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Kurt Hüffner, der Dörfler, und Hauptkommissarin Claudia Plum, Großstätterin, ermitteln um den Fund von vier Skeletten. Der neugierige Kurt wird immer wieder von der Polzei ausgebremst, was ihn jedoch nicht hindert, über weitere Leichen zu stolpern, die irgendwie mit seiner Familie und ihm in Zusammenhang stehen. Unbeeindruckt von Hindernissen und Gefahr ermittelt er weiter.
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Seitenzahl: 470
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Impressum neobooks
Vier Skelette in der Heide sorgen für den Auftakt einer mörderischen Geschichte. Die Vergangenheit wirkt bis heute.
Kriminalhauptkommissarin Claudia Plum kehrt in das Dorf ihrer Kindheit zurück, an das sie keine Erinnerung hat.
Welche Rolle spielt der Dörfler Kurt Hüffner, der unbedarft über Leichen stolpert?
.
Herbert Weyand
KHK Claudia Plum
1. Fall
Heideleichen
Kriminalroman
Copyright © 2017 Herbert Weyand:
»KHK Claudia Plum 1. Fall« »Heideleichen«
All rights reserved.
Neu überarbeitet
Titelbild: © 2017 Laura Schruff
Herbert Weyand
52511 Geilenkirchen
Erstellt mit Papyrus Autor, www..papyrus.de
»Kurt ... komm.« Der Halbstarke packte aufgeregt seinen Arm. »Komm mit!«
Kurt Hüffner wollte den Jungen zurechtweisen, ihn wenigstens beim Joggen in Ruhe zu lassen. Doch den bittenden Augen des behinderten Heranwachsenden widerstand er nicht. »Leo, was machst du hier? Wissen deine Eltern, dass du so weit von zu Hause weg bist?«
»Ich darf. Habe gefragt.« Er zeigte mit den schmutzigen Fingern nach hinten. »Kurt, da ist ein Kopf ohne Augen.« Der Körper des Jungen bebte vor Aufregung.
»Was erzählst du da? Wo?«
»Dahinten. Komm!«, er zerrte ihn den Weg hinunter.
Leo lebte als eines der letzten Originale im Ort. Vierzehn oder fünfzehn Jahre alt und auf der geistigen Höhe eines vielleicht Siebenjährigen. Jeder im Dorf kannte ihn von klein an. Seinem Bewegungsdrang wusste niemand etwas entgegenzusetzen. Den Eltern gelang die Kontrolle nicht. Er strolchte überall herum. Der Halbstarke sah erstaunlich gut aus, mit den grünen Augen und dem tiefbraunen, von Wind und Wetter gegerbten, Gesicht. Das dunkle Haar klebte fettig am Kopf. Die ungelenke schlaksige Figur maß ungefähr einssiebzig.
Drei-, viermal in der Woche klingelte er im Dorf an den Häusern, an deren Bewohnern sein Herz besonders hing. In kurzen abgehackten Sätzen berichtete der Junge über seinen Tagesablauf.
»Dann lass uns mal sehen, Leo«, Kurt gab gottergeben nach und folgte dem Jungen, der nach wenigen Metern rechts ins Gebüsch ging. Leo zog ihn, mit der immer verschwitzten Hand, in das Gestrüpp. Nach zweihundert Metern blieb er stehen und zeigte auf den Boden.
Tatsächlich, da lag ein Schädel. Gelblich weiß, mit leeren Augenhöhlen, bot er einen schaurigen Anblick. Kurt beugte sich nach vorn. Ein flaues Gefühl in der Magengegend und Ekel stieg hoch. Ein Zustand, den er vor dem Jungen nicht zeigen wollte.
»Warum bist du gerade hierhergekommen?«, fragte er.
»Ein dicker Frosch. Ich bin hinterhergelaufen. Hier gefallen«, er zeigte auf den Totenschädel und sprach mit kieksenden Aussetzern. Typische Symptome des Stimmbruchs. »Hose kaputt. Gibt Ärger.«
Kurt scharrte mit dem Fuß die dünne Grasnarbe des Bodens beiseite, jeden Augenblick darauf gefasst, dass ihn der oder die Tote packte. »Scheiße.« Er zuckte zurück. Tatsächlich lagen da weitere Gebeine.
Was sollte er tun? Es war nicht so einfach. Wenn das jetzt kein historischer Fund aus der Steinzeit oder ähnliches war, besaß er die Arschkarte. Die beknackten Knochen lagen tatsächlich vor ihm. Sollte er sich den Ärger mit Polizei oder irgendwelchen Historikern antun? Der Junge war bei ihm. Also konnte er sich nicht einfach vom Acker machen. Er kratzte und stocherte mit einem Ast um die Knochen herum in der Walderde. Wie alt mochten die Gebeine sein? Vielleicht lag hier eine heidnische Begräbnisstätte mit Grabbeigaben? Dann sollte er wohl etwas finden, falls er tiefer in den Boden vordrang. Im Hintergrund grollte der Donner des nahenden Unwetters.
Die Gewitter der letzten Tage und der damit verbundene Regen hatten einen Teil der Böschung weggespült und das Skelett ans Tageslicht geholt. Wegen des Wetters fuhr er den Weg, den er sonst lief, mit dem Auto zum Parkplatz. An und für sich blöd. Nass wurde er so oder so. Ob im Feld oder im Wald. Fröstelnd zog er die angeblich wasserdichte Softshelljacke fester an den Körper.
Die Bemühungen zeigten Erfolg. Der Stock stieß auf Widerstand. Dort konnte alles und nichts liegen: ein Stein, ein Schatz oder noch ein Schädel. Mit spitzen Fingern räumte er die nasse sandige Erde beiseite und fühlte unter den Knochen einen schmierigen Gegenstand. Kurt zog erschrocken die Hand zurück. Eine weitere Leiche? Er würgte die bittere Galle hinunter. Mit dem Stock war nichts zu machen. Mittlerweile goss es in Kübeln.
Er kniete sich in den sandig morastigen Boden und steckte die Hand in die Matsche zwischen den Knochen. Er ertastete einen Griff, den die Finger umschlossen. In dem Augenblick, als er daran zog, schlug der Blitz, wenige hundert Meter entfernt, ein. Der nachfolgende gewaltige Donnerschlag ließ ihn fast ohnmächtig werden. Er suchte gehetzt die Umgebung ab. Langsam kam er wieder zur Ruhe. Unter großer Anstrengung löste er das rechteckige Etwas mit schmatzendem Geräusch. Eine glitschige Ledertasche! In das entstandene Loch lief Wasser und an den Rändern bröckelte der sandige Boden nach.
Wo war der Junge? Kurt sah sich um. Dahinten, an der Grenze des keimenden Rübenfeldes lief die schlaksige Gestalt in Richtung des Dorfs. Wahrscheinlich hatte Leo die Episode schon abgehakt. Kurt beneidete ihn und ignorierte die bange Ahnung, die Unheil versprach. Er säuberte die Hände im nassen Gras.
Na ja. Jetzt war nichts mehr zu machen. Er ging nachdenklich zum Auto und öffnete den Kofferraum, um die Schuhe zu wechseln.
Was trug er da in der Hand? Weshalb schleppte er die Tasche mit? Blöd. Wo blieben seine Gedanken? Was wollte er damit? Sollte er noch einmal zurückgehen? Nein. Er zuckte mit den Schultern. Kurt wühlte in den Plastiktüten, die für die Einkäufe dort vorrätig stapelten, und stopfte das Ding in eine hinein.
Dann suchte er das Smartphone. Er fand es unter den Bonbonpapieren in der Mittelkonsole. Hoffentlich erhielt er ein Netz. Hier im holländisch – deutschen Grenzgebiet wechselten die nationalen Betreiber laufend oder man bekam überhaupt keine Verbindung. Deutsches Netz – na, wer sagte es?
»Hallo. Ich habe ein Skelett gefunden.«
»Wer spricht? Wie ist Ihr Name?«, kam wie aus der Pistole geschossen die autoritäre Antwort.
»Hüffner. Ich bin hier auf dem Parkplatz der Teverener Heide. Von Grotenrath kommend«, gab er eingeschüchtert zurück, obwohl er ansonsten nicht bange war.
»Wo liegt die Leiche?«
»Keine Leiche. Ein Skelett«, stellte er richtig.
»Ein Gerippe, eine Leiche, das ist doch egal«, gab die Stimme gleichmütig zurück. »Bleiben Sie, wo Sie sind. Die Kollegen werden gleich bei Ihnen sein.«
»Okay!« Da hatte er den Schlamassel. Hätte er nicht einfach nach Hause fahren können? Nein! Das kam davon, dass er die Nase überall hineinsteckte. Was soll´s? Er wurde aufgeregt.
Da schoss schon das blausilberne Polizeiauto auf den Parkplatz und kam mit blockierenden Rädern, kurz vor der Grillhütte, schlitternd zum Stehen. An die neue Farbe konnte er sich nicht gewöhnen. Polizei war grünweiß.
»Hallo. Ich bin Polizeihauptmeister Schneider und dies ist mein Kollege Möller. Sie haben eine Leiche gefunden?« Der Polizist stellte die Frage, während er agil aus dem Auto sprang. Sie sahen in den blauen Uniformen aus, wie von einem privaten Bewachungsunternehmen.
»Ein Skelett. Keine Leiche. Ich habe es Ihrem Kollegen am Telefon schon gesagt.«
»Ist auch egal«, gab Möller zurück. »Zeigen Sie uns, wo die Leiche liegt.«
Kurt trottete los, um nach einigen Metern zu stoppen. »Sie können mit dem PKW bis fast davor fahren.« Er wies den Heideweg hinunter. Nach wenigen Minuten standen sie vor der Böschung. »Dort oben. Etwa zweihundert Meter weiter rein.« Kurt zeigte zu dem Platz, an den ihn Leo vor annähernd einer halben Stunde schleppte.
»Ich gehe allein hinauf«, sagte Schneider. »Wegen eventueller Spuren«, bemerkte er fast entschuldigend. Nach kurzer Zeit kam er wieder herunter.
»Tatsächlich. Dort liegt ein Skelett. Verständige bitte die Kollegen von der Kripo«, sagte er zu Möller. »Hoffentlich gibt das keinen Ärger. Sie haben alles zertrampelt«, äußerte er vorwurfsvoll. »Was haben Sie eigentlich dort gesucht. Das ist doch Naturschutzgebiet. Hüffner sagten die von der Zentrale. Kommen Sie mit zum Fahrzeug.« Er tippte mit einem Finger gegen Kurts Oberarm. »Dort erfasse ich Ihre Personalien, dann dürfen Sie nach Hause. Sie werden ja nicht der Mörder sein. Ha ha …, im Affekt und bis auf die Knochen abgenagt. Die Kripo wird sich bei Ihnen melden.«
»Im Grunde habe ich das Skelett dort hinten nicht gefunden, sondern Leo«, bemerkte er zu dem Beamten, der nicht alle Tassen im Schrank zu haben schien.
»Und wo ist der?«
»Er ist gegangen.«
»Ja weiß der denn nicht, dass er auf uns warten musste?«
»Nein«, sagte Kurt kurz und lakonisch.
Eine halbe Stunde später und nach endlosen Fragen zu Leo fuhr Kurt zuhause vor. Er bewohnte einen Altbau in der Waldstraße. Das Haus lag verdeckt, von der Straße kaum einsehbar, im Hintergrund. Mächtige Obstbäume, deren ausladende Äste über das Dach strichen, begrenzten es. Ein Bauernhaus aus Ziegelsteinen, wie sie in der Gegend seit Jahrhunderten verwendet wurden. Wahrscheinlich so um neunzehnhundert gebaut. Unterlagen gab es auf dem Katasteramt nicht mehr und die Angaben der Alten im Dorf differierten um etwa zehn Jahre.
Zwei Reihen kleiner Fenster mit Sprossen blitzten aus dem Gemäuer heraus. Rechts von der Haustüre kletterte eine Rose bis zur Dachrinne empor. Im Vorhof stand eine Vielzahl unterschiedlicher Blumentöpfe, deren Pflanzen einen liebevoll gepflegten Eindruck machten.
Aus den bescheidenen engen Zimmern des Gebäudes wurden im Verlaufe der Zeit große helle freundliche Räume. Der Stall hinter dem Haus beherbergte die kleine Werkstatt und einige Kaninchen sowie Hühner. Die Idee der Selbstversorgung war schnell aufgegeben. Familienmitglieder schlachtete er nicht. Sie gehörten jetzt auf immer und ewig zu ihm. Die beiden Katzen nervten bei jeder Gelegenheit. Ständig miaute eines der Viecher auf der Suche nach Streicheleinheiten. Kurt überlegte, den Bestand um chinesische Laufenten zu erweitern. Die Schneckenplage in den letzten Jahren trieb ihn in den Wahnsinn, wenn wieder eine Gemüsepflanze abgenagt einging. Aufsammeln, mit einem Nagel totstechen oder salzen, fand er eklig. Aber die Enten waren eine Sache. In der weiteren Nachbarschaft liefen einige herum. Der Garten dort sah aus, wie ein Golfplatz mit tausend Löchern. Das musste er nicht haben.
Kurt saß müde und ausgelaugt am Küchentisch. Die Haut kribbelte und die Gedanken kreisten. Der Donnerschlag … war das ein Zeichen? Die Sache ging ihm mehr an die Nieren, als er sich eingestand. Er ließ Revue passieren, was geschehen war. Ein Skelett? Wie lange musste ein Mensch unter der Erde liegen, bis nur noch die Knochen übrig blieben? Lag ein Verbrechen vor? Er wäre liebend gerne an Ort und Stelle gewesen, um mitzuerleben, was im Moment dort geschah.
Aus dem Fenster sah Kurt auf den Heiderand. Ein dunkler Strich in der Landschaft. Davor kämpfte das Wintergetreide gegen die Wasserfluten. Ende April. Das Wetter machte dem Monat alle Ehre. Schwarz rückte eine Wolkenwand aus den Niederlanden, wahrscheinlich direkt von der Nordsee, heran. In dieser Gegend kam das schlechte Wetter immer aus Holland.
Kurt fand keine Ruhe. Die Gedanken kreisten und da war sie wieder, die Ahnung … die ihn vorhin beim Anblick des Totenschädels beschlich. Er wuchtete seine einsneunzig vom Stuhl und trat vor das Fenster. Mit den breiten Schultern, den schmalen Hüften und vor allem dem markanten Gesicht machte er eine eindrucksvolle Figur. Mitte dreißig, fast siebenunddreißig. Seine jungenhafte Unbekümmertheit trat hinter der tiefen Ernsthaftigkeit, die ihm inne lag, zurück. Genauso sorglos, wie er oft wirkte, kleidete er sich: Jeans und Shirt. Wenn es kalt wurde, schon einmal einen Parka. Das mittelblonde halblange Haar stand wirr vorm Kopf.
Das Hochmoor kannte er seit der Kindheit. Seine Wurzeln lagen in dieser Gegend, und zwar im Feindesland … im benachbarten Teveren. Gern erinnerte er sich der Schlachten, die sie sich als Jugendliche auf den Rübenfeldern lieferten. Die Knollen flogen nur so. Die Kinderjahre wurden durch die unheimlichen Geschichten, die das Hochmoor schrieb, geprägt. Viele der alten Leute besaßen das Zweite Gesicht, wie es prosaisch hieß. Er wusste, was es bedeutete, konnte sich jedoch nichts darunter vorstellen. Dazu fehlte ihm die Fantasie. War es dieser Instinkt, der in den Gedanken nach vorn zu dringen suchte?
Vielleich sollte er Griet anrufen? Vor Jahresfrist war die niederländische Anthropologin in aller Munde. Sie barg aus einem Keltengrab eine silberne Scheibe mit unbekannten Schriftzeichen, die sie spektakulär entzifferte. Die Wissenschaftlerin blieb im Dorf hängen. Sie lebte mit Paul Grebner zusammen, mit dem ihn lockere Freundschaft verband.
Ein Auto näherte sich. In diesem Dorf und bei diesem Wetter, ungewöhnlich. Neugierig ging er zum Wohnzimmer und schaute aus dem Fenster. Ein dunkler Mittelklassewagen. Unbekannte Marke. Ihm entstieg eine Frau in einem Kostüm. Interessiert musterte er sie. Knappe einssiebzig groß, brünettes halblanges Haar und sportliche Figur. Sie strahlte Eleganz aus. Nicht die Art Frau, die ihn reizte. Doch, wie sie dort stand und sich orientierte, konnte er ein Interesse keinesfalls bestreiten. Sie kam auf das Haus zu und entriegelte das Törchen zum Hof. Wer mochte sie sein? Eine Vertreterin? Polizei? Bestimmt nicht. Dazu war sie auf keinen Fall der Typ.
»Ja.« Er öffnete die Tür, während der Glockenschlag verklang.
»Hauptkommissarin Plum, Mordkommission Aachen«, sie hielt ihm einen Ausweis entgegen, den er genau musterte. »Stimmt etwas nicht?«, fragte sie lächelnd.
»Doch, doch. Hüffner«, stellte er sich vor. Natürlich, mit rotem Kopf, weil er ein Geburtsdatum suchte. Also doch Polizei. Wie man sich täuschen konnte. »Sie kommen wegen der Sache in der Heide?«
»Richtig«, bestätigte sie. »Darf ich hereinkommen?«
»Natürlich«, er machte eine Handbewegung ins Haus.
Die Beamtin trat ein und ließ den Blick aufmerksam kreisen. Sie erfasste die geschmackvolle Renovierung. Trotz der Veränderungen, die die Räume sicherlich erfahren hatten, gaben sie gemütliche Altbauatmosphäre wieder. Die außergewöhnliche Höhe der Decken wurde durch Stuckleisten betont. Ein, wegen des Alters fast schwarzer Schrank, groß und mächtig, fing ihren Blick ein. Der Korpus wies ungewöhnliche Schnitzereien auf, die sie vorher noch nie gesehen hatte. Die Polizistin ließ ihre Augen durch den großen Raum wandern, dessen unterschiedliche Nutzung von der Möblierung bestimmt wurde. Der Parterrebereich bestand aus einem riesigen Zimmer. Kurt Hüffner führte sie zum hinteren Teil. Der mächtige dunkle, fast schwarze Tisch beherrschte das Bild. Offenkundig das gleiche ungewöhnliche Holz wie der Schrank, dachte sie. Rechts sah sie in einen modernen Küchenbereich, auf dessen Arbeitsplatte Kartoffel- und Zwiebelschalen lagen. Ansonsten blitzte alles.
Ganz anders als bei mir, dachte sie und bemerkte laut, »Gemütlich haben Sie es hier.«
»Hat auch viel Zeit gekostet«, gab er zurück. »Nehmen Sie Platz«, und zeigte in Richtung des Esszimmertisches. »Kaffee, Tee?« Sie schritt fast lautlos durch das Zimmer. Kurt riskierte einen Blick nach unten, auf schmuddelige, ehemals weiße Sportschuhe. So viel zur Eleganz dachte er kritisch an den ersten Eindruck.
»Ja gern«, sagte sie in einer mittleren Stimmlage, die einschmeicheln konnte. Ihr Blick wanderte weiter und bemerkte die Treppe. Beim Betreten des Raumes verbarg rechts eine Wand den Aufgang. Die Wände zierten einige Bilder. Sie zeigten immer wieder den gleichen Bereich einer Heidelandschaft zu den unterschiedlichen Jahreszeiten in allen Farbtönen. Eine gewaltige Rotbuche stand im Vordergrund, durch deren Ästegewirr die Sonne schien. Je nach Saison war das Tagesgestirn nur als Schemen zwischen den Blättern, denen es einen goldenen Glanz gab, zu erkennen. Rundherum das typische harte Heidegras mit einer weit gezogenen Wasserfläche im Hintergrund.
»Milch? Zucker?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Meine künstlerische Phase.« Er nickte zu den Gemälden und stellte eine Tasse Kaffee auf den Tisch. Dann saß er ihr gegenüber und wartete ab.
»Eigentlich wollte ich Ihnen berichten. Ich dachte, Sie besitzen ein Recht darauf, weil Sie die Fundstelle ausgemacht haben«, begann sie.
»Und uneigentlich?«, unterbrach er sie.
»Sie natürlich befragen«, antwortete sie und lehnte entspannt zurück. Dabei kräuselte sich ihr Mund, der für seine Verhältnisse etwas zu blass war. Vielleicht lag es auch am Wetter, denn blutlos wirkte sie keineswegs. Ihre braunen, dicht bewimperten Augen musterten ihn aus einem ungewöhnlichen Gesicht. Nicht klassisch schön, jedoch ungemein anziehend mit leichten Grübchen in den Wangen, die davon zeugten, dass sie gern lachte. »In der Nähe des Skeletts, das Sie gefunden haben, liegen die Überreste von wenigstens zwei weiteren Toten. Überschlägig seit mindestens dreißig Jahren. Die Rechtsmedizin in Köln wird einen genaueren Zeitpunkt bestimmen. Unsere Techniker glauben nicht daran, Spuren oder verwertbare Zeichen zu finden.«
»Ich habe es Ihren Kollegen schon gesagt. Leo hat die Leiche gefunden und mich hinzu geholt«, sagte er leicht gereizt.
»Wer und wo ist Leo?« Sie bemerkte seinen Unmut.
»Leo ist ein geistig behinderter Junge und wohnt irgendwo im Grenzweg. Er treibt sich überall und nirgends herum und nervt die Leute. Heute erwischte er mich und was habe ich davon? Leichen.«
»Wenn er behindert ist, halte ich mich doch besser an Sie oder nicht. Er wird kaum etwas Verwertbares sagen, wenn ich Sie richtig verstehe.«
»Ist schon gut«, gab er zugänglicher zurück. »Zeitlich also, Ende der Siebziger. Da gibt es nichts, woran ich mich erinnern könnte«, knüpfte er zu dem an, was sie vorher sagte.
»Kommt hin«, sagte sie. Er sah sie überrascht an, bis er bemerkte, dass er seine Gedanken laut äußerte. An und für sich dachte er lediglich nach.
»Was geschieht jetzt?«
»Unsere Spurensicherung ist bei der Arbeit. Sie haben das Gelände großräumig abgesperrt. Wir mussten Zelte aufsetzen. Bei diesem Wetter ist es fast unmöglich, draußen zu arbeiten. Ihre Personalien haben wir. Was machen Sie beruflich?« Sie warf einen Rundumblick durch den Bereich, in dem sie sich aufhielten.
»Hartz IV«, antwortete er. Dabei bildeten sich kleine Lachfältchen um die Augen.
»Echt?«, fragte sie erstaunt. »Und Sie können das hier alles …« Sie unterbrach sich. »Das glaube ich Ihnen nicht.«
»Richtig«, gab er zu. »Maschinenbau- und Physikstudium und jetzt bei einer Aachener Firma und der RWTH beschäftigt. Das Geschäft boomt, trotz Finanzkrise und Kreditklemme.«
»Na gut«, sagte sie. »Ich habe meinen Job erledigt. Bin dann wieder auf dem Abflug.« Sie erhob sich und gewährte ihm einen Blick auf die perfekt geformten Beine und die schmuddeligen Sportschuhe. »Ich versuche, Sie auf dem Laufenden zu halten. Die Untersuchungen dauern bestimmt noch länger. Wenn das Wetter allzu bescheiden ist, wärme ich mich bei Ihnen auf.«
»Gern. Wann immer Sie wollen.«
Er brachte sie zur Türe, in der sie stehen blieb und nach draußen auf den Hof wies.
»Sie machen sich viel Arbeit.« Sie zeigte auf die Pflanzentöpfe.
»Ich bin verliebt in dieses Haus und denke, es hat die Pflege verdient«, gab er unbefangen zurück.
Er beobachtete, wie sie langsam losfuhr. Sollte das alles gewesen sein?
*
Ein halbes Jahr früher.
»Sie wollen uns verlassen, Frau Plum.« Kriminaldirektor Reiner Ziegler empfing sie im Besprechungsraum des Bürotrakts, der auf den Rhein zeigte. Zwei, ihr unbekannte männliche Figuren, flankierten Ziegler, am Kopfende des Tisches, an dem zwanzig Personen Sitzgelegenheit fanden.
Die Hauptkommissarin nahm am anderen Ende Platz und schaffte somit sieben Meter Distanz.
Du hast keine Eier in der Hose, dachte sie wütend. Vor einigen Monaten beendete sie die heiße Affäre mit ihm. Aber erst nachdem sie erfuhr, dass seine Frau, von der er sich angeblich trennen wollte, ein Kind erwartete. Jetzt wagte dieser Hanswurst nicht, ihr alleine gegenüberzutreten.
»Von Wollen kann keine Rede sein, Herr Ziegler.« Sie sah ihm kalt in die Augen, die er als erster niederschlug.
»Ich habe Ihnen gesagt, dass sie schwierig ist.« Er grinste verschwörerisch zum linken und dann zum rechten Nachbarn, in deren Gesichtern kein Ausdruck lag.
»Was soll das, Ziegler? Du hast meine Beförderung verhindert … reicht das nicht.« Sie nahm alle Kraft zusammen, um nicht zu brüllen. Tatsächlich klangen ihre Worte kalt und beherrscht. Sogar ein Lächeln spielte um ihre Lippen.
Der Kriminaldirektor warf einen bezeichnenden Blick zur unterstützenden Begleitung.
»Deine Speichellecker kannst du raus schicken. Die Spatzen pfeifen vom Dach, dass ich so blöd war, mich mit dir einzulassen. Nur deine Frau weiß nichts … noch nicht.«
»So sind sie, wenn sie verschmäht werden.« Er hielt die beiden zurück, als sie aufstehen wollten. Ihnen wurde der Wortwechsel sichtlich unangenehm.
Wut und Aufregung fielen von Claudia ab. Sie benahm sich wie eine verlassene Ehefrau. Dabei hatte sie ihn zum Teufel geschickt. Sie schaltete den Verstand ein.
»Deine Telefonanrufe sind auf meinem Anrufbeantworter«, sie lächelte jetzt echt, weil Schrecken über sein Gesicht zog. »Falls jemals bekannt wird, was du dir als verschmähter Liebhaber leistest, wirst du Schwierigkeiten haben, deinen Job zu halten.« Sie hielt kurz inne. »Richtig. Ich habe mich nach Aachen beworben und weiß nicht, weshalb ich mich mit dir hier abgebe. Meine Stelle dort ist sicher. Also scher dich zum Teufel.
Jetzt schicke deine Speichel leckenden Wachhunde raus. So naiv sind nur Männer.« Innerlich schüttelte sie den Kopf über die Blauäugigkeit ihres Exlovers. Sie wartete, bis die beiden betreten den Raum verließen. »Du lieferst dich unnötig den Blödmännern aus. Die werden dich bei der ersten Gelegenheit in die Pfanne hauen.« Sie hielt kurz inne und sammelte ihre Gedanken. »Deine Beurteilung zu meiner geleisteten Arbeit entbehrt jegliche Objektivität. Das wirst du ändern.« Ihre Augen blickten eiskalt in sein versteinertes Gesicht.
»Und wenn nicht?« Durch Ziegler ging ein sichtbarer Ruck.
»Ich habe deinetwegen Mobbing und Schikane ertragen. Ich liebte dich einmal.« Sie unterdrückte das aufkommende sentimentale Gefühl. »Jetzt ist Schluss. Ich werde meine neue Stelle in Aachen mit sauberer Weste antreten. Dafür wirst du sorgen.«
»Nichts werde ich tun. Du bist eine Schlampe.« Er erhob sich halb und angriffslustig. Dabei stützte er die Hände auf den Schreibtisch und geiferte in ihre Richtung.
»Nur ein Name: Rother.«
Ziegler wurde blass und sank zurück. Sein Gesicht wurde alt und grau.
»Also scher dich zum Teufel.« Sie stand auf und ging zur Tür, wo sie stehen blieb. Claudia hob den Finger und deutete auf ihn, als wolle sie ihn mit einem Fluch belegen. Sie überlegte es sich anders und schluckte die Worte, die auf ihrer Zunge lagen.
»Wichser«, fluchte sie halblaut, als sie zur Tiefgarage ging.
»Welch ein Wort in diesen ehrwürdigen Hallen.« Der etwa einsfünfundsechzig große Mann mit der hohen Stirn und dem schütteren Haar lächelte. Er mochte um die sechzig sein. Er stieg aus dem Fahrstuhl.
»Wenn es doch wahr ist«, spuckte sie heraus und hielt inne. »Kann ich Ihnen helfen?« Er wirkte nicht so, als wenn er zum Verein gehörte. Die ausgebeulte Jeans spannte über dem Bauch und das zerknitterte Jackett konnte er bestimmt nicht mehr schließen.
»Ich suche Kriminaldirektor Ziegler.« Er musterte sie freundlich.
»Das ist der Wichser.« Sie grinste, weil sie sich in die Situation des kleinen Mannes versetzte. Welchen Eindruck musste er von ihr bekommen? »Den Gang hinunter die vorletzte Türe. Da ist das Sekretariat.« Sie zeigte in die Richtung, aus der sie kam. »Ohne Termin haben Sie keine Chance. Viel Glück.« Sie wandte sich ab und forderte per Knopfdruck den Lift an.
*
Claudia Plum stand auf dem Feldweg und sah zu dem Dorf hinunter, an das sie keine Erinnerung mehr besaß. Sie kannte es lediglich aus den Erzählungen der Eltern. Über die Zeit, in der sie hier lebten, erzählten sie nichts. In einer Art sentimentaler Anwandlung programmierte sie vor einer guten Stunde das Navi und gab den Ort ihrer Kindheit ein. Jetzt stand sie hier und fragte sich, was sie hier wohl wollte. Ein Straßendorf, stellte sie fest. Das Auto parkte an der Fahrbahn zur NATO Air Base auf einem Wirtschaftsweg, der parallel dazu lief und scheinbar nicht mehr genutzt wurde. Die Häuser verschwanden unter dem Blätterdach der Bäume. Unten am Hang machte sie, aufgrund der Vegetation, einen Bachlauf oder auch nur ein Fleet aus. Über das Dorf hinweg, am Horizont, lag ein Waldsaum der von hier aus, einen dichten Waldbestand versprach. Ungefähr zwei Kilometer links von ihr lag Holland oder die Niederlande, wie es politisch korrekt, hieß. Das hatte sie vorhin auf der elektronischen Karte ihres Navigationsgerätes gesehen. Sie klaubte in ihrer Erinnerung. Ihre Eltern, also auch sie, lebten bis vor ungefähr einem Vierteljahrhundert in der Waldstraße. Als sie vorhin mit dem Auto die Straße befuhr, betrachtete sie die Häuser und überlegte, welches es wohl sei. Nichts, aber auch nichts, kam ihr bekannt vor. Sie wusste nicht, welcher Teufel sie ritt anzuhalten und jetzt auf das Dorf zu schauen.
Claudia schaute auf die Uhr, gerade Neun. Die Zeit reichte. Sie wollte sich heute bei den Kollegen ihrer neuen Dienststelle in Aachen vorstellen. In vierzehn Tagen würde sie ihren Dienst antreten. Sie stieg ins Auto und fuhr zum Wald. Heide, verbesserte sie den ersten Ausdruck. Auf dem Hinweisschild stand Heideparkplatz. Je näher sie kam, um so verwunderter wurde sie. Bereitschaftsfahrzeuge der Polizei parkten rechts und links der Straße. Es dauerte nicht lange und sie wurde aufgehalten. Gedankenlos hielt sie Ihren LKA-Ausweis hinaus, den sie Ende des Monats abgeben musste. Der Beamte winkte sie durch. Auf dem angekündigten Parkplatz fand sie ohne Probleme eine Möglichkeit, das Fahrzeug abzustellen. Was war hier los? Nach einer Übung sah es keinesfalls aus. Ein verdeckter Einsatz? Heute Morgen im PC stand nichts darüber. Also nichts Offizielles. Sie ging neugierig zum Weg, der in die Heide hineinführte. Sie wurde an dem Hinweisschild zum Naturschutzgebiet gestoppt.
Ein kleiner Mann, mit Halbglatze, Mitte vierzig, Anfang fünfzig hielt sie auf. »Was haben Sie hier zu suchen? Wie sind Sie durch die Kontrollen gekommen?«
»Hauptkommissarin Plum. LKA.« Sie hielt ihren Ausweis hin.
»Und«, sagte er nach einem flüchtigen Blick auf ihre Karte.
»Was und?«, fragte sie ungehalten.
»Sie haben hier nichts zu suchen«, antwortete er gelassen und freundlich.
»Mag sein«, gab sie zu. »Ich sah den Aufstand dort hinten«, sie wies mit dem Kopf zu den Einsatzfahrzeugen, »und dachte, ich schaue mal, ob ich helfen kann.«
»Können Sie nicht«, stellte er gemütlich fest.
»Ich will mich keinesfalls aufdrängen«, sagte sie und trat einen Schritt zurück. »Aber ich bin neugierig. Was ist hier los?«
Der Kleine lächelte amüsiert. »Das verstehe ich. Aber jetzt gehen Sie bitte.«
Claudia blieb wie versteinert stehen. Ärger kroch hoch. »Wer sind Sie? Fertigen Sie mich nicht wie eine Idiotin ab.«
»Tu ich«, meinte er, weiterhin freundlich. »Wer ich bin, wollen Sie nicht wissen.« Er hob die Hand und schon standen zwei Uniformierte neben ihr. »Bringt die Kollegin zu ihrem Auto.« Er ging den Hauptweg in die Heide hinein und ließ Claudia einfach stehen.
»BKA«, sagte einer der Polizisten leise. »Am besten gehen Sie jetzt. Die werden ganz schön fies.«
Claudia nickte. Sie wollte keinen Aufstand. Doch ihr kochte das Blut. »Was ist hier los?«
»Das interessiert mich auch«, sagte der andere. »Wir haben einen Ring um die Heide gezogen und müssen jeden aufhalten, der hinaus oder hinein will. Der Einsatz läuft als Übung, wegen Presse und so.«
»Wir wurden vergattert den faktischen Grund nicht weiterzugeben.« Der Erstere übernahm wieder. Die beiden wurden mitteilsam, nachdem sie wussten, dass sie eine Kollegin war. »Irgendso ein anthropologischer Quatsch, so viel habe ich mitbekommen.«
»Ja, danke«, sagte Claudia und stieg in ihr Fahrzeug, an dem sie mittlerweile angekommen waren. Sie fuhr mehr nachdenklich, als aufgebracht auf das Dorf zu. Dieses Gebiet hier war der äußerste nördliche Zipfel ihres zukünftigen Dienstbereichs. Also würde sie doch die Nase daran bekommen, was hier wirklich geschah.
*
Claudia Plum wurde nach ihrem Studium an der Hochschule der Polizei in Münster nach Düsseldorf zum LKA versetzt, wo sie bis jetzt ihren Dienst versah. Den Aufstieg in den Höheren Dienst verkniff sie sich. Dafür war sie im Moment noch zu jung. Nachdem ihr dieses blöde Malheur mit Ziegler passierte, überlegte sie kurz. Aber nur sehr kurz. Gegen die Mobbingattacken offiziell vorzugehen, war zu blöd. Sie suchte keinen Job in der Verwaltung, sondern wollte mit Menschen arbeiten. Als die Stelle in Aachen vakant wurde, bewarb sie sich, noch bevor sie ausgeschrieben wurde. Der Zuschlag erfolgte prompt. Sie beabsichtigte, es mit dem kleinen Team zu versuchen, das ihr Vorgänger für die Ermittlungsarbeit um sich gebildet hatte. Falls ihr das nicht reichte, bestand immer noch die Möglichkeit, die Truppe personell zu verstärken. Schließlich wurde sie Chefin. Da waren zwei Oberkommissare: Heinz Bauer und Maria Roemer. Die Personalpapiere der beiden sah sie sich etwas genauer an, während sie die der anderen später intensiver studieren würde.
Einen großen Vorteil hatte der Job in Aachen, und dafür musste sie Ziegler im Grunde dankbar sein: Sie konnte endlich sesshaft werden. Die weiten Touren und Hotelzimmer wurden Vergangenheit. Auch nicht schlecht.
Das Navi leitete sie über die holländische Grenze auf eine breit ausgebaute Umgehungsstraße. Sie führte am Kloster Rolduc vorbei und Claudia erhaschte dahinter einen kurzen Blick auf die Burg Rode. Ein eigenartiges Gefühl beschlich sie, das ihr nur allzu bekannt war. Ähnliches geschah auch vorhin in der Heide. Zwischen dem, was dort im Moment geschah und von dem sie keine Ahnung hatte, was es war, bestand eine Verbindung. Zum Kloster? Zur Burg? Sie wusste es nicht. Doch sie hatte gelernt, ihrer Intuition zu folgen. Sie machte eine gedankliche Notiz.
Sie fuhr weiter durch Kohlscheid, eine alte Zechenstadt, wie sie wusste und von dort, am Paulinenwäldchen vorbei, hinunter in die Soers, wo das Polizeipräsidium lag. Etwas an den Rand, der Sportanlagen von Alemannia und dem Stadion des Aachen Laurensberger Reitvereins, gedrückt und gegenüber der Justizvollzugsanstalt. Jedoch im Moment überblickte sie das weite Tal, in dem Aachen lag. Auf der gegenüberliegenden Seite zogen die Bergrücken der Eifel, mehr wie eine Ahnung, den Horizont entlang. Sie nahm die Atmosphäre auf und verstand, dass dieses Gebiet schon mehr als zweitausend Jahre besiedelt wurde. Wenige Minuten später fuhr sie auf den tristen Hof des Präsidiums und sah auf das ebenso triste Gebäude.
Angekommen?
*
»Hab ich denn nie Ruhe?« Maria brummelte leise und sah der jungen Frau entgegen, die den Büroraum betrat. »Einen Augenblick bitte«, sagte sie etwas lauter. »Ich hab hier ein kniffliges Problem, was ich fertigbekommen muss.« Sie hob kaum den Blick vom Monitor.
»Darf ich mal sehen?«, fragte die Besucherin mit angenehmer Altstimme. »Ich bin eine Kollegin aus Düsseldorf«, meinte sie, als Maria hochfahren wollte, und hielt ihr den Ausweis vor die Nase.
»Von mir aus.« Maria rutschte ein wenig zur Seite.
»Das Programm ist mir bekannt. Ziemlich neu und nur dem LKA zugänglich. Aber macht nichts. Wenn Sie hier und dort, die Häkchen setzen«, sie zeigte mit den manikürten Fingern auf die entsprechenden Stellen der Maske, »dann bekommen Sie ein Ergebnis.«
»Tatsächlich«, jubelte Maria. »Wir stehen unter Zeitdruck und dann klappt nichts. So«, sagte sie. »Jetzt absenden und dann heißt es warten.« Sie lehnte sich zurück und musterte die elegante Erscheinung. Mitte zwanzig, ungefähr einssiebzig groß und eine sportliche Figur. Maria wurde fast neidisch. Für einen solchen Body musste sie fünfzehn Kilo abspecken. Die Frau trug ein dunkelgrünes Kostüm, dessen Rock circa zwei Fingerbreit über den Knien endete. An den Füßen ein Paar schmuddelige, ehemals helle, Sportschuhe. Ihr Blick glitt nach oben und sah in graue, spöttisch blickende Augen. Das gut geschnittene Gesicht wurde von halblangen brünetten Haaren umrahmt. »Aus Düsseldorf kommen Sie? Und vom Landeskriminalamt?«
Ihr Gegenüber nickte.
»Sie haben mich in der Hand.« Maria lächelte entwaffnend. »Manchmal muss ich Wege beschreiten, die an der Grenze der Legalität liegen.«
»Die Sie ganz klar überschritten haben. Aber ich kann dichthalten.« Sie reichte die Hand über den Schreibtisch, als die Tür aufflog und Heinz Bauer hereinstürmte. Er hatte nur einen kurzen Blick für die Besucherin. »Maria. Ich muss alles über einen Kreißler und sein Umfeld haben.«
»Ich bin dabei. Übrigens, eine Kollegin aus Düsseldorf.« Sie nickte zu der jungen Frau hinüber.
»Die Vorhut für den Kollegen C. Plum?«, fragte Heinz aggressiv.
»Genau«, sagte Claudia.
»Dann sagen Sie diesem Menschen, dass wir im Moment keine Zeit haben. Wenn der Fall abgeschlossen ist, melden Sie sich wieder.«
»Ich werde es ihm ausrichten. Aber ich habe Zeit. Wenn Sie ein wenig Hilfe gebrauchen können? Ich habe in Düsseldorf in der Mordkommission meinen Dienst versehen.« Sie lächelte dienstbeflissen.
»Auf keinen Fall«, polterte Heinz. »Stopp. Keiner bewegt sich.« Er tippte mit der Fingerspitze gegen die Schläfe. »Wichser.« Er lachte laut. »Sie hatten so etwas von recht. Willkommen Kollegin.« Er nahm ihre Hand und schüttelte sie begeistert. »Sie sind Claudia Plum.«
»Wir begegneten uns auf dem Flur zu Zieglers Büro.« Ihr Gesicht bekam einen verlegenen Ausdruck. »Das war keine gute Visitenkarte.«
»Die beste, die sie abgeben konnten.« Er hielt ihre Hand noch immer. »Der seltsame Kriminaldirektor zog über sie her. Ich wurde stutzig und zog Erkundigungen ein. Weshalb bin ich bei der Polizei?« Er riss wie erstaunt die Augen auf. »Die Kollegen erzählten von einer Kollegin, der er übel mitspielte. Ich dachte nie, dass Sie das sind.«
»Tut mir leid«, sagte sie peinlich berührt. »Ich fiel auf den Idioten rein.«
»Schwamm drüber.« Er winkte ab.
»Sie sind unsere neue Chefin?« Maria lachte prustend. »Klasse, einfach klasse. Keine Angst«, sagte sie schnell, als sie sah, wie die Augen der neuen Kollegin sich verengten. »Ich lache nicht über sie, sondern über die Umstände. Herzlich willkommen.« Sie reichte ihr die Hand. »Heinz, wir haben ein Küken.«
»Schön. Arbeit haben wir zurzeit genug.«
»Mein Dienst beginnt in zwei Wochen. Ich beabsichtige nicht, Ihren Fall zu übernehmen. Setzen Sie mich ein, wo ich gebraucht werde. Danach unterhalten wir uns über die Zukunft.« Sie nahm am Besprechungstisch Platz und musterte ihre neuen Kollegen mit ruhigem Blick.
»Das ist ein Angebot«, stellte Heinz fest. »Im Moment haben wir mit dem Präsidium, das heißt mit der hierarchischen Ordnung, wenig zu tun. Wir sind faktisch Handlanger des BKA. Ich baue Sie einfach ein. Über die Konsequenzen können wir uns später klar werden. Einverstanden?«
Claudia Plum nickte.
Das lag nun etwas mehr als ein halbes Jahr hinter ihr.
*
Zwei Tage nach dem Leichenfund fuhr Kurt auf dem Weg von der Arbeit zum Supermarkt in Pannesheide. Während er die Lebensmittel aus dem Einkaufswagen in den Kofferraum lud, fiel ihm die Plastiktüte ins Auge. Die Tasche! Siedend heiß durchzog es ihn. Wie konnte er sie vergessen? Er legte sie auf den Beifahrersitz, damit sie nicht wieder aus seinem Gedächtnis verschwand. Jetzt konnte er nicht schnell genug nach Hause kommen. Was mochte sich darin befinden? Hoffentlich keine alten Brote. In geheimer Vorfreude lachte er. Spannung erfüllte ihn.
Die Tasche lag auf dem Esszimmertisch. Dickes, immer noch glitschiges Leder. Ein Gegenstand, an den er sich schwach erinnerte. Auf dem Speicher seines Großvaters lag noch so ein Teil. Mit alten Fotos drin. Aktentasche nannte er sie. Kaum vorstellbar, dass früher in solchen Behältnissen wichtige Papiere herumgeschleppt wurden. In alten Kriegsfilmen sah man sie hin und wieder.
Zwei Riemen, in verrosteten Metallschnallen verschlossen die Tasche. Sie maß ungefähr sechzig Zentimeter in der Breite, etwas über vierzig Zentimeter in der Höhe und war sieben bis acht Zentimeter dick. Oben, am aufklappbaren Teil, befand sich ein Bügel mit zwei rechteckigen Drahtösen.
Sollte er sie öffnen? Oder der Polizei übergeben? Blöde Fragen. Als wenn er die Neugierde bezähmen konnte? Er schob die leichten Gewissensbisse beiseite.
Die Riemen aus den Schnallen zu lösen, bereitete einige Schwierigkeiten. Er sprühte die Verschlüsse mit Rostlöser ein und nutzte die Einwirkungszeit für ein Leberwurstbrot. In seiner Aufregung hatte er keine Lust zum Kochen. Kauend klappte er schließlich den Deckel hoch. Die Spannung hämmerte pochend an den Schläfen. Dabei wusste er nicht, was er zu finden erhoffte. Ein festes Paket füllte die Tasche. Mit spitzen Fingern zog er es hervor. Der Packen glitt erstaunlich leicht heraus. Eine Verpackung, die er nicht kannte. Feucht und schmierig. Er rieb zwei Finger gegeneinander: Fett. Jetzt erinnerte er sich. In einer Zeit, wo es noch kein Plastik gab, wurde Ölpapier zur Verpackung verwendet. Zu Zeiten, in denen seine Eltern zu Erwachsenen heranwuchsen. Aber was hatte die Kripotante gesagt? Ende der Siebziger. Da gab es doch schon Plastiktüten.
Vorsichtig löste er drei Lagen, bis er auf eine sehr gut erhaltene trockene graue Filzschicht stieß. Keine Vermoderung. Unbeschädigt. Mit zitternden Händen faltete er den Lappen auseinander und ein ordentlicher Stapel Papier tauchte auf. Mit dem Daumen fuhr er den Rand entlang. Die Seiten blätterten, klebten also nicht zusammen.
Er entfernte das oberste Blatt:
1975
Ich beginne im Jahr 1948, in meinem zwanzigsten Lebensjahr. Der Krieg ist zu Ende. Meinen Kameraden Schnitzler, Freier und Berger ist gemeinsam mit mir die Flucht aus russischer Gefangenschaft gelungen. Wir waren jenseits des Ural, ungefähr vierhundert Kilometer von Tobolsk auf einem Bauernhof in der Nähe des Flusses Ob interniert. Im August 1944 nahmen uns die Russen gefangen und verbrachten uns nach unermesslichen Qualen und Erniedrigungen Anfang 1945 zu diesem Bauernhof. Wochenlang fuhren wir in Viehwaggons durch die winterliche Kälte. Es war so kalt, wie ich es mir nie hätte vorstellen können. Wir wärmten uns gegenseitig und klemmten die erfrorenen Kameraden gegen die Bretterschlitze, damit der Fahrtwind uns nicht auch noch zu einem Eisblock machte. Über die Qualen und wie wir letztendlich überlebt haben, will ich nicht berichten. Es war widerlich und ich will nicht darüber nachdenken. Wir wurden, wie eine Viehherde, mit Schlägen auf den Bauernhof getrieben. Die menschenunwürdige Behandlung setzte sich fort, jedoch wir bekamen ausreichend zu essen und Unterkünfte, die wir beheizen konnten. In der wenigen freien Zeit, die uns zur Verfügung stand, erzählten wir von der Heimat, die wir schmerzlich vermissten. Schnitzler, Berger, Freier und ich hatten uns einen Raum in der Scheune abgeteilt und winterfest gemacht. Wenn unsere Lieben bei uns gewesen wären, hätten wir vergessen können, wo wir uns befanden.
Ich wurde in einem Dorf namens Scherpenseel, nahe der holländischen Grenze, geboren. Meine Eltern besaßen dort einen Bauernhof. Zu Beginn des Krieges zählte ich elf Jahre. Mein Vater wurde als Bauer an der Heimatfront gebraucht. Die Männer aus der gesamten Gegend zogen in den Krieg. Die Frauen arbeiteten in den umliegenden Fabriken oder auf den Feldern. Das gesamte gesellschaftliche Leben brach zusammen.
Meine Familie wurde angefeindet, weil die Familienoberhäupter des Dorfes im Krieg kämpften und wir nicht. Mit der Zeit veränderte sich das Verhalten der Nachbarn zu uns. Sie litten unter Hunger. Das Essen wurde rationiert und täglich weniger. Geld verlor an Wert. Die Menschen bettelten bei Georg Klamm, meinem Vater. Der ließ sich jedoch auf nichts ein, wusste er doch, wenn er der Bevölkerung half, war er schnell an der Front. Nur wer bezahlen konnte, mit Gold, Schmuck oder auch niederländischen Gulden, bekam bei ihm etwas zu essen. Denn, wer »schwarz« bezahlte, machte sich ebenso strafbar wie er und würde mit Sicherheit den Mund halten. Wenn die Frau hübsch war, nutzte er ihre Not und ließ sich auch anders bezahlen. Vater hielt in der Heide Schweine, Rinder, Kaninchen und Hühner versteckt. In der alten Ziegelei am Rande des Moores zog er unter unwürdigen Zuständen die Tiere auf. Ich bekam den Auftrag das Vieh zu versorgen. Wie ich dies machte, blieb mir überlassen. Hauptsache, die Tiere hatten Fleisch auf den Rippen, wenn sie geschlachtet wurden.
Mit der Zeit wurden auch der Schmuck und viele andere Wertgegenstände bei den Nachbarn knapper, bis nichts mehr zum Tauschen vorhanden war. Vaters Kunden wurden verzweifelt und verärgert. Sie zeigten meinen Vater an. Dank der klugen Voraussicht hatte er kein Stück Vieh mehr oder weniger auf dem Hof, als er gemeldet hatte und auch das Tauschmittel war nicht im Haus. Die verbliebenen alten Männer, die Frauen und Kinder wagten sich nicht ins Moor. Zum einen wegen der alten Gruselgeschichten, die über diese Gegend erzählt wurden, zum anderen … was gab es dort schon zu holen?
Die Denunzianten wurden mit Frontdienst belohnt. Das sprach sich schnell herum. Niemand sagte mehr ein schlechtes Wort über unsere Familie. Es war zu der Zeit, in der meine Mutter im Wochenbett verstarb. Auch mein Bruder konnte nicht gerettet werden.
Ende 1943 erschien mein Vater in der Ziegelei und gebot mir mitzukommen. Er redete davon, dass der Krieg verloren ginge und man gucken müsse, alles für die Zeit danach zu regeln. Etwas abseits hatte er einen Ochsenkarren stehen, den er ansonsten für die Feldarbeit verwandte. Darauf standen drei riesige Kisten, die die er, über den Eisenbändern, mit einer dicken Teerschicht versehen hatte.. Vater wollte die Kästen verstecken. Ich musste ihn über den Moorweg bis zum Fließsand begleiten. Niemand kennt die Heide so gut wie ich. Jeder Steg und Übergang ist mir bekannt. Hatte ich doch einige Jahre in dieser Einsamkeit verbracht und die Tiere so gut es ging gepflegt.
Irgendwann, während meines Eremitendaseins, begegnete ich im Moor einem Kriegsflüchtling, der erschossen worden wäre, falls sie ihn erwischt hätten. Der Fahnenflüchtige lebte in der Erdhöhle inmitten des Moores, die wahrscheinlich nur wir beide kannten. An den langen Abenden brachte er mir Lesen, Schreiben und viele andere wichtige Dinge bei. Das Wichtigste vielleicht war, wie ich mich gegen Angriffe von Anderen wehren konnte. Er brachte mir Techniken bei, die er von Chinesen oder Japanern gelernt hatte. Wenn mein Vater erschien, um das Vieh zu schlachten, verschwand er in seinem Versteck.
Nun wieder zurück zu meinem Vater und dem Ochsenkarren. Ich brachte ihn und den Wagen bis an den Rand der Sandfläche von mehreren Hundert Quadratmetern, die alles verschlang. Mein Vater und ich befestigten dicke Hanftaue an den Kisten und ließen sie versinken. Der Fließsand nahm sie mit einem schmatzenden Geräusch auf. Bis auf etwa fünf Meter Entfernung von dem Loch legten wir einen kleinen Graben, bis zu einem festen Stück Erde, an und setzten die Taue mit Pflöcken fest. Die Furche, in der das Seil lag, wurde verdeckt, bis nichts mehr darauf schließen ließ, dass sich hier etwas befand.
In den letzten Wochen reduzierte mein Vater den Viehbestand in der Ziegeleiruine stetig. Die letzten Tiere schlachtete er jetzt und nahm mich mit in das Dorf. Meinen Lehrer aus der Heide sah ich nie wieder. Häufiger habe ich mir Gedanken gemacht, wie es ihm wohl ergangen sei.
Vierzehn Tage später wurde ich eingezogen und als Sechszehnjähriger an die Ostfront geschickt. Es wurde ein langer Fußmarsch. Selten konnten wir auf einem Fahrzeug mitfahren. Benzin war genauso knapp wie Nahrung. Ich erwarb Überlebensstrategien, die ich mir in meinem bisherigen Leben nicht vorstellen konnte. Während des Marsches lernte ich meine Kameraden kennen, mit denen mir später die Flucht aus der Kriegsgefangenschaft gelang.
Einer meiner Kameraden, Hans Freier, spielte nach dem Krieg eine wichtige Rolle in meinem Leben.
Der weitere Bericht klammert die Umstände unserer Flucht zunächst aus. Nur so viel sei gesagt, dass wir über die Tschechoslowakei und Österreich nach Deutschland kamen. Die Grenzen waren dicht und überall kontrollierteb Amerikaner, Engländer, Franzosen und Russen die Grenze. Wir wurden nach Italien abgetrieben und kamen dann über Marseille in Frankreich bis nach Metz. Ziemlich unbehelligt, wie ich im Nachhinein feststellen muss. Über Trier und Malmedy gelangten wir in die Heimat. Die Amerikaner und Engländer hielten auch noch 1948 das Gebiet besetzt. Als ehemalige Kriegsgefangene war es uns ein Leichtes, neue Ausweispapiere zu bekommen.
Weil ich kein Vertrauen in meine Familie hatte, einigten wir uns auf unserer langen Flucht darauf, dass ich mich zunächst im Hintergrund halte, während meine Kameraden Informationen über die letzten Jahre einholen sollten. Sie begeisterten sich sofort. Kinder vor einem Abenteuer. Vielleicht gab es ja etwas zu holen. Ebenso jung wie ich auch, kannten sie keine Skrupel. Peter, Hans und Franz verdingten sich in Scherpenseel als Landarbeiter. Ich hielt mich wie abgesprochen im Hintergrund. Dazu nutzte ich die alte Ziegelei am Heiderand. Es kam so gut wie kein Mensch dort hin. Wie während der Zeit, die ich damals hier verbrachte, schuf ich mir in den Trümmern einen kleinen Raum. Er lag hinter einem durch Steine und Gestrüpp verborgenen Durchgang, den ich mir notdürftig einrichtete. Den Eingang verbaute ich noch etwas, sodass niemand eine Zuflucht dahinter vermutete. Ich denke nicht, dass je jemand auf die Idee gekommen wäre, dort einen Menschen zu suchen. Das Grundstück wurde von Brombeerranken überwuchert und war dadurch kaum zugänglich. Fast schon wieder ein Teil der Natur. Einmal in der Woche traf ich meine beiden Kameraden Peter und Franz. Sie versorgten mich mit Informationen und Nahrung. Hans ging inzwischen eigene Wege.
Mein Vater wurde in den letzten Kriegstagen tot in einem seiner Ställe aufgefunden. Er wurde erschlagen. Das kümmerte in dieser Zeit niemanden. Mein Onkel Klaus aus Marienberg übernahm den Hof. Ich wusste, es würde eine schwierige und zeitraubende Angelegenheit werden, mein Erbe zurückzubekommen. Genau wie mein Vater war die Familie hinter dem Geld her und äußerst brutal.
Meine geldgierige Verwandtschaft hatte so gut wie keinen Kontakt zur Nachbarschaft, stellten meine Spione fest. Über mich wurde nicht gesprochen. Kaum jemand konnte sich an mich erinnern und man hielt mich inzwischen für tot.
Endlich war es so weit. Ich wollte mich meinen Verwandten und im Dorf zeigen sowie den Hof meines Vaters in Besitz nehmen. Mir erschien es günstiger, meinen schon etwas längeren Aufenthalt in dieser Gegend zu verschleiern und so machte ich mich auf den Weg nach Aachen. Dort stieg ich in den Zug nach Palenberg. Unterwegs erzählte ich so vielen Fahrgästen wie möglich meine Geschichte von der Flucht aus der Gefangenschaft und wie sehr ich mich darauf freute, meinen Vater wiederzusehen. Eine Frau mittleren Alters sprach mich an. Frau Reinartz, wie ich später erfuhr.
»Du bist der Josef Klamm«, stellte sie fest. »Du hast dich verändert. Bist erwachsen geworden. Ich erkenne dich wieder. Du siehst deinem Vater ähnlich.«
Das fehlte mir noch. Mein Vater war ein grobschlächtiger Typ.
»Wie geht es meinem Vater? Wie sieht es in Scherpenseel aus?«
»Mein armer Junge. Dein Vater ist tot.« Sie sah mich mitfühlend an.
»Tot? Wieso? Er war doch gesund, als ich eingezogen wurde.« Meine Kameraden hatten mir von seinem Tod berichtet, doch ich durfte jetzt nicht zugeben, dass ich es wusste.
»Er ist unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen. Aber zu der Zeit … die Amis überrollten uns und wir hatten kaum Luft zum Atmen, interessierte es niemanden. Der Bruder deines Vaters … wie heißt er auch noch?«, angestrengt verzog sie das Gesicht, um plötzlich zu strahlen, »Klaus.«
Ich nickte bestätigend.
»Ja. Der hat euren Hof übernommen. Der Gerd, dein Cousin, bewirtschaftet ihn jetzt. Oh je«, unterbrach sie ihren Redefluss. »Der wird sich nicht freuen.«
Der Zug ließ Herzogenrath hinter sich und fuhr an der Wurm entlang, auf Palenberg zu. Hier musste ich aussteigen.
»Josef. Willst du mit uns fahren? Mein Mann holt mich mit der Karre ab.«
»Ich gehe lieber zu Fuß. Nach so langer Zeit sehe ich mir die Heimat an. Wer weiß, wann ich noch einmal dazu komme.«
»Das verstehe ich. Lass dich mal bei uns sehen.«
Ich konnte ihr schlecht auf die Nase binden, dass ich mich mit meinen Weggefährten zu einer letzten Absprache verabredet hatte.
Es war Hochsommer, Ende August. Die Luft flimmerte, als ich mich langsam den Berg nach Scherpenseel hoch kämpfte. In einem Tornister auf meinen Schultern trug ich meine Habseligkeiten. Kurz vor dem Ort begegnete ich Peter und Franz. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, blieben wir nur zu einem kurzen Gespräch stehen. Sie berichteten mir, dass das Dorf in Aufruhr war. Ein Kriegsheimkehrer. Frau Reinartz hatte ganze Arbeit geleistet.
Der Empfang war würdig und überwältigend. Viele Menschen schüttelten mir die Hände und fast jeder erkannte mich wieder. Dabei konnte ich mich an niemanden erinnern. Mein Vater hatte mich früh von der Schule genommen und in die Heide verfrachtet. Die Menge geleitete mich zu einer Häuserfront, vor der zwei grimmig dreinblickende Männer standen.
*
»Wie weit sind wir mit den Leichen in der Heide?«, fragte Claudia Plum in die Runde vor dem Besprechungstisch im großen Büroraum, der von drei Schreibtischen beherrscht wurde. Maria und Heinz lümmelten sich auf den Stühlen.
»Was soll sein? Eine seltsame Angelegenheit. Du kennst die Berichte«, meinte Heinz. »Drei Skelette, die unbestreitbar älteren Datums sind und seltsamerweise, eine weitere Leiche, die maximal drei Jahre dort liegt.«
»Ja, ich habe die Berichte durchgearbeitet. Fast unwahrscheinlich, dass die Todesfälle zusammenhängen, doch der gemeinsame Fundort macht mich stutzig. Und …«, sie lächelte entschuldigend, »mein Bauchgefühl. Ihr kennt das ja.«
»Und ob wir das kennen.« Maria verdrehte die Augen. »Das heißt also wieder Überstunden.«
»Die drei älteren Skelette weisen Kopfverletzungen auf«, fasste Claudia den Faden. »Löcher, wie sie durch eine großkalibrige Waffe entstehen. Wahrscheinlich Gewehr. Die jüngere Leiche weist keine sichtbaren Verletzungen auf. Bei dem Grad der Verwesung ist es schwierig, eine Rekonstruktion vorzunehmen. In der Kleidung finden sich Hinweise auf Schnitte, die von einer Hiebbewegung mit einem Messer oder einem ähnlichen Gegenstand herrühren könnten. Eine Identifizierung war, ebenso bei den älteren Skeletten, noch nicht möglich. Na ja, es handelt sich um männliche Personen. Die Pathologen sind bei der Arbeit.«
»Es erleichtert unseren Job nicht, dass die Rechtsmedizin jetzt in Köln ist. Scheiß Zentralisierung. Zeitersparnis bringt es nicht. Im Uniklinikum früher klappte es besser und schneller«, motzte Heinz.
»Weil du dich nie mit dem PC anfreunden konntest«, gab Maria zurück. »Was sagt denn dein Bauchgefühl, Claudia?«
»Es besteht ein Zusammenhang. Fragt mich nicht, woher diese Ahnung kommt. Erst einmal sind es die identischen Fundorte und dann dieses Gefühl. Es trügt mich selten.« Sie horchte nach innen. Die Spannung eines neuen Falles baute sich auf, mit Kribbeln in den Nervenbahnen und jetzt, zusätzlich, eine bange Ahnung. »Ich seh mich mal in dieser Gegend um. Vielleicht stoße ich auf irgendetwas.«
»Vielleicht auf den netten Zeugen«, frotzelte Maria.
»Der hält mich nicht ab, mich dort sehen zu lassen«, lachte sie.
Den Vormittag verbrachte Claudia am Schreibtisch und ging zum wiederholten Male alle Papiere durch, die mit dem Fall zusammenhingen. Viel kam nicht zusammen.
Die Gedanken schweiften zu dem Dorf, das in der Nähe der Leichenfunde lag. Sie verbrachte ihre Kindheit dort. Aber da war nichts. Keine Gedankenfetzen … nichts. Ihre Eltern zogen nach Düsseldorf, bevor sie Erinnerung aufbauen konnte, weil ihr Vater dort eine neue Anstellung übernahm. Heute besaß er ein kleines Pharmaunternehmen. Nach dem Abitur besuchte sie die Polizeiakademie in Münster. Vor einem halben Jahr landete sie in der Aachener Mordkommission und bewohnte in der Nähe des Ponttors ein Zweizimmerappartement, weil der Absprung in eine andere Stadt zu jeder Zeit bevorstand. Mittlerweile ertappte sie sich jedoch des Öfteren bei sehnsüchtigen Blicken auf die Immobilienangebote in den Fenstern der Bank oder Sparkasse. Ich werde alt, dachte sie dann jedes Mal.
Claudias letzte Beziehung lag ein Jahr zurück. Was so toll begann, endete in einem Fiasko. Warum mussten die scheinbar nettesten Kerle solche Idioten und auch noch verheiratet sein. Sie dachte mit Schaudern an diese Beziehung. Sie war so blöd und ließ sich mit einem Vorgesetzten ein. Als sie die Beziehung beendete, begann das Spießrutenlaufen. Ihre Ermittlungserfolge beim Landeskriminalamt in Düsseldorf wurden zum Eigentor. Die fällige Beförderung zur Hauptkommissarin wurde blockiert. Ihr Exgeliebter stellte sie vor die Wahl, einen Innendienstjob anzunehmen oder die Bewerbung auf eine Stelle außerhalb des LKA. So klappte es auch mit der Laufbahnbeförderung.
Aachen war ganz anders als Düsseldorf. Die Stadt lag in einem Kessel und wirkte mehr wie ein Dorf, als eine Großstadt. An jeder Ecke traf sie auf Geschichte. Seien es die Römer oder Karl der Große.
Ihre Gedanken sprangen. Der Typ in dem Dorf wirkte ganz nett. In den letzten Tagen dachte sie mehrfach an ihn. Wahrscheinlich auch so ein Blender. Außerdem hatte sie Entzug, musste also vorsichtig sein. Häufiger spielten ihr die Hormone einen Streich. Dennoch ... sie sollte sich wieder einmal etwas gönnen.
Claudia nutzte ihre Möglichkeiten und holte am PC einige Erkundigungen ein. Er kam aus geordneten Verhältnissen und einem Elternhaus mit gutem Ruf: Vater erfolgreicher und selbstständiger Rechtsanwalt mit Kanzlei und die Mutter arbeitete bis vor zwei Jahren als Grundschullehrerin. Nach dem Abitur studierte Hüffner an der RWTH Aachen und erledigte im Eiltempo seinen Ingenieur und Diplom. Man höre und staune, parallel dazu ein Physikstudium, welches er ebenso mit Bravour meisterte. In einer großen Aachener Firma leitete er die Entwicklungstechnik für Werkstoffe. Daneben steuerte er Versuche an der Technischen Hochschule, die eng mit seinem Arbeitsgebiet zusammenhingen. Ehelos, keine Kinder. Beziehungen oder Bekanntschaften konnte sie nicht ermitteln. Also etwas, was ich selbst tun muss, sagte sie sich. Eigentlich schade. Sonst könnte ich mir den Traummann am Computer basteln.
Am Nachmittag stand der Tatort auf dem Plan und eventuell … na ja, mal sehen.
*
Kurt schob den Stapel Papiere zur Seite. Nach anfänglichen Schwierigkeiten las er die Sütterlinschrift der Aufzeichnungen flüssig. Eine merkwürdige, faszinierende Geschichte, die ihn fesselte. Welche Verbindung gab es zu den drei Skeletten?
Egal ... der Magen knurrte. Das Brot hielt nicht so lange vor. Er schälte einige Kartoffeln und schnitt sie in Scheiben. Das heiße Olivenöl in der Pfanne spritzte ein wenig. Er briet die Seiten der Kartoffelscheiben goldbraun an und fügte Zwiebel hinzu. Noch zwei Streifen Schinken, eine Prise Salz und den Spritzschutz drüber. Natürlich die Temperatur etwas kleiner gedreht. In die nächste Pfanne haute er ein paar Schnitzel. Typisch Supermarkt. Vier Stück. Kleinere Packungen gab es nicht. Musste er sie halt später kalt essen. Ein Profikoch hätte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Er würzte das Fleisch in der Pfanne, während es briet. Pfeffer, Salz, Paprika – ziemlich großzügig. Jetzt noch den Salat. Die Salatsoße, heute sagte man wohl Dressing, gehörte zu den heiligen Handlungen in seiner Kücke. Olivenöl, Essigessenz, dünne Zwiebelscheiben, je eine Prise Pfeffer, Salz und Zucker, eine großzügige Menge getrocknete Kräuter und zum Schluss, einen Schluck Milch. Das Ganze fünf Minuten ziehen lassen.
Er räumte den Tisch frei. Kurt schnappte den Packen mit den Memoiren oder was es war und steckte ihn in einen Karton, der auf dem Schreibtisch stand. Wie der Teufel es wollte, fuhr der PKW der Kripotante vor. Die Tasche! Wohin damit? Er packte sie unter die Spüle in den Schrank zu den Putzmitteln und warf eine Zeitung über den Karton. Hastig wischte er über den Tisch, als der Türgong anschlug.
»Hallo. Sie können gleich mitessen«, empfing er sie beim Öffnen der Türe.
»Super«, sagte sie verdutzt. »Ich habe echt Hunger. Wussten Sie das?«
»Klar. Ich kann Hellsehen«, sagte er grinsend. Schnell deckte er den Tisch. Zwei Teller, Messer, Gabel. Das reicht, dachte er. Ach nein, die Getränke fehlten noch. »Möchten Sie etwas trinken?«
»Gerne«, sagte sie.
»Ja und was? Ich habe Bier, Cola und Wasser.«
»Bier. Mit einem darf ich noch fahren.«
Er öffnete zwei Flaschen. »Prost.«. Oh Mist. Er hätte ihr ein Glas anbieten müssen. Doch sie tat schon einen tiefen Zug.
»Was gibt es denn zu essen?«, fragte sie. »Riecht echt lecker.«
»Na ja. Was kann man bei einem Bratkartoffelverhältnis schon erwarten?«, gab er lakonisch zurück.
»Bratkartoffeln«, meinte sie lachend.
»Richtig.« Ich benehme mich albern, dachte er. Sie gefiel ihm. Heute trug sie legere Kleidung: Jeans und Shirt. Fast kein Make-up. Die Haare standen wirr vom Kopf, als wenn sie gerade draußen etwas erledigt hatte. Und diesmal saubere Sportschuhe. Sie wirkte gelöst und lachte viel. Dabei zeigten sich kleine Fältchen in den Augenwinkeln und Grübchen auf der Wange, die ihm schon bei der ersten Begegnung auffielen. Die Augen blitzten. »Die Kartoffeln brauchen noch einen Moment. Weshalb sind Sie vorbeigekommen?«
»In der Nähe der Skelette wurde eine Leiche jüngeren Datums gefunden«, sagte sie.
»Sch … ade. Ich dachte, Sie sind meinetwegen hier«, rutschte ihm unüberlegt heraus.
»Deshalb auch«, gab sie seelenruhig zurück.
»Schön. Damit kann ich leben. Wissen Sie, wer die Leiche ist?«
»Nein. Ein Mann. Er liegt vielleicht drei Jahre dort.«
»Drei Jahre? Dann muss es doch eine Vermisstenmeldung geben?«
»Wir überprüfen im Moment alles. Haben jedoch noch keine korrekte Altersbestimmung oder sonst etwas.«
»Dann wünsche ich Ihnen ein gutes Händchen«, er trug die Pfanne mit den Kartoffeln zum Tisch und setzte sie auf einen Holzuntersetzer. Dann die Schnitzel und den Salat.
Sie häufte schon Kartoffeln auf den Teller und langte nach einem Schnitzel.
»Übrigens, Claudia.«
»Kurt.«
Schweigend aßen sie.
»Wow«, sie fuhr mit der Hand über den Bauch. »So vollgegessen war ich schon lange nicht mehr. Es war so lecker, wie es roch.«
»Hauptsache, es hat geschmeckt«, sagte er stolz. Alles blank. Keine Reste.
»Wir müssten einen Glückstreffer landen«, führte sie das Gespräch von vorhin weiter. »Ich habe ein Gefühl, als wenn die beiden Vorfälle miteinander zu tun haben. Lach nicht, ich habe damit schon große Erfolge gehabt.«
»Ich lache nicht. Ich gebe sehr viel auf Gefühle. In meinem Job käme ich ohne überhaupt nicht weiter. Wenn du da eine heiße Suppe mischst, um eine bestimmte Metallfestigkeit zu erreichen, hilft dir nur Intuition«, antwortete er sehr ernst.
»Dann sind wir uns darin einig. Ich muss in Ruhe darüber nachdenken. Vielleicht haben wir etwas übersehen oder ich bekomme einen Einfall. Ich weiß es nicht. Hast du eine Freundin?«
»Nö. Und du?
»Ja. Ich habe eine Freundin.«
»Echt?«
»Ja seit meiner Schulzeit. Ich habe sie Jahre nicht mehr gesehen. Ich bin solo. Schon lange.«
»Gut. Der Beginn einer langen Verbindung.«
»Blödsack«, lachte sie locker. »Ich muss jetzt fahren. Muss noch mal ins Büro. Ich würde gerne noch etwas bleiben.«
»Ist schon in Ordnung. Komm vorbei, wann du Lust hast.«
»Schön«, sagte sie und reichte ihm ein Kärtchen. »Meine Telefonnummer. Für alle Fälle. Danke für das leckere Essen.«
Er brachte sie zur Türe. Claudia drehte sich auf dem Weg zum Auto noch einmal um und hauchte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Mit rotem Kopf verschwand sie im Wageninneren. Eine kurze Handbewegung und schon rollte sie davon.
Kurt sah ihr nach. Was für eine Geschichte? Drei, nein … vier Tote. Kurt rieb die Schläfen. In dieser Gegend eine Räuberpistole? Weshalb hatte er nichts von der Aktentasche erzählt? Den Fund der Papiere konnte er nicht mehr geheim halten. Vielleicht hing er mit den Todesfällen zusammen. Sicher, sagte er sich. Wo hast du die Tasche denn gefunden?
Er rief Griet an.