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Klaus von Weyersberg gehörte einer Polarexpedition an, die im Ewigen Eis verschollen ist. Da niemand an seinem Tod zweifelt, fällt das reiche Gut Gravenstein dem Vetter seines Vaters, Kurt von Weyersberg, zu. Nach zehn Jahren soll es endgültig in dessen Besitz übergehen. Doch wie ein Wunder hat Klaus die Katastrophe überlebt. Um sich ein Bild von den jetzigen Zuständen auf Gravenstein zu verschaffen, kehrt er unter dem Namen seines toten Freundes auf den Besitz seiner Väter zurück. Nur Ruth Falkner, Kurt von Weyersbergs arme, verwaiste Nichte, ahnt, wer der geheimnisvolle Fremde ist. Da sie sich sehr zu ihm hingezogen fühlt, bangt sie fortan um sein Leben. Denn sie weiß, dass Kurt von Weyersberg vor nichts zurückschrecken wird, wenn er die Wahrheit erfährt ...
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Seitenzahl: 149
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Impressum
Sag, wo weiltest du so lange?
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BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Anne von Sarosdy/Bastei Verlag
E-Book-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-2222-4
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Sag, wo weiltest du so lange?
Bewegender Roman um eine heimliche Liebe und ein gefährdetes Erbe
Doktor Klaus Weyersberg lehnte an der Reling und sah mit versonnenem Blick zur argentinischen Küste zurück, als der Kapitän zu ihm herantrat.
„Jetzt habe ich endlich eine Stunde Zeit für Sie, Herr Doktor, und ich kann Ihnen versichern, dass ich sehr gespannt bin auf Ihre Erzählung. Sie haben mir versprochen, mir eine genaue Schilderung zu geben von allem, was Sie in den letzten Jahren erlebt haben. Wenn ich Sie ansehe, scheint es mir freilich, als seien mindestens fünf oder sechs Jahre vergangen, seit Sie auf unserem Dampfer Ihre Reise ins Ungewisse antraten. Wahrhaftig, an den Schläfen sind Ihre Haare grau geworden. Ich hätte Sie überhaupt nicht wiedererkannt, wenn Sie mich nicht daran erinnert hätten, dass wir auf der Fahrt manche Stunde verplaudert haben.“
Klaus Weyersberg wandte sich mit einem herben Lächeln zu dem Kapitän um.
„Ja, die Jahre, die vergangen sind, seit ich auf der ‚Kap Polonio‘ nach Argentinien ging, um dort mit meiner Expedition zusammenzutreffen, dünken auch mich wie eine kleine Ewigkeit, besonders die letzten anderthalb Jahre. Damals war ich voll guten Mutes und tatendurstig.“
„Dessen erinnere ich mich sehr wohl; Sie waren ein frisches junges Blut, sorgten für gute Stimmung an Bord und waren so übermütig wie ein Füllen, das man losgelassen hat. Heute sind Sie ein ernster, stiller Mann.“
Klaus strich sich über sein dichtes Haar, das der Wind zerzaust hatte.
„Erlebnisse, wie ich sie hinter mir habe, machen alt und reif.“
„Nun, mit dem Alter lässt es sich noch halten, und wenn Sie erst wieder vollends gesund sind, werden alle verlorenen Kräfte wiederkehren. Passen Sie auf, die Seereise bringt Ihnen Ihre Gesundheit wieder!“
„Das hoffe ich, Kapitän.“
„Und nun begleiten Sie mich bitte in meine Kajüte, damit wir ungestört sind. Ich habe zwar jetzt einige Stunden frei, aber wenn ich mich blicken lasse, kommen mir die Passagiere doch mit allerlei Anliegen.“
Die beiden Herren schlenderten langsam zur Kapitänskajüte und ließen sich dort in bequeme Sessel gleiten. Eine Flasche Rotwein, zwei Gläser und Rauchwaren standen bereit.
„Also Sie waren wirklich monatelang allein auf der kleinen Süd-Shetland-Insel, die vor Ihnen noch nie eines Menschen Fuß betreten hat?“, fragte der Kapitän, die Gläser füllend.
Es zuckte um Klaus Weyersbergs Mund.
„Mir schienen es ebenso viele Jahre, Herr Kapitän“, antwortete er heiser.
„Und Sie waren der einzige Überlebende jener Expedition zur Erforschung der Südpolargegenden?“ „Leider.“
„Na, der liebe Gott muss noch Großes mit Ihnen vorhaben, da er Sie als Einzigen rettete.“
„Wer kann das wissen! Leider bringe ich nur wenig von dem Material nach Hause, das wir bis zum Untergang der Expedition gesammelt haben. Der furchtbare Schnee- und Hagelsturm, der meine Gefährten, einen nach dem anderen, tötete, vernichtete auch einen Teil unserer Habe. Selbst wenn meine Gefährten diesem grässlichen Unwetter entgangen wären, hätte das wenige an Lebensmitteln nicht so lange für uns alle gereicht, bis wir gefunden worden wären. Für mich allein reichte es gerade – allerdings durfte ich täglich nur eine Mahlzeit zu mir nehmen, jene Tage ausgenommen, an denen es mir gelang, irgendein Tier zu fangen. Und die letzten Tage – ich weiß nicht, wie viele es waren, denn ich war schon in einem solchen Zustand der Erschöpfung, dass ich allerlei Halluzinationen zum Opfer fiel – musste ich in der Schneehütte, die ich mir gebaut hatte, nicht nur hungern, ich hatte auch kein Feuer mehr; denn es war schon alles, was ich gerettet hatte, verbrannt worden. Der Walfischfänger, der mich entdeckte und rettete, kam wirklich zur rechten Zeit – sonst wäre auch ich noch draufgegangen.“
„Das ist ja grauenvoll!“, rief der Kapitän.
Wieder lächelte Klaus Weyersberg bitter.
„Grauenvoller, als ich es je erzählen kann, war die Wirklichkeit. Sie müssen wissen, dass unser Schiff an den der Insel vorgelagerten Klippen gestrandet war. Das Unglück geschah, als wir hoffnungsfreudig die Rückreise angetreten hatten. Ein furchtbarer Orkan war uns zum Verhängnis geworden. Unter unsäglichen Mühen gelang es uns, den Strand zu erreichen. Wir bargen so viel wie möglich von den angeschwemmten Trümmern und zogen von den Lebensmitteln an Land, was wir irgendwie erwischen konnten. Auch ein Fässchen Rum war darunter.
Aber dann waren wir am Ende mit unseren Kräften; waren unfähig, uns gegen das Weitere zu wehren, das mit uns geschah. Ununterbrochen stürzten Hagelmassen auf uns nieder, uns förmlich unter ihrer Last begrabend. Ich – mein Gott – ich musste es mit ansehen, wie mein bester Freund, Doktor Horvath, kraftlos neben mir zusammensank und vor Übermüdung einschlief: ich erkannte die Gefahr, raffte mich auf und holte in einer Konservenbüchse Rum herbei; aber als ich zu ihm zurückkam, war er tot. Erfroren oder einem Herzschlag erlegen- wer vermag es zu sagen? Ich sah ein gleiches Ende für mich voraus und habe vor Angst gebrüllt wie ein Tier. Beinahe von Sinnen, wie ich war, irrte ich umher, die anderen Kameraden zu finden, um ihnen den Rum zu bringen, aber ich… ich fand nur Hügel festgefrorenen Hagels, unter denen meine Gefährten den letzten Schlaf schliefen.“
Erschöpft und blass bis in die Lippen, schwieg Klaus Weyersberg und starrte vor sich hin. Der Kapitän rüttelt ihn sanft am Arm.
„Schweigen Sie! Ich ahnte nicht, was das alles in Ihnen aufwühlen muss“, sagte er erschüttert.
Klaus Weyersberg sah ihn mit brennendem Blick an.
„Nein, nein! Lassen Sie mich weiterreden, ich glaube, es ist gut, wenn ich das alles einmal aussprechen kann. Es wird eine Erleichterung sein. Können Sie das verstehen?“
Der Kapitän nickte.
„Ja, fast kann ich es verstehen – sprachen Sie noch mit keinem Menschen darüber?“
„Nicht so zusammenhängend – ich schrie es wie ein Wahnsinniger hinaus, als mich die Walfischfänger in ihrer Station gesund pflegen wollten, doch ich wusste davon nichts, man hat es mir später erzählt, und ich konnte nur bestätigen, was ich im Fieberwahn berichtet hatte. Doch zurück zum Geschehen. Ich trank damals in meiner Verzweiflung die ganze Konservenbüchse voll Rum aus. Dieses riesige Quantum Alkohol würde mich unter normalen Verhältnissen wahrscheinlich glatt umgeworfen haben. Hier aber belebte es meine Kräfte, die körperlichen und die geistigen. Ich sagte mir, vor allen Dingen müsse ich mir eine Schneehütte bauen, wie wir das oft genug getan hatten. Das nötige Handwerkszeug war mit den übrigen Schiffstrümmern angeschwemmt worden.
Während ich mir ein ziemlich fragwürdiges Unterkommen schuf, ließ der Sturm allmählich nach, und vor allen Dingen blieben die pflaumengroßen Hagelkörner aus. Ich arbeitete wie im Fieber, wie von Sinnen. Als ich diesen Unterschlupf fertig hatte, machte ich mir von den Schiffstrümmern ein Feuer und fiel neben diesem in einen todesähnlichen Schlummer. Wie lange dieser anhielt, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass mir, als ich aufwachte, das Entsetzliche meiner Lage erst völlig zum Bewusstsein kam. Erst jetzt vermochte ich zu erfassen, dass ich allein, ganz allein geblieben war, in einer Schneewüste, die nur von Eisvögeln und Robben bewohnt war. Das war noch ein Glück, denn diese Tiere sollten mir für lange Zeit zur Nahrung dienen. Das wenige an Proviant was ans Land geschwemmt worden war, hätte mir nicht bis zu meiner Rettung gereicht.
Es gab Tage, wo mich der Wahnsinn zu erfassen drohte, da ich die toten Kameraden beneidete. Oft dachte ich daran, Schluss zu machen. Aber immer wieder riss mich das Gefühl der Hoffnung von dem letzten Schritt zurück.
Meine Uhr war stehen geblieben, als das Schiff strandete und uns in das eisige Wasser beförderte; ich bekam sie auch nicht wieder in Gang. Einen meiner toten Gefährten auszugraben und zu versuchen, bei ihm eine noch brauchbare Uhr zu finden, widerstrebte mir, ich konnte mich nicht dazu entschließen.
So vegetierte ich, ohne Zeitbewusstsein, ohne zu ergründen, wie viele Wochen oder Monate ich auf dieser einsamen Insel verbrachte. Jeden Tag irrte ich am Strand umher, um nach vorüberfahrenden Schiffen auszuspähen, und gab Notsignale, die sie auf mein Elend aufmerksam machen sollten. Alles vergeblich!
Als endlich, da ich schon am Ende meiner Kraft war und mich noch ein letztes Mal an den Strand geschleppt hatte, das Boot mit den Walfischfängern auftauchte und ich wie ein Wahnsinniger schrie und mich wohl auch so gebärdete, glaubte ich an eine Halluzination. Das große Boot war einem Riesenwal gefolgt, der die Fänger ziemlich weitab von ihrer Station geführt hatte, weil sie den Burschen durchaus erlegen wollten. Dieser Wal war mein Retter. Die Leute sahen am Strand der einsamen Insel ein schreiendes, gestikulierendes Wesen, wussten erst nicht, ob es ein Tier oder ein Mensch sei, und kamen, nachdem sie den verfolgten Wal zur Strecke gebracht hatten, an Land, um mich näher zu betrachten. Da taumelte ich ihnen entgegen. Ich brach ohnmächtig zu den Füßen meiner Retter nieder, und – Gott lohne es ihnen – sie brachten mich an Bord und kehrten mit mir zur Walfischstation zurück. Dort lag ich wochenlang im Fieber, wurde aber sorgsam gepflegt und kam auch wirklich durch. Zunächst wusste ich kaum noch etwas von mir und von meinen Erlebnissen.
Mich in zivilisierte Gegenden zu schaffen war unmöglich, denn die Walfischflottillen kehren ja immer erst nach Hause zurück, wenn ihre Trantanks restlos gefüllt sind. Aber man hatte wenigstens aus meinen Fieberreden entnommen, dass ich zu einer Südpolarexpedition gehört hatte. Diese rauen Männer kümmerten sich nicht viel darum, woher ich kam und wer ich war. Meinen Pass hatte ich in das Futter meiner Pelzausrüstung genäht, dort hatte man ihn ebenso wenig gefunden wie den ziemlich großen Dollarbetrag, der sich an demselben Platz befand. Vielleicht wäre er sonst nicht mehr vorhanden gewesen, denn unter den Walfischfängern gibt es sehr fragwürdige Existenzen. Aber gepflegt haben sie mich in einer Weise, als sei ich ein guter Kamerad von ihnen. Und der junge schwedische Arzt und der Chefkapitän der Flottille nahmen sich meiner mit einer Sorgfalt an, die man bei so harten Männern kaum für möglich gehalten hätte. Kurzum, sie bekamen mich so weit, dass sie mich, als das erste Schiff abging, in leidlichem Zustand mit nach Argentinien nehmen konnten, wo mich der junge Arzt in einem Sanatorium bei Buenos Aires unterbrachte.
Seit längerer Zeit war ich bereits wieder bei klarem Verstand. Nur manchmal gab es einen Rückfall, und dann war ich jedes Mal wieder wie von Sinnen, vergaß, wer und wo ich war, und schrie wie ein Irrsinniger aus Angst vor dem Alleinsein. Ich glaubte mich dann wieder auf der schrecklichen Eisinsel. Diese Anfälle wurden jedoch seltener, und seit einigen Monaten bin ich ganz von ihnen befreit. Allerdings überkommt mich von Zeit zu Zeit immer noch eine entsetzliche Angst vor dem Alleinsein. Aber dann brauche ich nur eine Menschenstimme zu hören, um meiner Nervosität Herr zu werden. Der Arzt in dem Sanatorium hat mir versichert, dass auch diese letzten Nachwehen meiner Erlebnisse verschwinden würden.“
Der Kapitän fasste Klaus’ Hand mit warmen Druck.
„Davon bin auch ich fest überzeugt; Sie machen, gottlob, einen recht gesunden Eindruck. Aber freilich, wenn Sie nicht solche Bärenkräfte und eine so kräftige Konstitution gehabt hätten, hätten Sie das wohl nicht überstanden.“
„Das glaube ich auch.“
„Und – sind Sie nun wieder mit der deutschen Heimat in Verbindung getreten?“
„Direkt noch nicht, denn ich musste vor allen Aufregungen geschützt werden. Ich weiß nur, dass man in Deutschland annahm, von unserer Expedition sei niemand gerettet worden.
Ein Eismeerdampfer hatte Trümmer unseres Schiffes gefunden, auf einer Planke sogar eine Aktenmappe mit Papieren, die eindeutig bewiesen, dass es sich um unser Schiff handelte. Damit hatte man die Angelegenheit als erledigt betrachtet. Auch ich galt als tot. Da ich wusste, dass keiner meiner Gefährten Verwandte besessen hatte, hielt ich es nicht für nötig, Nachricht nach Deutschland zu senden. Zwar hatte ich meinen Vater zurückgelassen und einige sehr entfernte Verwandte, die mich sicher nicht besonders vermissten. Nur meinem Vater wollte ich die Kunde von meiner glücklichen Errettung zukommen lassen. Ich bat den Leiter des Sanatoriums in Buenos Aires, ihm zu melden, dass ich lebe und auf dem Weg der Genesung sei, aber dieser Brief kam zurück mit dem Vermerk: Adressat verstorben.
Das warf mich noch einmal weit zurück. Ich ahnte, dass die Nachricht von meinem vermeintlichen Tod meinen Vater niedergeworfen hatte. Er war mit meinem Fortgehen nicht einverstanden gewesen, aber ich hielt es zu Hause in der Enge des bürgerlichen Lebens nicht aus, ich wollte unbedingt meinen Freund Horvath begleiten. Schweren Herzens willigte mein Vater endlich ein. Er versorgte mich in seiner großen Güte mit Geld, hatte für mich auch noch auf ein Konto in Buenos Aires eine erhebliche Summe eingezahlt. So war und bin ich reichlich mit Barmitteln versehen. Selbstverständlich erkundigte ich mich, ob mein Vater wirklich gestorben sei. Es war leider wahr. Während ich besinnungslos auf der Walfischfängerstation lag, ist er aus dem Leben geschieden. So habe ich niemandem von meiner Errettung Nachricht gegeben. Sie waren der erste meiner Landsleute, Herr Kapitän, dem ich mich zu erkennen gab, als ich an Bord kam.“
„Und ich hätte Sie, wie gesagt, auch nicht erkannt, wenn Sie sich mir nicht selbst in Erinnerung gebracht hätten. Wie lange ist es denn her, dass Sie mit unserem Dampfer nach Buenos Aires reisten?“
„Drei Jahre, Herr Kapitän.“
„Wirklich nicht länger?“, fragte dieser und sah Doktor Weyersberg prüfend an, als sei es nicht möglich, dass sich ein Mensch in drei Jahren derartig verändern konnte.
Die beiden Herren plauderten noch über eine Stunde zusammen. Noch manche Einzelheit seiner Erlebnisse berichtete Doktor Weyersberg. Er teilte dem Kapitän auch mit, dass er sich direkt in seine Heimat zu begeben gedenke. Sein Vater habe ihm ein großes Gut hinterlassen und sicherlich auch ein beträchtliches Barvermögen.
„All das weiß ich in bester Hut unseres alten Verwalters und eines alten Freundes meines Vaters, der als Notar dessen juristischen Geschäfte erledigte. Beide wissen nicht, dass ich mich auf der Heimfahrt befinde. Ich will sie überraschen.“
Der Kapitän sah ihn mit einem sonderbaren Blick an.
„War es nicht ein wenig gewagt, dass Sie sich nicht meldeten? Mir scheint, dass Ihr Erbe irgendwie bedroht sein könnte, wenn Sie daheim als tot gelten.“
Klaus Weyersberg stutzte; ein jäher Schrecken prägte sich in seinen Zügen aus.
„Daran habe ich allerdings noch nie gedacht. Sie müssen bedenken, dass ich mich erst langsam ins Leben zurücktasten musste. Darüber vergaß ich alles andere. Aber ich lebe und werde mich als der rechtmäßige Erbe meines Vaters ausweisen.“
Der Kapitän wollte den kaum Genesenen nicht beunruhigen, sonst hätte er antworten können: Ihr Vater hielt Sie zweifelsohne für tot und kann einen anderen als Erben eingesetzt haben.
Aber das wollte er lieber nicht sagen. Doktor Weyersberg sollte sich erst auf der Seereise vollends kräftigen, dann würde er ja selbst sehen, wie zu Hause alles stand, und konnte seine Rechte geltend machen. So plauderte er von allem, was sich inzwischen in Deutschland ereignet hatte. Aufmerksam hörte Klaus Weyersberg ihm zu, aber es erging ihm wie den meisten Menschen, die ein schweres Erleben hinter sich haben – an ihrem eigenen Schicksal gemessen, erscheint ihnen alles übrige unbedeutend und nebensächlich.
***
Als Klaus Weyersberg in Hamburg ankam, war er so frisch und elastisch wie eh und je und hatte auch sein seelisches Gleichgewicht wiedergefunden.
Wenn ihn auch von Zeit zu Zeit immer noch angstvolle Träume befielen und er Einsamkeit nur schwer zu ertragen vermochte, fühlte er sich dennoch stark genug, allem, was an ihn herantreten würde, die Stirn zu bieten.
Nun, da er wieder deutschen Boden unter den Füßen hatte, erledigte er zunächst die Geschäfte, die mit den wissenschaftlichen Ergebnissen der Expedition zusammenhingen. Immerhin hatte er das ihm verbliebene Material in einer Weise sichten und ergänzen können, dass ein bedeutender wissenschaftlicher Erfolg der Fahrt zur Antarktis gebucht werden konnte. Er bat aber dringend, vorläufig seinen Namen nicht als den eines gleichsam vom Tod Wiederauferstandenen zu nennen, weil er sich dem unausbleiblichen Ansturm von Neugierigen noch nicht gewachsen fühlte.
Man versprach ihm alles, was er wünschte.
Nachdem er dieser Pflicht genügt hatte, reiste er in seine Heimatstadt, die nahe dem Gut Gravenstein lag, das seinem Vater gehörte hatte und wo er geboren und aufgewachsen war.
Zuerst suchte er den alten Notar auf, um von diesem zu hören, wie sein Vater gestorben war und welche testamentarischen Bestimmungen er hinterlassen hatte. Justizrat Doktor Frensen war mit seinem Vater befreundet gewesen, Klaus hatte ihn „Onkel Justizrat“ genannt.
Als Klaus von Bahnhof zum Inneren der Stadt ging, begegnete er manchem Bürger, den er sehr wohl gekannt hatte und auch sofort wiedererkannte, aber sie alle gingen fremd und ungerührt an ihm vorüber. Es war ihm infolgedessen klar, dass er sich verändert haben musste.
Er beschleunigte seine Schritte, um die Wohnung des Justizrats zu erreichen. Dessen Haus befand sich nahe beim Georgenberg, auf dem das alte Schloss lag, das Wahrzeichen der Stadt. Dort hatten früher die Herzöge dieses kleinen Landes residiert.
Das Haus des Justizrats hatte sich nicht verändert. Dort an dem Eckfenster im Parterre, wahrhaftig – da saß noch wie sonst der alte Bürovorsteher Knolle mit seiner roten Nase und den immer etwas tränenden Augen.
Klaus musste ein wenig lachen er freute sich, ja, er freute sich wirklich, den alten Knolle noch an seinem Platz zu finden. Ob der ihn erkennen würde?
Sich straff aufrichtend, betrat er das Büro. Der alte Knolle sah auf.
„Was ist gefällig, mein Herr?“
Nein, er erkannte ihn nicht.
„Ich möchte den Herrn Justizrat sprechen.“
„In welcher Angelegenheit?“
Klaus wusste, er brauchte nur zu sagen: Alter Knolle, ich bin doch der Klaus Weyersberg! Dann würde er ihn zunächst erstaunt ansehen, ihn dann aber ohne jedes weitere Verhör zum Justizrat führen. Aber dann wusste bis morgen die ganze Stadt, dass er lebte und heimgekehrt war, und das würde einen wahren Aufruhr verursachen. Nur das nicht!
„In einer wichtigen geschäftlichen Angelegenheit, bitte melden Sie mich sofort!“, antwortete er ruhig.
Der alte Knolle lauschte ein wenig unsicher auf die Stimme des Besuchers. Wo hatte er diese Stimme schon einmal gehört?
Aber Klaus Weyersbergs bestimmte Art ließ ihn nicht länger zögern.