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Als die Kripo den toten Paul Hellmer findet, ahnt sie noch nicht, in welchem Zusammenhang er mit weiteren Toten steht. Ein kleines Tattoo auf seiner linken Schulter führt die Ermittler zu einer Burschenschaft, die offensichtlich zur Tarnung einer dahinter stehenden Organisation benutzt wird, die mit brutaler Gewalt ihre Ziele durchsetzt. In diesem Zusammenhang formiert Susanne Treber eine Gruppe junger Frauen, aus deren Mitte die Morde scheinbar geschehen. Sie sind gut organisiert. Zug um Zug wird klar, dass sie Vergewaltigungsopfer sind und Rache suchen. Mehr zufällig lernt Susanne Peter Brock, einen Anwalt, kennen, der die Geldgeschäfte der Organisation führt. Die Frauen bekommen einen Hinweis von einer Unbekannten und entführen Brock. Susanne Treber und ihre Gruppe geraten immer mehr unter Verdacht. Hauptkommissarin Claudia Plum muss weit in die Vergangenheit zurück, um dem heutigen Geschehen auf die Spur zu kommen.
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Seitenzahl: 464
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Impressum neobooks
Aachener Zeitung
… mit einer deutlichen Sprache, die das hiesige Land hergibt, die sein schreiberisches Talent aber nicht vor eine unlösbare Aufgabe stellt, skizziert Weyand die Landschaft um seine Historien herum. Eigenheiten, lokale Spezialitäten und auch Dialekte lässt Weyand herzerfrischend aufblühen und bindet sie scheinbar mühelos in sein Schreiben ein.
Aachener Nachrichten
… sondern als einer, der feine Charaktere ausarbeiten kann.
… das nur noch vom Hörensagen her zu erkennen ist, wird bei Herbert Weyand zu lebendiger Geschichte.
Geilenkirchener Zeitung
… gelang Herbert Weyand ein Volltreffer.
… bedient er sich verschiedener Figuren, die alle auf ihre Art einzigartig sind und dennoch typisch für ihre Zeit zu sein scheinen.
Herbert Weyand
KHK Claudia Plum
6. Fall
Heidesumpf
Kriminalroman
Copyright © 2017 Herbert Weyand:
»KHK Claudia Plum 6. Fall« »Heidesumpf«
All rights reserved.
Titelbild: © 2017 Laura Schruff
Herbert Weyand
52511 Geilenkirchen
Erstellt mit Papyrus Autor, www..papyrus.de
»Der Tod ist gegen dreiundzwanzig Uhr eingetreten. Aber …«
»Danke Thilo. Ich weiß schon. Genaueres nach der Obduktion.« Kriminalhauptkommissarin Claudia Plum unterbrach den Gerichtsmediziner. Sie sah auf das Opfer, einen unscheinbaren Mann, von Anfang bis Mitte fünfzig. Die braune Tuchhose hing, auf links gestülpt, über dem rechten Fuß. Der braune elegante Slipper, am anderen Fuß, spiegelte das Licht der Deckenlampe. Der weiße Hintern reckte sich seitlich in die Höhe. Entlang der Furche wucherten drei dunkle Haarbüschel, wie Riedgrasinseln. Das schreiend bunte Hemd hing vom Kragenknopf gehalten am Hals. Es breitete sich um ihn herum aus. Die Züge des Mannes zeigten Entspannung und etwas wie Frieden. Ungewöhnlich, angesichts der Tatsache, dass der Penis mittels zwei Drahtstiften, mit übergroßen Köpfen, wie sie zur Befestigung von Dachpappe Verwendung fanden, auf dem Dielenboden festgehalten wurde. Die Blutlache um das gute Stück zeugte von funktionierendem Blutkreislauf zum Zeitpunkt der Tat.
Claudias Nerven kribbelten, angesichts der Vorstellung, was der Tote empfunden haben mochte. Sie schüttelte sich.
In ihre Wahrnehmung rückten drei dicke Ringe an den Fingern der linken Hand. Zwei Goldklunker mit wahrscheinlich echten Steinen. Dadurch fiel das dritte Schmuckstück besonders ins Auge. Ein Siegelring. Genauso protzig wie die anderen. Allerdings blieb Claudias Blick darauf hängen. Das Bild des Siegels ließ eine Saite in ihr anklingen, jedoch mehr nicht. Sie legte keine Konzentration auf diese Ahnung, sonst spukte der Gedanke noch am nächsten Tag, ohne Ergebnis, durch den Kopf.
Der Blick der Hauptkommissarin glitt durch den Raum, in dem der Tote lag. Die Einrichtung ohne Protz. Eher gediegen und teuer. Kolonialstil. Nicht die Möbeldiscountvariante, sondern echt. Auch, wenn die Gebrauchsspuren kaum auszumachen waren. Geschmackvolle Gemälde an den Wänden zierten den Raum sowie andere Kunstgegenstände. Darauf würde sie später zurückkommen. Etwas störte sie. Trotz aller Sorgfalt lebte das Zimmer nicht. Keine Ausstrahlung. Kein Leben. Genau, das war es: kein Zeichen von Leben.
»Du hast recht.« Hauptkommissar Heinz Bauer stand etwas abseits. Er folgte der Kollegin und Chefin mit den Augen. »Diese Hütte ist steril. Ein Museum. Eine Ausstellung.«
Sie nickte, keineswegs erstaunt darüber, dass er ihre Gedanken erfasste. In ihrer kleinen Truppe, zu der auch Oberkommissarin Maria Römer gehörte, kannten sie sich in- und auswendig. »Wie viele Räume hat das Haus?«, fragte sie.
»Neun. Drei hier in Parterre und sechs oben«, gab Heinz zurück.
Sie nickte. Wie bei vielen alten Häusern wurden durch das Wegbrechen von Wänden die Zimmer vergrößert. Sie kannte den Toten. Paul Hellmer ... eine stadtbekannte Persönlichkeit. Ein Kunstmäzen, von dem niemand mehr den Durchblick hatte, woher sein Reichtum kam. Viele munkelten von Mafia, Ku-Klux-Klan und anderen exotischen Verbrecherorganisationen. Selbst die NSDAP wurde genannt. Sie fand das überspannt, aber in jedem Gerücht lag ein Körnchen Wahrheit. Wahrscheinlich verdiente er sein Geld nicht mit ehrlicher Arbeit. Auf jeden Fall wusste weder sie noch viele andere, woher sein Wohlstand kam.
Claudia Plums graue Augen fixierten einen imaginären Punkt, während ihre Gedanken kreisten. Sie maß eins siebzig und trug heute ein dunkelgraues Kostüm. Der Rock endete zwei Fingerbreit über dem Knie. Das braune Haar fiel, leicht gelockt, bis auf die Schultern. Die Jacke spannte leicht über den breiten Schultern und der Brust. Insgesamt bot sie trotz ihrer Fraulichkeit eine sportliche Erscheinung. Anfang dreißig … na ja … fast zweiunddreißig. Sie übernahm vor etwas mehr als zwei Jahren das Dezernat für Tötungsdelikte.
Trotz ihres Alters blickte sie auf einen steilen Aufstieg beim LKA in Düsseldorf zurück. In zwei spektakulären Mordfällen, sogenannte kalte Fälle, die bei den Akten verschimmelten gelang ihr die Aufklärung. Für die fällige Beförderung zur Hauptkommissarin fehlte die entsprechende Planstelle. Es sei denn, die Bewerbung in den Innendienst. Darauf hatte sie keine Lust und bewarb sich nach Aachen. So lautet die offizielle Geschichte. In Wahrheit uferte das Verhältnis zu einem verheirateten, vorgesetzten Kollegen aus, sodass es angebracht schien, den Berufsstandort zu wechseln.
Gleich bei ihrem ersten Fall, traf sie hier im platten Hinterland Aachens, auf Kurt Hüffner, der Liebe ihres Lebens.
Claudias Gesicht trug einen ständig distanzierten Ausdruck und schreckte viele, die sich ihr näherten. Sie besaß Ausstrahlung und beherrschte die Szene sofort, wenn sie, sie betrat. Sie bemühte sich immer um Perfektion und verdeckte ihre Unsicherheiten perfekt. Als größtes Manko sah die Hauptkommissarin ihre emphatische Veranlagung. Ihre Sensoren filterten die feinsten Schwingungen des Umfeldes heraus. Die Kollegen des Teams verdrehten die Augen, wenn ihr Bauchgefühl wieder zuschlug. Dabei stimmte der vorauseilende Ruf, sie löse ihre Fälle aus dem Bauch heraus, nur teilweise. Letztendlich fügte der analytische Verstand, Fakten und Gefühle zu erfolgreichen Ergebnissen.
Vor einem Jahr heiratete sie ihren Hinterwäldler und lebte mit Kurt, in dem kleinen Heidedorf. Dort wo sich Fuchs und Gans Gute Nacht sagten … dort, wo die Gehwege jeden Abend hochgeklappt wurden, damit niemand stolperte. Nicht, dass jemand einen Bürgersteig benötigte. Grundsätzlich liefen die Dörfler mitten auf der Straße, sei es mit Kinderwagen oder Schubkarre. Für Claudia bedeutete es einen gewaltigen Schritt aus der Großstadt heraus, in dieses verschlafene Kaff. Jedoch liebte sie mittlerweile die Ruhe und das Bewusstsein, dass hier die Uhren anders tickten. Zeit war relativ, besonders hier. Immer wieder blieben einige Minuten für eine kurze Unterhaltung, die den alltäglichen Tratsch zum Inhalt hatte. Zeit, die sie nicht besaß und dennoch aufbrachte.
Sie brachte Aufregung in das Dorf, als sie ihren Mädchennamen behielt. Die Empörung legte sich schnell. Eine Zugezogene störte nicht das dynastische Gefüge und die Besitzverhältnisse der Einheimischen.
Kurt restaurierte das alte Bauernhaus, dessen Rückseite zum Heidegebiet hinaus ging. Zwischen dem Saum des Waldes und der Grundstücksgrenze lagen keine dreihundert Meter. Zurzeit baute er einen Kuhstall zum Pferdestall um. Drei Baustellen auf dem Grundstück entsprachen der Norm. Je nach Jahreszeit reichte es für vier oder fünf. Der Job ließ ihm im Grunde wenig Zeit für die Restaurierungsarbeiten.
Jedoch siegte in dieser Hinsicht sein Eigensinn, nach dem Motto: Selbst ist der Mann. Seit er Claudia kannte, besser gesagt, gerade weil er sie kennenlernte, ließ er es ruhiger angehen. Na ja … ganz freiwillig trat er nicht kürzer. Kurt steckte die unglaublich neugierige Nase immer wieder in Claudias Fälle. Diese Vorwitzigkeit kostete ihn fast das Leben. Ein Gutes entwuchs aus dieser Angelegenheit: Er sah, dass es mehr, als nur Arbeit, im Leben gab. Von Haus aus hatte er einiges in petto, sodass er die feste Beschäftigung bei der RWTH reduzierte. Jetzt erledigte er viele berufliche Aufgaben von zu Hause aus. Das wiederum gab ihm Zeit und Flexibilität, in Claudias Arbeit hineinzuwirken. Claudia beobachtete die Entwicklung mit zwiespältigen Gefühlen. Zudem entwickelte Kurt ein Gespür für Leichen. Wenn es im Umkreis von zwanzig Kilometern eine Leiche gab, konnte sie sicher sein, dass er darüber stolperte. Was nicht ohne Komplikationen blieb.
Die Entscheidung, in diesem kleinen Heidedorf zu leben, kam einer Rückkehr gleich. Denn im Grunde gehörte sie hierher. Claudia wurde hier geboren. Na ja. Nicht hier, sondern im nahe gelegenen Krankenhaus, weshalb auch Würselen, als Geburtsort angegeben wurde. Das erfuhr sie jedoch erst, nachdem sie einige Zeit mit Kurt zusammenlebte. Eine Kindheit erlebte sie hier nicht, denn die Eltern zogen nach Düsseldorf, bevor sie bewusste Erinnerungen aufbaute. Erst vor Kurzem erfuhr sie, dass der gewaltsame Tod ihres Bruders den Umzug veranlasste. Bis dahin hatte sie von der Existenz des Geschwisterteils keine Ahnung. Er wurde bei seiner Erstkommunionfeier ermordet. Sie erlebte die grausame Tat mit. Der kindliche Verstand verschloss die Tat tief in ihrem Innern und es blieb das Gefühl eines Verlustes, das sie ständig begleitete. Die Erinnerung daran, kam, in einem schmerzhaften Prozess, während einer spektakulären Entführung auf dem Aachener Katschhof. Sie überführte den Mörder und befreite sich von der bis dahin unbekannten Last, die sie verfolgte.
Wie das Leben so spielte, führte es Claudia an die Wurzeln ihrer Familie zurück. Sie mochte nicht mehr an Zufall glauben, denn das alte Bauernhaus, das sie mit Kurt bewohnte, stellte sich als das ehemalige Heim ihrer Großeltern heraus.
Mittlerweile kannte sie das Dorf gut genug, um zu wissen, dass nichts ohne Grund geschah. Ihre empathischen Empfindungen, die sie einerseits in ihrem Beruf nutzte, wirkten andererseits störend im täglichen Leben. Hier mutierte sie zur misstrauischen Ziege, wenn ein Gesprächspartner nicht auf Anhieb sympathisch herüberkam. Im Verlaufe ihres bisherigen Lebens machte sie sich oft Gedanken darüber, ob diese Begabung ein Fluch oder ein Segen war. Sie verbarg sie geschickt vor ihrer Umwelt. Nur wenige Menschen wussten darum. Selbst in ihrem Team, das aus Oberkommissarin Maria Römer und Hauptkommissar Heinz Bauer bestand, öffnete sie sich nicht. Ihre Kollegen sprachen von Intuition und Bauchgefühl, auch, wenn sie mutmaßten, dass mehr dahinter steckte.
Jetzt, in diesem Dorf, stellte sie fest, dass insbesondere die älteren Einwohner des Dorfes diese Begabung auch besaßen. Also lag der Ursprung wahrscheinlich hier. Irgendwelche Gene, die auch sie besaß.
Jetzt hatte sie zunächst diesen Fall am Hals, der sie einige Zeit beschäftigte, wie sie befürchtete.
»Der hat ein Piercing am Schwanz«, rief Thilo. Er zog den Nagel aus dem Boden und wischte das Blut um das schlaffe Geschlechtsteil weg. »Nein. Kein Piercing. Das wurde später angebracht. Sieht mehr aus, wie …«, er putzte das Blut von dem Gegenstand, der aus der Vorhaut herausragte. »Tatsächlich. Als Kind habe ich so etwas schon einmal gesehen. Das ist so eine Hülse …«
»Brieftauben«, unterbrach Heinz, der das kleine Behältnis interessiert musterte. »In solchen Kapseln wurden Nachrichten transportiert. Mein Vater besaß Tauben.«
»Richtig«, stimmte der Mediziner zu. »Das ist ja vielleicht pervers.« Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Ich hab ja schon viel gesehen. Aber so etwas?« Er trug die Kapsel zu einem Koffer, dem er ein Vergrößerungsglas entnahm. »Wir haben den Tatort fotografiert und gefilmt. Also sehen wir gleich nach, was in diesem Ding verborgen ist. Weißt du auch, wie ich es aufbekomme?« Er sah auffordernd zu Heinz.
»Rechtsgewinde. Beide Enden packen und gegeneinander drehen.«
Thilo drehte und hielt zwei Teile in der Hand, wobei in dem linken ein zusammengerollter Zettel steckte. Er zog ihn mit einer Pinzette heraus. »Zwölf«, las er vor, indem er das Papier auseinanderfaltete.
»Scheiße«, rutschte es Claudia heraus. »Das ist der Dritte. Schau mal nach Thilo.«
Doch diese Aufforderung war überflüssig. Der Mediziner fummelte bereits an der Kleidung des Toten und legte die Schulter frei. Dabei nahm er keine Rücksicht auf Spuren, die er eventuell hinterließ.
»Tatsächlich«, flüsterte er. »Hier ist das Tattoo.«
Claudia trat heran und sah die Tätowierung, die, wie ein Brandzeichen auf der Haut lag. Der Radius des Kreises wies blaues, fast schwarzes Gewebe auf. Eine Fläche, drei Zentimeter im Durchmesser, zu gleichen Teilen in Schwarz, Rot, Gold unterlegt. Im schwarzen Feld der stilisierte Buchstabe E, im roten F und im goldenen V. Also die Zeichen für Ehre, Freiheit und Vaterland. Das typische Zeichen einer studentischen Burschenschaft, das jedoch in der Regel nicht als Tattoo auf den Körper aufgebracht, sondern als Münze an einer Kette oder einem Ring getragen wurde. Claudias Blick suchte den Ring. Klar … das gleiche Symbol, jedoch nicht mit Farbe unterlegt. Wie konnte sie so blind sein? Anders als bei den beiden, wenigen Tagen zuvor ermordeten Typen, passte Hellmers Alter nicht. Unbestreitbar trugen sie jedoch das gleiche Zeichen.
Marcus Brandt, ein fünfundzwanzigjähriger Mann lag vor wenigen Tagen im Westpark in einem Gebüsch und Till Höfer, dreiundzwanzigjährig, im Paulinenwäldchen nahe Kohlscheid. Der Erstere trug einen Zettel im Mund mit der Zahl fünf und der Zweite, die Sieben. Beiden, wie auch hier beim dritten Opfer, war gleich, dass die Genitalien verstümmelt wurden. Claudia hoffte für den toten Hellmer, genauso nach dem Tod, wie bei den beiden Jüngeren. Doch diese Hoffnung gab sie auf. Dafür war das Blutbad zu groß. Dem jüngeren Brandt wurde wahrscheinlich mit einer Tranchierschere der Hodensack abgeschnitten. Höfers Penis fiel einem scharfen Messer oder Skalpell zum Opfer.
»Jetzt haben wir die Bescherung«, stellte Heinz Bauer gelassen fest. Der kleine, etwas übergewichtige Hauptkommissar zog die Jeans über den Bauch, der wie eine kleine Kugel darüber hing. Das schüttere Haar lag akkurat. Drei Strähnen in drei Reihen. Er zählte fünfundsechzig Jahre und stand einige Wochen vor der Pensionierung. Von den eins achtundsechzig, die er früher einmal maß, fehlten aufgrund des Alters, drei bis fünf Zentimeter. »Drei Tage, drei Tote. Ein guter Schnitt. Was kommt morgen?« Er lachte bitter. Dabei war er im Grunde genommen eine Frohnatur. Trotz des Berufs strahlte er in Regel Optimismus aus. Vielleicht lag es am Alter und dem absehbaren Ende des Jobs. Der Familienmensch Heinz Bauer fieberte darauf, denn er widmete jede freie Minute den Enkelkindern. Der Ermittler sah es mit Wehmut, vor allem, weil er auf die alten Tage endlich in einem Traumteam arbeitete. Claudia, Maria und er bildeten eine besondere Einheit.
»Du machst mir Mut.« Claudia schüttelte den Kopf bei dieser Art von Humor, den sie zwar von ihm kannte, der sie jedoch immer wieder erstaunte. »Dann wurde Hellmer«, sie nickte zu dem Toten, »wahrscheinlich auch durch Stromschlag getötet.«
»Nach der Obduktion.«, murmelte Thilo. Er hing gerade mit dem Vergrößerungsglas über dem Tattoo. »Die Tätowierung ist mindestens zwanzig Jahre alt, wenn nicht noch älter. Genaueres kann ich auch hier erst später sagen.« Er sah zu Claudia. »Eine Burschenschaft. Anstatt Schmiss im Gesicht, ein Brandzeichen auf der linken Schulter. Dann ist die Tätowierung vermutlich über vierzig Jahre alt. Die sind ja noch Kinder, wenn sie einer solchen Verbindung beitreten.« Thilo überlegte laut. »Hast du zu den anderen schon etwas herausbekommen?«
Sie schüttelte den Kopf. Erst gestern bekam sie zehn Kolleginnen und Kollegen zur Verstärkung, die zurzeit überwiegend im Internet recherchierten, um einen Hinweis, auf die Burschenschaft zu finden. Ebenso auf das Gerät, das den tödlichen Stromschlag lieferte. Es passte genau auf das Tattoo. Sonderbar an allen drei Fällen blieb, dass kein Hinweis darauf deutete, dass an der Kleidung herumgefummelt wurde. Zumindest bei der Bekleidung des Oberkörpers, mit Ausnahme Hellmers jetzt. Dabei schien klar, dass die Elektrowaffe auf der Haut angesetzt wurde. Hinzu kam die Verstümmelung der Genitalien, die den wahrscheinlichen Schluss auf Sexualverbrechen zuließen. Offensichtlich von möglichen Opfern. Es konnte natürlich auch etwas anderes sein. Eine Opfergabe?
»Ist die Spurensicherung durch?«, fragte Claudia ihren Kollegen.
»Wir können nach oben, wenn du möchtest.«
*
»Elf Uhr dreißig.« Claudia sprach ins Smartphone. »Die Durchsuchung der Räume in der ersten Etage ergibt keine Besonderheiten, die Hinweise auf die Tat beziehungsweise Mitgliedschaft zu einer Studentenverbindung geben. Die Zimmer sind ebenso steril, wie in Parterre. Fotos befinden sich in der Cloud.« Claudia unterbrach und legte Heinz eine Hand auf die Schulter. »Der lebte doch nicht hier. Was denkst du?«
»Im Moment sieht es nicht so aus. Die Spurensicherung fand keine Fingerabdrücke oder andere Spuren. Hier reinigte ein Kommando, und zwar vom Feinsten. Wer weiß, was die alles mitgenommen haben.«
Claudia trat zum Fenster und sah in die gepflegte Anlage hinaus, die das Haus umschloss. Die getigerte Katze auf dem Rasen stand wie eine Statue, den Schwanz hochgereckt und die Ohren spielten nach vorne ins Gebüsch. Wahrscheinlich ein Mäuschen oder ein Vogel, dachte sie. Plötzlich wandte das Tier den Kopf und sah sie ausdruckslos an. Claudia trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Die Katze sprang ohne Ansatz davon.
»Wer meldete den Mord?«, fragte sie, ohne den Blick abzuwenden.
»Anonym.« Heinz trat neben sie. »Maria und ich telefonierten vorhin miteinander. Die Bandaufzeichnung gibt keinen Aufschluss darüber, ob Mann oder Frau. Hier muss die Technik ran.«
Claudia nickte und ging in ein anderes Zimmer. »Hier lebte nie und nimmer jemand«, murmelte sie mehr zu sich.
»Da magst du recht haben«, antwortete Heinz und erschreckte sie. Sie sprach ihre Gedanken unbewusst laut aus.
»Das alles hier«, sie machte eine Handbewegung, »wirkt mehr, wie ein Gästehaus. Sechs Zimmer, Schlafzimmer, und alle gleich eingerichtet.«
»Hellmer unterhielt mehrere Häuser in Aachen. Dies hier war seine Meldeadresse.« Sein Gesicht, das schon Altersfältchen durchzog, wandte sich ihr zu. »Maria ist da schon dran.«
*
Der Omniscientis betrat vor wenigen Minuten die riesige Halle, in der noch vor sechzig Jahren die Loren mit Kohle in den Korb verladen wurden. Er sah zur fünfzehn Meter hohen Decke, die aus natürlichem Felsgestein bestand. Sie senkte sich auf etwa vierzig Meter Länge zu vier Metern in der Höhe zum Eingang in die Strecke. Das Wetter zerrte an der Kleidung und blies nach oben durch den Schacht. Die technischen Einrichtungen zum Beladen der Loren wurden schon vor Jahrzehnten weggeschafft. An und für sich war die Höhle nackt, bis auf die Gleise, die in den dunklen, schwach erleuchteten Schlund verliefen. Sie führten viele Hundert Meter, waagerecht in die Erde. In regelmäßigen Abständen stützten eiserne Stempel das darüber hängende Gebirge. Rechts versperrte ein schweres eisernes Gitter den Eingang in einen geräumigen Felsenraum, der vor langer Zeit die Schlosserei oder auch Werkstatt beherbergte. Die alte Werkbank mit den klobigen Schraubstöcken zeugte davon.
Der Omniscientis bestieg die Grubenbahn, die nichts mehr mit der gemein hatte, die in der Vergangenheit hier verkehrte. Heute stand hier ein schnittiges Hightech Produkt mit einem leistungsstarken Elektromotor. Die Steuerung erfolgte automatisch über ein Paneel, auf dem Leuchtdioden, die jeweilige Funktionen anzeigten. Er wusste, dass die Bahn heute schon mehrfach auf dieser Strecke verkehrte. Und zwar nicht zum Personentransport, sondern um Ware zu transportieren. Die Maschine fuhr fast lautlos.
Einmal im Jahr trafen sich die Mitglieder des Bundes hier: Unter Tage. Der Eingang in die Zeche gehörte offiziell einem Konsortium unbekannter Geldgeber und wurde privat instand gehalten. Die Unterlagen dazu existierten in Ämtern und Behörden nicht mehr. Die Villa auf dem Grundstück gehörte dem Namen nach zum Familiensitz der Fabrikanten Oppenhof.
Nur wenigen war es vergönnt, die Zugfahrt auf der ersten Sohle, in Anspruch zu nehmen. Vom dritten Keller des Haupthauses führte der Stollen mit leichter Neigung ins Erdinnere und stieß auf die Felshalle, von der es in die Hauptstrecke ging. Dieser Eingang blieb allein dem Omniscientis vorbehalten, also ihm.
Während im früheren Aachener Kohlerevier die Schächte senkrecht abgeteuft wurden, besaß diese alte Grube eine andere Geschichte, die fast so alt war, wie die Menschheit. Schon in der Steinzeit fanden die Menschen hier Kohle und nutzten sie. Im Verlaufe der Jahrhunderte gruben sie in die Erde. Viele kleine Höhlen in dieser Gegend zeugten davon. Aber genau hier musste wohl ein findiger Erdenbürger auf ein ergiebiges Flöz gestoßen sein.
Seit dem Mittelalter lag ein Fluch über diesem Loch, und der Eingang in die Erde wurde zum Tor in die Hölle. Niemand, der in den Berg hineinging, kam jemals wieder.
Im achtzehnten Jahrhundert schien der Fluch gebrochen. Ein Fremder stolperte zufällig in den Schacht und fand eine unbestimmte Anzahl von Personen, die scheinbar schliefen. Doch sie waren tot. Panikartig verließ er den Stollen und erzählte den Menschen, denen er begegnete, die unglaubliche Geschichte. Die Dörfler trieben zunächst zwei Ziegen in den Berg, die nach einiger Zeit wohlbehalten wiederkehrten. Sie räumten die Kohleflöze leer. Bis der Höllenschlund wieder zuschlug. Eine Explosion erschütterte Anfang des neunzehnten Jahrhunderts die Gegend. Viele Bergleute blieben tot und die Zeche wurde geschlossen. Der alte Aberglaube lebte wieder auf. Das Grundstück verwilderte, bis auf eine kleine Fläche mit einer Holzhütte, nahe dem Schacht. Hier lebte zu jener Zeit der Schmied der Gegend, dessen Erben, aufgrund seiner genialen Geschäftsidee zu Nadelfabrikanten aufstiegen. Wann letztendlich das Steinhaus gebaut wurde, ging nicht genau aus den Überlieferungen hervor. Jedoch entstand mit den Jahrzehnten, einige Meter davon entfernt, die heutige Villa.
Der Stollen geriet in Vergessenheit, bis die Franzosen unter Napoleon Bonaparte die Gegend besetzten. Was damals niemand wusste, war, dass ein Methangaseinschluss, der mittlerweile über eine andere Ableitung ausströmte, für die vielen Unglücke der Vergangenheit verantwortlich zeichnete.
Die Schmiede verschwand mit der Zeit. Dafür wuchs in Aachen die Nadelproduktion zu einem Fabrikkomplex. Bescheiden nach heutigen Maßstäben.
Bevor die Franzosen in das Gebiet einfielen, brachte der damalige Patriarch Theodor Oppenhof seine und das Habgut seiner Nachbarschaft in Sicherheit. Damit entgingen sie den Plünderungen, die bei einer Besetzung unweigerlich erfolgten. Nach Abzug der Franzmänner blieben die Schätze verschwunden. Von dem Stollen wussten die Mitbürger um Oppenhof nichts mehr. Das blieb bis heute so. Aber wenn die Zeiten kritisch wurden, sammelten die Oppenhofs bei den Nachbarn, was denen lieb und wert war, ein. Die Wertgegenstände verschwanden von der Erdoberfläche, im wahrsten Sinne des Wortes. Die Menschen vergaßen und wenn Bedenken kamen, schoben sie, sie in den hintersten Winkel ihrer Gehirne. Was blieb, waren die Grundmauern der Schmiede, die heute, die Wände eines Gartenhauses trugen.
Seit 1945 fand das siebzigste Treffen des Bundes statt, und zwar, knappe vier Kilometer von der Villa entfernt in einhundertzwanzig Meter Tiefe. Den anderen Teilnehmern blieb die Zugfahrt verwehrt. Der Omniscientis lächelte. Die Überraschung und das Grauen würden auf seiner Seite sein.
Die Adepten fuhren von einem alten Fabrikgelände, dessen Gebäude unter Denkmalschutz standen, über den Hauptschacht ein. Ein gemeinnütziger Verein erhielt die Schachtanlage als Heimatmuseum. Überirdisch wurden Relikte aus der alten Zeit ausgestellt und in einem ebenso über der Erde gelegenen Lehrstollen, die Arbeitsbedingungen dargestellt. Zu welchem Zweck der Verein tatsächlich diente, blieb verborgen. Die Seilfahrt geschah in vier Etappen über den Hauptschacht, der ursprünglich neunhundert Meter in die Tiefe ging. Jetzt fuhr der Korb, zu Demonstrationszwecken gerade mal dreißig Meter in die Tiefe. In dieser Höhe wurde der Hauptschacht nach Schließung der Grube mit einem dicken Betonpfropfen verschlossen. Niemand wusste um die drei Blindschächte. Sie lagen, um je zweihundert Meter vom Hauptschacht versetzt und führten weiter in die Erde. Die Körbe, in den verborgenen Schächten, wurden über Seilhaspeln hinuntergelassen. Eine abenteuerliche Fahrt, weil die Holzführungen rechts und links, sich im Verlaufe der Zeit verzogen. Es hakelte und ruckelte, wenn der Korb nach unten glitt, aber auch heute noch, eine sichere Angelegenheit. Am Ende des dritten Blindschachts gelangte man in eine große Halle. Deren Wände zwischen den Eisenstempeln, die das Gebirge stützten, wiesen gemauerte Backsteine auf. In diesen Raum gab es mindestens zwei Zugänge. Der von oben durch den Schacht und den von … ja woher? Niemand der fünfzehn Anwesenden wusste es. Sie saßen schweigsam um den riesigen runden Tisch und warteten. Die kleine Gesellschaft trug weiße Roben, die Körper und Gesicht verbargen. Die Runde glich den Rittern des Ku-Klux-Klans. Auch sie verwalteten ein unsichtbares Reich.
Die aufwändig verzierten Leuchter an den Wänden und der Decke, der circa fünfhundert Quadratmeter großen Halle, sandten gedämpftes elektrisches Licht in den Raum. Sie dienten gleichzeitig als technische Multifunktionsgeräte. Jedes gesprochene Wort wurde mitgeschnitten. Temperaturfühler lieferten Rückschlüsse über die emotionalen Reaktionen, der Teilnehmer. Niemand ahnte etwas davon. Der Boden wurde von einem dunkelroten flauschigen Belag bedeckt. Das gleiche Material, das einen Teil der Wände verbarg.
Ein leises, kaum hörbares, akustisches Signal schickte einen Ruck durch die Gesellschaft. Spannung lag wie eine Glocke im Raum.
Aus dem Nichts trat die Person aus der Wand, auf die sie warteten. Die Robe des Omniscientis ging einen Stich ins Elfenbeinfarbene, was zur Unterscheidung schon genügte. Gemessen schritt er die Teilnehmer ab und versank einen Augenblick in deren Augen. Der Omniscientis trat zum freien Stuhl und nahm Platz.
»Brüder. Die Zeit läuft uns davon. Wir müssen unsere Bemühungen verstärken.«
*
Peter Brock wurde achtzehnjährig auf dem Schulhof angesprochen. Es waren noch wenige Wochen zum Abitur. Er besuchte die Gesamtschule in Geilenkirchen. Der große schlaksige Junge überragte die meisten seiner Mitschüler. Das halblange lockige Haar wehte leicht im Wind. Die graugrünen Augen, in dem noch unfertigen Gesicht, sahen dem Lehrer entgegen, der nicht in seinem Jahrgang unterrichtete. Im Alter lagen sie wahrscheinlich weniger als zehn Jahre auseinander.
»Hallo Peter. Mein Name ist Stefan Roth. Ich unterrichte Deutsch in der zehnten Klasse.«
»Ich weiß. Ich habe Sie schon mehrfach gesehen.« Der große, schlanke Junge stand abwartend vor der Lehrkraft und wartete darauf, was wohl geschah.
Stefan Roth nickte. »Du bist mir aufgefallen und deshalb zog ich einige Erkundigungen über dich ein. Was ich hörte, gefällt mir. Ich möchte dich einladen, und zwar zu einem Konvent.«
»Ich studiere noch nicht. Der Konvent ist doch wohl die Versammlung von Studenten in einer Verbindung?«
»Ja. Du hast recht. In besonderen Fällen werben wir unsere Mitglieder sehr früh in den Schulen. Vor allem, wenn sie so vielversprechend sind, wie du.«
Peter nahm das Kompliment gelassen. Er wusste, dass er gut war. »Erzählen Sie mir einiges zu den Studentenverbindungen. Ich weiß unter anderem, dass ein frischer Student, Fuchs genannt wird. Er wird verpflichtet, sich mit der ›Kultur‹ des Verbindungsstudententums, den Eigenheiten seines Verbandes und den Traditionen seiner Verbindung vertraut zu machen. Dies dient der Vorbereitung auf die Zeit als Vollmitglied, in der er meist sofort Ämter übernimmt und die Verbindung nach außen repräsentiert. Auch sind die jungen Vollmitglieder die wichtigsten Entscheidungsträger in einer Verbindung. Hierauf werden sie bereits als Füchse vorbereitet. Das habe ich vor einiger Zeit gegoogelt, als ich mich zum Studium entschied.«
»Das ist gut und erleichtert mir die Sache, wenn du schon vor der Hochschule Interesse zeigst. Also werde ich mich kurzfassen: Der Verantwortliche für die Ausbildung der Füchse ist der Fuchsmajor. Die theoretische Unterweisung erfährt der Fuchs in den wöchentlich stattfindenden Fuchsenstunden, die durch den Fuchsmajor abgehalten werden. Inhalt der Fuchsenstunden sind im Wesentlichen der organisatorische Aufbau der Verbindung sowie die Traditionen und die Geschichte.
An die Beendigung der Fuchsenzeit werden unterschiedliche Bedingungen geknüpft. Deine Zeit als Fuchs kann zwischen einem Semester und drei Semestern betragen.
Wichtig ist auch die Feststellung, dass du als Fuchs die nötigen Fähigkeiten besitzt, die Aufgaben als Vollmitglied – zum Beispiel Repräsentationsverpflichtungen – wahrzunehmen, ohne die Verbindung zu blamieren. Dies wird mittels einer Prüfung festgestellt, die Fuchsenprüfung.
Wenn der zuständige Konvent deine endgültige Aufnahme beschließt, wird sie, faktisch sofort, in feierlichem Rahmen vollzogen. Dabei musst du ein Versprechen abgeben oder einen Eid auf die Constitution, also Verfassung, sprechen. Hast du noch Fragen?« Sie schlenderten langsam über den Hof und klammerten die anderen Schüler aus.
»Wird jeder aufgenommen?«
»Das siehst du schon daran, dass ich dich angesprochen habe. Wir nehmen nicht jeden. Auch du wirst es schwer haben, Mitglied zu werden. Die Verbindung schaut sich den Bewerber genau an. Die Verbindung ist ein Freundschaftsbund auf Lebenszeit, und da muss sichergestellt sein, dass der Bewerber passt! Aus der Sicht des Bewerbers gilt natürlich das gleiche Verfahren. Die Aufnahme geschieht deshalb stufenweise.«
»Endet nach dem Studium die Mitgliedschaft?«
»Du hast eine falsche Vorstellung. Wir sind kein eingetragener Verein, für den Mitgliedsbeiträge gezahlt werden. Dein Eid, den du ablegst, hat immer die lebenslange Mitgliedschaft zum Inhalt. Die Fuchsenzeit hat den Sinn, einem Interessenten die Tragweite der endgültigen Aufnahme und das Wesen der Verbindung nahe zu bringen. Ein Mitglied sollte nach der Burschung aus seiner Verbindung jedenfalls nicht, ohne wirklich zwingenden Grund, austreten. Die Mitgliedschaft kann selbstverständlich jederzeit beendet werden.«
»Das hört sich nicht schlecht an.« Peter blieb stehen. »Weshalb kein eingetragener Verein? Im Internet klang das anders.«
»Unsere Burschenschaft ist auch anders und nicht mit diesen Saufvereinen vergleichbar. Schau es dir an und entscheide. Doch um eines bitte ich dich: Sage den anderen nichts davon.« Roth sah Peter ernst in die Augen. Der Tonfall in seiner Stimme signalisierte, dass er mehr als eine Bitte aussprach.
Peter schlenderte nachdenklich weiter und dachte über das Gespräch nach. Soweit er es beurteilte, hielt sich Stefan Roth immer abseits von den anderen Lehrkräften. Er wusste von seinen Mitschülern, dass der Lehrer konservative Ansichten vertrat und viele Passagen in den Geschichtsbüchern anders interpretierte, als die Masse. Aber nicht so, dass man den Finger darauf legen konnte. Peter Brock blieb stehen und sah in den intensiv blauen Himmel, der, bis auf wenige weiße Schleierwolken, hinter der Wölbung der Erdkrümmung verschwand. Die Gespräche in den letzten Wochen drehten sich oft um Studentenverbindungen. Nirgendwo fand man schneller Kontakt an der Hochschule. Er kniff die Augen zusammen und wischte mit der Hand über das Haar. Falls er einer solchen Vereinigung beitrat … diese blöde Kappe und Schärpe würde er nicht tragen.
*
Sie wusste nicht, wie lange sie sich in dieser entwürdigenden Haltung befand. Sie kniete auf einer Unterlage, während der Oberkörper, durch Fesseln, etwas anderes konnte es nicht sein, auf einer gepolsterten Auflage festgehalten wurde. Trotz der weit geöffneten Augen drang keine Helligkeit an die Sehnerven. Dicke Kompressen verhinderten dies. Ihr Kinn lag in einer weichen Unterlage, die sich seitlich an den Wangen hochzog und den Kopf fixierte. Die Arme wurden durch Lederbänder, seitlich der Auflage, nach unten gehalten. Das blonde Haar lag in dicken Zöpfen über dem gebräunten makellosen Rücken. Das Geschlecht der Frau lag schamlos frei und bot sich dem Betrachter bedenkenlos dar.
Die Vorrichtung stand, in Richtung des Kopfes der Frau, gegen eine holzvertäfelte Wand. Die gepolsterte Oberfläche trug dickes, fast schwarzes Büffelleder. Kerzen in goldenen Leuchtern spendeten gedämpftes Licht. Die flackernden Flammen gaben der bizarren Szene einen heidnischen Anstrich. Die Figur des Opfers ließ ahnen, dass hier eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, kniete. Das Gesäß der Frau lag gegenüber der einzigen Tür, durch die eine verhüllte Gestalt eintrat.
Der Umhang trug in Höhe des Genitals, das versteift vorstand, eine Öffnung. Langsamen Schritts und ohne Zögern ging der Mann auf die wehrlose Frau zu. Niemand konnte sagen, wie groß er war. Der Stoff der Verhüllung wies eine Verarbeitung auf, die nicht nur die Umrisse, sondern auch die Größe verbarg. Die Liege, auf der das Mädchen lag, erhöhte oder senkte sich durch einen Mechanismus, sodass, das Genital des Mannes, stets auf Höhe der Scham eingestellt wurde. Langsam, ohne die Hände zu benutzen, drang er in die Frau ein, die wilde unartikulierte Schreie ausstieß. Sie war zwar sediert, jedoch nicht so, dass sie nicht mitbekam, was hier geschah. Dennoch so, dass der Körper sich nicht verletzte, wenn er die natürlichen Abwehrbewegungen zur Vermeidung der Vergewaltigung vollzog. Der Mann stieß genau einhundert Mal zu, zog sein Glied heraus und ergoss sich auf den Boden. Er wirkte nicht wie ein Wesen aus Fleisch und Blut. Der Akt geschah weder aus Liebe noch zur Entspannung. Er geschah als ein entwürdigender und grausamer Automatismus, der das Opfer zu weniger, als einer Sache machte.
Ebenso unspektakulär, wie der Mann erschien, verließ er den Raum.
Die geschundene Gestalt auf dem Tisch schluchzte hemmungslos, als der Mann - oder war es ein anderer? – wiederum eintrat. Im Abstand von zehn Minuten wiederholte sich der Vorgang mit gleichem Ablauf. Sie wusste nicht wie oft, denn ihr Geist schaltete ab, um dem Grauen zu entkommen.
Weder die Frau noch die Männer, die, die Vergewaltigung vollzogen, nahmen die fünf Personen wahr, die, hinter der linken Wand, das abscheuliche Verbrechen mit klinischem Interesse verfolgten.
Der Initialisierungsprozess, für dieses Jahr, schloss mit der letzten Aufgabe. Nur einer der fünf Beobachter wusste, wie viele Studenten in diesem Jahrgang die Fuchsenzeit beendeten. Nur er wusste, wen er als künftiges Mitglied ihrer Vereinigung auserkor.
*
Susanne Treber erwachte in einem verschwenderisch ausgestatteten Zimmer. Das vergitterte Fenster verwehrte den Ausblick nach draußen. Sie kämpfte sich aus dem grausamen Traum, der sie gefangen hielt. Er fühlte sich so echt an, als geschehe er tatsächlich. Langsam kehrten ihre Gedanken zurück. Kein Traum. Sie nahm die Details auf und glitt wieder auf die Schwärze zu. Mit großer Willensanstrengung hielt sie die Bewusstlosigkeit zurück und revidierte die erste Einschätzung. Nicht nur ein Zimmer, sondern ein Appartement. Es beinhaltete alles und mehr, was ein Mensch zum Leben brauchte. Moderne, teure Einrichtung. Angefangen bei der Küche, auf dem technisch neuesten Stand, bis zum Plasmafernseher, der an einer Wand hing. Sie richtete ihre Gedanken bewusst auf den Raum und die Gestaltung der Wohnung, damit sie nicht abdrehte.
Die Natur stattete Susanne verschwenderisch mit allen Attributen aus. Vor wenigen Tagen feierte sie ihren neunzehnten Geburtstag. Sie trat vor den großen Spiegel. Eins fünfundsiebzig groß, mit langen schlanken Beinen, einem nicht zu kleinen und nicht zu großem Busen, dazu ein ausdrucksstarkes Gesicht mit strahlend blauen Augen über der klassisch geformten Nase. Das weizenblonde, glatte und lange Haar hing im Moment zu Zöpfen geflochten herunter. So sehr sie schaute, nichts deutete auf die Vergewaltigung. Ihr Körper wies keine Zeichen der unsäglich Folter auf. Ihr Geschlecht fühlte sich sauber und auch nicht anders an, als sonst. Träumte sie? Nein. Sicherlich nicht.
Da kam auch dieses Gefühl wieder, das sie die letzten Wochen verfolgte. Sie wurde beobachtet. Gab es hier Kameras? Sie ging zum Schrank und fand dort Unterwäsche sowie Kleidung. Sie zog sich an, denn sie wollte nicht irgendwelchen perversen Schweinen als Anschauungsobjekt dienen.
Wie kam sie hierher? Ihre letzte Erinnerung? …, nein da war nichts. Oder doch? Welchen Tag hatten wir heute? Mittwoch. Sie hielt sich in ihrem Appartement auf und wachte später auf diesem Folterinstrument auf. Und jetzt hier ... in diesem Raum. Aus irgendeinem Grunde sah sie das Gesicht eines dunkelhaarigen Mannes mit markanten Zügen vor ihrem inneren Auge. Unwillkürlich lief ein frostiger Schauer über ihren Körper, als die fast schwarzen brennenden Augen in den Vordergrund traten. Sie sah das Gesicht deutlich vor sich. Sie wollte kotzen.
Als Susanne das nächste Mal wach wurde, hing sie in dem kleinen Sessel, der in ihrem Appartement stand. Sie trug die gleiche Kleidung, wie … na ja Mittwoch. Welcher Tag war heute? Sie griff nach ihrem Smartphone. Freitag. Hatte sie gesoffen oder gekifft? Der pelzige Geschmack auf der Zunge legte den Verdacht nahe. Es fehlten achtundvierzig Stunden. Nein, sie verbesserte sich. Die Stunden fehlten nicht komplett. Dann war es also tatsächlich geschehen. Sie schaffte es gerade noch zur Toilette und würgte den Mageninhalt heraus.
Susanne schwänzte vierzehn Tage die Vorlesungen. Vierzehn Tage, in denen sie kotzte, und versuchte, das widerliche Gefühl ihrer Fantasie, in der Vagina, wegzubekommen. In denen sie versuchte, die Gedanken zu kontrollieren, die immer wieder abglitten. In denen sie den Entschluss fasste, nicht zur Polizei zu gehen, weil nichts an ihr auf die Vergewaltigung deutete, außer in ihren Gedanken. Sie leistete einen Schwur: Nie wieder würde ein Mann sie berühren.
*
Susanne Treber dachte in den letzten Monaten kaum noch an das Verbrechen. Jetzt, elf Jahre später, wusste sie zwar, dass ihr Leben dadurch eine grundlegende Veränderung erfuhr, jedoch arrangierte sie sich damit. Sie war zu keiner Bindung fähig. Ob es an ihrem Schwur lag? Oder wirkten tatsächlich die Nachwirkungen der Vergewaltigung? Sie wusste es nicht. Die Natur forderte ihr Recht. Der Drang nach einem Mann wurde häufiger und intensiver. Fast schon schmerzhaft. Doch immer, wenn es ernst wurde, machte sie einen Rückzieher. Die Frauen, mit denen sie im Bett ihre Bedürfnisse kompensierte, gaben ihr eine gewisse Entspannung. Jedoch nicht den prickelnden Reiz, den sie erwartete. Ähnlich wie, wenn sie sich selbst befriedigte. Dabei wusste sie nicht, ob das Zusammensein mit einem Mann ihre Fantasien erfüllte ... wusste nicht, ob alle Männer so menschenverachtend wie ihre Peiniger agierten. Sie hätte vielleicht doch damals zur Polizei gehen sollen, um professionelle Hilfe eines Psychiaters zu bekommen. Aber hätte und wäre brachte sie nicht weiter.
Nach außen wirkte Susanne wie der Prototyp einer selbstbewussten Frau, die ihren Weg in der Gesellschaft machte. Nach dem Abschluss des Studiums in Bauphysik, vor einigen Jahren, wurde sie Teilhaberin in einem renommierten Architekturbüro. Sie beschäftigte ausschließlich Mitarbeiterinnen. Schon genug, dass sie sich ihre Kunden nicht backen konnte. Doch sie lernte mit der Zeit, anzügliche Bemerkungen auf den Baustellen, zu ignorieren. An besonders schlechten Tag sorgte sie für die Entlassung der betreffenden Personen.
Susanne änderte nach der Vergewaltigung ihren Typ von Grund auf. Die Zöpfe gaben ihr damals zu denken. Allein aufgrund ihres Aussehens wurde sie ausgewählt. Da wusste sie sicher. Deutsch, deutscher, am deutschesten. Sie ließ ihre Haare abschneiden und dunkel einfärben. Sie veränderte die Schminktechnik und kaufte eine Sonnenbank. Heraus kam ein fremder Mensch, dessen Abbild sie bis heute beibehielt. Sie drängte das alte Ich in den hintersten Winkel ihres Seins.
Dann kam der Tag, der ihr Leben noch einmal von Grund auf änderte und alles über den Haufen warf, das sie mühsam während der letzten Jahre aufbaute. Sie sah den Mann wieder, dessen Gesicht durch ihr Unterbewusstsein geisterte.
Sie saß vor dem Elisenbrunnen auf einer Treppenstufe und las in einer Zeitschrift, als ein unbewusster Impuls sie hochschauen ließ. Das Blut gefror in ihren Adern. Der stechende Blick glitt über sie hinweg und verharrte auf einer jungen Frau. Weizenblonde Haare, ungefähr eins fünfundsiebzig groß und blaue Augen. Um die zwanzig Jahre alt. Blitzschnell rechnete sie zurück. Ungefähr die gleiche Zeit, zu der er sie damals entführte. Sie hatte keine Angst, dass der Typ sie irgendwie erkannte. Sie trug seit damals grüne Kontaktlinsen, damit ihre Augen sie nicht verrieten, und selbst ihre nächsten Bekannten, aus der Vergangenheit, erkannten sie nicht. Zu denen unterbrach sie vor Jahren den Kontakt. Gleichwohl brachten eisige Schauer, trotz der sommerlichen Temperaturen, ihre Zähne zum Klappern. Unter Aufbietung aller Kraft behielt sie die Kontrolle.
Die junge Frau ging in Richtung Haltestelle und bestieg dort den Bus nach Melaten. Susanne folgte ihr ebenso, wie der Mann. In Höhe der Studentenwohnungen stieg die fremde Blonde aus. Während der Unbekannte zurückblieb, schloss Susanne auf. Sie folgte der scheinbaren Studentin in den Wohnblock und beobachtete, wie sie im Appartement dreihundertzwölf verschwand. Auf dem Briefkasten im Eingangsbereich fand sie den Namen Gerlinde Schmied. Die Arme, dachte sie. Auch noch ›deutsche‹ Eltern ...
Susanne suchte schnurstracks eine Auskunftei und beauftragte sie mit der Beschattung von Gerlinde Schmied sowie des Unbekannten. An Geld mangelte es ihr nicht. Ihre Mutter verschwand an ihrem vierten Geburtstag. Der Vater hinterließ ihr, nach einem Autounfall, wenige Tage nach ihrem achtzehnten Geburtstag, ein beträchtliches Vermögen.
Vierzehn Tage später hielt sie den ersten Bericht der Detektei in den Händen und wusste, dass das, was sie vermutete, wieder geschehen war.
Empfindungen, die sie vergessen glaubte, stiegen empor und traten in den Vordergrund des Denkprozesses. Übelkeit und Schauer schüttelten ihren Körper. Unbändige Angst zog auf. Sie musste etwas unternehmen.
*
Susanne stand auf und ging der Frau entgegen, die das Büro betrat.
»Schön, dass Sie kommen konnten. Ich bin Susanne Treber.« Sie reichte der Besucherin die Hand.
»Gerlinde Schmied. Selbstverständlich bin ich gekommen. Ich wundere mich etwas, weil ich erst im dritten Semester bin. Nie rechnete ich damit, schon so früh zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden.« Das sympathische Gesicht lächelte.
»Ich dachte an einen Job. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Studenten immer knapp bei Kasse sind.« Sie musste irgendeine plausible Geschichte zusammenbekommen.
»Da haben Sie recht. Woran haben Sie gedacht?« Gerlinde trat unbefangen auf.
»Zunächst einfache Arbeiten hier im Büro.« Susanne deutete zu dem Besprechungstisch, auf dem Tagungsgetränke standen. »Nehmen Sie Platz.«
»Wie Sie wissen, studiere ich Maschinenbau. Ich habe es bei unserem Telefonat erwähnt.«
»Ja. Richtig«, erwiderte Susanne. »Sie glauben nicht, wie die Architektur mit dem Maschinenbau verwoben ist. Die physikalischen Grundlagen sind dieselben. Sie werden genug zu tun bekommen.«
»Ich freue mich darauf«, entgegnete Gerlinde.
Das geschah vor drei Monaten. Gerlinde fügte sich gut ein und arbeitete im Schnitt zwanzig Stunden in der Woche für das Büro. Den heutigen Termin beraumte Susanne kurzfristig an, nachdem sie gestern den Namen des Mannes mit den stechenden Augen erfuhr. Günter Säger, vierundfünfzig Jahre alt, wohnhaft in Herzogenrath.
»Gerlinde. Ich möchte ein heikles Thema mit Ihnen besprechen.« Ihre Augen ruhten gespannt auf der Studentin.
»Sie können alles mit mir besprechen, Susanne. Wollen Sie mir kündigen?«
»Nein. Dazu besteht kein Anlass. Es ist ein privater Grund und könnte Sie verletzen.« Sie begann vorsichtig.
Sofort trat ein misstrauischer Ausdruck in Gerlindes Gesicht, den schmerzhafte Gewissheit ersetzte. »Sie wissen, was mir geschehen ist?«
Susanne nickte. »Mir ist es vor elf Jahren ebenso geschehen.«
»Deshalb stellten Sie mich ein? Ich habe den Wahnsinn so gut wie möglich verdrängt.« Dicke Tränen kullerten die Wange hinunter. Susanne stand auf und nahm die junge Frau in den Arm. Nach einiger Zeit fand Gerlinde ihre Fassung wieder und drückte sie weg. »Sie wissen, wer uns das angetan hat?« Etwas wie Hoffnung glomm in ihren Augen.
»Ja und nein. Seit gestern habe ich einen Namen und eine Adresse. Mehr nicht. Aber vielleicht eine erste Spur.«
»Wollen Sie sich das Schwein, packen? Ich bin dabei.« Sie sprang auf und ging zum Fenster. »Ich habe so lange darauf gewartet, mit jemandem darüber zu sprechen. Die Situation macht mich wütend, dass ich alles kurz und klein schlagen könnte, und ist mir ungemein peinlich, dass ich im Erdboden versinken möchte. Ich dachte mir, dass ich nicht die Einzige bin, der das passierte. Bin aber nie auf die Idee gekommen, andere Opfer zu suchen.«
»Bei mir spielte der Zufall eine Rolle.« Sie verschwieg, dass sie die Vergewaltigung Gerlindes hätte verhindern können, wenn sie sie damals angesprochen hätte. Die Gewissensbisse dazu, verdrängte sie. »Ja. Ich will mir das Schwein packen.«
*
Peter Brock saß, mit ungefähr fünfundzwanzig weiteren jungen Männern, um den langen Tisch. Es lief anders ab, als in seiner Fantasie. Die Kumpel- und Saufromantik, von der das Internet berichtete, gab es nicht. Der Raum, in dem sie tagten, wies schlichte und geschäftsmäßige Einrichtung auf. Mehr ein großes Konferenzzimmer. Keine Pokale, Urkunden oder Symbole an den Wänden.
Ihn packte nervöse Erwartung, weil er nicht wusste, was auf ihn zukam. Er besaß keine Vorstellung. Stefan Roth sah er nicht, obwohl der Lehrer ihn eingeladen hatte.
»Du wirst abgeholt«, sagte Roth bei der nächsten Begegnung auf dem Schulhof. »Tue einfach das, was dir gesagt wird … mag es dir auch noch so merkwürdig vorkommen.«
Und tatsächlich fuhr am späten Nachmittag des verabredeten Tages ein schwarzer Mercedes mit dunkel verspiegelten Scheiben vor. Der Fahrer ging wahrscheinlich davon aus, dass er ohne Aufforderung herauskam, denn er wartete. Wenig später fuhren sie los.
Peter wohnte in Übach-Palenberg, genauer gesagt im Stadtteil Boscheln. Sie fuhren dort auf die Roermonderstraße in Richtung Aachen. Doch in Altboscheln bog das Fahrzeug in Richtung Eschweiler zur A4 ab. Kurz vor dem Kreisverkehr mit dem Löwen reichte ihm der Fahrer eine Sturmhaube, mit dem Hinweis, er möge sie überziehen. Er folgte der Aufforderung verwundert und versank Dunkelheit.
»Eine Sicherheitsmaßnahme«, meinte der Fahrer. »Nach der Aufnahmeprüfung wird die Geheimnistuerei unnötig. Ein Tipp noch, du scheinst sympathisch zu sein. Halte die Klappe, bis du aufgefordert wirst, etwas zu sagen.«
Peter schwieg. Ihm wurde mulmig. Er konzentrierte sich auf sein Richtungsgefühl und, versuchte herauszufinden, wohin die Fahrt ging. Er nahm an, in die Eifel. Doch das konnte genauso falsch, wie richtig sein. Seine Gedanken schweiften und rekapitulierten, was er über die Burschenschaft erfahren hatte. Im Grunde, weniger als nichts. Den Namen Germanicus kannte er von Stefan. Im Netz stand nichts. Darüber war er weniger verwundert, als er sich zugestehen wollte. Der Reiz des Unbekannten hielt ihn im Griff. Aufgrund seiner überdurchschnittlichen schulischen Leistungen besaß er eine herausgehobene Stellung in der Schülerschaft, die, die Lehrpersonen förderten. Er war also etwas Besonderes. Damit stand ihm die Mitgliedschaft in einer wahrscheinlich exklusiven Burschenschaft zu. Allerdings berührten ihn zwiespältige Gefühle. Jedoch Stolz verdrängte die leichte Angst.
Das Internet rückte Burschenschaften in das rechte politische Spektrum. Das schreckte ihn nicht. Im Großen und Ganzen vertrat er die Thesen. Antisemitismus hielt er zwar für antiquiert, denn jeder sollte glauben, was er wollte. Doch, dass die Ausländer und bestimmte soziale Schichten dem Steuerzahler auf der Tasche lagen, durfte nicht sein. Und … Deutschland war kein Einwanderungsland. Genug, dass Deutsche mittlerweile Lewandowski und Lemaire hießen. Jetzt kamen noch Afrikanische hinzu. Das musste nicht sein. In Aachen besaßen Türken ganze Straßenzüge, während gute Deutsche und Rentner von Hartz IV lebten. Und seit Beginn des Jahres lud die Politik Rumänen und Bulgaren ein. Die Welt, in der er lebte, kehrte sich um. Alles, was die Vorfahren erkämpften und schufen, wurde aufs Spiel gesetzt.
Jetzt saß er hier und wusste weder, ob diese Mitglieder um ihn herum, genauso gegen Ausländer waren, wie er, noch, worauf sie warteten.
Als er vorhin die Sturmhaube abnahm, stand er im Flur eines scheinbar großen Hauses.
»Du wirst jetzt bis dreißig zählen und dann die Mütze abnehmen«, sagte der Fahrer, an dessen Gesicht er keine Erinnerung hatte. »Dann wirst du durch die Tür, die dir genau gegenüberliegt, gehen. Auf der linken Seite des Tisches ist ein Platz frei, den du einnehmen wirst. Dann wartest du ab. Wenn die Sitzung geschlossen ist, wirst du als Siebter den Raum verlassen, und zwar genau zwei Minuten nach deinem Vorgänger.«
»Guten Abend, meine Herren«, riss ihn die bekannte Stimme aus seiner Versunkenheit. »Mein Name ist Stefan Roth. Ich bin der Fuchsmajor.« Tatsächlich. Am rechten Ende des Tischs stand Stefan und musterte mit unbewegter Miene die Teilnehmer der Veranstaltung. »Ihr wurdet ausgewählt.« Er sah jedem Einzelnen in die Augen. »Die Zeit der Prüfungen beginnt. Wir prüfen euch und ihr prüft uns. Am Ende stehen lebenslange Freundschaft und beruflicher Erfolg. Die Entscheidung liegt bei euch.«
»Welche Prüfungen?«, fragte jemand, der schräg gegenüber von Peter saß.
»Hat dir niemand gesagt, dass du die Klappe halten sollst.« Stefan fuhr ihn hart an. Dabei glitzerten die Augen, wie Kiesel.
»Doch. Aber ich werde doch mal fragen dürfen«, stellte er beleidigt fest.
»Darfst du nicht. Folge den beiden.« Er wies zur Tür, wo zwei kräftige Männer standen, die unbemerkt in den Raum getreten waren.
Der junge Mann stand auf und ging mit den beiden vor die Tür.
»Meine Herren. Wir sind eine Vereinigung von Männern, die das Ziel haben, unsere Zukunft zu gestalten.« Stefan fuhr fort, als habe es den Zwischenfall nicht gegeben. »Um unser Ziel zu erreichen, haben wir Regeln, die teils ungeschrieben, teils geschrieben stehen. Wir befassen uns mit den Ungeschriebenen … die anderen könnt ihr nachlesen.« Er hielt einen Moment inne und fuhr mit der Hand über das Kinn. »Einen Verstoß gegen die Regeln ahnden wir mit Strafe. Ihr fragt euch jetzt, weshalb eure Kontaktmänner in den ersten Gesprächen, davon nichts sagten. Ganz einfach … weil ihr diesen Hinweis zu gerne ignoriert hättet. Hier in diesem Raum ist das anders. Er ist der Platz des Konvents, der Ort der Wahrheit und der Entscheidung. Ihr entscheidet jetzt, ob eure Zukunft in unserer Verbindung liegt. Es liegt in euch, welche Wahl ihr trefft. Eine falsche kann sehr schmerzhaft werden. Mehr werde ich hier und heute nicht dazu sagen. Wir treffen uns in zwei Tagen wieder. Das Prozedere ist das gleiche. Ihr werdet abgeholt. Die Zusammenkunft ist für heute beendet.« Er stand schon in der Tür, als er sich noch einmal umwandte. »Kein Wort über diese Sitzung. Ihr werdet es bereuen.« Wer ihm ins Gesicht sah, wusste, dass er besser schwieg.
*
Günter Säger wurde durch einen wahnsinnigen Schmerz aus dem Schlaf gerissen und stand mit einem Sprung neben dem Bett. Er erstarrte mitten in der Bewegung, als er die beiden vermummten Gestalten bemerkte.
»Hinsetzen«, befahl die verzerrte Stimme.
Er fiel, wie ein nasser Sack, zurück. Der durchtrainierte Körper wirkte nicht wie der eines Mittfünfzigers. Er trug dunkle Boxershorts.
»Wer seid Ihr? Was wollt Ihr von mir?« Er stieß die Fragen aggressiv hervor.
»Namen.«
»Welche Namen?«
»Von Vergewaltigern.«
»Ich weiß nichts von Vergewaltigungen.« Der stechende Schmerz warf ihn um und brachte ihn an den Rand einer Ohnmacht.
»Namen«, befahl die Stimme monoton.
»Ich weiß nichts von Vergewaltigungen«, wiederholte er. Der Schmerz packte wieder zu und krampfte sein Herz zusammen. Seine Lungen hechelten nach Luft. »Ich weiß nicht, was Ihr von mir wollt.«
»Gut«, stellte die Stimme fest. »Dann wollen wir Ihnen auf die Sprünge helfen. Sie entführen junge Frauen, die dann vergewaltigt werden.« Susannes hingespukte Worte klangen emotionslos aus dem Verzerrer.
»Ich …«, ein verwirrter Ausdruck trat auf sein Gesicht, »weiß nicht, wovon sie reden.« Der Körper wurde starr und die Züge zu einer Fratze.
»Frisch aufgeladen.« Susanne hielt den Elektroschocker hoch. »Entweder Sie sagen, was Sie wissen oder Sie bekommen noch einige Ladungen.«
»Ich weiß nichts.« Sein Körper erstarrte vor Angst, einen weiteren Schock zu erleiden.
»Sie müssen wissen, was Sie aushalten können.« Susanne zielte mit dem Taser.
»Was wollen Sie wissen?« Er schluchzte fast.
»Im Grunde alles. Für den Anfang genügen einige Namen. Und vor allen Dingen, weshalb?« Sie riss sich zusammen. Nach so langer Zeit brach die Vergewaltigung wieder über sie herein. Abscheu, Angst und unbändige Wut. Am liebsten hätte sie Säger gewürgt. Dieser Wicht in Unterhosen hatte ihr Leben zerstört. Aber nicht nur er.
»Das ist viel. Wenn ich Ihnen irgendetwas sage, ist mein Leben bedroht. Die sind nicht gerade zimperlich.« Er sah ihr trotzig in die Augen.
»Ihr Leben ist jetzt bedroht, das kann ich Ihnen bestätigen. Wer sind ›die‹?«
»Germanicus.«
»Wer oder was ist Germanicus?« Susanne schüttelte innerlich den Kopf. Was war das denn jetzt? Asterix und Obelix?
»Eine Burschenschaft oder Studentenverbindung.«
»Sie wollen sagen, dass eine Horde pickliger Jungen reihenweise Mädchen vergewaltigt?« Sie verspürte Abscheu, obwohl sie nicht wusste, was sie erwartete.
»Ganz so ist es nicht. Es gehört zum Initialisierungsprozess und geschieht unter Beachtung der Würde der jungen Frauen. Sie werden nicht verletzt und der Akt geht so stilvoll wie möglich vonstatten.« Er sprach ein wenig freier.
»Haben Sie noch alle Tassen im Schrank. Was ist an einer Vergewaltigung stil- oder würdevoll.« Sie drohte, auszurasten. Der Typ war durchgeknallt.
»In die Burschenschaft wird nur die Elite deutscher Studenten aufgenommen. Also eine Ehre für jede Frau.« Er glaubte, was er sagte, wie Susanne an seinem Gesichtsausdruck sah.
»Lassen wir das.« Gerlinde trat nach vorne. »Sie sprachen von einem Initialisierungsprozess.«
»Richtig. Die Einstellung der Zielpersonen wird auf die Organisation eingeschworen. Dazu gehören Unterwerfungsrituale. Eines davon ist die Begattung von Frauen vor den Augen einer Jury. Dabei wird auch sichergestellt, dass keine widernatürlichen Elemente in die Burschenschaft aufgenommen werden.« Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus.
»Sie sind ein perverses Schwein«, stellte Gerlinde fest. »Ich weiß nicht, ob ich tatsächlich wissen will, was dort abgeht.«
»Sie sprachen von der Elite …« Susanne übernahm vollkommen konsterniert das Gespräch. »Diese Menschen vergewaltigen zu Erziehungszwecken, Frauen. Finden Sie das normal.«
»Sie sind eine dieser Huren. Habe ich recht.« Er erhob sich halb und fiel sogleich zusammen, als Gerlinde und Susanne gleichzeitig auf die Auslöser ihrer Schocker drückten. Säger blieb regungslos liegen. Als der Zustand anhielt, stupsten ihn die beiden Frauen unsicher an. Er reagierte nicht. Susanne suchte den Puls am Handgelenk und der Halsschlagader. Nichts.
»Wahrscheinlich hatte er eine schwache Pumpe«, meinte Gerlinde maßlos entsetzt. Ihre Stimme klang kalt durch den Verzerrer. »Was tun wir jetzt?«
»Wir legen ihn ins Bett.« Susanne hob die Beine hoch. Ihr ging es genauso, wie ihrer Begleiterin. Das Herz setzte fast aus, als sie feststellten, dass ein Toter vor ihnen lag. Es war etwas anderes, jemanden in Gedanken umzubringen. Jetzt … dieses Stück Fleisch ... setzte andere Emotionen frei, die mit Befreiung und Enthusiasmus nichts zu tun hatten.
»Stopp«, befahl Gerlinde kurz und musterte die linke Schulter des Toten. »Hier. Dieses Tattoo habe ich schon einmal gesehen.«
Susanne kam näher und nestelte unter ihrem Umhang. Kurze Zeit später schoss sie einige Fotos mit dem Smartphone. »Wir sollten uns noch in der Wohnung umsehen«, meinte sie.
»Wir verschwinden besser«, stellte Gerlinde fest.
»Einen Moment.« Sie verschwand aus dem Schlafzimmer und ging im Nebenraum zum Schreibtisch, der ihr auffiel, als sie die Wohnung betraten. »Doktor Günter Säger«, murmelte sie.
»Dann hat dieses Schwein wahrscheinlich auch den Initialisierungsprozess durchgemacht«, warf Gerlinde ein. »Wir verschwinden jetzt.«
Beide bemerkten nicht die vermummte Gestalt, die, wenige Minuten nach ihrem Verschwinden, in das Haus Sägers schlüpfte. Der Tote sah aus, als wenn er schlief. Die unbekannte Gestalt stand überlegend am Fußende des Betts und entschied sich gegen ihr Vorhaben. Falls alles optimal lief, ging die Polizei von einem normalen Ableben aus und würde den jungen Frauen Schwierigkeiten ersparen. Doch, wenn Gras über die Sache gewachsen war, würde sie der Polizei die Zahl zwanzig, mit dem Hinweis auf Säger, schicken.
Die oder der Vermummte durchsuchte im Nachbarzimmer den Schreibtisch. Ein Ordner mit der Aufschrift ›Patientenverfügung‹ erregte die Aufmerksamkeit. Säger wollte keine lebensverlängernden Maßnahmen und verbrannt werden. Die unbekannte Person legte die Unterlagen gut sichtbar nach oben.
*
»Wo hast du dieses Tattoo schon einmal gesehen?«, fragte Susanne und zeigte auf das digitalisierte Foto auf dem Monitor.
»Bei so einem Typen, mit dem ich mal gepennt habe. Jörg und noch etwas. Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen. Weshalb fragst du?« Gerlinde schlug die Hände vor den Kopf. »Mein Gott. Ich habe mit so einem geilen Bürschchen aus dieser Burschenschaft gepennt. Ich glaub es nicht.«
Susanne nickte. »An den müssen wir herankommen.«
»Das bekomme ich hin. Aber mal etwas anderes. Wenn die jedes Jahr eine wie uns auf den Rammbock schnallen, dann muss es noch einige geben. Die sollten wir suchen.« Sie nippte an dem Glas mit Wasser, das sie vom Tisch nahm. Ganz hinten trat etwas, wie Angst in ihre Augen. »Wir haben diesen Typen umgebracht«, stellte Gerlinde fest und schüttelte sich. Sie erinnerte sich an das Entsetzen, das sie empfand, als sie die Klamotten, die sie bei dem ›Unfall‹ Sägers trugen, in einem Schmelzofen an der TH verbrannte. So stellte sie sicher, dass keine DNA-Spuren am Tatort zurückblieben. Aber klappte es auch tatsächlich?
»Ein Unfall«, sagte Susanne, um Fassung bemüht. »Aber darüber unterhalten wir uns später. Ich möchte jetzt nicht daran denken. Das mit den Mädels ging mir auch durch den Kopf. Aber, wie finden wir sie?« Sie griff nach einem Glas. Sie fröstelte. Es hing etwas in der Luft, was sie nicht packen konnte. Eine bange Ahnung zog hoch.
»Einen Teil kann ich an der TH abmachen. Wir wissen ja, welchen Typ Frau, die suchen. Marke BDM. Davon gibt es nicht so viele.« Gerlinde stand auf. »Ich habe in den letzten Tagen mit einigen Kommilitoninnen gesprochen. Die fänden es ganz gut, wenn es an der Hochschule eine Beratungsstelle für Vergewaltigungsopfer gäbe. Wenn wir Glück haben …«
»… finden wir die ein oder andere. Eine super Idee. Hast du dich über Burschenschaften informiert?«
»Wenn ich ehrlich sein soll: nein. Ich finde dieses Deutschgetue blöd. Da verkehren doch nur Spasmatiker.« Gerlinde reagierte empört.
Susanne grinste über den Begriff Spasmatiker, den sie auch benutzte, um die Behinderten nicht zu beleidigen. »Ich habe auch keine Ahnung. Dennoch sollten wir uns damit beschäftigen. Das ist in der Regel Filz auf höchster Ebene.«
»Von wegen Filz. Das sind rechte Radikale. Dieser Jörg, von dem ich vorhin erzählte, machte mir einen Vorwurf, weil ich keine Jungfrau mehr war.« Gerlinde schüttelte angewidert den Kopf und äffte eine gezierte Stimme nach. »Ein deutsches Mädel opfert die Jungfernhaut dem Manne, den sie heiraten will oder in der Hochzeitsnacht. Der Arsch hat einen Ratsch im Kappes. In welchem Zeitalter leben wir?«
Susanne holte eine Zeitung vom Schreibtisch. »Hier ist die Todesanzeige von Säger.« Sie kam wieder auf den Toten zurück. Ein gedankenverlorenes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Nach meinen Informationen ist er an Herzversagen gestorben … der Arme.«
»Das ist gut so.« Gerlinde blieb ernst. »Ich hatte schon Sorge, dass die Polizei ermittelt. Übrigens, am Wochenende muss ich nach Hause. Meine Mutter hat Geburtstag.«
Susanne nickte und dachte kurz an das kleine Dorf, aus dem ihre Mitarbeiterin kam. In einem anderen Leben, also vor ihrer Vergewaltigung, kannte sie einen netten Typ, der dort wohnte. Aus irgendeinem Grunde hatte es nie zwischen ihnen gefunkt. Doch sie blieben freundlich verbunden. War es tatsächlich schon mehr, als ein Jahrzehnt her, dass sie Kontakt mit Kurt Hüffner hatte?
»Was ist los?« Gerlinde unterbrach ihre Gedanken.
»Was soll schon los sein.«
»Du warst weit weg und sahst so glücklich aus.«
»Ich dachte an jemanden aus deinem Dorf.«
»An wen? Kenne ich den?«
»Möglich. Kurt Hüffner.« Susannes Augen ruhten gespannt auf ihr.
»Klar kenne ich den. Der ist vergeben. Da brauchst du dir keine Hoffnungen zu machen.«
»So dachte ich nicht an ihn. Er ist ein Freund.«
*