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Eines alten Gelübdes wegen verlangt der Fabrikant Georg Roland von seiner Tochter Waltraut, dass sie ihren Pflegebruder Rudolf heiratet. Waltraut, die rein geschwisterliche Gefühle für Rudolf hegt, ist fassungslos. Trotzdem willigt sie nach einigem Zögern in die Verlobung ein, ohne sich der Tragweite ihrer Entscheidung bewusst zu sein. Erst auf einer Reise nach Ceylon erkennt sie, wie falsch sie gehandelt hat, denn sie lernt den Holländer Jan Werkmeester kennen. Er ist der Mann, den sie liebt und der sie glücklich machen könnte. Doch das Gelübde ihres Vaters scheint keine gemeinsame Zukunft zu erlauben ...
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Seitenzahl: 174
Cover
Impressum
Des Schicksals Wellen
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Anne von Sarosdy/Bastei Verlag
E-Book-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-2215-6
www.bastei-entertainment.de
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Des Schicksals Wellen
Dramatischer Roman der weltberühmten Schriftstellerin
Die beiden Besitzer der großen Plantage Larina standen auf der Veranda ihres großen Bungalows. Es waren Vater und Sohn, beides hoch gewachsene Männer mit gebräunten Gesichtern.
„Also, ich fahre jetzt hinunter, Vater. Die Elefanten müssen in den Fluss, und ich will selber mit in die Schwemme reiten.“
„Tue das, Jan. Morgen hast du dann mit deinen letzten Reisevorbereitungen zu tun – und übermorgen fährst du nach Kandy.“
„Ja, Vater, ich habe dann gerade noch Zeit, mit der Bahn von Kandy nach Colombo zu fahren und rechtzeitig an Bord meines Dampfers zu gelangen. Dann geht es nach Europa.“
Der Vater legte seine Hand auf die Schulter des Sohnes.
„Du freust dich auf die Reise, Jan?“
„Ich weiß nicht, Vater, ob ich mich freuen soll. Wenn ich dich nicht allein zurücklassen müsste, würde ich mich bestimmt freuen, aber so reise ich eben nur, um den notwendigen Klimawechsel vornehmen zu können.“
„Du vergisst die Hauptsache, Jan, du hast mir doch versprochen, dich drüben nach einer Frau umzusehen.“
„Eine Frau? Ach ja, Vater, ich möchte mich sehr gern verheiraten, es ist ein unausgefülltes Leben hier, wenn man jung ist und keine Frau hat. Ich sehe es doch drüben bei meinem Freund Schlüter, wie schön es ist, eine junge Frau zu haben. Aber ob ich die Rechte finden werde?“
„Du musst suchen, Jan – sieh, dass du eine Deutsche findest.“ Jan sah den Vater fragend an.
„Warum gerade eine Deutsche, Vater? Mutter war eine Holländerin, wie du ein Holländer bist – also warum soll ich mir nicht auch lieber eine Holländerin nehmen?“
„Nun gut – es kann auch eine Holländerin sein, Jan.“
Dieser sah seinen Vater forschend an.
„Es ist seltsam, Vater, dass du für alles, was deutsch ist, so eine große Vorliebe hast – aber noch viel seltsamer ist es, dass ich diese Vorliebe teile.“
In die Stirn des alten Herrn stieg eine leichte Röte, und er wandte sich ab, damit Jan nicht in sein Gesicht sehen konnte.
„Das ist doch gar nicht so seltsam, Jan. Ich bin drüben auf Sumatra schon mit Deutschen viel zusammen gewesen, deine Mutter ist in einer deutschen Pension erzogen worden und – deine Freunde drüben auf Saorda sind auch Deutsche. Und sie sind dir lieb und haben dich für ihre Heimat gewonnen.“
Jan nickte.
„Es tut mir nur so Leid, dass ich dich allein zurücklassen muss, du bist gerade in letzter Zeit wieder so schwermütig und bedrückt gewesen.“
Der Vater legte den Arm um seine Schulter.
„Bist du dann wieder da, Jan, dann ist es doppelt schön. Und wenn du eine junge Frau mitbringst.“
Jan lachte.
„Rechne nur nicht so bestimmt damit, sonst bist du enttäuscht, wenn ich allein wiederkomme. Und nun muss ich hinunter – die Treiber warten auf mich, da sie die Elefanten nicht eher ins Wasser lassen wollen, bis ich komme.“
Die beiden Herren drückten sich die Hand, und Jan sprang mit zwei Sätzen die Verandastufen hinab, setzte sich an das Steuer seines bereitstehenden Autos und fuhr die scharfen Kurven des Berges hinab ins Tal, zu dem Fluss hinüber.
Dort warteten seine Leute mit etwa zwanzig Elefanten, die von den Plantagen herübergetrieben waren, um zu baden.
Jan sprang aus seinem Wagen, warf rasch den Tropenhut, die leichte Jacke und die Stiefel hinein und zog das Hemd über den Kopf, so dass er nur mit den kurzen Beinkleidern bekleidet war. Lachend trat er dann an den größten Elefanten heran.
„Nun, Meister Jumbo, du freust dich wohl schon auf das Bad. Es kann losgehen!“
Jumbo, der große Elefant, wackelte ein wenig mit seinen Schlappohren, sah sich nach seinem Herren um, kniff das eine Auge zu und streckte seinen Rüssel einladend aus. Jan schwang sich elastisch auf den Rüssel, und Jumbo hob ihn mit einem eleganten Schwung empor auf seinen Rücken. Die Treiber folgten Jans Beispiel, so dass auf einer Anzahl der größten Elefanten je ein Treiber saß. Die kleineren liefen ohne Führer nebenher.
Jan redete mit Jumbo, als sei er ein verständiger alter Herr. Immer gab Jumbo an, was die anderen ihm nachmachen sollten. Es war ein seltsamer Anblick, als all diese massigen Tierrücken nebeneinander den Fluss hinabschwammen.
So kamen sie fast bis zur Brücke, die über den Fluss führte, als am gegenseitigen Ufer ein Auto aus dem Walde herauskam. Das Auto stoppte, als der am Steuer sitzende Herr die Elefanten sah. Er erhob sich und sprang aus dem Wagen.
„Hallo, Jan!“
„Hallo, Harry!“
„Ist gut, dass ich heute nicht auch meine Elefanten in den Fluss trieb, sonst wäre er übergelaufen“, scherzte Harry Schlüter, der Herr von Saorda, Jans Freund.
„Musst ja deine Tiere nicht gerade baden lassen, wenn wir Badezeit haben, Harry. Was hast du vor?“
„Ich fahre heim. Kannst du nicht mitkommen? Dora könnte eine kleine Aufmunterung brauchen, sie ist wieder ein wenig heimwehkrank, seit deine Reise nach Europa feststeht.“
„Wenn du warten willst, bis ich die Tiere heraus habe, komme ich mit, ich wollte heute ohnedies meinen Abschiedsbesuch bei Frau Dora machen. Also warte ein paar Minuten, wir treiben gleich aus dem Fluss.“
Und Jan trieb Jumbo an das Ufer zurück.
Wenige Minuten später waren alle Tiere wieder wohlbehalten an Land. Jan trocknete sich notdürftig ab und fuhr dann über die Brücke zu Harry Schlüter hinüber.
Die Freunde reichten sich die Hände, und dann fuhren sie hintereinander nach Saorda, der Schlüterschen Besitzung. Bald hielten sie vor dem Schlüterschen Bungalow. Auf der Veranda saß eine schlanke junge Frau. Sie sprang auf und warf die Näherei in weitem Bogen von sich. Eiligst kam sie die Treppe herunter und flog in ihres Mannes Arme.
Dann begrüßte sie auch Jan.
„Famos, dass Sie mitkommen, Jan, ich brauche sehr nötig Ihre gute Laune. Ich habe einen Brief von meiner Freundin Waltraut bekommen, mit einer Absage. Sie bekommt von ihrem Vater keinen Urlaub, mich zu besuchen.“
Mit diesen Worten zog Dora das Bild ihrer Freundin hervor. Jan sah lange in das reizende Mädchengesicht, dann atmete er tief auf.
„Also zeigen Sie mir eine Frau wie diese, und ich heirate sie auf der Stelle“, scherzte er.
Doch dann wurde er ernst.
„Ich komme, um Abschied zu nehmen, Frau Dora. Übermorgen geht es fort.“
Dora Schlüter schluckte verstohlen ein paar Tränen hinunter, damit ihr Mann nicht merkte, wie sie das Heimweh packte.
„Also, so bald schon?“
„Ja. Und ich wollte Sie und Harry herzlich bitten, sich mal nach meinem Vater umzusehen. Ich bin in großer Sorge um ihn. Er wird, wenn ich fort bin, noch viel düsterer und schwermütiger werden.“
„Ich suche ihn zuweilen auf, Jan. Aber seine Schwermut werde ich kaum heilen können.“
„Die ist nicht mehr zu heilen, Harry. Ich bitte dich nur, zuweilen nach ihm zu sehen, damit er sich nicht gar zu einsam fühlt.“
„Das ist selbstverständlich.“
Inzwischen hatte Frau Dora eine Erfrischung bestellt, eine der Dienerinnen brachte sie heraus. Die drei Menschen saßen beisammen auf der Terrasse und hatten einander noch viel zu sagen. Dann wurde Abschied genommen, er tat allen weh. In der weltabgeschiedenen Einsamkeit, in der sie hier im fremden Lande lebten, war es schwer, einen zu entbehren.
***
„Hast du einen Moment Zeit für mich, lieber Vater?“
„Einen Moment? Der ist schon vorbei.“
„Also fünf Minuten!“
„Gut, die bewillige ich dir. Was hast du auf dem Herzen, Waltraut?“
„Ich habe wieder einen Brief von Dora Schlüter. Sie bittet mich dringend, sie auf längere Zeit zu besuchen. Willst du mir wirklich nicht erlauben, es zu tun?“
„Aber Kind, darüber haben wir doch schon oft debattiert.“
„Ja, Vater, und leider hast du mir nie eine Zusage gegeben.“
„Könntest du es wirklich ernsthaft in Erwägung ziehen, mich so lange zu verlassen?“
„Ach, lieber Vater, du wirst mich – leider – kaum vermissen. Du bist von deinen Geschäften immer so stark in Anspruch genommen oder bist im Klub. Und wenn du doch einmal daheim bist, dann sprichst du mit Rudolf über Geschäfte oder über Dinge, die ich nicht verstehe. Ihr beiden vergesst dann ganz, dass ich auch auf der Welt bin. Und deshalb wird es euch kaum zu Bewusstsein kommen, wenn ich einmal fort bin.“
Georg Roland sah etwas unsicher zu seiner Tochter auf, die, rank und schlank in ihrem eleganten Kostüm vor ihm stehend, einen sehr erfreulichen Anblick darbot. Es zuckte leise in seinem Gesicht, wie ein schnell vorüberhuschender Schmerz, aber dann wurde sein Blick wieder ganz ruhig.
„Es geht nicht, schon deshalb nicht, weil ich andere Pläne habe. Doch davon später, die fünf Minuten sind schon längst verstrichen. Lass mich jetzt allein.“
Er küsste sie auf die Stirn, und ein trüber, sorgenschwerer Blick in seinen Augen hinderte sie an jedem weiteren Einwand.
Als sie auf das Treppenhaus hinaustrat, kam gerade der Fahrstuhl auf der Etage an, und ein hoch gewachsener junger Herr trat heraus. Er mochte fast die Mitte der Dreißig erreicht haben und war ohne Hut und Überrock. Aus seinem offenen, sympathischen Gesicht leuchteten zwei graue, kluge Augen, in denen viel Güte lag, als er sie jetzt auf Waltraut richtete, während sein Gesicht sonst einen sehr energischen, bestimmten Ausdruck hatte. Lächelnd trat er auf sie zu, während der Fahrstuhl mit einigen anderen Herren weiter hinauffuhr.
„Du hier in unserem nüchternen Geschäftshaus, Waltraut, das dir doch sonst so unsympathisch ist?“
Sie seufzte tief auf. „Ja, Rudolf, es ist mir sehr unsympathisch, manchmal hasse ich es direkt wie einen Moloch, der alles, was mir lieb ist, auffrisst“, sagte sie zornig.
Er lachte leise.
„Aber Schwesterchen, du siehst ja ganz kriegerisch aus. Bist du so schlecht gelaunt?“
Kläglich sah sie zu ihm auf.
„Dora hat wieder geschrieben und mich dringend um meinen Besuch gebeten. Ich soll auf einige Monate zu ihr kommen.“
„Ah, also wieder Reiselust, Waltraut? Und Vater hat deine Bitte wieder abgelehnt?“
„Leider!“
„Möchtest du uns denn so gern allein lassen, kleine Waltraut?“ Er fragte das mit einem warmen Lächeln.
Vorwurfsvoll sah sie ihn an. „Ihr braucht mich ja gar nicht, ich bin so überflüssig, das habe ich Vater auch gesagt.“
Er streichelte ihre Hand.
„Es wäre vielleicht wirklich gut, wenn du einmal für eine Weile fortkämst, dann würdest du vielleicht am ehesten erkennen, dass du im Grunde doch der Mittelpunkt bist, um den sich alles dreht, und dass du durchaus nicht überflüssig bist.“
„Vater lässt mich aber nicht fort.“
„Er fürchtet die Trennung von dir.“
Sie sah ihn fragend an.
„Glaubst du das wirklich?“
„Aber Waltraut, er hat dich doch lieb!“
„So weit er sich Zeit lässt, sich darauf zu besinnen, und das geschieht sehr selten“, sagte sie mit schmerzlicher Bitterkeit.
„Du bist ungerecht, Waltraut“, sagte er ernst und vorwurfsvoll.
Sie seufzte. „Vielleicht – ich weiß nicht, wie es kommt, dass ich in dieser Beziehung so anspruchsvoll bin. Dafür hältst du mich doch gewiss. Und ich weiß ja natürlich auch, dass Vater nur für uns arbeitet, für dich und mich.“
„Hauptsächlich doch für dich, Waltraut, du bist ja sein einziges Kind.“
Ernst sah sie ihm in die Augen. „Du bedeutest ihm trotzdem mehr als ich.“
Er stutzte und sah sie fast erschrocken an.
„Waltraut, du bist doch nicht etwa eifersüchtig, du wirst mir doch nicht missgönnen, dass dein Vater mir auch ein Vater wurde?“
Lächelnd hing sie sich an seinen Arm und sah ihn mit einem liebevollen Ausdruck an.
„Aber nein, um Gottes willen, so musst du das nicht auffassen, Rudolf. Ich gönne dir die Liebe meines Vaters, wie ich sie einem rechten Bruder gönnen würde. Nur erkenne ich einfach Tatsachen. Es ist doch so verständlich, dass du ihm näher stehst als ich. Du warst schon jahrelang von ihm als Sohn angenommen, als ich zur Welt kam, und er hing an dir mit einer so großen Beharrlichkeit, dass es mir schwer wurde, ein Plätzchen in seinem Herzen zu erobern, genau, als hätte ich schon einen großen Bruder gehabt. Was soll ein Mann wie mein Vater mit einem kleinen Mädchen anfangen? Wenn Mutter noch am Leben wäre, dann wäre ja alles gut. Solange sie lebte, habe ich mich nicht einsam gefühlt, obwohl ich da von Vater und dir auch nicht mehr hatte. Aber – nun habe ich Mutter doch nicht mehr.“
Nachdenklich sah er sie an.
„Ich verstehe dich schon, mein armes Kleines! Mutter füllte das ganze Haus mit Liebe und Güte, mit Licht und Wärme für uns alle. Nun bist du den größten Teil des Tages allein zu Hause. Vater und ich, wir haben unsere Geschäfte, die uns ablenken und ausfüllen. Ich sehe schon ein, es wäre besser für dich, wenn du eine Weile fortkämst zu deiner Freundin Dora. Dort würdest du Mutters Verlust eher verschmerzen, und wenn du wieder heimkehren würdest, dann würdest du erst wieder merken, wie warm und traulich es trotz allem im Vaterhause ist. Soll ich Vater für dich bitten, soll ich ihm das ans Herz legen?“
Sie fasste seine Hand mit festem Druck.
„Ach bitte, tue das, Rudolf! Auf dich hört Vater vielleicht. Weißt du, Dora fehlt mir so sehr, und sie sehnt sich auch nach mir, weil ihr Mann sie auch viel allein lassen muss. Sie ist nun schon fast drei Jahre fort nach Ceylon. Und wenn sie auch ihr Mann sehr glücklich macht und ihr jeden Wunsch von den Augen absieht, so wäre sie doch sehr glücklich, wenn ich zu ihr käme. So himmlisch schön es in ihrer neuen Heimat ist, würde sie sich doch sehr freuen, wenn ich nachkommen würde. Und wenn du mit Vater sprichst und er macht seine Bedenken wieder geltend, dass ich nicht allein reisen kann, dann sage ihm nur, dass ich unter dem Schutz des Kapitäns ganz sicher reise, und im Hafen würde mich dann, wenn ich allein kommen würde, Dora mit ihrem Manne erwarten.“
Er küsste sie lachend auf die Wangen.
„Ich werde nichts vergessen, was deinem Wunsch Erfüllung bringen könnte.“
„Du bist gut, wie immer, Rudolf.“ Sie trennten sich mit einem warmen Händedruck, und Waltraut huschte schnell die Treppe hinab.
Rudolf Werkmeister, Georg Rolands Pflegesohn, suchte seinen Pflegevater auf.
***
Als er dessen Privatkontor betrat, sah er betroffen dass sein Pflegevater vor seinem Schreibtisch saß und das Gesicht in den Händen vergraben hatte.
„Ich störe doch nicht, lieber Vater?“, fragte Rudolf ganz betreten, dass er den Vater in solch einer Situation überraschte.
Besorgt sah der junge Mann in das blasse Gesicht des Älteren. Mit einem tiefen Atemzug fand sich Georg Roland wieder in die Wirklichkeit.
„Es ist seltsam, Rudolf, ich dachte gerade an deinen Vater – heute ist sein Todestag. Und da standest du vor mir, und es ist mir noch nie so aufgefallen wie heute, wie sehr du ihm gleichst.“
„Gleiche ich meinem Vater wirklich so sehr?“, fragte Rudolf. Der alte Herr nickte.
„Ja, je älter du wirst, je mehr gleichst du ihm.“
„Er war wohl ungefähr in meinem Alter, als er starb?“
„Ganz recht, vierunddreißig Jahre war er alt, genau wie du jetzt.“
„Und heute ist sein Todestag – seit dreiunddreißig Jahren ist er nun schon tot.“
Schwer nickte Georg Roland mit dem Kopfe.
Rudolf setzte sich zu ihm und nahm seine Hand.
„Du sprachst mir so selten von ihm, ich weiß so wenig über ihn, dass ich dich gerade heute bitten möchte, mir doch wenigstens über seinen plötzlichen Tod einmal ausführlich zu berichten.“
„Es weckt schmerzliche Erinnerungen, wenn ich von ihm spreche, deshalb vermeide ich es gern. Aber ich kann deinen Wunsch verstehen und will mich dazu aufraffen, davon zu sprechen. Also höre mich an.“
Der alte Herr setzte sich so, dass sein Gesicht im Schatten blieb. Dann begann er mit heiserer Stimme:
„Es war die schwerste Stunde meines Lebens, Rudolf, und gerade, ehe du eintratest, hielt ich sie mir wieder in der Erinnerung vor. Du weißt, dein Vater war mein bester, wohl mein einziger Freund, was man wirklich einen Freund nennen kann. Wir kannten uns von der Schule her schon. Dein Vater war einer der besten und kühnsten Bergsteiger, und einige Tage vor seinem Tode waren wir wieder einmal in die Schweiz gereist, in den Engadin, um verschiedene Touren zu machen. Wir waren über Nacht in der Schutzhütte geblieben und wollten nun den letzten Teil des Aufstiegs auf den Gipfel eines Berges machen.
Bei schönstem, klarstem Wetter brachen wir auf, aber nach einer Stunde setzte plötzlich, nachdem sich der Himmel schnell umzogen hatte, ein heftiges Schneetreiben ein. Der dicht fallende Schnee, der wie ein weißes Tuch über uns herniederfiel, und die Staublawinen verschütteten sofort unsere Spuren. Aber trotzdem, wir waren schon in schlimmerer Situation gewesen, ohne dass dein Vater die Richtung verloren hätte. An jenem Tage war es aber doch geschehen. Wir waren über eine Stunde in diesem wüsten Schneetreiben unterwegs und waren dicht neben einem steilen Abgrund angekommen, von dessen Schauerlichkeit ich durch den dichten Schnee, der uns fast blind machte, keine Ahnung hatte. Und da setzte sich dein Vater, der sonst nie die Ruhe und Sicherheit verlor, dicht neben den Abgrund nieder in den Schnee und stöhnte: ‚Ich habe die Richtung verloren, wir haben uns verirrt.‘
Aber das war nicht das Schlimmste, dein Vater erklärte plötzlich: ‚Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr, geh du allein weiter, halte dich immer rechts an der Felswand – lass mich allein – rette dich.‘
Es fiel mir natürlich nicht ein, diesen Worten Folge zu leisten, aber was nun kam, war etwas so Rätselhaftes, Unverständliches für mich, dass ich es heute noch nicht begreifen kann. Dein Vater, dieser kühne und unverzagte Bergsteiger, bekam, wie ein Neuling, einen furchtbaren Anfall von Bergkrankheit. Du weißt, das ist ein vollständiges Versagen der Nervenkraft, eine absolute Willenlosigkeit, die durch nichts zu besiegen ist. Ich war fürchterlich erschrocken. Wohl hatte ich ihn überredet, zu seiner Erholung mit mir in die Berge zu gehen, aber einen solchen Nervenzusammenbruch hätte ich bei ihm nicht für möglich gehalten. Der einige Wochen zurückliegende Tod deiner Mutter, die er sehr geliebt und die er nach schwerer Krankheit verloren, hatte ihm wohl mehr zugesetzt als ich geglaubt hatte. Ich war gerade erst von einer mehrjährigen Auslandsreise zurückgekommen und hatte ihn sehr verändert gefunden, aber wie gesagt, einen solchen Nervenzusammenbruch hatte ich bei ihm nicht für möglich gehalten. Dein Vater war völlig hilflos, ganz zusammengebrochen. Er beschwor mich nur immer wieder mit matter Stimme, ich möge mich allein retten, möge mich immer rechts halten, er sei nicht mehr imstande, nur noch einen Schritt zu tun. Ich wurde ärgerlich. ‚Willst du hier liegen bleiben und erfrieren? Komm mit mir, denke doch an dein Kind‘, sagte ich. Er schüttelte den Kopf und starrte wieder vor sich hin. ‚Versprich mir, dass du dich meines Sohnes annimmst‘, forderte er. Um ihn zu beruhigen, sagte ich, dass ich ihm das verspreche. Doch jetzt solle er endlich aufstehen.
Aber er schüttelte nur den Kopf.
Da zwang ich mich, in meiner Angst um ihn, zu einem verächtlichen Ton: ‚Feigling!‘, rief ich ihm zu.
Als ich ihm dieses Wort zurief, erhob er sich plötzlich – tat es aber so schwerfällig und ungeschickt, dass er auf dem glatten Boden ins Gleiten kam und – vor meinen entsetzten Augen – in den Abgrund stürzte, ehe ich ihn nur halten konnte.“
Lange war es still zwischen den beiden Männern, Georg Roland war totenblass geworden, und seine Augen sahen glanzlos in die Weite, als sähe er das Grauenhafte wieder vor sich.
Endlich fasste Rudolf, der sich gefasst hatte, seine Hand.
„Verzeihe mir, ich habe schlimme Erinnerungen in dir geweckt durch meine Bitte.“
Georg Rolands Brust hob sich in einem stöhnenden Atemzug.
„Die brauchen nicht geweckt zu werden, Rudolf, sie sind immer wach, immer lebendig, jene Stunde steht immer in grauenvoller Klarheit vor mir. Also höre weiter: Dein Vater war abgestürzt, und ich konnte nichts, nichts tun, ihn zu retten. Ich lief davon wie ein Blinder, aber instinktiv mich nach deines Vaters Rat immer rechts haltend. Immer wieder schrie ich laut um Hilfe, und nachdem ich wohl eine halbe Stunde so gelaufen war, hörte ich eine Antwort auf meine Rufe – sie kam aus der Schutzhütte; zu meinem Erstaunen stand ich dicht davor, und drei Männer kamen mir entgegengestürzt, auf meinen Ruf antwortend.
Zusammen machten wir uns noch einmal auf den Weg zum Unglücksort. Doch dort mussten wir erkennen dass dein Vater unmöglich mit dem Leben davongekommen sein konnte.
Trotzdem wurde, nachdem wir abgestiegen waren, eine umfassende Rettungsaktion, die im günstigsten Falle nur eine Bergung der Leiche möglich erscheinen ließ, in die Wege geleitet. Aber sie verlief ergebnislos. Auch von deines Vaters Leiche fanden wir keine Spur, weder damals noch später. Ein Priester weihte die Stelle, und wir beteten für das Heil seiner Seele, weiter konnten wir nichts tun. Nicht einmal ein christliches Begräbnis konnte ich dem Freund verschaffen.“
Erschöpft schwieg der alte Herr und sank in sich zusammen. Auch Rudolf saß mit blassem, fahlem Gesicht da und konnte nicht sprechen. Nach einer langen Weile fuhr Georg Roland fort: