit lebhafter Herzlichkeit begrüßte. Je nach Charakteranlage erwiderten sie seine Begrüßung. Sein älterer Bruder Georg reichte ihm nur mit korrekter Höflichkeit die Hand. Gert drückte sie aber in der Wiedersehensfreude so kräftig, dass Georg eine Grimasse nicht unterdrücken konnte. Gert sah es und lachte.

„Hab ich zu fest gedrückt, Georg?“

„Nun, es genügte. Du machst deinen Gefühlen etwas gewaltsam Luft“, erwiderte er.

Das verstimmte Gert ein wenig. Seine impulsive Art fühlte sich durch des Bruders Kälte verletzt.

„Ach so! Ich vergaß, dass du nicht für Gefühlsbeweise bist. Verzeih, dass ich nicht daran dachte! Weißt du, in mir steckten noch viel von unseren urwüchsigen Vorfahren. Ich kann nicht vergessen, dass unser Großvater in jungen Jahren noch am Amboss gestanden hat.“

Georg blickte sich erschrocken um.

„Musst du das mit solcher Vehemenz in die Welt hinausschreien? Wenn das die Dienerschaft hört!“

Gert lachte sorglos. „Hast du Angst, dass dir dadurch deine Autorität verloren geht? Ich nicht – ich verschaffe sie mir auch so.“

Der Kommerzienrat, eine stattliche Erscheinung mit sympathischem Gesicht, sah wohlgefällig auf seinen jüngsten Sohn.

„Recht hast du, Gert.“

Jetzt mischte sich die Kommerzienrätin ins Gespräch.

„Immerhin brauchst du nicht mit Stentorstimme zu verkünden, was du eben ausgeplaudert hast, mein lieber Gert. Das sind schließlich intime Dinge, die nur die Familie angehen; die Dienerschaft braucht so etwas nicht zu hören.“

Dabei richtete sie sich stolz empor und blickte durch ihre Lorgnette vorsichtig nach etwa lauschenden Dienstboten aus.

Rose Ruhland aber trat schnell zu ihrem jüngsten Bruder und hängte sich zutraulich in seinen Arm.

„Das weiß doch in den Werken jedes Kind, Mama, dass unser Großvater die Carolawerke sozusagen aus dem Nichts geschaffen hat.“

Die Kommerzienrätin sah achselzuckend ihren ältesten Sohn an, als wollte sie sagen: Es ist nichts mit diesen beiden anzufangen.

Georg verneigte sich vor seiner Mutter und bot ihr seinen Arm.

„Ich darf dich wohl hineinführen, Mama.“

Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und nickte Gert zu.

„Du kleidest dich schnell um, Gert. Wir wollen dann zu Tisch gehen, da wir mit dem Essen auf dich gewartet haben.“

Gert verneigte sich ebenfalls. „Wie du befiehlst, Mama.“

Aber er sah mit seltsamem Ausdruck von seinem Vater auf seine Schwester.

Rose drückte seinen Arm fest an sich. „Ich bin froh, dass du wieder da bist, Gert – und Papa auch. Wir haben dich sehnsüchtig erwartet. Nicht wahr, Papa?“

Der alte Herr nickte lächelnd. „So ist es, Gert. Nochmals herzlich willkommen daheim!“

Gert eilte in die Villa Carola hinüber und vertauschte schnell die Reisekleider mit dem Abendanzug. In zehn Minuten kehrte er in die Villa Ruhland zurück.

Man ging sofort zu Tisch. In Gegenwart der servierenden Diener wurde nur über oberflächliche Dinge gesprochen. Aber nach der Tafel, als man behaglich in einem Nebenzimmer saß, musste Gert Reiseerlebnisse zum Besten geben.

Er tat es in seiner frischen Art und in lebhafter, anschaulicher Weise. Mit offenen Augen und warmem Empfinden hatte er sich in der Welt umgesehen und überall Gutes und Schönes aus seinen Erlebnissen herausgeholt.

Schließlich kam er auf Reformen zu sprechen, die er in den Carolawerken eingeführt zu sehen wünschte.

„Wir müssen unseren Arbeitern noch mehr Freiheit geben, dass sie sich loslösen können aus den Fesseln der Abhängigkeit. Ich habe in Amerika ein Unternehmen kennen gelernt, größer als unsere Werke, wo mustergültige Zustände herrschten. Ein geradezu ideales Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist da zustande gekommen. Die Arbeiter sind alle interessiert am Gedeihen des Ganzen, denn sie sind, wenn auch in bescheidenem Maß, am Reingewinn beteiligt. Wie ist es, Vater, hättest du nicht Lust, dieses Modell auch bei uns einzuführen?“

Ehe der Kommerzienrat antworten konnte, fuhr Georg auf.

„Was fällt dir ein, Gert? Sollen wir zuerst für die Arbeiter sorgen? Was würde dann für uns bleiben? Setze Papa nicht solche überspannten Ideen in den Kopf! Er ist ohnedies schon viel zu ideell veranlagt in dieser Beziehung. Hat er nicht Unsummen den Arbeitern vorgestreckt, damit sie sich eigene Häuser bauen konnten?“

„Nun, das Geld hat sich doch verzinst“, erwiderte der Kommerzienrat ruhig.

„Ja, mit lumpigen drei Prozent. Es hätte mindestens das Dreifache bringen können, wenn du es anders angelegt hättest.“

„Ich finde, dass Vater dieses Kapital sehr gut angelegt hat.“

Die Kommerzienrätin sah ihren jüngsten Sohn missbilligend an.

„Wenn du nichts Besseres von deiner Reise mit heimgebracht hast als Ideen, die den Familienfrieden stören, dann hättest du sie lieber nicht unternehmen sollen. Ich stehe ganz auf Georgs Seite. Es tut nicht gut, wenn man den Leuten zu viele Rechte einräumt. Sie maßen sich ohnedies zu viel an.“

Georg nickte. „Mama hat Recht. Sieh dir zum Beispiel den Werkmeister Lindner an! Nicht genug, dass er einen einträglichen Posten und ein eigenes Heim hat, er lässt auch noch seinen Sohn Ingenieur werden!“

„Nun, warum soll er nicht, wenn sein Sohn die Fähigkeit dazu hat?“

„Das geht aber über die Grenzen hinaus, die man diesen Leuten stecken müsste!“

Sein Vater sah ihn ernst an.

„Wenn man nun deinem Großvater diese Grenzen gesteckt hätte, als er sich unterfing, seinen Sohn auf der Hochschule studieren zu lassen?“

Georg gab sich noch immer nicht geschlagen. „Dein Vater hat dich erst studieren lassen, als die Carolawerke bereits in Blüte kamen.“