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Hedwig Courths-mahler
Hedwig Courths-Mahler Großband 7 - Sammelband
Cover
Impressum
Bezwungene Liebe
Vorschau
Bezwungene Liebe
Roman um Leid und Sehnsucht eines tapferen Frauenherzens
Frau Goßegg saß mit sorgenvoller Miene über ihr Haushaltungsbuch gebeugt. Wieder und wieder rechnete sie die Zahlenreihe herunter. Es blieb immer das gleiche Ergebnis.
Seufzend legte sie die Feder beiseite. Dann zählte sie die kleine Summe, die sie ihrem Geldbeutel entnahm.
Vier Mark und sechzig Pfennig! Damit sollte sie noch zehn Tage auskommen, sollte für sich und drei Kinder den Lebensunterhalt bestreiten!
Frau Goßegg rechnete noch einmal von neuem, mit einem mutlosen, bedrückten Gesicht. Plötzlich horchte sie auf. Draußen im Schloss der Korridortür drehte sich ein Schlüssel herum. Wenige Sekunden später trat ein schlankes Mädchen ein.
„Gottlob, dass du da bist, Kind. Ich sitze wieder einmal über meinem Rechnungsbuch und kann nicht zu Ende kommen.“
Gabriele Goßegg trat zu ihrer Mutter heran und blickte über ihre Schulter in das kleine Buch. „Quäle dich nicht immer wieder damit, Mama, es wird nichts dadurch geändert! Dass du nur das Nötigste ausgibst, ist gewiss, und was übrig bleibt, wird durch das angestrengteste Rechnen nicht vermehrt.“
Die alte Dame sah zu ihrer Tochter auf. „Damit hast du leider Recht. Ach, Kind, ich weiß diesmal nicht, wie ich bis zum Ersten auskommen soll.“
Das junge Mädchen strich liebevoll das graue Haar aus der Stirn der Mutter. „Sorge nicht so viel, Mama! Du reibst dich auf dabei und kannst nichts ändern.“
Sie zog ein kleines Geldtäschchen hervor und schüttete den Inhalt vor der Mutter auf den Tisch. „Da, hier ist Geld in Menge. Damit kommen wir sehr gut aus, nicht wahr?“
Frau Goßegg wehrte erschrocken ab. „Nicht, Gabi! Dieses Geld hast du dir verdient, und es war für eine neue Winterjacke bestimmt, du brauchst sie so notwendig.“
Gabriele lachte leise. „Sollst sehen, wie fein ich zu einer neuen Winterjacke komme.“
Sie packte aus einem Papier etwas aus und legte es der Mutter hin.
„Was willst du mit diesen Blenden, Gabi?“
„Damit besetze ich meine alte Jacke, ganz nach einem neuen Modell, das ich im Schaufenster sah. Die schadhaften Stellen werden verdeckt, und zugleich wird meine Jacke neu und fein. Sollst sehen, es geht ganz gut.“
„Liebes Kind, ich weiß sehr wohl, dass es durchaus nicht so gut geht, wie du mir glaubhaft machen willst. Ich weiß auch, dass du dich sehr auf eine neue Jacke gefreut hast.“
„Aber, Muttchen, daraus, dass ich die Blenden schon gekauft habe, kannst du sehen, dass dein Geldmangel ohne Einfluss auf meinen Entschluss blieb. Ich hätte mir ohnedies keine neue Jacke gekauft. Der Gedanke mit den Blenden leuchtete mir ein.“
„Und außerdem wusstest du ganz genau, dass ich, wie immer, zum Monatsschluss deine Hilfe brauchte. Ich weiß, du bringst uns, wie so oft, mit lächelndem Gesicht ein Opfer. Aber obgleich ich es weiß, ich muss es annehmen, wenn ich keine Schulden machen soll.“
Gabrieles Gesicht wurde ernst. „Um Gottes willen, keine Schulden mehr, Mama! Du weißt, wie schwer es uns wird, abzuzahlen, was wir für Fred aufnehmen mussten. Lieber die äußersten Einschränkungen auferlegen.“
„Ja – ja! Beruhige dich, Gabi! Wenn du mir die Hälfte gibst, komme ich gut aus. Freilich, ich hätte dich gar zu gern in einem hübschen, neuen Mantel gesehen.“ Gabriele beugte sich nieder und küsste die Mutter. „Bin ich dir nicht ohnehin schön genug?“, fragte sie scherzend.
„Mir bist du immer gleich lieb und schön. Aber sieh, ein bisschen eitel ist jede Mutter auf ihre Töchter. Wenn ich mir manchmal ausmale, wie du in schönen, vornehmen Kleidern aussehen müsstest ach, Kind, ich glaube, es gäbe keine größere Wonne für mich.“
„Mutterle, unvernünftiges, liebes Mutterle, willst du mich mit Gewalt eitel machen? Schäme dich! Und nun packe schleunigst dein dummes Rechnungsbuch ein, und da – nimm das Geld!“
„Nicht alles, Gabi. Das da verwende wenigstens für dich.“ Gabriele steckte die übrigen Scheine wieder in ihr Geldtäschchen und nahm es an sich. „Auch gut, ich kaufe mir eine Aktie dafür“, scherzte sie.
„Hast du neue Arbeit mitbekommen, Kind?“
„Ja, Mama. Zwei Läufer und eine Tischdecke. Du kannst die Läufer sticken, ich arbeite die Decke. Es ist ein besonders lohnender Auftrag, eine hübsche Summe bekommen wir für die drei Sachen.“
„So?“
„Ja. Du weißt, die Abteilungsvorsteherin legt mir solche Sachen immer zurück. Sie ist sehr freundlich zu mir.“
„Dass nur kein Mensch etwas davon merkt! Du bist doch vorsichtig, Kind?“
Gabrieles Lippen umspielte ein bitteres Lächeln, das gar nicht in das junge Gesicht passen wollte. „Sei ohne Sorge, Mama! Ich weiß, dass es nicht bekannt werden darf, dass die Schwester und die Mutter Fred Goßeggs um Geld Stickereien für ein Geschäft liefern. Wenn ich darauf nicht immer Rücksicht zu nehmen hätte, könnte ich Sprachstunden erteilen und würde müheloser mehr Geld verdienen.“
„Ja, Kind, als Schwester hast du Rücksicht zu nehmen.“
„Außerdem würde man es auch sonst sehr sonderbar finden, dass Fred Goßegg Sektfrühstücke gibt“, sagte Gabriele bitter.
Frau Goßeggs Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an. „Es war einmal, Gabi, weil er eine Wette verloren hatte.“
„Er hat kein Recht, eine solche Wette einzugehen, da er weiß, wie schwer es uns wird, ihm die nötige Hilfe zu geben. Seine Schwester Magda lebt in abhängiger Stellung bei einer boshaften, launischen Dame, um unseren Einnahmen wenigstens etwas aufzuhelfen, du und ich, wir sitzen tagaus, tagein hinter dem Stickrahmen, und für Walter können wir nicht einmal das Gymnasium erschwingen, obwohl er sehr begabt und fleißig ist. Auch unser Nesthäkchen Friedel muss manches entbehren. Alle zusammen sparen und knausern wir, und er macht solche Streiche.“
„Aber, Gabi, es hat ihm selbst Leid getan, und du hast ihm schon Vorwürfe genug gemacht. Glaubst du, es ist ihm leicht, mit dem knappen Gehalt auszukommen, jung und lebenslustig, wie er ist?“
„Nein, das weiß ich. Uns wird es aber mindestens ebenso schwer. Muttchen, mach nicht ein so gequältes Gesicht! Ich weiß, dass Fred nun mal dein besonderer Liebling ist, weil er unserem verstorbenen Vater so sehr gleicht. Ich sollte dich nicht in ihm kränken, es ist nicht recht von mir. Aber manchmal ist es stärker als ich, wenn wir alle wieder und wieder auf ihn Rücksicht nehmen müssen.“
„Nicht auf ihn, nur auf seine Stellung.“
„Ja, ich weiß. Ihm und uns wäre wohler, wenn er nicht Bankvorstand geworden wäre.“
„Es geschah auf deines Vaters Wunsch. Er war selbst mit Leib und Seele in diesem Beruf, und wenn er nicht so früh gestorben wäre – auch Walter hätte diesen Beruf ergreifen müssen. Außerdem war Fred ja bereits Volontär, als Vater starb.“
Gabriele umfasste die Mutter liebevoll. „Verzeih, dass ich so garstig war, Mama!“
Die alte Dame küsste sie, schnell versöhnt. „Du und garstig, mein Goldkind? Ich weiß das besser. Nur die Sorge um mich und deine anderen Geschwister lässt dich so schroff über Fred urteilen. Im Grunde hast du ihn so lieb wie uns alle und würdest ihm jedes Opfer bringen. Ich glaube, wenn es in deine Macht gegeben wäre, du würdest ihm mit Freuden ein sorgloses Leben schaffen.“
Es lag eine verhaltene Frage in ihren Worten. Gabis Gesicht rötete sich, und ein ängstlich abwehrender Ausdruck trat in ihre Augen.
Sie wusste, welcher Gedanke sich in den Worten der Mutter verbarg. Ein reicher, unabhängiger Fabrikant, eine hoch geachtete und einflussreiche Persönlichkeit, bewarb sich schon seit einiger Zeit ziemlich deutlich um Gabriele Goßegg. Herbert Wendheim, so hieß dieser Bewerber, war erst vierunddreißig Jahre alt, stand aber schon seit drei Jahren, seit dem Tod seines Vaters, an der Spitze eines großen Fabrikbetriebs. Das junge Mädchen war unangenehm berührt durch Wendheims Bemühungen. Der ernste, etwas stille Mann war ihr nicht unsympathisch, sie unterhielt sich auch gern mit ihm, bis sie seine Absicht merkte. Von diesem Zeitpunkt ab zog sie sich aber, so viel es ging, von ihm zurück. Ihr junges Herz gehörte mit schwärmerischer Innigkeit einem anderen Mann, einem Freund ihres Bruders, dem jungen Hochschullehrer Heinz Römer.
Gabriele wusste, dass ihre Liebe aussichtslos war, denn Heinz Römer war gleich ihrem eigenen Bruder arm. Sie war überzeugt, dass er sie sehr gern hatte, dass aber an eine Verbindung nicht zu denken war. Trotzdem hing ihr Herz an ihm. Sie gab sich dem Zauber einer reinen, nicht berechnenden Liebe hin und war selig, wenn sie Heinz zuweilen sah und einige Worte mit ihm sprechen konnte.
Gabriele antwortete jedoch nicht auf die Frage ihrer Mutter, sondern sah nach der Uhr. „Himmel, es ist gleich vier! Da muss ich mich beeilen mit dem Kaffee. Wenn Frieda und Walter aus der Schule kommen und ihr Vesperbrot ist nicht bereit, dann geht es uns schlecht, Mama. Bitte, leg dein Buch beiseite und decke das Tischtuch auf! Ich will schnell in die Küche hinaus.“
Seufzend erhob sich die alte Dame, als Gabi hinausgegangen war. Sie merkte sehr gut, dass ihre Tochter von Wendheims Werbung nicht so beglückt war, wie sie selbst. Gabriele wich ihr aus, sooft sie das Gespräch darauf brachte. Das war kein günstiges Zeichen.
Eine Weile später brachte das junge Mädchen das Kaffeegeschirr herein und setzte es mit flinken, geschickten Händen auf den Tisch. Dann brachte sie Brot und Butter herbei und begann Butterbrote zu machen.
Da ertönte auch schon die Wohnungsklingel. Frau Goßegg ging, um zu öffnen, und gleich darauf stürmten Gabrieles jüngste Geschwister ins Zimmer.
„Tag, Gabi – o Gott, hab ich einen Hunger! Mir kannst du mindestens viermal ums Brot herum abschneiden“, rief Frieda.
„Und mir auch, Gabi, aber recht dick und die Butter nicht zu knapp, sonst kriegst du mich nicht satt“, sagte der vierzehnjährige, lang aufgeschossene Walter.
Gabriele sah lachend auf die beiden geräuschvollen Kinder. „Erst die Schulbücher an Ort und Stelle und die Schmutzfinger gewaschen! Vorher gibt es nichts. Das wisst ihr ganz genau.“
„Du bist kleinlich, Gabi“, maulte Frieda, tat aber, was die Schwester verlangte.
Walter aber kam sofort und ohne Widerrede dem Befehl nach. Gabriele sah verwundert hinter ihm her. „Walter ist ja auffallend gehorsam, Mutter. Gib Acht, er hat irgendetwas angestellt“, sagte sie lächelnd.
Die Kinder kamen zurück. „Walter, komm mal her zu mir!“, sagte Gabriele ernst.
„Was soll ich denn?“, fragte er ein wenig scheu und bekam einen roten Kopf.
„Sag mal, was hast du denn heute für Dummheiten in der Schule gemacht!“
„Gar keine. Ich habe sogar eine blanke Eins in meiner französischen Arbeit.“
„Das ist schön. Sieh, wie Mama sich freut! Und sonst?“
„Ach, Gabi, du bist ein richtiger Untersuchungsrichter. Weißt du, ich wollte es dir gar nicht sagen, aber du merkst immer alles. Ich hab mir ein Loch in die Hose gerissen.“
„Walter, in die neue Hose?“, rief Frau Goßegg erschrocken. Er nickte mit einem Ausdruck, als wollte er sagen: Es ist alles Bestimmung, niemand kann seinem Schicksal entgehen.
Gabriele untersuchte den Schaden sofort und strich dann, beruhigend lächelnd, über den kurz geschorenen Knabenkopf. „Es ging noch gut ab, Mutter. Den Riss stopfe ich so fein, dass er nicht zu merken ist. Wie kamst du denn dazu, Walter?“
Der Knabe haschte verstohlen nach der Hand der Schwester und drückte sie, so fest er konnte. Er wusste sehr gut, dass Gabriele der Engel im Haus war und für alles einen Ausweg fand. „Ich blieb am Zaun hängen, als ich drüber sprang.“
„An welchem Zaun?“
„An dem vom Schulgarten.“
„Konntest du nicht durch die Tür gehen wie die anderen Jungen?“
„Ich wollte schnell nach Hause. Hast du sehr viel Arbeit damit, Gabi?“
„Nein, nein. In einer Viertelstunde ist es getan. Aber sei in Zukunft vorsichtiger! Du weißt, wie schwer es Mutter fällt, dir immer wieder neuen Anzüge anzuschaffen. Und nun geh an dein Vesperbrot!“
Walter sah forschend auf Mutter und Schwester. So jung er war, spürte er doch, wie sich die beiden sorgten. Er träumte davon, einst ein reicher Mann zu werden. Dann sollten es die beiden lieben Menschen gut bekommen. Und Friedel bekam dann ganz sicher ein weißes Kleid von ihm, mit Stickereien und blauen Schleifen, wie Kurt Haubolds Schwester. So eins hatte sie sich immer gewünscht.
Gerade als Gabriele den Kaffeetisch abräumen wollte, kam Fred Goßegg. Der bildhübsche, schlanke Mensch, in elegantestem Anzug, begrüßte Mutter und Geschwister und setzte sich mit an den Tisch. „Hast du noch eine Tasse Kaffee für mich, Gabi?“
Sie holte ihm schnell eine Tasse und schenkte sie voll. „Da hast du Glück gehabt, Fred, die Kanne ist ausnahmsweise noch nicht leer. Willst du auch ein Butterbrot haben?“
„Gern, wenn du mir eins zurechtmachen willst.“
Sie legte ihm vor, und er ließ es sich gut schmecken. Seine Mutter sah voll Stolz in das frische, gebräunte Gesicht, das nur durch einen weichlichen Zug um den Mund etwas verlor. „Wie geht es dir, Fredy?“
„Danke, Mama, man schlägt sich so durch. Wenn es besser ginge, wäre es kaum zum Aushalten“, scherzte er.
Er neckte sich mit Frieda und Walter und sah zuweilen mit einem Seitenblick in Gabrieles ernstes Gesicht.
„Ich bringe übrigens dir und Mutter eine Einladung, Gabi. Wir sind alle drei morgen Abend zu Konsul Haller geladen. Große Gesellschaft, Abendessen, musikalische Genüsse und zum Schluss ein Tänzchen. Fein, nicht wahr?“
Gabrieles Gesicht rötete sich. Sie kam selten genug zu solchen Geselligkeiten, und bei Hallers war es immer sehr nett. Von der Schule her war sie mit Ingeborg Haller, der einzigen Tochter des Konsuls, befreundet. Wenn sie sich auch nicht sehr gut mit dem verwöhnten, launischen Mädchen verstand, ein gewisses Freundschaftsverhältnis hatte doch fortbestanden. Außerdem wusste Gabriele ganz genau, dass sie bei Hallers auch Heinz Römer treffen würde, und das trieb ihr die Röte freudiger Erregung ins Gesicht. Sie sah bittend zur Mutter hinüber.
Frau Goßegg sah einigermaßen unbehaglich ihre Kinder an. „Weißt du, wer alles geladen ist, Fred?“
„Wahrscheinlich so ziemlich alles. Meine Kameraden, die Honoratioren mit Kind und Kegel, Wendheim natürlich auch.“
Mutter und Sohn wechselten einen bedeutsamen Blick.
„So, Wendheim auch?“, fragte Frau Goßegg leichthin.
„Natürlich, der darf als viel begehrte Partie nicht fehlen. Übrigens traf ich ihn auf dem Weg hierher. Er lässt sich den Damen empfehlen. Auf das Angelegentlichste erkundigte er sich, ob ihr beide morgen Abend auch dabei sein würdet.“
„Und was sagtest du?“
„Dass ich es als gewiss annehme. Er machte gar kein Hehl daraus, dass ihm viel an eurer Gegenwart liegt. Was meinst du, Gabi, gilt sein Interesse nun Mutter oder dir?“
Das junge Mädchen sah unwillig in sein lächelndes Gesicht. „Ich meine, du solltest solche Fragen nicht stellen. Ich finde sie wenig zartfühlend.“
„Mein Gott, Gabi, sei nicht so empfindlich! Fred meinte es doch nicht böse“, begütigte Frau Goßegg.
„Verstehst du denn keinen Spaß, Gabi?“, fragte Fred.
„In dieser Angelegenheit nicht, Fred. Ihr beide wisst so gut wie ich, dass Wendheim sich auffallend um mich bemüht. Diese Auszeichnung ist mir unsagbar peinlich, und ich mag nicht, dass ihr darüber scherzt.“
„Aber Kind, wenn ich nur wüsste, warum es dir peinlich ist, dass Wendheim Gefallen an dir findet.“
„Mir liegt nichts an seinem Gefallen, er soll mich zufrieden lassen.“
„Du bist sehr töricht, Gabi. Wendheim ist ein prächtiger, stattlicher Mann, ein vornehmer, gediegener Charakter.“
„Ja, und außerdem ist er schwerreich“, vervollständigte Gabriele bitter.
„Gewiss, Kind, und das brauchst du gar nicht in einem solchen Ton zu sagen. Es ist schließlich keine Beleidigung, dass er dich gern hat.“
„Nein, Mama, gewiss nicht. Wendheims Vorzüge erkenne auch ich an. Da ich aber nicht in gleicher Weise für ihn empfinden kann, wie er scheinbar für mich, so musst du einsehen, dass mir das peinlich ist.“
Frau Goßegg seufzte. „Schade, Kind. Ach Gott, ich wäre so glücklich, wenn du einen solchen Mann bekämst! So eine Aussicht wird dir ja nie, nie wieder geboten.“
Fred sah, dass jetzt mit Gabriele nicht zu reden war. „Kommt ihr nun morgen Abend mit oder nicht?“, fragte er ablenkend.
„Ich für meinen Teil ginge sehr gern mit, wenn Mutter zusagt“, erwiderte Gabriele.
„Und ich gönne dir das Vergnügen von Herzen, Kind. Aber mein Kleid? Meinst du, dass es noch geht?“
„Ich frische es dir auf, Mutter. Mit etwas Spitze garniert, wird es ganz nett.“
„Wenn du dir die Arbeit machen willst.“
„Gern.“
„Reicht es denn nicht mal zu einem neuen Kleid für dich, Mutter?“, fragte Fred leise.
„Nein, mein Junge, jetzt nicht. Aber nächstes Jahr wird es schon werden.“
Fred seufzte. Missmutig stand er auf und trat ans Fenster. Die Mutter folgte ihm und legte ihre Hand auf seinen Arm.
„Es ist nicht so schlimm, Fred. Mach dir keine Sorgen mehr darüber!“
Fred nahm bald darauf seinen Hut und machte sich zum Gehen bereit. „Also morgen Abend um acht Uhr hole ich euch ab. Bitte, seid pünktlich fertig!“ Damit verabschiedete er sich.
***
Eine Stunde später saß Gabriele am Fenster im Wohnzimmer und garnierte das alte Seidenkleid ihrer Mutter mit Spitzen. Ihre Mutter saß ihr gegenüber am anderen Fenster und stickte einen zartgelben Tischläufer mit roten Mohnblumen aus.
Aus dem Nebenzimmer klang Friedels kräftige Stimme herüber. Sie deklamierte wieder und wieder die ersten drei Verse aus der „Bürgschaft“. Erst ging es langsam und holprig, dann immer geläufiger.
Dazwischen rief Walter zuweilen: „Nicht so laut, Friedel, dabei kann ich nicht arbeiten!“
Dann dämpfte Frieda ihre Stimme ein wenig, bis sie die Begeisterung wieder fortriss. Da hinein klang plötzlich die Klingel. Walter ging, um zu öffnen und brachte gleich darauf einen Brief herein.
„Mama, da sind italienische Marken drauf, die bekomme ich dann wieder, nicht wahr? Der Brief ist von Magda.“
Frau Goßegg griff danach. Ihr Gesicht verriet, wie sehr sie sich freute, etwas von ihrer ältesten Tochter zu hören.
Magda Goßegg war eine willensstarke, lebensfrische Persönlichkeit. Sie hatte es nicht ausgehalten, hinter schlecht bezahlten Handarbeiten zu sitzen. Kurz entschlossen hatte sie eine Stelle als Gesellschafterin und Reisebegleiterin bei einer alten Dame angenommen. Sie wurde gut bezahlt und konnte reisen nach Herzenslust.
Dem Brief an Frau Goßegg war auch einer an Gabriele beigelegt. Die alte Dame reichte ihn lächelnd ihrer Tochter hinüber, und beide vertieften sich in den Inhalt der Schreiben.
Der Brief an Gabriele lautete:
„Meine liebe Schwester! Seit einigen Tagen sind wir in Neapel und wollen bis zum Frühjahr hier bleiben. Das heißt, meine Herrin will es so, und ich habe mich zu fügen. Es ist ja auch so schön, so wunderbar schön hier: Wenn nur Frau Berkow nicht ein so grässlich launenhaftes und bösartiges Wesen hätte. Ihr größtes Vergnügen besteht darin, mich zu quälen und zu kränken. Sie ist wütend, dass ich gut aussehe, weil sie selbst einer Vogelscheuche gleicht, dass man mir Aufmerksamkeiten erweist und sie links liegen lässt. Zu ihr fühlt sich kein Mensch hingezogen, weil sie auch in Gesellschaft zänkisch und boshaft ist, und doch kann sie ohne Menschen nicht auskommen. So benutzt sie mich als Lockmittel, um Gesellschaft zu bekommen. Jeder Mensch, der sich mir nähert, wird natürlich sofort von ihr mit Beschlag belegt. Nun musst du die hilflosen Blicke dieser armen Opfer sehen, wie sie mich um Erlösung anflehen. Aber ich darf sie um keinen Preis loslassen – es bekäme mir schlecht. Ach Gabi, du mit deinem weichen Herzen, mit deiner stillen Art, du gingst auf und davon – nein, du ließest dich zu Tode quälen von ihr. Aber ich bin von festerem Stoff. Ich räche mich auch gelegentlich dadurch, dass ich zu allen Menschen unfreundlich und abstoßend bin. Dann kommt niemand zu uns, und wir sitzen allein wie auf einer einsamen Insel. Da muss mir Frau Berkow dann gute Worte geben, damit ich wieder freundlich werde. Herzensschwester, zuweilen ist es das reine Kasperletheater, und ich unterhalte mich dann wirklich ein Weilchen. Aber nun genug von mir.
Wie geht es zu Hause? Seid ihr alle wohl? Ist Fred vernünftig, oder lockt er dir immer noch jeden Pfennig ab? Habt ihr die Abzahlungen pünktlich abtragen können? Ich habe fünfzig Mark zurückgelegt. Wenn du sie brauchst, stehen sie dir zur Verfügung. Mutter will ich sie nicht anbieten. Ich misstraue ihr ein wenig. Sie ist Fred gegenüber machtlos und liefert ihm schließlich das Geld aus, damit er sich vergnügte Stunden macht.
Und Walter und Nestküken. Beide wohl und munter? Wie oft habe ich mich über die beiden Sausewinde geärgert und jetzt was gäbe ich nicht drum, sie ein Weilchen nur um mich zu haben!
Und nun Schluss, mein Herz. Vergiss nicht, dass mein Bericht an Mutter anders lautet. Alles eitel Glanz und Wonne. Sie sorgt sich sonst zu Tode. Lasst bald wieder von euch hören, ich hungere nach lieben Worten von zu Hause! Sei herzlich gegrüßt von deiner Schwester Magda.“
Als Gabriele ihren Brief gelesen hatte, sah sie zur Mutter hinüber, deren Gesicht vor Freude strahlte.
„Gottlob, dass es Magda so gut getroffen hat, Gabi! Ich wünschte, du könntest auch mal so ins Leben hinaus. Was das Kind alles zu sehen bekommt und wie sie ihr junges Leben genießen kann! Du, meine arme Gabi, sitzt den ganzen Tag hinter dem Stickrahmen und sorgst dich mit mir um das tägliche Brot.“ Sie seufzte tief auf.
Gabriele lächelte. „Dafür bin ich daheim bei dir und den Kindern, Mutter. Da ist es am schönsten auf der Welt. Ich wäre gar nicht zufrieden, müsste ich fort von euch.“
„Wenn ich dir nur ein sorgloseres Leben schaffen könnte, dann würde ja alles gut sein.“
„Bisher ist immer alles gut gegangen, Mama, es wird auch weiter gehen. Wenn wir nur alle gesund bleiben und du deinen bösen Katarrh los wirst.“
„Ich hoffe, der Frühling und der Sommer werden mir Heilung bringen. Ich gehe dann jeden Tag eine Stunde in den Wald.“
„Besser wäre es, du könntest mal eine gründliche Kur machen. Der Husten schadet dir so sehr.“
„Das ist doch gar nicht so schlimm, wie du glaubst.“
Gabriele wusste es besser. Wie gern hätte sie der Mutter Linderung verschafft! Auch um Magda sorgte sie sich. Sie hätte so brennend gern all ihren Lieben geholfen. Und wenn sie sich entschließen konnte, Wendheim zu heiraten, dann war die Hilfe da. Sie brauchte nur die Hand auszustrecken. Aber das ging über ihre Kraft. Dieses Opfer konnte sie nicht bringen. Vielleicht, wenn ihr Herz nicht so innig Heinz Römer entgegengeschlagen hätte – vielleicht!
***
Am nächsten Abend holte Fred Mutter und Schwester ab. Walter und Friedel waren bereits zu Bett geschickt worden.
Als die Geschwister mit der Mutter in dem vornehm ausgestatteten Haus des Konsuls Haller anlangten, fanden sie schon einen großen Teil der Gesellschaft versammelt.
Die festlich erleuchteten Räume waren bereits von einer Menge Menschen belebt. Der Konsul und seine Gattin begrüßten Goßeggs herzlich, und Ingeborg Haller, ein kleines, sehr zartes Persönchen, hing sich sogleich in Gabrieles Arm. „Komm, Gabi, da drüben warten deine treuesten Verehrer schon schmerzlich auf dein Erscheinen.“
Fred trat zurück und begrüßte nun erst die maßgebenden Persönlichkeiten. Dann unterhielt er sich mit der etwas angejahrten Tochter seines Vorgesetzten und bat sie um die Ehre, sie zu Tisch führen zu dürfen.
Nachdem er so seiner Pflicht genügt hatte, suchte er sich Gesellschaft nach seinem Geschmack. In einem Kreis jüngerer Herren und Damen sah er seine Schwester neben dem Fabrikbesitzer Wendheim stehen. Gabriele wäre ihm gern ausgewichen. Sie konnte es aber nicht vermeiden, da er sofort auf sie zukam und sie mit strahlenden Augen begrüßte.
Während sich Gabriele notgedrungen bemühte, eine höfliche Unterhaltung mit Wendheim zu führen, sah sie oft verstohlen nach der Tür. Sie merkte kaum, dass man sie nach und nach mit dem Fabrikherrn allein ließ, und als es ihr bewusst wurde, bat sie ihn ruhig, sie zu ihrer Mutter zu führen.
Da trat aber Ingeborg Haller mit Fred zu ihnen heran. Die beiden hatten ein lustiges Wortgefecht eröffnet und warben um Anhänger für ihre Meinung.
Gabriele hörte kaum, was gesprochen wurde. Ihr Herz klopfte sehnsüchtig dem Einen, Einzigen entgegen, den sie zu treffen gehofft hatte. Auch Ingeborg Haller schien noch jemanden zu erwarten. Mit verhaltener Spannung sah sie zuweilen nach der Uhr, und ihr Gesicht verriet Ungeduld.
Schließlich konnte sie sich nicht mehr beherrschen. „Wo bleibt denn Ihr Freund Römer heute, Herr Goßegg?“, fragte sie. Gabriele durchzuckte ein scharfer Schmerz. Mit dem feinen Gefühl der Liebenden erkannte sie aus dieser Frage und aus Ingeborgs schlecht verhehlter Ungeduld, dass Heinz Römer der anderen nicht gleichgültig war. Ein Gefühl von Neid gegen die reiche Freundin stieg in ihr auf, dessen sie sich nicht erwehren konnte.
Während die vier jungen Leute zusammenstanden, hing jeder eigenen Gedanken nach. Wendheim beschloss, nicht lange mehr mit seiner Erklärung zurückzuhalten, und Fred philosophierte ein wenig über die ungerecht verteilten Güter der Welt. Gar zu gern hätte er Ingeborg Haller für sich gewonnen. Sie war immerhin hübsch und dazu lustig und leichtblütig. Ganz sein Geschmack. Es hätte ihn gar keine Überwindung gekostet, sich ein wenig in das zierliche, kleine Ding zu verlieben, zumal sie die einzige Tochter des reichen Konsuls Haller war. Aber er war klug genug, einzusehen, dass er mit einer Werbung abblitzen würde. Es war ihm klar, dass sein Freund Römer der Beneidenswerte war, den Ingeborg mit ihrer kleinen Hand beglücken wollte. Und da er im Grunde gutmütig war, gönnte er dem Freund, was er selbst nicht haben konnte.
Er beobachtete mit spöttischem Lächeln Ingeborgs Ungeduld, und als endlich Römer erschien, entging weder ihm noch Gabriele das freudige Aufblitzen in ihren Augen.
Heinz Römer kam geradewegs auf die Gruppe zu, nachdem er den Hausherrn und seine Gattin begrüßt hatte. Er drückte Ingeborg und Gabriele artig die Hand und begrüßte die beiden Herren in der ihm eigenen gewinnenden Weise. Dabei sah er aber Gabriele Goßegg mit seinen dunklen Augen so warm und innig an, dass sie hätte aufjubeln mögen. Für Ingeborg hatte er nur nichts sagende Artigkeiten. Das hinderte jedoch die junge Dame nicht, ihn sogleich mit Beschlag zu belegen.
„Herr Römer, wir haben nur noch auf Sie gewartet, um zu Tisch gehen zu können.“
„Gnädiges Fräulein, ich bedaure, dass ich nicht pünktlicher sein konnte. Sie hätten nicht so viel Rücksicht auf mich nehmen sollen.“
„Da Sie mich zu Tisch führen sollen, habe ich den Aufschub veranlasst“, sagte sie lächelnd und sah ihm viel sagend in die Augen.
Römer seufzte ein wenig.
Während er ihr höflich, aber kühl den Arm reichte und mit ihr davonging, hatte Gabriele fast unbewusst Wendheims Arm genommen und ließ sich von ihm zu Tisch führen. Zufällig traf es sich, dass Römer ihr anderer Nachbar wurde. Das machte sie sehr glücklich. So konnte sie während der endlosen Tafelei neben ihm sitzen und zuweilen ein Wort mit ihm sprechen.
Römer saß mit sehr gemischten Gefühlen zwischen den beiden jungen Damen. Ein wenig schmeichelte ihm die offenkundige Auszeichnung, die ihm Ingeborg zuteil werden ließ. Aber Gabriele Goßegg war ihm tausendmal lieber, obwohl sie arm war. Er liebte das schöne, schlanke Mädchen schon seit langem. Dass er Gabriele nicht heiraten konnte, wusste er so gut wie sie. Er war arm und hatte nichts gelernt, als ein guter Angestellter zu sein. Und auf die Beförderung auf einen höheren Posten endlose Jahre zu warten, um dann verbittert und vergrämt mit der verblühten Geliebten eine sorgenvolle Ehe zu führen – nein, dazu hatte er sie zu lieb, und auch für ihn wäre ein solcher Zustand unerträglich gewesen.
„Herr Römer, haben Sie das Gelübde ewigen Schweigens abgelegt?“, klang Ingeborgs etwas schrille Stimme in seine Gedanken hinein.
Er sah lächelnd in das schmale, braune Gesicht, aus dem ihn die schwarzen Augen so begehrlich anfunkelten. „Nein, gnädiges Fräulein. Ehrlich gesagt, ich empfand Hunger und dachte soeben daran. Das ist ein unverzeihliches Vergehen meiner liebenswürdigen Dame gegenüber. Ich wage gar nicht, um Verzeihung zu bitten.“
Sie sah mit zur Seite geneigtem Kopf zu ihm auf. „Das klingt nicht gut aus Ihrem Mund, ein Mann muss alles wagen, dem Kühnen gehört die Welt.“
„Also verzeihen Sie mir, meine Gnädigste?“
„Nur wenn Sie mir versprechen, nicht mehr so einsilbig zu sein.“
„Ich will mir Mühe geben, Ihre Zufriedenheit zu erringen.“
Fred Goßegg saß ihnen gegenüber. Er trank Heinz zu, und da ihn seine eigene Nachbarin nicht sehr fesselte, beschäftigte er sich in Gedanken mit den beiden Paaren ihm gegenüber. Nachdem die Hausfrau die Tafel aufgehoben hatte, wurde getanzt. Den Tischwalzer musste Heinz mit Ingeborg tanzen, aber gleich den nächsten Walzer erbat er sich von Gabriele.
Als sie, von seinen Armen umschlungen, dahinschwebte, hätte sie mit keiner Königin getauscht. Mitten im Gewühl der tanzenden Paare glitt sie aus und wäre gefallen, wenn Heinz sie nicht festgehalten hätte. Ganz dicht hatte er sie an sich gezogen, um sie vor dem Fall zu bewahren. Einen kurzen, seligen Augenblick hielt er sie an sein Herz gepresst, und er merkte, wie sie erbebte.
„Gabi, süßes Mädchen, dass ich dich so halten könnte in alle Ewigkeit“, flüsterte er ihr zu, unfähig, sich länger zu beherrschen.
Sie seufzte auf in seliger Wonne und sah ihm mit dem Ausdruck reiner, hingebender Liebe in die Augen. Nur einen kurzen Augenblick, dann tanzten sie weiter. Aber die Schranke, die sich Heinz selbst gezogen hatte, war durchbrochen von der Macht des Gefühls.
Er blieb plötzlich stehen und führte sie aus dem Gewühl der Tanzenden hinaus durch die stillen Nebenräume in einen kleinen, abseits liegenden Salon. Sie ging wie im Traum neben ihm her, ohne zu fragen, wohin. Bis ans Ende der Welt wäre sie so mit ihm gegangen.
Und dann stand er in dem kleinen, matt erleuchteten Raum vor ihr, und sie sahen sich an. Leise klang die Musik zu ihnen herüber. Wie von einer unsichtbaren Gewalt gedrängt, lagen sie sich plötzlich in den Armen und küssten sich, als wollten sie alle Seligkeit der Welt in diesem Kuss zusammendrängen.
Da verklang die Musik und das rief Heinz aus dem seligen Traumland in die raue Wirklichkeit zurück. Er ließ die Geliebte aus seinem Arm und sah ihr voll Schmerz in die Augen. „Mein geliebtes Mädchen, was hab ich getan? Gabi, süßes, liebes Geschöpf, ich habe nicht recht gehandelt, mich so fortreißen zu lassen. Verzeih mir, es war stärker als ich!“
Sie fasste erst den Sinn seiner Worte gar nicht. Aber dann begriff sie, und ein flehender Ausdruck trat in ihr Gesicht.
„Nicht – sprich jetzt nicht davon, Heinz, lieber Heinz, ich weiß alles, was du sagen willst! Aber jetzt wollen wir nicht daran denken, nur jetzt nicht. Gönne mir ein kurzes, ungetrübtes Glück, nur heute – und morgen. Ja? Dann will ich wieder ganz vernünftig sein; und du sollst es auch.“
Da war es mit seinem Heldentum vorbei. Er zog sie an sich und küsste sie wieder und wieder. „Hast du mich denn so lieb, mein Mädchen?“, fragte er innig.
„So lieb – so lieb – ach, Heinz – ich hätte es kaum noch ertragen, so fremd neben dir herzugehen.“
Er trat plötzlich von ihr zurück und lauschte hinaus. „Liebling, wir können hier nicht länger bleiben, ich muss auf deinen Ruf bedacht sein. Komm, wir müssen uns wieder zu den anderen gesellen!“
Sie strich sich das Haar zurück und sah aus verträumten Augen zu ihm hinüber. „Muss es schon sein?“
„Ja, du Süße, Einzige. Herrgott, dass ich dich ihnen nicht stolz und freudig als meine Braut vorstellen kann! Gabi, dass du dein Herz auch an solch armen Schlucker hängen musstest.“
„Lass uns heute nicht mehr davon reden, bitte, bitte!“
„Und morgen?“
Sie wehrte nur stumm mit der Hand ab.
„Liebling, kann ich dich nicht ein einziges Mal ungestört sprechen? Ich habe dir so viel zu sagen. Können wir uns morgen nicht irgendwo treffen? Eine einzige Stunde nur?“
Sie sann nach. „Ja“, sagte sie dann leise. „Es wird gehen. Morgen Nachmittag gegen fünf Uhr will ich dich im Stadtpark am Schillerdenkmal treffen. Um diese Zeit ist es menschenleer da draußen, und dunkel ist es auch schon. Ist es dir recht so?“
„Ja, mein geliebtes Herz. Und tausend, tausend Dank.“
Sie schritten nebeneinander wieder in den Saal zurück. Ihre Abwesenheit war nicht bemerkt worden.
Es waren glückliche Stunden, die beide an diesem Abend noch verlebten. Nur verstohlen konnten sie ab und zu Blicke und Worte tauschen. Aber sie genossen die schmerzliche Seligkeit mit unbeschreiblichen Gefühlen.
***
Am nächsten Tag ging Gabriele mit strahlenden Augen umher. Ängstlich wehrte sie alle Gedanken an die Zukunft von sich. Heute wollte sie noch glücklich sein. Walter und Frieda hatten es gut. Gabriele strich ihnen die Butterbrote besonders dick und sparte auch nicht mit der Sahne beim Kaffee. Aber sobald sie den Kaffeetisch abgeräumt hatte, machte sie sich zum Ausgehen fertig.
„Wo willst du hin, Gabi?“, fragte die Mutter verwundert. Gabriele wandte das errötende Gesicht von ihr ab. „Ich habe ein bisschen Kopfweh von gestern Abend. Lass mich eine Stunde hinaus, Mama!“
„Es beginnt aber schon dunkel zu werden.“
„Gerade deshalb. Im Dämmern kann ich nicht arbeiten.“
„Dann geh, Kind, und bleibe in belebten Straßen!“
Gabriele nickte nur. Dann war sie hinaus. Eilig lief sie einige Straßen hinab. Zehn Minuten später war sie im Stadtpark. Kein Mensch war ringsum zu sehen.
Am Denkmal löste sich eine dunkle Gestalt. Gabriele erkannte Römer. Da flog sie auf ihn zu, und stumm hielten sie sich umschlungen. Kuss um Kuss brannte auf den verlangenden Lippen. Die Welt versank ihnen in dieser Stunde. Und so viel hatten sie sich zu sagen, als sie Arm in Arm, eng aneinandergeschmiegt, auf und ab gingen! Im Licht des aufgehenden Mondes lasen sie die sehnsüchtige Sprache ihrer Augen und küssten sich wieder und wieder.
Aber dann mussten sie an das Ende denken, an die Trennung. „Liebling, wie soll ich es nur ertragen, dich von mir zu lassen? Ich war schon heute ganz krank vor Sehnsucht nach dir.“
Sie erschauerte. Nun war’s vorbei mit Glück und Liebe. Aber sie wollte sich ihm nicht mutlos zeigen, jetzt musste sie stark sein, für ihn und für sich. Sie zwang ein Lächeln in das erblasste Gesicht.
„Heinz, wir wollen mutig tragen, was uns das Schicksal auferlegt. Sieh, so reich sind wir durch das genossene Glück geworden, wir wollen dankbar dafür sein.“
„Mein herziges, liebes Mädchen. Oh, dass es eine Möglichkeit gäbe, dich zu halten! Süße, Liebe, wenn wir nun warteten.“
Sie schüttelte ernst den Kopf. „Nein, o nein. Ich könnte es nicht ertragen, dir eine Fessel zu sein. Sieh, ich habe ja immer gewusst, dass meine Liebe zu dir ein seliger Traum bleiben muss. Nun hab ich mein Glück sogar in Wirklichkeit erhalten. Da darf ich nicht undankbar sein. Und auch du musst mir versprechen, dich aufzuraffen. Lass dich nicht unterkriegen durch das Verlangen nach Unmöglichem! Versprich es mir, Heinz!“ Ihre Stimme brach.
Er küsste ihre Augen, ihren Mund, die schlanken, bebenden Hände. „Sei ruhig, mein Lieb, ich will alles tun, was du verlangst.“
Es schlug sechs Uhr. Gabriele löste sich aus seinen Armen. „Nun muss ich heim“, sagte sie tonlos.
Noch einmal hielten sie sich umschlungen, noch einmal pressten sich die Lippen aufeinander.
„Leb wohl, Liebling, leb wohl!“
„Leb wohl!“, sagte sie leise. Dann ging sie langsam davon. Er sah ihr nach, bis sie am Ausgang der Allee verschwunden war. Dann folgte er ihr langsam und suchte seine Wohnung auf zu einer Nacht voll Verzweiflung.
Gabriele bat ihre Mutter, als sie nach Hause kam, sich zu Bett legen zu dürfen. Ihr Kopfweh sei nicht besser geworden.
„Dir steckt die Müdigkeit von gestern noch in den Gliedern, Gabi. Geh und schlaf dich aus! Dann wird es morgen schon besser sein.“
Gabriele suchte ihr Lager auf. Aber sie schlief nicht. Still und reglos lag sie da und kämpfte mit ihrem sehnsüchtigen, aufbegehrenden Herzen, ohne Ruhe finden zu können. Entsagen – blieb das Fazit aller Gedanken.
***
Gabriele hatte Heinz nicht wiedergesehen, sie hörte auch nichts von ihm. Aber sie wusste, dass er ebenso um sie litt, wie sie um ihn. Frau Goßeggs Zustand verschlechterte sich in den rauen, stürmischen Februartagen. Gabriele beobachtete die Mutter mit heißer Sorge. Walter und Friedel waren immer schwerer satt zu bekommen. Die Fleischpreise stiegen immer höher, und da Frau Goßegg das Sitzen hinter dem Stickrahmen nicht mehr vertragen konnte, wurde der schmale Nebenverdienst geringer. Gabriele hatte sich von Magda fünfzig Mark schicken lassen. Sie halfen nicht weit. Dann musste man doch einen Arzt holen. Er verschrieb Arznei und riet Frau Goßegg, einige Monate nach dem Süden zu gehen. Das war sehr leicht gesagt, aber in Wirklichkeit ganz unausführbar.
Fred war auch sehr missmutig. Er war knapper bei Kasse denn je, und weder Gabriele noch die Mutter konnten ihm jetzt helfen. Herbert Wendheim hatte eine notwendige Geschäftsreise antreten müssen. Während seiner vierzehntägigen Abwesenheit war er mit sich ins reine gekommen, dass er nach seiner Rückkehr um Gabriele Goßeggs Hand anhalten wollte.
Gleich am ersten Abend nach seiner Heimkehr suchte er das Klubhaus auf. Er traf, wie er gehofft hatte, Gabrieles Bruder dort.
Ohne Umschweife erkundigte er sich nach dem Befinden der Damen. Fred berichtete ihm, dass seine Mutter leidend sei. „Darf ich mich morgen selbst nach dem Befinden Ihrer Frau Mutter erkundigen, oder empfängt sie keine Besuche?“
„Doch, Mutter ist ja nicht gezwungen, das Bett zu hüten. Sie wird sich freuen, Sie bei sich zu sehen.“
„Herr Goßegg, ich habe einen besonderen Grund, der mich zu Ihrer Frau Mutter führt. Ich will Ihnen gegenüber kein Geheimnis daraus machen. Ihrer Verschwiegenheit bin ich sicher. Wird es Ihrer Frau Mutter nicht schaden, wenn ich in einer sehr wichtigen Angelegenheit komme?“
Fred wusste sofort, welche Angelegenheit gemeint war. Noch einmal regte sich die Hoffnung in ihm, Gabriele könnte vernünftig sein. „Wenn Sie wünschen, kann ich Mutter auf ihren Besuch vorbereiten.“
Wendheim drückte ihm die Hand. „Tun Sie das, Herr Goßegg! Sie verpflichten mich zu großem Dank. Sagen Sie bitte Ihrer Frau Mutter, dass ich ihr morgen eine Frage vorlegen möchte, von der mein Lebensglück abhängt. Und bitte, grüßen Sie Ihr Fräulein Schwester!“
Das war deutlich genug. Fred wurde der Kragen eng, Herrgott, wenn das Mädel Vernunft annehmen wollte!
Er versprach Wendheim, seinen Auftrag auszurichten. Dieser entfernte sich bald darauf aus dem Klubhaus. Es war halb neun Uhr. Fred überlegte, dass er am besten gleich nach Hause zu seiner Mutter ging.
Er verabschiedete sich kurz von seinen Kameraden. Heinz Römer saß, wie immer in der letzten Zeit, stumpf brütend in einem Sessel.
„Gute Nacht, Heinz!“
„Gute Nacht, Fred! Wo willst du hin?“
„Nach Hause. Will sehen, wie es meiner Mutter geht.“
„Ich wünsche ihr gute Besserung und“, er brach ab. Nein, es war besser, er bestellte keinen Gruß an Gabriele.
Fred ging.
Ein heftiger Schneesturm machte ihm das Gehen schwer. Er brauchte fast eine halbe Stunde für den Weg.
Gabriele saß am Tisch über ihrer Stickerei, als er eintrat, und die Mutter lag am Ofen in einem Lehnstuhl. Überrascht sahen ihn die beiden an.
„So spät noch, Fred, und bei dem abscheulichen Wetter?“
„Das stört einen Mann nicht, Mutter. Wie geht es dir?“
Sie lächelte. „Ganz erträglich. Ihr macht viel zu viel Aufhebens von dem bisschen Katarrh. Der vergeht von selbst wieder.“
„Ja, Mama, das wollen wir hoffen. Nun will ich mal erst den Trabanten „Gute Nacht“ sagen. Walter öffnete mir die Tür schon im Nachthemd.“
Er ging hinüber und rief den beiden Kindern einen Gruß zu. Dann kam er zurück und setzte sich zu Mutter und Schwester. „Gabi, willst du mir einen Gefallen tun?“
„Gern, Fred.“
Er sah in ihr Gesicht. Sie erschien ihm auffallend blass. Das arme Ding sorgte sich auch zuschanden! Und sie konnte es so gut haben, wenn sie Vernunft annahm.
„Bitte, bereite mir eine Tasse Tee! Es ist wirklich recht kalt draußen. Etwas ‚Geistiges‘ habt ihr nicht im Haus?“
„Nein, aber Tee sollst du gleich haben.“
Sie erhob sich und ging hinaus. Fred rückte seiner Mutter näher. „Mama, ich habe Gabi absichtlich fortgeschickt. Wendheim war bei mir im Klub. Er will euch morgen besuchen, um dir eine wichtige Frage vorzulegen. Natürlich will er um Gabi anhalten, das ist klar. Kannst du ihr nicht ein wenig zureden? Es wäre so gut für uns alle und für Gabi ein großes Glück.“
Frau Goßeggs Augen glänzten. „Ach Gott, Fred, wenn ich das erlebte! Aber ich fürchte, es ist nichts zu machen. Gabi ist in letzter Zeit so besonders still und verschlossen.“
„Ist ja kein Wunder. Die Sorgen reiben sie auf, Mama, du musst deinen ganzen Einfluss aufbieten.“
„Das will ich tun, aber erzwingen will ich es nicht. Wenn sie unglücklich würde –“
„Aber Mama, mit einem Mann wie Wendheim kann eine Frau gar nicht unglücklich werden. Dazu ist er viel zu gut. Und gesund und stattlich ist er auch. Wenn sie erst seine Frau ist, wird sie uns Dank wissen, dass wir sie dazu gedrängt haben.“
Frau Goßegg sah vor sich hin. Gabis Herz war frei – so glaubte. sie. Es konnte ihr nicht so schwer fallen, Wendheim lieb zu gewinnen.
„Ich will mit Gabi sprechen, und Gott mag geben, dass meine Worte bei ihr Gehör finden“, sagte sie leise.
***
Als Gabriele an diesem Abend zur Ruhe gegangen war, kam die Mutter zu ihr ans Bett und setzte sich zu ihr. „Gabi, mein liebes Kind, morgen wird Wendheim zu uns kommen und um dich anhalten.“
Gabriele fuhr empor und sah die Mutter erschrocken an. „Mama!“
Die alte Dame strich ihr beruhigend das Haar aus der Stirn. „Kind, erschrick nicht so sehr! Es ist kein Unglück, wenn ein achtbarer Mann um dich anhält. Was hast du nur gegen ihn?“
„Nichts, ach nichts, Mama. Aber ich liebe ihn nicht, wie man den Mann lieben soll, dem man sich fürs Leben zu Eigen gibt.“
„Du lernst es vielleicht, nein, gewiss, wenn du erst seine Frau bist.“
„Nie, Mama, nie!“
„Das ist ein flüchtiges Wort, mein Kind; solch ein ‚Nie‘ ist oft in wenigen Wochen widerlegt worden, glaub es mir.“
„Ach Gott, Mama, es kann doch nicht sein, er soll nicht um mich anhalten, mach ihm das begreiflich! Es würde mir weh tun, ihn verletzen zu müssen.“
„Es wäre aber doch so ein großes Glück für dich und für uns alle.“
„Nicht für mich, gewiss nicht für mich.“
„Kind, das kannst du vorher nicht behaupten, es kommt oft ganz anders im Leben, als man denkt. Du weißt, wie es mir ergangen ist, ich habe es dir erzählt. Ich hatte mir mein Glück ertrotzt, und als ich’s erhielt, da zerfiel es in nichts.“
„Ich weiß, ich weiß, liebe Mama, und ich habe es bedacht, mehr als du weißt, habe es mir immer vorgesagt. Aber was du von mir verlangst, kann ich nicht tun.“
Frau Goßegg seufzte und machte ein vergrämtes Gesicht. Ihr Anblick schnitt Gabriele ins Herz.
„Mama, verzeihe mir, sei nicht bös!“
„Liebes Kind, ich wollte nur dein Bestes. Vielleicht überlegst du dir alles noch einmal reiflich. Tu es mir zuliebe! Wenn Wendheim morgen kommt, weise ihn nicht sofort ab, bitte dir Bedenkzeit aus! Willst du das tun?“
Gabriele warf sich in ihr Kissen zurück. „Wenn es dich beruhigt, so will ich es tun, Mama.“
„Ja, Gabi, es beruhigt mich. Gute Nacht, mein Kind!“
„Gute Nacht, Mutter, meine arme Mutter!“
Die alte Dame küsste Gabriele auf die Stirn und ging hinaus. Gabriele sah ihr mit leidvollen Augen nach. Wie verfallen und elend die Mutter in letzter Zeit aussah! Wenn etwas für sie getan werden konnte, dann musste es bald geschehen, sehr bald.
War es nicht schlecht, selbstsüchtig von ihr, dass sie sich in ihren Schmerz vergrub und nichts tat, um ihrer armen Mutter zu helfen? Nicht nur der Husten, viel mehr die Sorgen rieben sie auf. Wenn man ihr die Sorgen nahm, ihr kräftige Speisen verschaffen konnte, dann würde sie bald auch von dem quälenden Husten befreit sein. Und ihr das zu verschaffen, lag in ihrer Hand. Sie brauchte nur morgen zu Wendheim zu sagen: „Ja – ich will.“ Dann war der Mutter geholfen, und Magda konnte da draußen die drückende Stellung aufgeben und bei der Mutter bleiben, bis sie wieder gesund und kräftig war. Walter konnte das Gymnasium besuchen und später studieren. Auch Fred würde sie nützen, wenn sie sich zu diesem Opfer entschloss. Alle würden sie sich freuen und glücklich sein. War das nicht eines Opfers wert? Aber würde sie nicht den gütigen Mann, der sie liebte, betrügen und belügen, wenn sie seine Werbung annahm? Verdiente er das? Nein, tausendmal nein, das konnte, das durfte sie nicht tun! Sie musste ihm wenigstens die Wahrheit sagen, dass ihr Herz einem anderen gehörte.
Und dann dachte sie an Heinz Römer. Wenn er nun erfuhr von Wendheims Werbung? So etwas blieb ja nicht verborgen. Wenn er hörte, dass sie willens gewesen war, Wendheims Gattin zu werden? Würde er sie nicht verurteilen, verachten? Aber dann vergaß er sie am Ende schneller, und sein Herz löste sich von ihr. Warum zitterte ihr das Herz bei diesem Gedanken? War es nicht das beste so? Aber nein, nein – nicht von anderen Menschen sollte er es hören, sie selbst wollte es ihm sagen – ja, so sollte es sein.
***
Wendheim war von Frau Goßegg empfangen worden. Er hatte in schlichten, warmen Worten seine Werbung vorgebracht. Die alte Dame hatte ihn mit bang klopfendem Herzen angehört.
„Lieber Herr Wendheim, Ihr Antrag ehrt uns sehr. Doch kann und will ich meiner Tochter nicht vorgreifen. Ich lege die Entscheidung in ihre Hände; denn die Frage betrifft ihr Lebensglück. Dass Sie mir als Schwiegersohn willkommen wären, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Sie sind ein Ehrenmann, und Ihre Verhältnisse würden anspruchsvolleren Menschen als mir genügen. Ich will keinen Hehl daraus machen, dass ich glücklich wäre, mein Kind so glänzend versorgt zu wissen. Wer immer in bescheidenen, ja drückenden Verhältnissen gelebt hat wie ich, der weiß ein sorgloses Leben zu schätzen. Ich gönnte es meinem Kind von Herzen. Aber ich will Ihnen nun Gabi hereinschicken, sie mag Ihnen selber Antwort geben.“
Er küsste ihr stumm die Hand und sah, als sie gegangen war, erwartungsvoll nach der Tür.
Da trat Gabriele herein. Dass sie sehr bleich aussah, entging ihm nicht.
Sie reichte ihm die schlanke, kühle Hand. Er merkte, dass sie zitterte. Das gab ihm die Ruhe zurück. Gabriele übte in ihrer ernsten, stillen Anmut einen unwiderstehlichen Zauber auf ihn aus.
Er sagte ihr nun mit warmen, herzlichen Worten, wie sehr er sie liebe und dass es ihn unsagbar glücklich machen würde, wenn sie sich entschließen könnte, seine Frau zu werden.
Sie ließ ihn zu Ende reden, ohne den Blick zu heben. Dann erst sah sie ihm mit den ernsten, jungen Augen voll ins Gesicht.
„Ich muss Sie herzlich bitten, in diesem Augenblick keine bündige Erklärung von mir zu verlangen“, begann sie leise. „Lassen Sie mir Zeit, mich zu prüfen. In wenigen Tagen, vielleicht morgen schon, will ich Ihnen meinen Entschluss mitteilen.“
„Ich muss mich Ihrem Wunsch fügen, so schwer es mir fällt, mein liebes, gnädiges Fräulein. Bitte, lassen Sie mich nicht zu lange warten und bedenken Sie, dass Sie das Glück eines Menschen in der Hand halten!“ Er reichte ihr die Hand.
Sie legte die ihre hinein. „Ich will es nicht vergessen“, sagte sie.
Dann wandte sie sich ab, um ihre Mutter hereinzurufen, damit sich Wendheim von ihr verabschieden konnte. Er sah ihr nach mit sehnsüchtigem Blick. Wie er sie liebte, das ernste, stille Mädchen, wie der Gedanke, sie besitzen zu dürfen, ihm alle Ruhe und Besonnenheit zu nehmen drohte!
Frau Goßegg kam herein und sah bang von einem zum anderen.
„Ihr Fräulein Tochter bittet sich Bedenkzeit aus, gnädige Frau. Darein muss ich mich fügen. Ich hoffe jedoch von ganzem Herzen, dass es mir bald vergönnt sein möge, mich als ein Mitglied Ihrer Familie zu betrachten. Sie gestatten, dass ich mich jetzt zurückziehe. Gnädiges Fräulein, gnädige Frau – ich habe die Ehre.“
Er küsste den beiden Damen die Hand, sah noch einmal flehend in Gabrieles Augen und ging. Mutter und Tochter blieben allein.
Gabriele umfasste die Mutter. „Was ich tun kann, will ich tun, Mutter, dir zuliebe“, sagte sie leise und küsste die alte Dame auf den grauen Scheitel. Dann ging sie hinaus.
Mit fliegenden Händen nahm sie im Nebenzimmer aus ihrem kleinen Schreibtisch Briefpapier. Auf einen schlichten weißen Bogen schrieb sie mit etwas unsicherer Hand.
„Mein geliebter Heinz! Bitte, komme morgen Nachmittag um vier Uhr noch einmal an das Schillerdenkmal. Ich muss dich auf jeden Fall sprechen. Solltest du verhindert sein, bestimme eine andere Zeit. Du brauchst mir nur einen Zettel mit der Zeitangabe zuzusenden.
Deine Gabi“
Sie machte sich dann zum Ausgehen fertig, um den Brief zur Post zu bringen.
Dann ging sie mit müden Schritten heimwärts.
Wieder eine schlaflose, schmerzdurchwühlte Nacht – wieder in kurzen Zwischenräumen die peinigenden Hustenanfälle der Mutter. Die Stunden schlichen dahin wie Ewigkeiten. Dann kam der neue Tag mit seinen Pflichten. Wie langsam er verging!
Nun war es halb vier Uhr. Heinz hatte keine andere Nachricht geschickt, also würde er zur Stelle sein.
Sie verabschiedete sich von der Mutter. Frau Goßegg fragte nicht, wohin sie gehen wollte. Sie hatte beschlossen, Gabriele ruhig sich selbst zu überlassen.
Heinz erwartete Gabriele schon an der bezeichneten Stelle.
Sie war dicht vor ihm stehen geblieben und reichte ihm die Hand. Er drückte sie so fest, dass der Schmerz ihr Tränen in die Augen trieb. Aber kein Laut kam über ihre Lippen.
Sie schritten langsam nebeneinander dahin. Beide kämpften mühsam die eigene Bewegung nieder. Endlich sagte Gabriele leise: „Ich wollte dir etwas sagen, was du nicht von Fremden hören sollst. Herbert Wendheim hat gestern um meine Hand angehalten. Meine Mutter wünscht sehr, dass ich ihm mein Jawort gebe. Ich habe mir Bedenkzeit von ihm erbeten.“ Sie sagte das alles so eintönig, als sei es eine Fremde, die diese Worte sprach.
Er sah sie an. Jetzt erst fiel ihm auf, wie elend sie aussah. Tiefe Ringe lagen um ihre Augen und zeugten von durchwachten Nächten.
Fest presste er ihren Arm in den seinen. „Mein Lieb, mein armes, süßes Lieb, dass ich dich nicht für mich behalten kann“, sagte er mit heiserer Stimme.
Ein schattenhaftes Lächeln glitt über ihr Gesicht. „Solch ein Glück gibt es nicht für uns“, sagte sie traurig.
„Und was willst du nun tun, meine geliebte Gabi?“
Sie blieb stehen und sah ihn mit todtraurigen Augen an. „Bei uns zu Hause steht es sehr schlecht, und Mama hofft auf mein Jawort wie auf eine Erlösung von Not und Qual. Ich darf jetzt nicht an mich denken und bin entschlossen, Wendheim mein Jawort zu geben. Betrüben kann und will ich ihn aber nicht. Ich werde ihm sagen, dass mein Herz einem anderen gehört. Vielleicht verzichtet er dann auf mich – Heinz, ach Gott, Heinz, glaubst du nicht, dass er es tut?“
„Ich weiß es nicht, Gabi. Ich kenne Wendheim kaum. Sag mir, mein Lieb, magst du ihn leiden?“ Heiße Eifersucht verriet sich in dieser Frage.
„Er war mir gleichgültig, aber nicht unsympathisch bis jetzt.“
„Und nun?“
Sie schloss die Augen und bog den Kopf in den Nacken zurück. „Frag mich nicht danach!“
Er nahm ihren Kopf in seine Hände. „So kommst du, um Abschied von mir zu nehmen für ein ganzes Leben. Liebling, sieh mich noch einmal an!“, bat er mit unsicherer Stimme.
Sie tat es. Tief senkte sich ihr Blick in den seinen.
Wenn ich jetzt sterben könnte, dachte sie erschauernd. Sie sprach aber nicht, sah ihn nur an.
„Nun muss ich gehen“, sagte sie endlich mit brechender Stimme.
„Mein süßes, liebes Herz, dass ich dich lassen muss.“
„Dass ich dich lassen muss“, wiederholte sie wie im Traum. Dann aber raffte sie sich auf. „Leb wohl, Heinz, geliebter Heinz!“
Sie drückte krampfhaft seine Hand. „Leb wohl, Gabi, mein Glück, leb wohl!“
Er umfasste sie und küsste ihre Lippen. Erst leise und zart, aber dann schlug es wie eine heiße Welle über beiden zusammen. Sie küssten sich, als wollte eins des anderen Seele trinken.
Sie erzitterte in seinen Armen. Dann riss sie sich plötzlich los und lief davon wie gejagt.
Weinend winkte sie noch einmal mit der Hand; er gab den Gruß zurück. Da floh sie davon – sie floh vor sich selbst.
In unbeschreiblichem Zustand kam sie nach Hause. Ihre Mutter sah besorgt in die fieberhaft glänzenden Augen und drang darauf, dass Gabriele zu Bett ging. Sie öffnete ihr die Kleider, zog ihr Schuhe und Strümpfe aus und rieb die frosterstarrten Füße warm. Dann legte sie ihr einen Umschlag auf die heiße Stirn und streichelte immer wieder die blassen Wangen.
Walter und Frieda verhielten sich mäuschenstill. Es war so eigen, so sonderbar, dass Gabi krank sein sollte. Sie konnten es nicht fassen. Und Gabriele ließ alles stumpf über sich ergehen. Die Stunde, die hinter ihr lag, war ihr so furchtbar schwer geworden, dass sie meinte, nichts im Leben könnte sie härter treffen.
Am nächsten Morgen aber stand sie auf, trotz aller Bitten der Mutter. Ihre gesunde Jugendkraft bäumte sich auf gegen das Fieber, das sie hatte befallen wollen. Sie wollte nicht krank sein, weil sie wusste, die Mutter war zu schwach, um sie zu pflegen und den Haushalt zu besorgen. Und es ging.
***
Die Wendheimsche Fabrik lag vor der Stadt am Fluss. Das große Haus umschloss ein stattlicher Hof, der meist mit Kisten und Ballen bedeckt war. Die eine Seite des Hofs war mit Glasdach überdacht, damit bei Regenwetter die Waren geschützt lagen. Reges Treiben herrschte hier von früh bis spät. Das Klappern der Webstühle drang heraus, und das Stampfen der Maschinen verursachte viel Lärm.
Deshalb waren wohl die Kontore nach dem Fluss hinaus gelegt worden. Hier hatte auch Herbert Wendheim sein Privatkontor. Von dem mächtigen Schreibtisch aus, der an einem der breiten Fenster stand, hatte der Fabrikherr eine weite Aussicht über Felder und Wiesen.
Der junge Fabrikherr pflegte den Weg nach der Fabrik zu Pferd zurückzulegen. Eben war er in sein Privatkontor eingetreten, als ihm die Post gebracht wurde, die nicht an die Firma, sondern an ihn persönlich adressiert war. Während er die Handschuhe auszog, blickte er darauf nieder, und dann griff er schnell nach einem schmalen Brief, der weibliche Schriftzüge trug.
Seine Hand zitterte ein wenig, als er ihn öffnete. Er ahnte, dass dieses Schreiben von Gabriele Goßegg kam. Brachte es ihm das heiß ersehnte Glück oder eine Ablehnung seines Antrags?
Wendheims Blick flog über die gediegene, vornehme Ausstattung des Raumes und dann zum Fenster hinaus über den Fluss.
Endlich überwand er die Mutlosigkeit und begann den Brief zu lesen.
„Sehr geehrter Herr Wendheim!