Hedwig Courths-Mahler - Folge 188 - Hedwig Courths-Mahler - E-Book

Hedwig Courths-Mahler - Folge 188 E-Book

Hedwig Courths-Mahler

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Beschreibung

Unbeschwert und behütet wächst Dorrit auf dem Gut Neustetten heran. Sie ist glücklich, wie nur ein geliebtes Kind glücklich sein kann. Das ändert sich jäh, als sie an ihrem zwanzigsten Geburtstag erfährt, dass sie nicht die leibliche Tochter ihrer vermeintlichen Eltern ist, sondern vor achtzehn Jahren von dem Ehepaar Lund adoptiert wurde, nachdem ihre Mutter auf tragische Weise starb und ihr Vater außer Landes ging. Dieses Wissen lässt in Dorrit den heißen Wunsch reifen, ein großes Opfer zu bringen, um ihren Adoptiveltern für all ihre Liebe und Fürsorge zu danken. Als der reiche Karl Lamprecht sie bittet, seine Frau zu werden, glaubt sie ihre Stunde gekommen, denn Lamprecht ist der Hauptgläubiger ihres Adoptivvaters. Obwohl Dorrit den Millionär verabscheut und ihr Herz dem sympathischen Lienhard von Ried gehört, willigt sie ein, Lamprecht zu heiraten ...

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Seitenzahl: 169

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Inhalt

Cover

Impressum

Dorrit in Gefahr

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Anne von Sarosdy/Bastei Verlag

E-Book-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-2219-4

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Dorrit in Gefahr

Einer der schönsten Romane der unvergessenen Schriftstellerin

Maria Riemann hatte wie jeden Morgen ihr kleines Töchterchen, das ihr mit schlafroten Wangen in drolligem Kauderwelsch allerlei vorplauderte, angekleidet. Sie war aber heute noch weniger mit ihren Gedanken bei dem Geplapper ihres Kindes als in den letzten Tagen. Peinigende Unruhe beherrschte sie. Wenn ihr Töchterchen mit ungeschickten Bewegungen über ihr blasses Gesicht strich, mühte sie sich, ein Lächeln zu zeigen, von dem ihr Herz nichts wusste.

Als das Kind fertig angekleidet war, ließ sie es sanft aus ihren Armen gleiten und setzte es auf einen hohen Sessel, von dem aus es am Tisch sein Frühstück einnehmen konnte.

Maria setzte sich zu ihrem Kind. Vergnüglich schmauste Klein-Dorrit, ohne darauf zu achten, dass die Mutter kaum einen Bissen zu sich nahm.

Als Dorrit satt war, wollte sie von ihrem hohen Sitz herab.

„Nun will Dorrit zum Strand, im Sand buddeln!“, verlangte sie.

Geistesabwesend erhob sich Maria Riemann, nahm das Kind vom Stuhl herab und sah sich mit trüben Augen in dem einfachen, aber geschmackvollen Hotelzimmer um. Dorrit brachte ihr Eimerchen und ihre Holzschaufel herbei und trippelte geschäftig hin und her. Die Mutter traf zögernd allerlei andere Vorbereitungen und versuchte, das Kind hinzuhalten. Sie mochte noch nicht an den Strand hinuntergehen, weil sie die Morgenpost abwarten wollte. Seit Tagen wartete sie angstvoll auf einen Brief von ihrem Mann.

Es klopfte an die Tür, Maria rief zum Eintritt, in der Hoffnung, dass der Hotelboy ihr den ersehnten Brief bringen würde. Aber es erschien eine Dame, Ende der dreißiger Jahre, die ein helles Leinenkleid trug und einen weißen Sonnenhut.

„Guten Morgen, Frau Riemann! Kommen Sie mit zum Strand?“

Dabei sah die Dame mit strahlenden Augen zu Klein-Dorrit hinüber, die jubelnd auf sie zulief und gleich erklärte, dass sie mit Mutti und Tante Bella zum Strand hinunter wollte.

Tante Bella hieß in Wirklichkeit Frau Arabella Lund; sie hatte hier in dem kleinen Seebad die Bekanntschaft von Mutter und Tochter gemacht und ihr ganzes Herz an Dorrit gehängt. Frau Lund besaß keine Kinder und würde nach Aussage ihres Arztes nie ein Kind haben. Dabei war sie aber so ganz auf zärtliche Mütterlichkeit eingestellt, dass sie über ihre Kinderlosigkeit tief unglücklich war.

Ihr Mann war Besitzer eines Gutes, weil er wusste, wie gern sie Kinder hatte, ging er jedes Jahr einige Wochen mit ihr in ein Ostseebad, weil sie dort am Strand immer Kinder fand, mit denen sie sich beschäftigen konnte. In diesem Jahr war ihr Interesse nun auf Klein-Dorrit gefallen. Diese war sehr zufrieden, die gute Tante Bella gefunden zu haben, weil die Mutter jetzt immer so still und traurig war und gar nicht mehr so schön mit ihr spielte wie sonst. Tante Bella hingegen ersann täglich etwas Neues und schmeichelte sich damit in Klein-Dorrits Herz. Deshalb jubelte sie nun auf, als Tante Bella erschien.

„Mein kleiner Herzensschatz, hast du gut geschlafen?“

„Tut deschlaft, fein fjüschickt, jetzt an Strand dehen und pielen“, plauderte Dorrit.

Maria sah mit einem schmerzlichen Blick zu Frau Lund hinüber. „Ich möchte erst noch die Morgenpost abwarten, liebe gnädige Frau.“

Frau Lund nickte verständnisvoll.

„Aber Dorrit darf ich schon mitnehmen, Frau Riemann?“

Maria drückte mit einem wehmütigen Lächeln ein Leinenhütchen auf die blonden Locken ihres Kindes.

„Wenn Dorrit Ihnen und Ihrem Herrn Gemahl nicht lästig wird?“

Frau Lund lachte.

„Lästig? Ach, liebe Frau Riemann, mein Mann ist ebenso entzückt von Dorrit wie ich! Wie sehr sehnen wir uns beide nach einem Kind. Wir gehen schon lange mit dem Gedanken um, eins zu adoptieren, aber wir haben noch keins gefunden, das uns vollkommen zugesagt hätte. Dorrit – ja, – Dorrit wäre dazu wie geschaffen, uns zu glücklichen Adoptiveltern zu machen; die nähmen wir auf der Stelle als Töchterchen an, aber das ist ja leider nicht möglich. So will ich mich wenigstens mit Ihrer gütigen Erlaubnis so lange an ihr freuen, wie wir hier zusammen sein können. Komm, Dorrit, jetzt wollen wir an den Strand hinunter zu Onkel Lund.“

„Zu Onkel Lund!“, jauchzte Klein-Dorrit und winkte der Mutter vergnügt zum Abschied.

Die Mutter stand nun allein mitten im Hotelzimmer und sah mit leeren Augen nach der geschlossenen Tür. Sie fühlte, dass der Platz im Herzen ihres Kindes jetzt von Herrn und Frau Lund ausgefüllt war. Und sie konnte es nur zu gut verstehen. Diese beiden gütigen, kinderlieben Menschen verstanden es viel besser, sich in Dorrits kindliche Gedankenwelt zu versetzen, als sie es mit ihrem unruhigen und gramerfüllten Herzen tun konnte.

„Dorrit muss ihren Katarr an der See auskurieren“, hatte ihr Mann gesagt, und das war dank der Luftveränderung auch schon in den ersten Tagen geschehen. Aber Maria wusste, dass er kaum die paar hundert Mark hatte zusammenbringen können für diese Badereise, und wäre viel lieber bei ihm geblieben. Sie wusste nur zu gut, wie schlimm es um ihn stand, seit ihr Vater sich nach dem Ruin seiner Firma erschossen hatte.

Maria hatte geglaubt, sie sei eine reiche Erbin, und hatte unbekümmert das Leben einer solchen geführt. Als ihr Mann um sie warb, dünkte sie sich auf dem Gipfel des Glücks. Und fast zwei Jahre war ihr dieses Glück auch treu geblieben. Als ihr Vater sich erschoss, traf sie der erste herbe Schicksalsschlag. Und dann kam ein Unglück nach dem anderen. Ihres Vaters Ruin drohte auch den ihres Mannes nach sich zu ziehen, denn der Vater hatte ihn immer unterstützt. Aber das Schlimmste für Maria war, dass sich ihres Mannes Wesen seit dem Tag, da ihr Vater ihm nicht mehr Beihilfe leisten konnte, vollständig verändert hatte. Seine sonst immer zur Schau getragene Liebenswürdigkeit war plötzlich verschwunden; er begegnete ihr mürrisch und sah sie mit harten, kalten Augen an. Das Kind schob er lieblos aus dem Weg, einmal sah sie sogar, dass er ärgerlich mit den Füßen nach Dorrit stieß. Das alles bedrückte ihr das Herz.

Eines Tages aber hatte ihr Mann wieder ein freundliches Lächeln für sie gehabt. Er schien in bester Stimmung zu sein, und als er hörte, dass Klein-Dorrit hustete, hatte er sie auf den Schoß genommen und gesagt: „Du musst mit Mutti einige Wochen an die See gehen.“

Seine Frau hatte ihn mit bangem Blick angesehen.

„Das ist doch ausgeschlossen, Kurt; wir haben kein Geld für eine Badereise.“

Er hatte gelacht.

„Nun mach nur nicht solche Sorgenaugen! So viel Geld werde ich schon flüssig machen können, um die Gesundheit meiner Tochter wiederherstellen zu lassen. Es bleibt dabei, du gehst am Montag mit Dorrit an die Ostsee.“

Dabei war er geblieben.

Und nun wartete sie unruhig auf einen Brief. Sie hatte bisher nur eine Karte von ihm erhalten, auf der er schrieb:

„Herzliche Grüße für dich und Dorrit. Sobald ich Zeit habe erhältst du einen ausführlichen Brief.“

Auf diesen ausführlichen Brief wartete sie jeden Tag.

Und heute endlich sollte sie ihn erhalten. Als sie im Zimmer Dorrits Sachen aufräumte, froh, dass Frau Lund das Kind mitgenommen hatte, klopfte der Boy an die Tür und überreichte ihr einen Brief. Sie erkannte sofort das Briefpapier ihres Mannes und atmete wie erlöst auf. Als sie allein war, öffnete sie den Brief. Er lautete:

„Maria!

Es muss endlich klar zwischen uns werden, und deshalb füge ich meiner Anrede nichts überflüssiges und Unwahres hinzu. Ich habe dich nie geliebt und warb um dich, weil ich annahm, dass du eine reiche Erbin seiest. Ich brauchte Geld, um festen Boden unter die Füße zu bekommen. Du brachtest mir das Geld, und dafür erwies ich dir alle Liebenswürdigkeiten, die du beanspruchtest. Ich habe es auch gern getan, weil du eine bequeme Frau warst, und es hätte alles gut gehen können, wenn dein Vater nicht ein armer Mann geworden wäre.

Deines Vaters Ruin hat auch mich ruiniert, in wenigen Tagen müsste ich Konkurs anmelden, und ich würde vor dem Nichts stehen wie dein Vater. Das will ich nicht. Deshalb musste ich, weil sich gerade die Gelegenheit bot, unsere Wohnung mit allem Inventar verkaufen, um mir Geld zu verschaffen. Dabei konnte ich dich nicht gebrauchen und das Kind auch nicht, und deshalb sandte ich euch an die See. Nun habe ich alle Schiffe hinter mir verbrannt, und wenn du dieses Schreiben erhältst, liegt die Grenze schon hinter mir. Ich will mich ganz und auf immer von dir lösen, denn in meinem neuen Kampf ums Dasein kann ich Frau und Kind nicht gebrauchen. Ich muss die Arme frei haben. Obwohl ich dich nicht liebe, weiß ich, dass du eine schöne Frau bist. Du wirst schnell genug einen anderen Mann finden, der für dich und dein Kind sorgen wird. Dann seid ihr besser aufgehoben als bei mir.

Du kannst sofort die Scheidungsklage gegen mich einleiten; dieser Brief und der Umstand, dass ich dich und das Kind böswillig verlassen habe, geben dir einen hinreichenden Scheidungsgrund. Verzeih mir, aber ich kann nicht anders handeln.

Leider kann ich dir nicht mehr als tausend Mark zurücklassen, die ich mit gleicher Post an dich absende. Deine und Dorrits Sachen habe ich in Koffer gepackt und sende sie dir per Bahnpost.

Frage und forsche nicht nach mir. Du wirst mich nicht wiedersehen, ich kehre nie mehr nach Deutschland zurück, da ich wohl als betrügerischer Bankrotteur verhaftet werden würde. Deshalb werde ich dir nicht verraten, wohin ich meine Schritte lenke. Lösche mich aus deinem Leben aus und versuche mich zu vergessen! Dorrit wird mich nicht sehr vermissen, sie hat ja nie viel von mir gehabt. Lebe wohl, ich wünsche dir alles Gute!

Kurt Riemann“

Maria hatten diese Worte getroffen wie Keulenschläge. Jede Spur von Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, und ihre Augen starrten grauenvoll ins Leere. Das also war der Mann, den sie so heiß und innig geliebt, dem sie sich jauchzend zu Eigen gegeben hatte! So sah er in Wirklichkeit aus? Und sie hatte ihr Ideal in ihm gesehen, hatte ihn angebetet und ihm willig jedes Opfer gebracht! Er aber stieß sie kalt und grausam von sich, sie und ihr armes Kind.

In trostloser Verzweiflung blickte sie vor sich hin. Sie hatte geglaubt, dass ihr Mann sie geliebt, dass er aus Liebe um sie geworben habe. Bei jeder Gelegenheit hatte er ihr das mit schön klingenden Worten versichert, und es hatte sie glücklich gemacht. Nun sah sie, dass alles Lüge, alles kaltherzige Berechnung gewesen war, und es schnürte ihr das Herz zusammen. Zugleich überkam sie eine qualvolle Angst vor dem sorgenvollen Dasein, das sie jetzt führen sollte. Mittellos, heimatlos, brotlos. Und ihr Kind sollte dieses Schicksal mit ihr teilen, ihre geliebte kleine Dorrit.

Es war wohl das Beste, sie nahm ihr Kind auf den Arm und schritt mit ihm hinaus ins Meer, weiter und weiter, bis sie den Grund unter den Füßen verlieren würden und untertauchen konnten in die kühlen Wellen, die sie barmherzig zur Ruhe wiegen würden, barmherziger als der Mann, der sie verlassen hatte und den sie zu ihrer Qual noch immer liebte. Ja – nur im Tod fand sie Ruhe vor dieser Qual, bald würde sie diesen wahnsinnigen Schmerz nicht mehr spüren, der sie zu ersticken drohte. Ja, sie wollte, musste sterben – und mit ihr sollte Klein-Dorrit in den Tod gehen.

Aber das Mutterherz bäumte sich auf bei diesem Gedanken. Nein, Dorrit durfte nicht sterben, der Mut würde ihr fehlen, das Kind mit in den Tod zu nehmen.

Sie stöhnte auf, ihre Gedanken irrten wie im beginnenden Wahnsinn hin und her. Was sollte, konnte sie tun, um wenigstens ihr Kind zu retten?

Und da fiel ihr ein, was Frau Lund vorhin zu ihr gesagt hatte. Diese liebe, gütige Frau liebte ihre kleine Dorrit zärtlich; sie und ihr Gatte wollten gern ein Kind adoptieren, und wie gern hätten sie gerade Dorrit an Kindesstelle angenommen.

Sie richtete sich auf und starrte mit verzweifelten Augen vor sich hin. Ein Stöhnen brach über ihre Lippen. Aber sie hing ihren Gedanken nach und klammerte sich daran wie an ein Rettungsseil, an das sie ihr Kind binden konnte, damit es aus den Stürmen des Lebens in ein friedliches Asyl kam. Bei Lunds würde Dorrit eine friedliche, schöne und sorglose Heimat finden, brauchte nicht mit der verzweifelten und zermürbten Mutter in Armut und Elend unterzutauchen.

Und eine brennende Sehnsucht nach dem Tod überkam sie.

Wie von einer unwiderstehlichen Macht getrieben, erhob sie sich. Mit zitternden Händen kramte sie einen Briefbogen und ein Kuvert hervor und schrieb:

„Liebe, verehrte Frau Lund! Erbarmen Sie sich meines Kindes, mir bleibt nichts als der Tod, und ich möchte mein Kind nicht mit mir nehmen. Ich lege sein Schicksal in Ihre gütigen Hände, da ich weiß, dass Sie es lieben und ein Kind annehmen möchten. Aus beiliegendem Brief werden Sie erkennen, was mich in den Tod trieb – ich kann nicht weiterleben.

In ewiger Dankbarkeit

Ihre Maria Riemann“

Diesen Brief steckte Maria mit dem ihres Mannes in das Kuvert, schrieb Frau Lunds Namen darauf und ließ ihn mitten auf dem Tisch liegen. Eine Weile blieb sie noch stehen und starrte mit brennenden Augen darauf nieder. Dann wandte sie sich schnell ab und ging entschlossen zur Tür, lief die Treppe hinab und zum Strand. Sie sah starr geradeaus, aber plötzlich scholl ein Jauchzen an ihr Ohr – sie erkannte die Stimme ihres Kindes. Mit einem Ruck blieb sie stehen, schaute hinüber, von wo die Stimme kam, und sah Klein-Dorrit mit Frau Lund zusammen eine Sandburg bauen. So vertieft waren die beiden in ihr Spiel, dass sie nichts anderes sahen und hörten.

Ein letzter Blick flog aus Marias Augen zu dem Kind hinüber. Dann eilte sie wie gejagt weiter zu den Bädern. Dort kleidete sie sich um. Ihre Badekleider hatte sie hier in Verwahrung gegeben, auch die Dorrits. Als sie ihren Badeanzug angezogen hatte, nahm sie das kleine Trikot, das Dorrit beim Baden zu tragen pflegte. Das drückte sie aufstöhnend an sich, und ihr war, als spürte sie den warmen Körper ihres Kindes. Sie steckte das Kindertrikot in den Ausschnitt ihres Badeanzugs, so dass es auf ihrem Herzen ruhte.

Wie eine Liebkosung berührte sie der kleine Anzug. Und nun begann sie hinauszuschwimmen ins Meer. Sie war hier im Bad als gute Schwimmerin bekannt, und die Badefrauen kümmerten sich nicht weiter um sie.

Ihre rote Badekappe sah man noch lange über den Wellen schweben.

Maria schwamm weiter und weiter hinaus. So wollte sie schwimmen, bis die Kraft sie verließ. Dann wollte sie sich ruhig dem Tod in den Wellen hingeben.

Aber während sie so weiter und weiter hinausschwamm, betete sie voll Inbrunst um das Glück ihres Kindes. Und einmal, als sie schon sehr müde war, rief sie über das Wasser müde:

„Ich verzeihe dir, Kurt! Ich liebe dich trotz allem!“

Dann ging es nicht weiter, sie ließ die Arme ruhen, streckte den Körper lang aus und ließ sich sinken.

***

Die Badefrauen hatten vergessen, auf Maria Riemann zu achten. Sie fiel ihnen erst wieder ein, als die Badezellen knapp wurden und die wartenden Badegäste sich darüber beschwerten, dass die eine Zelle so lange in Anspruch genommen wurde. Da bemerkten die Badefrauen erst, dass Maria Riemanns Bademantel noch auf der Brüstung des Badestegs hing, und nun wurde es ihnen klar, dass sie noch nicht aus dem Wasser zurückgekommen war. Ein Rettungsboot wurde flottgemacht, und man fuhr hinaus, um nach der vermissten Schwimmerin zu suchen.

Inzwischen hatte die Kunde, dass eine Schwimmerin vermisst wurde, den ganzen Strand in Aufregung versetzt. Aufgeregte Gruppen standen zusammen und verfolgten das Rettungsboot mit Ferngläsern oder mit bloßem Auge.

Frau Lund hatte, in das Spiel mit Klein-Dorrit vertieft, nicht darauf geachtet, dass Dorrits Mutter so lange ausblieb. Sie war so glücklich in Gesellschaft des reizenden Kindes, dass sie nichts sah und hörte, was um sie herum vorging. Ihr Gatte saß im Strandkorb und las seine landwirtschaftliche Zeitung. Als er nun die Zeitung zusammenlegte und um sich sah, bemerkte er vorn am Wasser die aufgeregten Menschen. Selbstverständlich wurde er neugierig. Und so erhob sich Herr Lund und sagte zu seiner Frau:

„Da scheint etwas geschehen zu sein, wahrscheinlich hat sich wieder einmal ein Ruderboot zu weit hinaus gewagt, ich sehe eines weit draußen. Will mal nach vorn gehen.“ Seine Frau nickte ihm lächelnd zu.

„Geh nur, Willy! Ich bleibe mit Dorrit hier. Wie spät ist es denn?“

Herr Lund sah auf die Uhr.

„Zwölf Uhr dreißig, Bella.“

Sie sah erstaunt auf.

„So spät schon? Mir ist die Zeit wie im Flug vergangen.“

Er lachte gutmütig.

„Ja, wenn du mit Klein-Dorrit spielen kannst, merkst du nie, wie die Zeit verfliegt.“

„Das stimmt, Willy. Aber ich wundere mich, dass Frau Riemann noch nicht an den Strand heruntergekommen ist.“

„Nun, sie weiß ja Dorrit bei dir in besten Händen. Also, ich gehe einmal hören, was es gibt.“

Herr Lund pirschte sich an eine der aufgeregten Gruppen heran und vernahm, dass eine junge Dame zu weit hinausgeschwommen sei und das Rettungsboot nach ihr suchte. Erst interessierte ihn das nur wenig, aber dann hörte er dass die junge Dame fast täglich weit hinausgeschwommen sei, weswegen man wenig auf sie geachtet habe. Die Badefrauen hätten ihre rote Badekappe noch lange über den Wellen leuchten sehen.

Die rote Badekappe!

Diese Worte machten Herrn Lund stutzig. Er wusste, dass Frau Riemann eine rote Badekappe zu tragen pflegte. Ein unbehagliches Gefühl kroch ihm den Rücken entlang. Sich umwendend, fragte er einen neben ihm stehenden Herrn:

„Weiß man den Namen der jungen Dame, die da draußen herumschwimmt?“

Der Angeredete schüttelte den Kopf. „Der Name ist mir unbekannt, aber die Dame wohnt im Kurhotel und soll sonst immer in Begleitung eines kleinen Mädchens im Bad gewesen sein. Heute ist sie ohne das Kind gekommen, und deshalb ist sie wohl weiter hinausgeschwommen als sonst.“

Herr Lund durchzuckte ein Schrecken. In weitem Bogen seinem Strandkorb ausweichend, eilte er hinauf zum Kurhotel. Er wollte sich überzeugen, dass es nicht Frau Riemann war, die sich zu weit hinausgewagt hatte, ehe er wieder mit seiner Frau zusammentraf.

Im Hotel angekommen, eilte er in die erste Etage, wo sich sein und in der Nähe Frau Riemanns Zimmer befand. Er sah das Zimmermädchen auf dem Korridor hin und her gehen.

„Wissen Sie, ob Frau Riemann noch auf ihrem Zimmer ist?“, fragte er diese.

„Nein, Herr Lund, Frau Riemann ist schon lange nicht mehr in ihrem Zimmer, ich habe bei ihr bereits sauber gemacht. Aber ich habe auf ihrem Tisch einen Brief liegen sehen, der für Frau Lund bestimmt ist.“

„Einen Brief? An meine Frau?“

„Ja.“

Herr Lund starrte sie betroffen an. Was konnte Frau Riemann an seine Frau geschrieben haben? Wieder kroch ihm ein unbehagliches Gefühl den Rücken entlang.

„Bitte holen Sie mir den Brief heraus, ich will ihn meiner Frau mit an den Strand nehmen. Frau Riemann wird vielleicht einen Ausflug unternehmen, von dem sie meiner Frau Mitteilung machen will.“

„Das ist möglich. Einen Augenblick, ich hole den Brief sofort.“

Gleich darauf hielt Herr Lund Maria Riemanns Brief an seine Frau in Händen. Er war ein besonnener und umsichtiger Mann und steckte den Brief sorgfältig in seine Brieftasche.

Dann ging er langsam und nachdenklich wieder zum Strand zurück. Er grübelte darüber nach, warum Frau Riemann einen Brief an seine Frau geschrieben haben mochte. War die junge Dame, die man da draußen mit dem Rettungskahn suchte, wie er vermutete, Frau Riemann, weshalb hatte sie dann diesen Brief geschrieben, ehe sie hinunterging, um zu baden?

Es zuckte ihm in den Fingern, den Brief zu öffnen und sich so Antwort zu verschaffen. Aber er und seine Frau, die sonst keinerlei Geheimnisse voreinander hatten, respektierten seit jeher das gegenseitige Briefgeheimnis. Und so brachte er es auch jetzt nicht über sich, diesen Brief zu öffnen und zu lesen. Aber er vermutete, dass er seine Frau irgendeine Aufregung bringen könnte, und daher beschloss er, ihn so lange bei sich zu behalten, bis er in Erfahrung gebracht hatte, wer die junge Dame mit der roten Badekappe war, die draußen gesucht wurde.

Er ließ seinen Blick wieder suchend über das Meer schweifen, und da sah er, dass der Rettungskahn jetzt auf den Strand zuhielt. Ein Herr, der mit einem besonders scharfen Fernglas ausgestattet war, verkündete aufgeregt, er habe gesehen, dass man jemand im Rettungskahn geborgen habe.