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Mit Zähigkeit und Fleiß hat Georg Rodenberg sein Unternehmen aufgebaut. Aber jetzt, im Alter, fragt er nach dem Sinn seiner ganzen Arbeit, denn sein Sohn und Nachfolger musste vor vielen Jahren wegen eines Streits, bei dem ein Mensch ums Leben kam, aus der Heimat fliehen. Das Schiff, auf dem er sich befand, ging unter. Obwohl inzwischen über ein Jahrzehnt vergangen ist, setzt Georg den Verschollenen in seinem Testament als Erben ein - für den Fall, dass er innerhalb von zwanzig Jahren nach dem Schiffsunglück zurückkehrt. Andernfalls soll sein Enkel Hans Dornau das Erbe antreten. Doch Hans hat einen erbitterten Feind: seinen Onkel Arthur Mertens. Hans und seine schöne Schwester Eva-Maria wissen, dass Mertens auch vor einem Verbrechen nicht zurückschrecken wird, um das Erbe an sich zu bringen...
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Seitenzahl: 160
Cover
Impressum
Das Erbe der Rodenberg
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Anne von Sarosdy/Bastei Verlag
E-Book-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-2209-5
www.bastei-entertainment.de
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Das Erbe der Rodenberg
Roman um eine junge Frau und ein schicksalhaftes Testament
Der Sturm rüttelte an den Türen der Villa Rodenberg. Hagelkörner schlugen wie Geschosse gegen die Fenster. Die Dunkelheit war bei diesem Unwetter früher als sonst hereingebrochen.
Eva Maria Dornau, die Enkelin des Hüttenbesitzers Georg Rodenberg, zog fröstelnd das schwarze Seidentuch um ihre schlanke Gestalt und sah immer wieder besorgt nach dem Bett hinüber, in dem der kranke Großvater, der Vater ihrer verstorbenen Mutter, lag. Zuweilen, wenn der Sturm ein wenig nachließ, hörte sie die tiefen Atemzüge des Kranken.
Vor Eva Maria lag ein Buch auf dem Tisch; sie versuchte zu lesen, aber die Angst und Unruhe in ihr ließen sie oft aufschrecken. Zwar war der Zustand des geliebten Großvaters etwas besser geworden, aber sie sorgte sich auch noch um ihren um zwei Jahre jüngeren Bruder, der gleich ihr seit dem Tod ihrer Eltern im Haus des Großvaters lebte und den sie in diesem Unwetter unterwegs wusste.
Der Großvater war der einzige Mensch, der für sie und ihren Bruder Liebe und Zärtlichkeit empfand. Heimlich mochte wohl auch Tante Melanie, die jüngere Schwester ihrer Mutter, ein wenig Zuneigung für die beiden verwaisten Kinder fühlen, aber sie durfte das nicht ihren Gatten, Arthur Mertens, merken lassen, der die beiden Geschwister hasste, weil sein Neffe als Sohn der ältesten Tochter des jetzigen Besitzers eines Tages Herr der Hüttenwerke sein würde. Arthur Mertens‘ Kinder hatten erst an zweiter Stelle Erbaussichten. Eva Maria und ihr Bruder wussten um die Gefühle ihres Onkels für sie, wenngleich er seinen Hass unter der Maske scheinheiliger Freundlichkeit zu verbergen wusste. Er tat das so geschickt, dass selbst der Großvater keine Ahnung davon hatte und glaubte, Arthur Mertens sei der beste und uneigennützige Freund seiner verwaisten Enkelkinder.
Eva Maria und ihr Bruder Hans wussten das, wie gesagt, besser, aber sie wollten dem Großvater nicht das Herz damit beschweren, und so behielten sie es für sich. Nur untereinander sprachen sie sich zuweilen darüber aus.
Immer wieder blickte Eva Maria zu dem Großvater hinüber. Sie war von Herzen froh, dass der Arzt ihr gesagt hatte, die Krise sei vorüber, und der Kranke werde nun der Genesung entgegengehen. Sie wagte noch gar nicht daran zu glauben, war doch der Großvater sehr krank gewesen, so krank, dass man um sein Leben zittern musste. Fast ganz allein hatte Eva Maria ihn gepflegt, nur zuweilen war Tante Melanie gekommen, um die Nichte stundenweise abzulösen.
So schwer die Pflege für Eva Maria auch gewesen sein mochte, war sie doch froh, etwas tun zu können, um dem Großvater ihre Dankbarkeit zu beweisen. Denn er ersetzte ihr und dem Bruder seit dem bei einem Eisenbahnunglück erfolgten Tod ihrer Eltern Vater und Mutter zugleich, während sie wiederum für ihren jüngeren Bruder wie eine Mutter sorgte.
Das Toben des seit Stunden wütenden Unwetters verursachte Eva Maria zumal darum so große Angst, weil ihr Bruder Hans ins Gebirge hinaufgestiegen war, um nach den Holzarbeitern zu schauen, die dort oben Bäume fällten. Überall sollte er nach dem Rechten sehen, denn er war seit Jahresfrist in dem Betrieb angestellt, um sich für seine künftige Stellung vorzubereiten. Da musste er alle Zweige des umfangreichen Werkes gründlich kennen lernen. So wollte es der Großvater.
Hans war schon seit dem Morgen von zu Hause fort, und es war möglich, dass er oben in den Holzfällerhütten vor dem Unwetter Unterschlupf gesucht hatte. Ebenso möglich konnte es aber auch sein, dass er sich bei Ausbrechen des Wetters schon auf dem Rückweg befunden hatte, und dann war sein Weg lebensgefährlich.
Im Haus war es totenstill. Die Dienerschaft saß im Souterrain in dem großen Domestikenzimmer, und wenn auch ein leichter Druck auf die elektrische Klingel genügte, um sofort jemand von den Angestellten herbeizurufen, so kam Eva Maria sich doch sehr einsam und verlassen vor.
Plötzlich schrak sie empor. Sie hatte eine Türe schlagen hören; der Sturm hatte sie wohl einem ins Haus Tretenden aus der Hand gerissen. Besorgt sah das junge Mädchen nach dem Großvater hinüber. Gottlob, er schlief ruhig weiter. Atemlos lauschte sie hinaus und hörte bald darauf einen behutsamen Schritt die Treppe heraufkommen. Sie atmete wie von schwerer Last befreit, auf: Das war der Schritt des Bruders!
Leise erhob sie sich, jedes Geräusch vermeidend, ging sie zur Tür und öffnete sie. Sie huschte hinaus auf den breiten Korridor. Da sah sie den Bruder die Treppe heraufkommen, er trug einen vollständig durchnässten Wettermantel.
„Oh, Hans, gottlob, dass du wieder zu Hause bist!“, sagte Maria, erlöst aufatmend.
Hans Dornau strich mit der Hand die nassen Haare aus der Stirn.
„Heia, Eva Maria! Der Sturm hat mich gründlich gebeutelt und mir mehr als einen Baumstamm in den Weg geworfen. Auf die Nase bin ich auch mehrere Male gefallen, denn ich machte Riesensprünge, um heimzukommen. Deine Angst konnte ich mir ja vorstellen, aber – es war wundervoll!“
Und er reckte seine schlanke, kraftvolle Gestalt. Er erschien älter als er war, aber seine blauen Augen lachten jungenhaft unbekümmert.
„Du warst also auf dem Rückweg, als das Wetter losbrach, Hans?“
Er nickte.
„Ich war noch nicht weit von den Holzfällerhütten entfernt, als es losbrach, aber umkehren wollte ich nicht. Und ich dachte auch nicht, dass es so schlimm käme, sonst wäre ich doch wohl die Nacht oben in der Hütte geblieben. Nun habe ich es aber geschafft und schön war es doch, so mitten durch den Sturm dahinzuschreiten.“
Sie strich ihm liebevoll über das nasse Haar.
„Tollkopf, du lieber!“
„Gelt, du hast dich um mich gesorgt, Eva Maria?“
„Das kannst du dir denken, Hans. Gottlob, dass dir nichts geschehen ist!“
„Nur die Mütze ist davon geflogen. Meine schöne, neue Ledermütze. Die liegt nun irgendwo und wird im Wasser aufweichen.“
„Die Mütze wollen wir gern verschmerzen. Wie gut, dass Großvater den ganzen Sturm verschlafen hat, er hätte sich mit mir um die Wette um dich gebangt!“
„Wie geht es ihm?“
„Doktor Pfalz sagt, die Krise sei vorüber und er gehe der Genesung entgegen.“
Die Augen des Jünglings leuchteten auf, seine Gestalt reckte sich, er nahm den nassen Mantel von den Schultern und wollte ihn ausschlagen. Mit einem Blick auf die Schwester ließ er es aber.
„Gott sei Dank, Eva Maria, dass es soweit ist! Wir brauchen Großvater doch gar zu nötig, denn wenn Onkel Arthur hier ans Ruder kommt, was, wenn Großvater stürbe, vor meiner Mündigkeit wohl zu befürchten wäre, dann gnade uns Gott!“
Sie legte ihm die Hand auf den Mund und lauschte ängstlich die Treppen hinunter.
„Vorsicht, Hans, es könnte jemand von den Leuten horchen!“
„Nun ja, er hat überall seine Spione, aber mögen sie es ihm wiedersagen, dass ich ihn verachte.“
Kriegerisch hatte er die Stimme erhoben. Eva Maria sah ihn flehend an.
„Still doch, Hans! Vergiss nicht, dass er Großvaters Vertrauen besitzt!“
„Weil er es sich mit einer scheinheiligen Biederkeit erschlichen hat. Großvater in seiner Herzensgüte vertraut ihm, weil er selbst ohne Falsch ist. Man müsste ihm die Augen öffnen.“
„Oh, Hans, möchtest du ihm diesen Schmerz zufügen? Die Erkenntnis, sein Vertrauen einem Unwürdigen geschenkt zu haben, würde ihn tief niederdrücken.“
Hans schüttelte den Kopf.
„Selbstverständlich werde ich das nicht tun, aber ich weiß nicht, ob es nicht ein Unrecht ist. Aber er hat schon so viel Schweres ertragen müssen. Tante Melanie ist sein letztes Kind. Unsere Mutter wurde ihm auf schreckliche Weise genommen und – Onkel Lutz.“
Eva Maria lauschte ängstlich an der Tür des Krankenzimmers. Es war aber alles still.
„Zieh dir trockene Kleider an, Hans!“
„Das will ich, Eva Maria. Und einen Mordshunger hab’ ich.“
„Lass dir zu essen geben, ich muss wieder zu Großvater hinein!“
„Wenn er wach ist, rufst du mich aber.“
„Ja, Hans.“
Die Geschwister drückten sich die Hände und nickten sich in geschwisterlicher Zärtlichkeit zu. Sie hingen sehr aneinander. Eva Maria ging in das Zimmer zurück.
Der Sturm hatte etwas nachgelassen, es war, als mache ihm das Toben und Wüten keinen Spaß mehr, weil der Junge Dornau nicht mehr gegen ihn ankämpfte. Eva Maria versuchte, wieder zu lesen, und jetzt ging es besser, da sie die Sorge um den Bruder los war. Aber lange blieb sie nicht ungestört, der Kranke erwachte.
„Eva Maria!“
Schnell war sei bei ihm.
„Wie fühlst du dich, Großvater?“
Er lächelte, ein bisschen matt noch, aber mit klaren Augen.
„So zerschlagen, als hätte ich sieben Klafter Holz gehackt“, scherzte er.
„Komm, nimm schnell noch einmal die Medizin, die dir so gut getan hat. Dann wird es gleich besser werden. Nach den bösen Fiebertagen ist es kein Wunder, wenn du matt und kraftlos bist.“
Sie reichte ihm den Heiltrank, den er gehorsam schluckte.
Dann lauschte er.
„Oh, was für ein Sturm heute!“
Sie setzte sich zu ihm und lächelte ihn an.
„Das Schlimmste hast du zum Glück verschlafen, Großvater, es war ein tolles Unwetter mit Hagelschlag.“
Er sah unruhig aus. „Und Hans?“
„Ist heil und gesund zurück.“
„Gottlob! Ach, Eva Maria, ich hab’ so wunderschön geträumt.“
Sie nahm seine Hand.
„Ich freue mich, dass du gut geschlafen hast. Nun wird es besser werden mit dir, Doktor Pfalz sagt, du seiest über den Berg.“
„Von meinem Sohn Lutz habe ich geträumt.“
Zärtlich strich sie ihm das Haar aus der Stirn.
„Es war seltsam, Eva Maria; er stand auf der breiten Veranda eines fremdartigen Hauses, und rings um das Haus blühten wundersame, farbenprächtige Blumen. Heller Sonnenschein lag über allem, und mein Sohn trug eine Art Tropenanzug. Sein Arm lag auf der Schulter eines zierlichen, jungen Mädchens, es war noch ein Kind. Es hatte blondes Haar, das in der Sonne wie gesponnenes Gold leuchtete und, denk dir, sie nannte meinen Sohn Vater. Und er lächelte ihr zu und sagte: ‚Wenn uns Großvater jetzt sehen könnte, mein Kind, wie würde er sich freuen.‘ Das Kind aber erwiderte: ‚So weit kann Großvater doch nicht sehen, lieber Vater.‘ Und dann winkten sie mir beide zu. Dabei wich das Haus immer weiter zurück, verblasste und verschwand in dichten Nebel. Aber solange ich es sehen konnte, so lange winkten mir beide mit liebevollem Lächeln zu.“
„Das war ein sehr seltsamer Traum, Großvater.“
„Nicht wahr? Und denke dir, Lutz war so viel älter und reifer als damals, da er für immer von mir ging. So würde er vielleicht jetzt aussehen, wenn er noch am Leben wäre. Was sagst du zu diesem Traum, Eva Maria?“
„Dass du auch im Schlaf an Onkel Lutz denkst und dich mit ihm beschäftigst. Du träumst doch oft von ihm.“
„Aber noch nie sah ich ihn so deutlich und so lebendig vor mir. Ich spreche mit niemandem als mit dir über diese Träume. Die anderen würden mich auslachen. Nur dir vertraue ich es an, dass ich zuweilen das Gefühl habe, er müsse noch am Leben sein, er könne doch gerettet sein, als damals das Schiff unterging.“
„Lieber Großvater, ich verstehe, dass dein Vaterherz sich an die Möglichkeit klammert, dein Sohn könne noch am Leben sein, aber du weißt doch, dass kein einziger von den Passagieren jenes Dampfers gerettet wurde, und dass man nur einen Matrosen und einen Steuermann einige Tage nach der Katastrophe halb verhungert und verdurstet aufgefischt hat. Sie bezeugten doch, dass alle übrigen mit dem Dampfer untergegangen seien. So hast du mir selbst erzählt.“
Erschöpft sank der Kranke zurück, und auf seinem Gesicht erschien ein herber Leidenszug.
„Ja, ja, Eva Maria, ich weiß ja selbst, dass es unwahrscheinlich ist, Aber – lass mir doch diese stille Hoffnung, ich tue ja niemandem weh damit.“
„Ich will sie dir gewiss nicht rauben, Großvater, weiß ich doch, wie sehr du an Onkel Lutz gehangen hast. Aber – strengt dich das Sprechen auch nicht an?“
„Nein, nein, lass mich nur, es ist mir stets eine Erleichterung, kann ich mit dir von Lutz sprechen! Die anderen hören ja nie mehr zu, wenn ich es tue, und machen dann immer Gesichter, als hielten sie mich für schwachsinnig.“
Niemand wollte ihn mehr von dem Sohn sprechen hören, dessen Ende ihn so tief erschüttert hatte, aber Eva Maria schenkte ihm immer wieder geduldig ihr Ohr.
„Das musst du nicht denken, sie meinen nur, du schadest dir nur, wenn du von jener Katastrophe sprichst.“
„Im Gegenteil, es ist mir eine Wohltat, wenn ich davon sprechen kann. Es quält mich viel mehr, wenn ich es in mich verschließen muss. Darf ich dir noch einmal erzählen, wie es kam, dass mein Lutz die Heimat verlassen hat?“
Wieder strich sie ihm liebevoll das Haar aus der hohen Stirn. „Gern höre ich dir zu, Großvater, wenn dir daran liegt und es dich nicht anstrengt.“
„Im Gegenteil. Also: Lutz hatte an der Hochschule in Charlottenburg sein Studium vollendet. Weil er sein Examen glänzend bestanden hatte, erlaubte ich ihm, zur Belohnung eine Auslandsreise zu machen. Er sollte in verschiedenen Ländern große Hüttenwerke besuchen und dabei praktische Kenntnisse erwerben. Nach Beendigung dieser Reise sollte er dann in unseren Betrieb eintreten, sah ich doch in ihm, meinem einzigen Sohn, meinen Nachfolger. Aber alles sollte anders kommen. Lutz war am Abend vor seiner Abreise mit einigen Studienfreunden zusammen gewesen; sie hatten wohl ein wenig intensiv Abschied gefeiert und traten in ausgelassener Stimmung den Heimweg an. Auf der Straße wurden sie von einigen anderen jungen Leuten aus irgendeinem Grund angerempelt. Es gab anfänglich einen Wortwechsel, dann aber ernste Streitigkeiten, und zuletzt arteten diese in Tätlichkeiten aus. Plötzlich fiel einer von der Gegenpartei, von einem Schlag getroffen, tot zu Boden. Entsetzt, plötzlich nüchtern geworden, stoben alle auseinander, nur ein Freund des Getöteten blieb bei ihm zurück. Wer den tödlichen Schlag geführt hatte, wusste keiner. Nur stellte sich später heraus, dass er mit einem Schlagring geführt worden war. Lutz stand am anderen Tag blass und verstört vor mir, berichtete mir alles und sagte mir, er wisse nicht, ob er der Mörder des jungen Menschen sei. Jedenfalls habe er, als er sich bedroht sah, mit einem Schlagring zugeschlagen. Wie ein Ertrinkender, der nach Rettung suchte, fasste er meine Hand und sagte: ‚Ehe ich ins Gefängnis gehe und mich als Totschläger aburteilen lasse, bringe ich mich selbst um. Ich muss fliehen, Vater, bevor die Polizei auf meinen Fersen ist. Bitte, hilf mir, gib mir Geld, dass ich mich einige Jahre im Ausland aufhalten kann, bis Gras über diese Sache gewachsen ist. Ich ertrage es nicht, verhaftet zu werden. Dein Sohn soll nicht im Gefängnis sitzen.‘ Siehst du, Eva Maria, er war mein Einziger und mein ganzer Stolz, und es zerbrach an jenem Tage etwas in mir. So versah ich ihn dann mit reichlichen Geldmitteln und trieb ihn selbst an, sofort abzureisen, denn zuerst wäre er ja bei mir gesucht worden. Zum Glück hatte er seinen Reisepass in Ordnung. Somit stand ihm die Welt offen. Er sagte mir noch, dass er sich von Spanien aus nach Südamerika einschiffen werde. Ein Telegramm, dessen Inhalt wir vereinbarten, sollte mir melden, mit welchem Dampfer er reisen würde.
Zwei Tage später forschte die Polizei bei mir nach Lutz. Es hatte sich, wie ich später erst in den Zeitungen las, tatsächlich herausgestellt, dass der Getötete mit einem Schlagring erschlagen worden war, und nur mein Sohn sollte einen solchen besessen haben. Das ging durch alle Blätter. Mein armer Junge war gebrandmarkt – er war ein Totschläger geworden, ohne recht zu wissen, wie. Zum Glück war er entkommen. Nach einigen Tagen erhielt ich das verabredete Telegramm, das nichts enthielt als den Namen des Dampfers. Unruhe und Angst im Herzen, hatte ich im Geist seine Spur verfolgt, und wenige Wochen später ging durch alle Zeitungen die Nachricht, dass jener Dampfer mit Mann und Maus untergegangen sei. Nur ein Matrose und ein Steuermann wurden nach einigen Tagen als einzige Überlebende gefunden. Lutz Rodenbergs Name stand auf der Passagierliste. Ich hatte gehofft, er könne mit einem anderen Dampfer gereist sein, aber die Hoffnung wurde zunichte. Eva Maria, damals war ich dem Wahnsinn nah. Auf diese Weise meinen einzigen Sohn, meinen Stolz, zu verlieren, war hart. Ich habe es nie ganz verwinden können. Weiß Gott, ich hätte ihn nun doch lieber im Gefängnis gesehen, dann wäre er wenigstens am Leben geblieben.“
Eva Maria strich sanft über die Hände des alten Herrn.
„Mein armer, lieber Großvater, nun hast du dich von Neuem aufgeregt.“
„Aber ich bin dir dankbar, dass du mich anhörst. Jetzt habe ich mir es wieder einmal vom Herzen gewälzt und obendrein von meinem Lutz geträumt. Ich habe ihn vor mir gesehen und er hat mir zugewinkt mitsamt dem reizenden Kind, das ihn Vater nannte. Nun ist mir leichter ums Herz. Nun darf ich mir wieder einbilden, mein Sohn lebe noch und habe in einem fernen Land eine Heimat gefunden.“
„Wäre das der Fall, Großvater, so hätte er dir doch bestimmt einmal eine Nachricht gesandt.“
„Vielleicht wagte er das nicht. Vielleicht fürchtete er, seine Briefe könnten in falsche Hände geraten. Vielleicht wollte er für tot gelten, damit er nicht weiter verfolgt würde. Das Verfahren wurde nach Meldungen. seines Todes eingestellt. Er wollte mir vielleicht kein Lebenszeichen geben, um mich nicht in Konflikte mit der Polizei zu bringen. Nimm mir nur nicht die Hoffnung, mein Kind, an die ich mich klammere, sie ist mein einziger Trost in all meinem Unglück.“
Ein tiefes Erbarmen spiegelte sich in Eva Marias Zügen. Sie sah ein, dass man dem Großvater diesen Trost lassen müsse. Mitleidvoll sagte sie:
„Nun ja, Großvater, es sind ja schon wunderbare Dinge geschehen, man kann nicht wissen, ob Onkel Lutz nicht doch noch lebt. Zeuge seines Todes ist ja niemand gewesen, und vielleicht ist es wirklich so, wie du es dir ausgedacht hast.“
Lebhaft umklammerte er ihre Hand.
„Nicht wahr, Eva Maria, irgendwie könnte er doch gerettet worden sein, ohne dass es jemand erfahren hätte? Und dass ich so oft von ihm träume und ihn dann immer älter und reifer geworden vor mir sehe, ist doch auch wie ein Wunder.“
Ablenkend sagte sie freundlich, aber bestimmend:
„Nun musst du aber etwas zu dir nehmen, Großvater, Doktor Pfalz hat verordnet, du sollst ein wenig Hühnerbrühe und ein Stückchen Brustfleisch von einem zarten Huhn genießen. Ich habe das alles vorbereiten lassen, und du musst es nun zu dir nehmen.“
Er lächelte ihr zu.
„Ich werde ganz folgsam sein, meine kleine Samariterin. Und dann möchte ich Hans sehen. Er soll mir berichten, wie es oben bei den Holzfällern aussieht.“
Eva Maria klingelte und gab, als ein Diener erschien, die nötigen Befehle. Hans Dornau kam auch sogleich und berichtete dem Großvater, wie er seinen Auftrag ausgeführt hatte.
Inzwischen brachte der Diener den Imbiss für den Kranken, und Eva Maria fütterte ihn sorgsam und liebevoll. Hans saß dabei, half der Schwester, und er trieb zugleich allerlei kleine Possen, um den Großvater aufzuheitern. Der sah ihn einige Male forschend an und sagte versonnen:
„Du gleichst deinem Onkel Lutz von Tag zu Tag mehr, Hans. Mögest du glücklicher werden als er.“
Eva Maria ging schnell auf ein anderes Thema über, und als der Großvater gespeist hatte, trieb sie Hans aus dem Zimmer.
„Großvater muss jetzt wieder schlafen, Hans.“
„Nun gut, Eva Maria, der Sturm hat nachgelassen, und ich gehe noch einmal nach den Hochöfen hinüber.“