Hedwig Courths-Mahler - Folge 183 - Hedwig Courths-Mahler - E-Book

Hedwig Courths-Mahler - Folge 183 E-Book

Hedwig Courths-Mahler

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Beschreibung

Wie eine Gefangene wächst die schöne junge Waise Sanna von Glossow bei ihrem Onkel, einem engstirnigen Gelehrten, und ihrer kaltherzigen und geldgierigen Tante auf. Erst nach ihrem 21. Geburtstag darf Sanna endlich auf das elterliche Gut zurückkehren. Ihr Nachbar, Rolf von Gerlachsheim, ein begehrter Junggeselle, bemüht sich rührend um die junge Dame. Bald wird aus der Freundschaft Liebe. Doch Sanna weigert sich, Rolf ihr Jawort zu geben, denn ein Schatten lastet auf ihrer Vergangenheit: das Drama von Glossow, durch das ihre Eltern einst ums Leben kamen ...

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Seitenzahl: 176

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Inhalt

Cover

Impressum

Das Drama von Glossow

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Anne von Sarosdy/Bastei Verlag

E-Book-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-2214-9

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Das Drama von Glossow

Ergreifender Roman der berühmten Schriftstellerin

Rudolf von Gerlach auf Gerlachsheim ritt mit seinem Freund und ehemaligen Regimentskameraden Hans von Seltiz quer über die bewaldeten Dünen, nach der Trollschlucht hinüber. Sie hatten sich von der übrigen Jagdgesellschaft getrennt, um den Weg abzuschneiden und schneller nach Gerlachsheim zurückzukehren, wo Rudolf seine Gäste empfangen wollte, wenn sie von der Jagd heimkehrten. Heute Abend war das große Schlusssouper auf Gerlachsheim, und morgen reisten die Jagdgäste wieder ab.

Sie ritten die Düne hinab in die Schlucht, die mit wildem Gestrüpp bewachsen war. Dann ging es wieder empor über einen langsam aufsteigenden Weg, der so schmal war, dass nur ein Pferd hinter dem anderen gehen konnte. Zu beiden Seiten fiel dieser Weg steil ab, auf der einen Seite in die Trollschlucht, auf der anderen in die bewaldete Ebene. Und je höher sie kamen, desto schöner wurde der Ausblick über Schlucht und Dünen nach der See.

An der höchsten Stelle war der Steilweg plötzlich zu Ende. Rudolf, der voranritt, hielt sein Pferd an und wandte sich nach dem Freund um. So schmal war der Weg, dass es unmöglich war, die Pferde umzuwenden.

„So, Hans – nun verschnaufe dich und deinen Gaul ein Weilchen und genieße dabei die schöne Aussicht auf das Meer. Nachher müssen wir hier hinunter.“

Er zeigte auf den jäh abfallenden Pfad.

Hans lachte. „Donnerwetter das wird eine wilde Sache! Aber erst die Aussicht! Wunderbar! Es ist ein herrliches Gefühl, wenn der Blick so ungehindert schweifen kann. Da packt mich immer wieder die Sehnsucht meiner Knabenjahre. Nur meiner Mutter zuliebe bin ich nicht Seemann geworden.“

Die beiden jungen Männer hielten eine Weile reglos auf dem schmalen Pfad. Ihre Pferde schienen zu fühlen, dass hier ein einziger unvorsichtiger Schritt für Ross und Reiter Verderben im Gefolge haben müsse. Endlich riss Hans von Seltiz seine Augen los von dem herrlichen Bild …

„So, Rolf“, sagte er aufatmend, „nun kann es da hinuntergehen. Weißt du eigentlich, was für ein beneidenswerter Mensch du bist und wie schön deine Heimat ist?“

„Ob ich das weiß! Mit jedem Atemzug danke ich dem Schicksal dafür. Aber ich habe noch nicht gewusst, dass du eine Vorliebe für die See hast. Davon hast du mir nie etwas erzählt.“

„Eine große, Rolf.“

„Also musst du mir versprechen, dass du deinen Sommerurlaub in Gerlachsheim verbringen wirst.“

„Mit Vergnügen. Ich wüsste nicht, was ich lieber tun würde.“

„Warum hast du nicht schon vorigen Sommer meine Einladung angenommen?“

Hans von Seltiz sah mit ernsten Augen vor sich hin.

„Da war mein Vater gerade gestorben und meine Mutter sehr einsam. Du weißt, sie hatte kurz vor meinem Vater meinen ältesten Bruder verloren. Ich mochte sie da nicht allein lassen, so gern ich auch zu dir gekommen wäre.“

„Dein Bruderherz stürzte bei einem Rennen, nicht wahr?“

„Ja, aber lassen wir das ruhen.“

Rudolf von Gerlach schwieg sofort. Er beschäftigte sich mit dem Pferd, dann fuhr er mit fröhlichem Ausdruck fort: „Im Sommer kommst du also zu mir. Ich freue mich darauf. Manchmal wird es mir zu einsam in Gerlachsheim. Der Winter ist lang. Da hat man kaum Verkehr mit den Nachbargütern. Und drüben im Seebad Gosserow ist im Winter kein Mensch. Meist verreise ich auf einige Wochen, damit ich die Fühlung mit der Welt nicht ganz verliere. Weißt du, im Regiment war es manchmal recht lustig und vergnügt. Wenn man nun immer allein haust, wird es auch malöde, obwohl ich im Allgemeinen mit meiner eigenen Gesellschaft zufrieden bin. Und nun vorwärts, Hans, sonst nützt mir das Abbiegen nichts, und meine Gäste erreichen vor uns Gerlachsheim.“

Sie ritten hintereinander den steilen Pfad hinab. Es war für Ross und Reiter keine leichte Aufgabe. Die Pferde rutschten zuweilen auf dem Geröll und mussten aufmerksam geführt werden. Beide Reiter bewältigten die Aufgabe spielend. Sie hatten die Gäule in der Gewalt.

Unten angelangt, ging es zunächst auf glattem Waldboden geradeaus ins Land hinein. Sie ließen ihre Pferde galoppieren und kamen schnell vorwärts. Dann kam ein breiter Graben.

„En avant, Hans! Das ist das erste Hindernis!“, rief Rolf und gab seinem Pferd leichte Hilfe

Seite an Seite sausten sie über den Graben hinweg und jagten unaufhaltsam weiter. Bald tauchte ein Zaun auf, der einen Weideplatz umschloss. Friedlich weidete hier eine Herde Kühe.

„Hallo! Quer über die Weide!“, rief Rolf antreibend.

In Windeseile ritten sie, nachdem sie den niedrigen Zaun übersprungen hatten, über die Weide. Die Kühe glotzten verwundert hinüber, einige stoben erschreckt davon. Lachend setzte Rolf über einen der Wiederkäuer hinweg, der stumpfsinnig im Gras lag, und dann ging es im eleganten Satz über den Zaun hinweg wieder ins Freie. Gleich darauf begegnete ihnen ein einzelner Reiter.

„Tag, Herr Verwalter! Wir haben Ihren Weideplatz unsicher gemacht. Bitte um Entschuldigung!“, rief ihm Rudolf im Vorrübereiten zu.

Der Glossower Verwalter Heerfurt nickte lachend.

„Tut nichts, Herr von Gerlach!“, rief er den Reitern nach.

Sie setzten ihren Weg fort, bis ein Stück Waldland kam, in dem die Wege mit dicken Baumwurzeln bedeckt waren. Da mäßigten sie das Tempo für kurze Zeit.

Gleich darauf sahen sie auf einer saftig grünen Waldlichtung ein großes, schlossähnliches Gebäude liegen.

„Was ist das, Rolf?“

Hans von Seltiz zeigte mit der Reitpeitsche hinüber.

„Das Herrenhaus von Glossow“, antwortete Rudolf auf die Frage.

„Das muss nahe bei Gerlachsheim liegen?“

„Ja, etwa eine halbe Stunde entfernt.“

„Es ist wohl nicht bewohnt? Die Fensterläden sind geschlossen.“

„Das Haus steht seit sechzehn Jahren unbewohnt.“

„Warum?“

Rudolf von Gerlach zuckte unbehaglich mit den Schultern.

„Eine schlimme Geschichte hat dies Haus, das so ruhig und friedlich im Waldwinkel liegt. Unsere Bauern ringsum behaupten, dass es in Glossow spukt. Vor sechzehn Jahren hat sich da drüben ein furchtbares Drama abgespielt, und da sehen die Leute nun überall Gespenster.“

„Erklärlich! Was ist das für ein Spuk, mein Lieber?“, fragt Hans lachend.

„Natürlich weiß niemand etwas Genaues. Ist ja auch Blödsinn. Der Geist des letzten Freiherrn von Glossow und der seiner Gattin sollen umgehen. Na, du weißt ja, was die Fantasie ängstlicher Gemüter zu sehen und zu hören imstande ist. Schließlich ist in Glossow genug geschehen, was zu solchen Hirngespinsten Veranlassung gibt.“

„Du sprachst von einem Drama? Darf man es wissen?“

„Vor sechzehn Jahren wohnte drüben froh und friedlich Justus von Glossow mit seiner schönen Frau und einem fünfjährigen Töchterchen. Sie waren innig befreundet mit meinen Eltern. Ich ging als sechzehnjähriger Bursche damals dort aus und ein. Niemand ahnte etwas von einer bevorstehenden Katastrophe. An einem Sommerabend kehrte Justus von Glossow unerwartet von dem Seebad Gosserow heim – und fand seine Frau in den Armen seines Freundes, eines Herrn von Brockhoff. Von Zorn und Eifersucht übermannt, schoss er erst den Freund und die Frau nieder und dann sich selbst. Er und seine Frau waren sofort tot. Der falsche Freund schwer verwundet, er hat sich wieder erholt. Ob er noch am Leben ist, weiß ich nicht. Glossow steht seitdem verödet. Der Verwalter Heerfurt, den wir eben trafen, wohnt mit seiner Frau drüben im Verwalterhaus.“

„Schade – ein so schöner Besitz und kein Mensch, der ihn bewohnt. Wem gehört Glossow jetzt?“

„Der einzigen Tochter des ermordeten Paares. Susanna von Glossow. Sie war damals ein fünfjähriges Kind. Von den Schüssen erschreckt, ist sie an jenem Abend mit der Dienerschaft in das Zimmer ihrer Mutter gelaufen, wo ihre Eltern tot am Boden lagen. Sie soll jammervoll geweint haben, wenn sie wohl auch nicht verstanden hat, was ihr genommen worden war – die Eltern und ihr guter Name. Schauderhaft es gab damals großes Aufsehen. Alle Zeitungen brachten Artikel über ’Das Drama von Glossow’.“

„Armes Kind! Was ist aus ihr geworden?“

„Genau weiß ich es nicht. Ein Bruder ihrer Mutter hat sie nach der Katastrophe zu sich genommen. Dieser Onkel soll ein Sonderling sein. Ich hörte von dem Verwalter Heerfurt, dass er als Junggeselle ein zurückgezogenes Leben in einer süddeutschen Universitätsstadt führt. Er ist Professor und lebt von seinen Büchern und Sammlungen. Ich kann mir nicht denken, dass sich eine junge Dame bei ihm sonderlich wohl fühlt. Heerfurt deutete mir auch Ähnliches an, wenn er sich auch nicht weiter darüber ausließ.“

„Dieser Verwalter ist wohl schon lange in Glossow?“

„Ja, er war schon vor der Katastrophe hier. Übrigens ein tüchtiger Mann, ehrlich und vertrauenswürdig. Ein Glück für die Erbin, dass ihr Besitz in so zuverlässigen Händen liegt. Sonst könnte sie böse Erfahrungen machen. Es kümmert sich niemand darum, wie er wirtschaftet. Wie er es macht, ist es recht.“

„Und all die Jahre hat das schöne große Herrenhaus leer gestanden?“

„So ist es. Das Haus ist abgeschlossen und wird zuweilen gereinigt und gelüftet. Das ist alles. Die Frau Verwalterin sorgt redlich dafür, dass Ordnung bleibt und dass Mäuse und Motten nicht ihr Unwesen treiben. Heerfurt reist in regelmäßigen Abständen nach H …, um dem Vormund der jungen Dame Rechnung zu legen, und er ist ehrlich entrüstet, dass man ihm so gleichgültig alles überlässt. Wie gesagt, wenn Heerfurt nicht so ein ehrlicher Mensch wäre, stände es schlimm um Glossow.“

Die beiden Herren kamen wieder auf glatten Boden und beschleunigten das Tempo. Dabei verstummte die Unterhaltung von selbst.

Der Ritt ging durch dichten Buchenwald, dann über Hecken und Gräben querfeldein. Die letzte Strecke des Weges führte durch einen schönen, alten Park. Wenige Minuten später hielten sie vor dem Gerlachsheimer Herrenhaus.

Das war ein grauer, massiver Bau, mit einem viereckigen Mittelturm und weit ausgedehnten Seitenflügeln, die nur aus dem Erdgeschoss und einem Stockwerk bestanden.

Eine breite, aus flachen Sandsteinstufen bestehende Treppe führte zum Portal empor.

Durch dieses gelangte man in eine große hallenartige Diele, deren Fußboden gleichfalls mit Sandsteinplatten gedeckt war.

Als die beiden Herren vor der Treppe hielten, kam ein Reitknecht herbei und nahm die Pferde in Empfang. Schon auf der Schwelle des Hauses trat den Herren eine etwa fünfzigjährige Frau entgegen. Sie trug eine breite weiße Schürze über einem schwarzen Kleid und auf grau meliertem Haar eine weiße, gesteifte Haube. Das war Rudolf Gerlachs Haushälterin, Frau Sieveking.

„Na, Gott sei Dank, Herr von Gerlach!“, rief sie ihm entgegen.

Dieser lachte. „Was ist los, Sievekingschen? Sie haben mich wohl schon wieder einmal mit Sehnsucht erwartet?“

„Tue ich immer! Aber heute gilt meine Sehnsucht eigentlich mehr der Jagdgesellschaft. In der Küche schmort und kocht alles zuschanden, wenn nicht bald aufgetragen werden kann. Wenn die Herren doch bloß einmal pünktlich sein könnten! Aber das ist nicht reinzukriegen!“

„Ja, ja, es ist ein Graus, was Sie in Gerlachsheim auszustehen haben, Sievekingschen“, neckte Rolf:

„Rolf – sie kommen!“, rief Hans von Seltiz vom Tor her.

Draußen hörte man lautes Lachen und Rufen, den Hufschlag einer Anzahl Pferde und den Ton eines Jagdhorns.

Schnell war Rolf an der Seite des Freundes und trat hinaus, um seine Gäste zu empfangen.

Es währte nur kurze Zeit, dann saßen die Herren bei Tisch und sprachen dem leckeren, kräftigen Mahl und den vorzüglichen Weinen zu.

Hans von Seltiz saß neben seinem Freund Rolf von Gerlach, aber sie kamen nicht mehr zu einer ungestörten Unterhaltung. Sie wurden von allen Seiten in Anspruch genommen. Natürlich wurden zumeist Jagderlebnisse zum Besten gegeben. Trinksprüche wurden ausgetauscht. Auch ein älterer, stattlicher Herr mit frischem, rotem Gesicht und vergnügten Augen, einer der näheren Nachbarn von Gerlachsheim, erhob sich und klopfte an sein Glas, um der guten Frau Sieveking für ihre prächtige Bewirtung zu danken, er mahnte Rolf jedoch, bald in den Stand der Ehe zu treten. Erschloss mit den Worten: „Beim nächsten Jagdschmaus wollen wir der Herrin von Gerlachsheim unsere Huldigung zu Füßen legen.“

Rudolf von Gerlach erhob sich. „Ich danke im Namen meiner zukünftigen Frau. Ich werde mich tunlichst beeilen, um den Wünschen meiner lieben Gäste auch in diesem Sinn gerecht zu werden.“

Wieder wurden die Gläser geleert und unter allgemeinem Jubel frisch gefüllt. Hans von Seltiz stieß sein Glas gegen das des Freundes.

„Dies frische Glas leeren wir zwei ganz speziell auf unsere Freundschaft. Sie soll uns ewig erhalten bleiben.“ Als die Tafel vorüber war, zog man sich in die Nebenräume zurück, wo der Mokka serviert wurde. Rauchend, spielend und schwatzend, jeder nach seinem Geschmack, saßen die Herren beisammen bis zur frühen Morgenstunde. Die Stimmung blieb heiter und ungetrübt, bis zuletzt.

Dann zog man sich zur kurzen Nachtruhe in die Schlafzimmer zurück. Mancher ging nicht mehr so ganz sicher die Treppe hinauf.

Rudolf von Gerlach und Hans von Seltiz waren schließlich übrig geblieben. Sie saßen noch ein Stündchen länger zusammen, weil sie sich mancherlei zu sagen hatten, denn morgen mussten sie sich trennen.

***

Professor Michael Sachau war bekannt als Sammler wissenschaftlicher Dinge. Er bewohnte seit langen Jahren das düstere, graue, von einer hohen Ziegelmauer umgebene Haus, das inmitten eines großen Gartens lag.

Es lastete bleierne Stille über dem winterlich verschneiten Garten, in dem nur ein Teil der Wege vom Schnee gesäubert war. Auch im Haus selbst regte sich nichts. Da glitten die Dienstboten auf weichen Sohlen dahin, ohne ein Geräusch zu verursachen. Diese fast unheimliche Stille war Professor Sachaus Lebensbedingung, wie auch größte Pünktlichkeit, mit der sich alles in seinem Haus abspielte, wie ein Uhrwerk.

Durch den winterlichen Garten wandelte auf den gebahnten Wegen eine junge Dame dahin. Sie hielt das feine Köpfchen gesenkt, als wolle sie die hohen Mauern nicht sehen, die sie von der Welt trennten.

Sie trug über einem eleganten Wollkleid einen Pelz. Er stand offen, und sie hatte die Hände in den Taschen vergraben. Der feine Kopf, mit einer reichen Fülle kastanienbrauner Locken geschmückt, war unbedeckt.

Ohne Rast ging die junge Dame über die gebahnten Wege dahin, es war, als wolle sie fliehen und fände doch keinen Ausweg aus diesem eingeschlossenen Garten

Vom Haus her kam jetzt eine ältere Dame im grauen Seidenkleid, über das ein warmer Umhang geworfen war. Die stattliche Gestalt hielt sich seltsam steif und aufrecht. Sie steuerte auf die junge Dame zu.

Diese bemerkte ihr Kommen nicht, weil sie den Kopf gesenkt hielt. Erst als sie dicht vor ihr stand, sah sie auf und hob die schönen braunen Augen zu dem Gesicht der alten Dame empor.

Dies Gesicht war groß und voll, nicht unschön, aber ganz gewiss nicht sympathisch. In den kalten blassblauen Augen lag ein lauernder, unangenehmer Ausdruck, der nur schlecht durch ein süßliches Lächeln verborgen wurde.

„Du bleibst viel zu lange hier draußen in der winterlichen Kälte, liebe Sanna. Komm ins Haus zurück“, sagte sie mit einer sanften, öligen Stimme, während sie einen forschenden Blick über das leicht gerötete Gesicht der jungen Dame gleiten ließ.

Über dieses junge traurige Antlitz flog ein Schatten. Die Züge, nicht von klassischer Schönheit, waren fein und lieblich.

„Mir ist nicht kalt. Ich möchte draußen bleiben, Tante Anna“, sagte sie hastig und wollte weiterschreiten.

Die alte Dame legte süßlich lächelnd ihre Hand auf den Arm Susanna von Glossows.

„Nun, nun, lauf nicht fort! So werde ich dir noch ein Viertelstündchen Gesellschaft leisten. Länger darfst du nicht draußen bleiben, es beginnt schon zu dunkeln. Und dann wird es auch Zeit zur Teestunde. Du weißt, Onkel Michael liebt die Pünktlichkeit.“

„Ich weiß, ich weiß, Anna – es geht bei uns streng nach der Uhr. Es ist alles so unsagbar regelmäßig in Onkel Michaels Haus, alle Gefühle werden nach einem Schema nebeneinander eingeschachtelt wie Onkels Kuriositäten“, entgegnete Susanna.

„Ei, ei, meine liebe Sanna, da entdecke ich ja wieder einmal recht aufrührerische Gedanken, die in deinem Köpfchen spuken. Nur gut, dass das Onkel Michael nicht gehört hat“, erwiderte die alte Dame.

Eine Weile schritten die beiden ungleichen Gestalten nebeneinander hin. Es war, als wollten die kleinen Füße Sannas fliehen, aber die alte Dame hing sich wie ein Bleigewicht an ihren Arm. Gefesselt, mit unsichtbaren Banden geknebelt, kam sich Sanna vor.

Nach einer Weile fragte die alte Dame schmeichlerisch: „Hat das Kindchen wieder einmal arge Langeweile?“

Das arme Opfer schüttelte nur abwehrend den Kopf.

„Doch, doch“, beharrte Tante Anna, „ich weiß es. Deine Gedanken fliegen hinaus in die Welt, dir ist es in dem stillen Frieden dieses Hauses zu einsam. Aber du weißt auch, dass Onkel Michael diese Stille und Einsamkeit für dich am ersprießlichsten hält. Er ist mit Recht besorgt, dass man dich draußen zu sehr unter den Sünden deiner Eltern leiden lassen wird. Und vor allem fürchtet er, dass sich in dir das leichte Blut deiner Mutter regt, und dass du den Versuchungen, die in der Welt an dich herantreten würden, nicht gewachsen bist. Deshalb will er dich in der Stille und Zurückgezogenheit seines Hauses halten, bis du an der Seite eines Mannes, der ein natürlicher Schutz und Hort sein wird, sein Haus verlässt.“

Als die alte Dame von ihren Eltern sprach, zuckte Sanna zusammen. Ihre Lippen bebten vor Erregung, als sie heiser hervorstieß: „Das wird nie geschehen!“ Und wieder in den bitter spöttischen Ton verfallend, fuhr sie fort: „Ich möchte auch wissen, von allem andern abgesehen, wie es einem Mann möglich sein sollte, sich mir zu nähern in der Absicht, mich zu heiraten. Ich komme ja mit keinem Menschen zusammen.“

„Oh, liebe Sanna – ich wüsste schon einen“, sagte Anna von Rehling mit einem neckischen Lächeln, das ihrem Gesicht einen widerwärtig falschen Ausdruck gab. Und als sie merkte, dass Sanna den Kopf stolz und abweisend zurückwarf, fügte sie hinzu: „Es gehen doch viele gelehrte Freunde Onkel Michaels im Hause ein und aus.“

Sanna machte eine hastig abwehrende Bewegung.

„Das sind doch alles alte Herren!“

Wieder traf sie ein lauernder Seitenblick.

„Nun ja, liebes Kind, für dich käme wahrscheinlich auch nur ein Mann gesetzten Alters in Frage, der mit verzeihenden, abgeklärten Augen über manches hinwegsieht. Du weißt, dein Gatte müsste sehr nachsichtig sein in Bezug auf vergangene Dinge. Deine Eltern …“

Sanna zog hastig ihren Arm aus dem der alten Dame. Ihr Gesicht war sehr bleich.

„Schweig – schweig! Ich ertrage es nicht, dich so von meinen Eltern sprechen zu hören. Niemand soll es tun. Meinst du, ich brauche eine Erinnerung daran? O nein – du hast dafür gesorgt, dass mir das alles nie aus dem Gedächtnis schwinden kann. Und die Wunden, die mir dadurch geschlagen worden sind, vertragen keine Berührung mehr.“

Die alte Dame hob wie beschwörend ihre fleischigen Hände. „Ach, mein armes Kind, wie sehr sorge ich mich um dich! Es liegt viel von dem Jähzorn deines Vaters in deinem Blut. Was hilft dagegen mein treues Ermahnen. Kind, Kind, lerne endlich Sanftmut und Geduld, die du so nötig hast. Das Vergangene schafft keine Macht der Welt aus dem Weg, und man kann dich nicht oft genug daran ermahnen, wenn man es gut mit dir meint. Und dass ich das tue, solltest du endlich dankbar einsehen. Du tust mir ja schrecklich Leid, meine arme Sanna. Wenn ich dir nur helfen könnte, diesen Jähzorn abzulegen.“

In Sannas Gesicht zuckte es rebellisch, aber sie presste die Lippen fest aufeinander und schwieg. Gegen ihren Willen hatte sie sich hinreißen lassen. Sie wusste aus Erfahrung, dass das nichts half, wusste, dass all ihr Zorn an der öligen Sanftmut Tante Annas abprallte. Sie wusste auch, dass nur diese Frau schuld war, wenn Onkel Michael so streng mit ihr verfuhr und sie von allen Jugendfreunden ängstlich zurückhielt. So, wie ihr selbst, hielt sie auch Onkel Michael immer wieder vor Augen, dass Sannas Mutter eine leichtfertige Frau und ihr Vater ein Mörder und Selbstmörder gewesen waren, und dass in Sanna ein böses Erbteil bekämpft werden müsse, da ihre Erziehung in seine Hand gegeben war.

Warum Anna von Rehling das tat?

Sanna ahnte es, wenn auch erst seit kurzer Zeit.

Anna von Rehling war eine Kusine von Sannas verstorbener Mutter und Professor Sachau. Sie war seit zwanzig Jahren Witwe, und seit dieser Zeit lebte sie im Haus des Professors. Da sie ihr Gatte in sehr bedrängter Lage zurückgelassen hatte, wandte sie sich damals mit der Bitte an Michael Sachau, ihr und ihrem zehnjährigen Sohn Gregor Aufnahme und Hilfe zu gewähren. Sie erbot sich, ihm den Haushalt zu führen.

Michael Sachau war schon damals ein etwas wunderlicher Herr, der nur für seine Wissenschaft lebte und für nichts anderes Sinn hatte als für „sie. Da er die Absicht hatte, sich niemals zu verheiraten, nahm er Frau von Rehling samt ihrem Sohn in seinem Haus auf. Er stellte jedoch die Bedingung, dass ihm keinerlei Störung daraus erwachse, und dass seine Lebensgewohnheiten nicht die geringste Änderung zu erfahren brauchten.

Anna von Rehling versprach es und hielt ihr Versprechen. Sie war klug und berechnend und fügte sich scheinbar seinen Launen, um ihn so besser beherrschen zu können. Als sie damals in das graue, stille Haus zog, geschah es mit der festen Absicht, den reichen Vetter in ihre Netze zu ziehen. Sie war eine ansehnliche Frau, und es erschien ihr ein leichtes, sich bald zur Herrin dieses Hauses aufzuschwingen. Und sie scheute keinerlei List und zeigte Sanftmut und Milde.

An Michael Sachaus Ehescheu, die etwas Krankhaftes hatte, wie alle seine Schrullen, scheiterte ihr fein ausgeklügelter Plan. Sie musste bald einsehen, dass er nicht zu einer Ehe zu bewegen war.

Nun setzte sie ihre Hoffnungen darauf, dass ihr Sohn Gregor eines Tages Michaels Erbe sein würde.