Tod im Maisfeld - Herbert Weyand - E-Book

Tod im Maisfeld E-Book

Herbert Weyand

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Beschreibung

Als die 'Hundefrauen' den Leichnam im Maisfeld entdecken, ahnt niemand, dass sie einen Fund machen, der internationale Geschäftemacher aufschreckt. Die Spur der toten Frau führt das Ermittlerteam um Claudia Plum zur Nato Air Base Geilenkirchen. In der Fliegerhorstsiedlung stoßen sie auf eine männliche Leiche. Von diesem Augenblick an laufen sie gegen Wände, die, je weiter sie vordringen, dicker und dicker werden. Welche Rolle spielt die schöne Militärpolizistin Raissa Stone? Wer ist der ominöse Killer Brown? Weshalb versuchen die deutschen Behörden, die Ermittlungen im Mordfall Abels zu behindern?

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Seitenzahl: 446

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Impressum neobooks

Herbert Weyand

HeideLeaks

KHK Claudia Plum und Kurt Hüffner

3. Fall

Kriminalroman

Copyright © 2017 Herbert Weyand:

»KHK Claudia Plum und Kurt Hüffner 3. Fall« »HeideLeaks«

All rights reserved.

© 2017 Neu überarbeitet – alter Titel »Tod im Maisfeld«

Titelbild: © 2017 Laura Schruff

Herbert Weyand

52511 Geilenkirchen

[email protected]

Erstellt mit Papyrus Autor, www..papyrus.de

vor eins

Die beiden stoppten den PKW am Heideparkplatz und schälten mit zitternden gierigen Händen die Kleidung vom Leib. Es dauerte weniger als eine Minute bis zur Vereinigung mit Grunzlauten und spitzen Schreien. So schnell der Akt begann, so schnell war er vorbei. Einige Augenblicke lagen sie schwer atmend aufeinander und lösten sich voneinander. Plötzlich wurde der Schweiß unangenehm und machte die Zweisamkeit unappetitlich. Die beiden Körper klebten und klitschen aneinander. Die Luft war schwül, vom heißen Sommertag aufgeheizt.

Vor wenigen Wochen genossen sie den Körperkontakt nach dem Verkehr. Jetzt empfand die Frau leichten Ekel vor der Verbindung der Körperflüssigkeiten. Die Beziehung schien am Ende.

»Lass‹ uns nach draußen gehen. Die Luft ist mild«, sagte die Frau und drückte ihn weg.

»In Ordnung«, meinte er und stieg rückwärts aus der geöffneten Autotür.

Beide machten sich nicht die Mühe etwas überzuziehen. Wer kam schon mitten in der Nacht her?

»Komm, wir laufen ein Stück«, forderte sie ihn auf. Ohne darauf zu achten, ob er folgte oder nicht, spazierte sie los. Sie hob die Arme und suchte einen Luftzug, der nicht kam. Die Frau reckte die Brüste nach vorn, die in leichte Bewegung gerieten, während sie voranschritt. Der sinnliche Körper ging in der Dunkelheit auf. Energisch warf sie, mit einer Kopfbewegung, das verklebte Haar nach hinten und wischte mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

Missmutig folgte er und die Augen saugten jede Bewegung auf. Er bekam nicht genug von diesem Körper. Was wusste er von ihr? Wenn er ehrlich war … nichts. Deutlich nahm er vorhin ihre Abwehr wahr und eine Ahnung beschlich ihn. Sie wollte das Verhältnis beenden.

Sie lief barfuß so sicher, als kenne sie nichts anderes, wobei er ungelenk und unsicher die Füße aufsetzte. Der dicke Zeh stieß gegen einen Ast. Fluchend hob er ihn auf und benutzte ihn als Gehhilfe.

»Das war es?«, stellte er fragend fest.

»Das war es«, betätigte sie.

»Woran liegt es?«

»Ausgelebt. Es war von Anfang an klar, dass es nicht von Dauer sein würde.«

»Ja. Schon. Aber muss es jetzt sein?«

»Muss nicht. Wenn nicht jetzt, wann dann? Ich möchte es so.«

»Habe ich nichts zu sagen?«

»Nein. Gott sei Dank nicht. Dennoch … die Zeit mit dir war schön.«

»Was machen wir hier, wenn es vorbei ist?« Er war sauer, weil sie ihm die Entscheidung abnahm.

»Du bist uncool. Wir hatten doch eine schöne, wenn auch kurze Nummer. Und, wie gesagt … unsere Zeit war schön. Was willst du mehr?«

»Ich will dich.«

»Unmöglich. Das weißt du?«

»Nichts ist unmöglich«, er stieß mit dem Stock in ihre Seite.

»Was soll das? Du tust mir weh.«

»Das soll auch wehtun«, er stieß fester zu. »Ich mache das so lange, bis du zur Besinnung kommst und deine Entscheidung überdenkst.« Starrsinnig wie ein Kind beobachtete er sie.

»Du bist bekloppt. Sei froh, dass ich nicht zu deiner Frau gehe.«

»Du drohst mir?«, fragte er aufgebracht und schlug mit dem Ast zu.

»Hör auf«, sie ging schneller und wurde sich ihrer Nacktheit bewusst. Der Typ drehte durch. Er schlug wieder zu. Sie lief in ein Feld, mit kniehohem Mais und stolperte unversehens. Er stand über ihr. Welch eine Verwandlung machte er durch? Kalte Augen und eine hassvolle Fratze schauten auf sie hinunter. Weshalb hatte sie bisher nicht bemerkt, dass er eine Macke hatte? Liebe oder was es sonst war, machte tatsächlich blind. Mit Grauen sah sie den Stock auf ihre Brust zurasen. Ein Schlag in ihre linke Brustseite. Brennender Schmerz, ein kurzer spitzer Schrei, ein Röcheln und die Augen brachen. Sie war tot.

Fluchend stellte er einen Fuß auf ihre Schulter und zog den Stock heraus. Dann ging er ungelenk den Weg zurück, den sie gekommen waren. Nicht einmal sah er zurück oder achtete darauf, ob ihn vielleicht jemand sah. Es war ihm egal.

*

eins

»Wetten, dass ich schneller laufen kann, als du.« Die Vierzehnjährige versuchte ihn, aus der Reserve zu locken.

»Das ist doch blöd. Ich schlage dich immer«, antwortete der fünfzehnjährige Junge. Was sie wohl von ihm wollte? Etwa Knutschen? Dann konnte sie es doch sagen. Er war nicht abgeneigt. Sie war nett und gefiel ihm. Lebte noch nicht lange im Dorf und ging den Jungen bisher aus dem Weg. Er kannte sie kaum. Einige wenige Begegnungen an der Bushaltestelle. Mehr war da nicht. Sie gingen in Geilenkirchen zur Gesamtschule und riskierten in der Pause schon einmal, den einen oder anderen Blick. Heute auf der Heimfahrt nahm er das Herz in beide Hände und setzte sich neben sie. Auf die Frage, ob sie Lust an einem Treffen habe, geschah das Wunder. Sie sagte ohne Zieren zu.

»Lass‹ uns ein wenig dahinten durch die Felder spazieren.«

»Gern«, sagte sie in einem Dialekt, den er nicht zuordnen konnte.

»Woher kommst du?«, fragte er.

»Vom Feldkreuz.«

»Nein. Aus welcher Gegend.«

»Aus Franken. Das liegt in Bayern. Mein Vater ist bei den AWACs.«

»Mein Vater arbeitet in Boscheln in einer Maschinenfabrik.«

»Wie heißt du?«

»Dennis. Und du?«

»Ria. Von Maria. Meine Eltern sind Katholiken aus Überzeugung.«

»Dann sind sie hier richtig«, er schmunzelte. Nach der Kinderkommunion war er gerade zweimal in der Kirche gewesen. Ein ständiger Streitpunkt mit seiner Mutter, die jeden Sonntag zur Kirche lief.

Sie schlenderten an dem Maisfeld vorbei, das wohl in den nächsten Tagen abgeerntet wurde. Die Blätter wurden schon braun, und der Mais fiel aus den Kolben zu Boden. Dann brummten die Häcksler und LKW einige Nächte auf den Feldern und im Dorf. Oktober. Möwen schwärmten von allen Seiten in das Feld und fraßen. Ihre Bäuche waren so voll, dass sie kaum vom Boden abheben konnten.

»Ist das Mais?«, fragte sie.

»Ja«, antwortete er erstaunt über ihre Unkenntnis.

»Ich komme aus einer Stadt. Bamberg«, erklärte sie. »Alles hier herum kenne ich nur aus Büchern. Bis vor Kurzem waren Kühe für mich lila.« Sie lachte und umschloss mit einer Handbewegung die Gegend. »Meine Eltern leben sehr zurückgezogen. Ich bin selten irgendwo hingekommen.«

»Ich bin hier aufgewachsen. Wenn du möchtest, zeige ich dir alles.«

»Ja gern.« Sie kam ihm unruhig vor und wollte scheinbar noch etwas sagen, hielt es jedoch zurück. Hoffentlich hatte sie keine Angst vor ihm. Sie lebten in einer blöden Zeit. Die Medien überschlugen sich mit Nachrichten von Entführungen und sexuellen Straftaten. In den letzten Wochen war in der Nähe ein Junge verschwunden und wurde noch nicht gefunden. Und das Mädchen und der Junge, die ermordet wurden ...

»Dort vorn liegt die Heide.« Der Junge zeigte den Weg entlang auf die grüne Linie, die fast schnurgerade am nahen Horizont lag. Der Himmel darüber strahlte hellblau mit milchigen Schlieren.

»Meine Eltern sagten, ich soll mich dort fernhalten.«

»Tust du immer, was deine Eltern sagen?«

»Meistens. Und du?«

»Gehst du ein Stück vor?«, fragte er ihre Frage übergehend. »Ich muss mal für Jungs.«

»Das ist gut«, sagte sie erleichtert. »ich muss auch, und zwar dringend. Du … an den Baum«, sie zeigte zur Ecke der Apfelwiese. Neben dem Baum stand so etwas wie ein Unterstand mit einer Bank darin. Eine Plakette in der kleinen, zum Weg hin offenen Hütte zeigte an, dass sie jemandem gewidmet war. Zwei Pferde grasten ruhig. Auf dem Boden lagen noch einige Äpfel. Die Tiere zeigten jedoch kein Interesse mehr daran. Kaum jemand erntete das Obst. Der Supermarkt war bequemer. »Ich geh‹ in das Maisfeld.« Schon huschte sie davon.

Er stellte sich am Baum zurecht und hatte den Reißverschluss noch nicht geöffnet, da ertönte der gellende Schrei.

*

Sie trafen sich jeden Tag. Vormittags und nachmittags. Drei, vier und manchmal auch fünf oder mehr Frauen mit ihren Hunden. Dackel, Terrier, Schäferhund und Rassen, die den meisten unbekannt waren. Die Hundefrauen … teils liebevoll, teils despektierlich so genannt. Ein großes Altersspektrum wurde durch die Tiere, zu einer Einheit verschweißt. Die junge Frau von dreißig und die Urgroßmutter mit fast achtzig Jahren. Seit der Flurbereinigung Ende der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren die Wirtschaftswege asphaltiert. Die jungen Frauen kannten es nicht anders und die älteren schwärmten von der Zeit, als noch Gras auf den Wegen wuchs.

Die Trüppchen, die je nach Tageszeit und Wochentag unterschiedliche Besetzung besaßen, waren die, am besten informierten Personen des Dorfes. Täglich wurde der Wissensschatz vergrößert. Wer mit wem und wann; an wessen Fenster hatte das Käuzchen gerufen oder welcher Hund gerade, unter welcher Krankheit litt. Der Unterhaltungswert der Gruppe war immens.

»Gestern hat doch die Totenglocke geläutet«, stellte eine kleine Rothaarige fest.

»Ja. Wegen der Anne aus der Waldstraße, die war schon lange krank«, antwortete die große Brünette.

»Ich finde das blöd. Früher wusste man, ob es die Totenglocke war oder nicht. Heute bimmeln die Glocken den ganzen Tag. Du weißt nicht mehr, woran du bist«, beschwerte sich die grau werdende Brillenträgerin.

»Wie lange warst du eigentlich nicht mehr in der Kirche?«, fragte die Große. »Ich habe dich ewig nicht mehr gesehen.«

»Besser überhaupt nicht, als meinen großen Auftritt zu spät haben. Oder kommt die Reni auch nicht mehr.«

»Ja. Wo du das jetzt sagst. Die hat tatsächlich immer ihren Auftritt ein paar Minuten zu spät.« Die Große blieb stehen und schüttelte den Kopf. »Dass mir das erst jetzt auffallen muss. Die Reni war schon immer etwas anders.«

»Kenne ich die«, fragte die kleine Rothaarige.

»Die hatten früher einen Pudel. Unten in der Corneliusstraße, nahe dem Ulweg.«

»Ach die. Ja, bei der kann ich mir das vorstellen. Wie ist das eigentlich mit den beiden, die die große Dogge haben? Sie soll abgehauen sein.« Jetzt standen alle vier zu einem Grüppchen zusammen. Links von ihnen reckte der Mais die Stauden in die Höhe. Die Knollen auf der rechten Seite waren seit einigen Tagen geerntet. Die langen Kolonnen der Traktoren auf dem Weg zur Zuckerfabrik behinderten jedes Jahr bis in den Februar hinein den Verkehr.

»Die ist doch schon lange weg. Mit irgendeinem Heini von der Base. »Sie steckten tuschelnd ihre Köpfe zusammen.

»Manchmal hätte ich auch Lust einfach abzuhauen …«, die Brillenträgerin stockte. Ein verzweifelter hoher Schrei ertönte aus dem Mais. »Habt ihr das gehört? Mein Gott … wer ist das?«

*

»Ria. Ist etwas passiert?« Dennis stand unschlüssig am Feldrand.

Der erneute Schrei des Mädchens wurde zu einem Wimmern. Todesmutig spurtete der Junge in die Richtung des winselnden Mädchens. Für Etikette war jetzt nicht der Zeitpunkt. Die Maisstauden brachen und fügten ihm Schnitte an den Händen und im Gesicht zu. Da hockte Ria und erbrach.

»Was ist geschehen?«

»Da.« Sie deutete nach links, wobei wieder ein Schwall Mageninhalt aus dem Mund schoss.

Jetzt fiel ihm der bestialische Gestank auf. Süßlich, abscheulich und instinktiv vertraut: Aasgeruch!

Dennis nahm Ria am Arm und führte sie auf den Weg.

Die Hundefrauen kamen näher.

»Was ist los mit euch«, fragte die Große besorgt.

Würgend zeigte der Junge in das Maisfeld.

»Da hat wohl wieder ein Schwein seine Kühltruhe entsorgt.« Die kleine Rote meckerte und befestigte Beagle und Schäferhund an einem Weidezaunpfosten. Sie ging festen Schrittes auf das Feld zu.

»Halt«, die Grauhaarige hielt sie auf. »Du weißt nicht, was dort drin ist.«

»Wie ich sagte, der Inhalt einer Kühltruhe oder ein totes Tier. Riecht ihr das nicht. Seit Tagen liegt der süßliche Geruch in der Luft. Ich bekomme die Hunde kaum vorbei. Sie wollen immer wieder in den Mais. Das fehlt mir, dass sich einer in Aas wälzt. Den Geruch kriegst du mit nichts weg. Noch nicht einmal mit Baden. Tage stinkt die Sauerei noch.« Sie ließ sich nicht aufhalten und verschwand resolut. Ihr Blick fiel auf eine gequollene Hand, auf der, Fliegen, Maden, Käfer und was sonst noch, krabbelte. Voller Angst wanderte ihr Blick weiter. Ein Mensch. Sie sah aufgesprungene Haut und angenagtes Fleisch. Nackt. Überall sabberte Flüssigkeit heraus, die bestialisch stank. Würgend stand sie wenige Augenblicke später leichenblass auf dem Weg. »Ruft die Polizei«, schwer und tief atmend, um den Brechreiz zu unterdrücken, kamen die Worte über die Lippen. »Dort liegt ein Mensch. Die armen Kinder. Kümmert euch um die beiden.«

Natürlich hatte niemand ein Handy oder Smartphone dabei.

Mutig stellte sich die Rothaarige einem Auto in den Weg, das an ihnen vorbei fahren wollte.

»Ich möchte jemanden dort hinten besuchen.« Der Fahrer zeigte in Richtung Waldstraße. Ihm war wahrscheinlich zu Ohren gekommen, dass die Hundefrauen jeden, der mit dem Auto einen Feldweg entlang fuhr, platt machten und beschimpften.

»Ja, ja … egal«, sagte die Rothaarige mit einem strafenden Blick. »Rufen Sie die Polizei. Dort im Feld liegt ein toter Mensch.«

*

zwei

Binnen Minuten raste ein Polizeifahrzeug heran und eine halbe Stunde später sah es auf dem Weg und im Feld, wie am Drehort eines Tatorts aus.

»Wo?«, rief der Polizist, während er die Autotür öffnete. Die Frauen zeigten in den Mais. Kalkweiß torkelte der Beamte Augenblicke später aus dem Feld. Er sprach würgend in das Funkgerät. Von einer Minute auf die andere wimmelte es von Polizei. Ohne viele Worte spannten sie rot-weißes Absperrband um das Maisfeld, damit der Fundort der Leiche gesichert wurde. Gleichzeitig lief eine unkoordinierte Aktion an. Wie Ameisen verschwanden Personen im Mais, um wieder herauszukommen, damit andere den Platz einnahmen. Die Prozession störte jemanden, der fluchend losbrüllte und die Polizisten vom Tatort scheuchte. In der Folge wurden zwei weitere Absperrbänder gezogen, die den zulässigen Weg zur Leiche vorgaben. Die Routine der polizeilichen Ermittlungen begann.

Großzügig wurde die Gegend um das Maisfeld herum abgesperrt. An den Zufahrten vom Bebauungsende am Küfenweg und Buschfeld wurden Polizeifahrzeuge postiert.

Zwei Beamtinnen nahmen die Personalien auf und sorgten für die Betreuung der beiden Jugendlichen, Ria und Dennis, die diesen Tag auf immer und ewig im Gedächtnis behalten würden.

Die Hundefrauen standen zusammen und spekulierten, was dort wohl geschehen sein mag. Nach Aufnahme ihrer Identitäten wurden sie mit dem Hinweis entlassen, unter Umständen von der Kripo befragt zu werden.

*

»Solche Sauerei liebe ich.« Heinz Bauer, Oberkommissar der Aachener Kripo schüttelte angewidert den Kopf. »Wie lange liegt die Leiche hier?«, fragte er den Gerichtsmediziner.

»Lange genug«, gab der kurz angebunden zurück.

»Na, wieder gute Laune«, bemerkte der Beamte schnippisch.

»Du hast gut reden. Guck dir die Schweinerei an. Meinst du es macht Spaß, Fleischfetzen zu untersuchen. Ich könnte kotzen«, er zeigt auf die Spuren der beiden Jugendlichen.

»Ist schon gut. Ich wollte dir nicht auf die Füße treten.«

»Da bist du ja«, Claudia Plum, seine Chefin trat zu ihm. Ungefähr ein Meter siebzig groß, mit halblangem brünetten Haar und ausdrucksstarken grauen Augen, die ihn jetzt musterten. »Du bist etwas blass um die Nase. Was ist los?«

»Die Leiche. Tu‹ es dir nicht an. Eine unendliche Sauerei.« Fürsorglich streckte er seine einsachtundsechzig. Das ansonsten exakt über die Halbglatze gekämmtes, schütteres Haar stand in alle Richtungen. Mit dreiundsechzig Jahren sehnte er die Pension herbei. Er wusste, die Arbeit würde ihm fehlen … doch mit den Enkelkindern war er lieber zusammen.

»Ich hab‹ über Funk mitgehört und im Auto Mentholsalbe an die Nase geschmiert. Ich möchte nicht dort hinein …, es hilft nichts, ich muss mir die Leiche ansehen. Das weißt du doch.« Sie hob in einer entwaffnenden Geste die Schultern. Er trat zur Seite und ließ die sportliche, zurzeit hagere, Gestalt seiner Chefin vorbei. Vor einigen Wochen wurde sie während der Ermittlungen zu einem Verbrechen entführt und trug die Strapazen und den Gewichtsverlust sichtbar, aber mit Gelassenheit. Die Kriminalhauptkommissarin sah zurzeit um einiges älter aus. Erst, wenn man in ihre Augen sah, bemerkte man, wie unglaublich jung sie für die Aufgaben war, die vor ihr lagen. Mit dreißig Jahren war sie die jüngste Leiterin einer Mordkommission. All das konnte den Reiz und die Ausstrahlung, die von dieser Frau ausgingen, nicht verbergen. Sie wirkte kraftvoll und war den Anforderungen ihres Berufes durchaus gewachsen. Wie immer trug sie elegante und konservative Kleidung. Das einzige Zugeständnis an die warme Witterung war, dass sie auf die Jacke ihres Kostüms verzichtete und ihre reizvollen Kurven, durch eine eng sitzende Bluse betonte. Sie wirkte eher wie die Managerin eines Unternehmens, denn einer Kriminalbeamtin. Mit einer Ausnahme. An den Füßen trug sie alte schmuddelige Sportschuhe.

»Was ist für ein Summen in der Luft. Hört sich gruselig an«, fragte sie Heinz.

»Ist auch gruselig.« Er zeigte zum Maisfeld in die Luft.

Tatsächlich. Millionen von Fliegen standen in einem dunklen Knubbel über der Fundstelle der Leiche. Mit der Bewegung der Maisstauden und den Flügelschlägen der Insekten entstand eine beklemmende Hintergrundmusik. Claudia fiel auf, wie sie die Luft anhielt, um keines dieser Krabbelviecher einzuatmen. Sie überwand den ersten Schock und richtete die Aufmerksamkeit auf die Arbeit.

Langsam, jedoch festen Schritts schritt sie zum Ort des Grauens und erspähte mit Entsetzen das Etwas, das einmal ein Mensch gewesen war. Die Leiche, oder das, was davon übrig geblieben war, lag mit dem Gesicht nach unten, soweit sie das beurteilen konnte. Sie hielt inne und richtete den Blick auf die Überreste. Mit ihrem Erfahrungswissen sah sie, dass das Gewebe im normalen Verwesungsprozess zersetzt wurde, wobei Insekten das ihre taten. Der warme Sommer hatte die Fliegenpopulation gefördert. Die abgelegten Larven konnten zu einer Zeitbestimmung herangezogen werden.

Faules stinkendes Fleisch lag in einem Radius von etwa fünf Metern, zwischen den Maisstauden, um die Leiche verteilt. An einigen Stellen traten gelbliche Knochen hervor. Keine Kleidung. In diesem Augenblick schoss das Gedicht durch ihren Kopf.

»Es glänzt der Himmel über dem Dach

So blau, so stille.

Ein Baum wiegt draußen über dem Dach

Der Blätter Fülle.

Eine Glocke im Himmel, den du siehst,

Hörst sanft du klingen,

Einen Vogel auf dem Baum, den du siehst,

Seine Klage singen.«

Vor Jahren hatte sie es einmal gehört. Einfach lächerlich. Blöde Gedanken. Weshalb gerade jetzt? Verlaine oder so ähnlich hieß der Dichter. Da gab es noch eine oder zwei Strophen. Ach ja …

»Mein Gott! Mein Gott! Das Leben fließt dort

Ohne Leiden und Härmen,

Vom Städtchen kommt mir herüber dort

Ein friedliches Lärmen.

Und du dort, der weint bei Tag und Nacht

In schmerzlicher Klage,

O sage mir du dort, wie hast du verbracht

Deine jungen Tage?«

Gab ihr Unterbewusstsein einen Hinweis? Die Vögel zwitscherten aus Lebensfreude. Sie hörte keine Klage. Die Kirchenglocke schlug elfmal. Kein sanfter Klang, mehr eine Erinnerung daran, dass das Leben unbarmherzig voranschritt. Und nun dieser, unter Umständen abrupte Tod. Sie gewöhnte sich nie daran. Wer mochte die Person sein? Wie lebte sie? Dinge, die in den nächsten Tagen oder Wochen ihr Lebensinhalt bestimmten.

Nachdenklich knipste Claudia einige Fotos mit dem Smartphone. Der erste Eindruck erschien ihr wichtig. Die Positionsmarken der Technik waren bedeutend, weil sie Aufschluss darüber gaben, was letztendlich geschehen war. Mit der praktischen Zusatzfunktion des Smartphones bannte sie die ersten Gedanken in den Speicher und konnte sie jederzeit abrufen. Eine Leiche an sich war meistens schon kein angenehmer Anblick. Doch hier, ging es an die Grenze dessen, was ein Mensch ertragen konnte. Es sei denn, er hatte Wasser anstatt Blut in den Adern.

»Kann mir schon jemand etwas sagen?«, fragte sie mit rauer Stimme bei den Gerichtsmedizinern, die diktierten und filmten.

»Weiblich.« Knut Svensen, der Mediziner sah aus der hockenden Haltung hoch. »Mehr kann ich bei bestem Willen nicht sagen. Normal müsste sie ausgetrocknet sein, bei dem Wetter der letzten Wochen. Oder ... noch mehr, als jetzt, von den Tieren zernagt. An dieses verfaulte Fleisch geht jedoch kein Lebewesen mehr. Irgendetwas hat die Leiche feucht gehalten, sodass sie faktisch faulte. Du kannst nichts anfassen, es zerfällt sofort. Wie bei einem Stück Fleisch, das zu lange kocht. Ich habe noch einige Stunden zu tun. Pass auf, damit mir hier niemand herumtrampelt.« Er zeigte auf die unkenntliche Leiche. Die Haut hing in unappetitlichen Lappen herunter. Dabei entstand das Gefühl, als ob die stinkende Masse sich bewegte. »Wir müssen anhand der Muskelproteine, der Aminosäuren und ungesättigten Fettsäuren das Ausmaß der Verwesung ermitteln.« Knut führte etwas weiter aus. »Aufgrund des abnormen Zustandes der Leiche muss ich warten, bis ich im Labor auf meine Einrichtung zurückgreifen kann. Letztendlich wird die Rechtsmedizin in Köln das abschließende Gutachten geben. Aber das weißt du auch alles. Im Moment kann ich bestenfalls eine Schätzung vornehmen. Das Wetter, die ungewöhnliche Zersetzung des Gewebes«, er kniff seine Nase, »ungefähr zwei Monate … plus, minus. Mehr geht im Moment nicht.«

»Danke.« Claudia verließ schaudernd das Maisfeld auf dem Weg, den die Kollegen als Zugang markiert hatten. Auf dem Wirtschaftsweg traf sie wieder auf Heinz.

»Mich wundert, dass dein Grabräuber noch nicht hier nicht.« Er konnte die Anspielung auf Claudias Lebensgefährten nicht lassen.

Vor einigen Monaten ermittelte die Aachener Kripo in der Gegend wegen einiger Leichenfunde im Heidegebiet. Während des Falles lernte Claudia Kurt Hüffner kennen, der damals ein Indiz von den Leichen hatte mitgehen lassen. An diesem Mann blieb sie tatsächlich kleben. Er besaß einige Macken, die deutlich anders waren, als die, die sie bei ihren bisherigen Bekanntschaften feststellte. Sein Leben bestimmte, neben dem Beruf, der Rhythmus des Dorfes. Das karge Leben der Vergangenheit prägte die Bewohner immer noch. Sie lebten mit einem leichten Hang zum Mystischen, der sich umso ausgeprägter, je älter die Einwohner wurden. Sie lebte nun seit einigen Wochen mit Kurt zusammen.

»Ehrlich gesagt, mich auch. Sonst ist er meist vor uns am Fundort der Leichen.« Die wenigen Wochen, die Claudia jetzt hier wohnte, fühlten sich wider Erwarten gut an. Die Ruhe, die Gegend und die Menschen gefielen ihr. Es war nicht weit nach Aachen zum Leben einer Großstadt und die wenigen Kilometer zu den holländischen Metropolen Maastricht und Heerlen versprachen Abwechslung. »Komm‹ wir setzen uns einen Moment dort auf die Bank. Das Häuschen haben Nachbarn für ein Original im Dorf gebastelt.« Claudia zeigte auf den kleinen Unterstand, der in die Hecke gebaut war. »Wie ich hörte, war er ein liebenswerter Mensch, der jedoch schon einige Jahre tot ist. Er verteilte Bonbons an die Vorbeikommenden. Hier habe ich mich einige Male von meiner Erschöpfung nach der Entführung erholt. Der beste Platz, um Gott und Pott kennenzulernen.« Ihre Gedanken tauchten kurz in die jüngere Vergangenheit und die Depressionen, die nach dem Kidnapping kamen. Einige Wochen erkundete sie in langen Spaziergängen die Umgebung des Dorfes und im Weiteren das Heidegebiet. Das blies den Kopf frei und die unliebsamen Erlebnisse rückten in den Hintergrund. Mittlerweile schlief sie die Nächte durch.

»Was mag dort geschehen sein?« Heinz zeigte fahrig zum Maisfeld hinüber.

»Keine Ahnung. Wir müssen abwarten, was uns die Kollegen liefern. Das dauert einige Zeit.« Sie schüttelte sich. Der fürchterliche Anblick stand vor ihren Augen.

»Theoretisch könnte es ein natürlicher Tod sein.« Heinz überlegte laut.

»Das glaubst du selbst nicht. Eine Frau zieht sich nackt aus und geht ins Feld zum Sterben. Was ist los mit dir?«

»Ich habe keine Lust mehr«, sagte er müde. »In diesem Jahr hatten wir so viele Leichen, wie seit Jahrzehnten nicht. Ich muss das nicht mehr haben.«

»Du willst mich doch nicht allein lassen«, sie stieß ihn freundschaftlich in die Seite.

»Hör‹ auf. Meine Nerven sind nicht mehr so stark. Scheinbar wird das Nervenkostüm dünner, je älter man wird.« Heinz spielte seit einiger Zeit mit dem Gedanken an die Pension. Es fiel schwerer, morgens aufzustehen und die Knochen in Gang zu bekommen.

»Bei dir nicht. Du bist unverwüstlich.« Claudia dachte mit Schrecken daran, dass Heinz eines nahen Tages nicht mehr zum Team gehörte. Er war zwar ein alter Motzkopf, aber seine Ideen und Erfahrungen waren Gold wert. Und außerdem ... gehörte er zu ihnen. Das Team wäre kein Team mehr.

*

»Also. Hier ist das gerichtsmedizinische Gutachten zu der Leiche. Die Kollegen haben die Nacht über gearbeitet.« Maria hielt Claudia einen dünnen Ordner hin. »Ich habe alles ausgedruckt, weil unser Alterchen sich partout nicht mit dem PC anfreunden will.« Sie knipste mit dem Auge zu Heinz hinüber, der schon hochfahren wollte.

Maria ergänzte die Truppe um Claudia. Anfang fünfzig und mit einer, was man landläufig als frauliche Figur bezeichnete, ausgestattet, was besagte, dass die Pölsterchen an den richtigen Stellen saßen. Durch ihre humorvolle Art wirkte sie wesentlich jünger. Die rehbraunen Augen täuschten so manchen. Sie konnte knochenhart werden. Im Moment durchlebte sie eine blonde Phase. Der modische Kurzhaarschnitt modellierte das ovale Gesicht mit den ausdrucksstarken geschminkten Lippen. Ein knalliges dunkles Rot. Maria trug enge Jeans, die ihre weiblichen Proportionen betonte. Dazu eine dreiviertellange helle Bluse, die über dem Bauchnabel geknotet war.

»Dann bin ich aber gespannt. Ich habe schon viel gesehen, doch der gestrige Anblick geht mir nicht aus dem Kopf.« Claudia schlug die Kladde auf.

Die letzte Nacht war ein Albtraum. Diesmal verfolgte sie nicht die Dunkelheit, sondern der eklige Anblick der Leiche. Sie schauderte, wenn sie sich vorstellte, was nach ihrem Tod für Viehzeugs an ihr herumknabberte. Für sie kam nur Kremieren infrage, das stand fest. Aber … hier in diesem Dorf, nagte hinten in ihren Gedanken ein Zweifel, ob es nicht doch ein Leben nach dem Tod gab. Die Einheimischen waren, bei allem Aberglauben, dem sie unterlagen, so überzeugt davon, nach ihrem Ableben, in irgendeiner Art und Weise, entweder wieder aufzuerstehen oder im Jenseits weiterzuleben. Claudia schüttelte die Gedanken ab und lenkte die Konzentration auf die Kladde.

»Weiblich … das wussten wir schon. Alter zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig; dunkelbraunes Haar; eins fünfundsechzig groß. Keine Identifizierungsmerkmale, wenn wir vom Gebiss absehen. Dazu sind Zahnärzte angemailt. Die Leiche lag mindesten acht Wochen in dem Feld, wenn nicht länger. Der ungewöhnliche Verwesungsprozess entstand durch eine defekte Wasserleitung. Der Bauer gegenüber hat eine Leitung vergraben, die zur Kuhtränke führt. Die Tote lag genau in einer Mulde, in der das Wasser austrat. In der warmen Luft des diesjährigen Sommers zog der Körper ständig Feuchtigkeit und verfaulte faktisch, anstatt auszutrocknen. Unzählige Tiere haben die Leiche mehrere Wochen zerfleddert und in der gesamten Gegend verstreut. Einen annähernd genauen Todeszeitpunkt werden die Gerichtsmediziner kaum ermitteln können.« Claudia sah von der Mappe hoch in die bedrückten Gesichter ihrer Kollegen. Aus dem schmucklosen Büroraum des Polizeipräsidiums ging der Blick genau auf die Justizvollzugsanstalt. Drei Schreibtische und ebenso viele verschließbare Aktencontainer boten die einzige Möblierung. Nicht ganz. Einige technische Einrichtungen, die das Berufsleben erleichtern sollten, komplettierten das Ganze: Monitore auf den Schreibtischen, die mit einem großen Server irgendwo in NRW verbunden waren. Drei schmucklose Tastaturen. An den Wänden, Tafeln und eine große Leinwand. Drehstühle, die schon einige Jahre auf dem Buckel hatten. Nirgendwo sparte die Politik so viel, wie im öffentlichen Dienst. Sie sollten hier nicht wohnen, sondern arbeiten. Von der gegenüberliegenden JVA sahen sie nicht mehr, als die schmucklose, einige Meter hohe Mauer. Der Anblick drückte die Stimmung. Vor allem, weil die Kiste nicht sicher war. Gerade mal zwei Jahre war die Posse Heckhoff und Michalski her. Beide, schon mehr als dreißig Jahre in Haft, beschließen, aus der JVA auszuchecken, wie Heckhoff es nannte. Zwar wurden sie einige Tage später festgenommen, doch so lange hielten sie das Rheinland in Atem.

»Stört es dich, wenn ich mit Heinz nach Grotenrath fahre, um mit den Zeugen zu sprechen?«, fragte Claudia Maria.

»Überhaupt nicht. Ihr wisst doch, die Knollensavanne lockt mich überhaupt nicht.« Nichts hasste Maria mehr, als im nördlichen Bereich ihrer Zuständigkeiten zu arbeiten. Das platte Land und der eigenwillige Menschenschlag zerrten an ihrem Gemüt. Außerdem verstand sie den Dialekt dort nicht. Kein Holländisch, kein Deutsch … irgend so ein Kauderwelsch. Sie war froh, dass sie nicht mit dorthin musste. Die Menschen in dieser Gegend, vor allem die Alten, mit ihren mehrdeutigen abergläubischen Redensarten, nervten. Das konnte sie absolut nicht ab.

»Dann sehen wir uns vielleicht heute Nachmittag.« Claudia und Heinz verschwanden.

*

Sie hielten vor dem imposanten Backsteingebäude Hinter den Höfen. Seitlich des Hauses führte ein Zugang zum hinteren Teil des Grundstücks, das sich bestimmt zweihundert Meter in die Länge zog. Ein großer Hund verbellte sie hinter einem alten schmiedeeisernen Tor, das auf einen Hof führte. Im Hintergrund grasten zwei Pferde. Eine kleine rothaarige, nicht mehr ganz junge Frau kam aus dem Stall.

»Hier hinten«, rief sie und winkte. »Ach Sie sind es«, sagte sie erstaunt, als sie Claudias ansichtig wurde. »Polizei, wegen der Leiche?«

»Genau«, sagte Claudia. »Wir kennen uns. Sie laufen jeden Tag mit ihren Hunden durch das Feld.«

»Und Sie leben mit Kurt zusammen. Es wurde Zeit, dass der endlich die Naserei in puncto Frauen aufgibt. Ich habe Sie lange nicht mehr gesehen. Sind Sie wieder genesen?«

»Claudia Plum und mein Kollege Heinz Bauer.« Claudia überging die Bemerkungen und die Frage. Sie reichte ihr die Hand.

»Hereinspaziert. Ich habe gerade eine Tasse Kaffee fertig.«

Kurze Zeit später saßen sie in einem gemütlichen Wintergarten und tranken Kaffee. Claudia sah sich erstaunt um. Gediegene alte Möbel, die zweifellos mehrere Generationen haben, kommen und gehen sehen, bestimmten den Gesamteindruck. Eine breite Holztür führte ins Haus. Von ihrem Platz konnte sie direkt in den Pferdestall sehen, der nicht mehr als drei Meter entfernt lag. Ein großer Brauner streckte den Kopf über die halbe Türe und beäugte sie. Die beiden Kriminalbeamten hatten noch nicht viel gesagt. Die Frau sprach ohne Punkt und Komma. Als sie einmal Luft holen musste, kam Claudia dazwischen.

»Wir wollten sie zu der Leiche befragen, die im Maisfeld lag.«

»Das dachte ich mir schon. Aber hören Sie auf. Das Bild geht mir nicht aus dem Kopf«, angewidert verzog sie das Gesicht. »Seit einigen Wochen stank es in diesem Gebiet nach Aas. Sie haben den Geruch doch sicherlich bemerkt, wenn sie auf der Bank saßen.«

Claudia schüttelte den Kopf. »Mir war nichts aufgefallen. Vielleicht stand der Wind ungünstig.«

»Möglich«, die Rothaarige überlegte. »Jetzt wollen Sie von mir wissen, ob ich etwas bemerkt habe. Darüber habe ich mir den Kopf zerbrochen. Wissen Sie … hier ist immer etwas los. Nachts fahren Fahrzeuge mit Scheinwerfern auf dem Dach durch die Felder und ballern auf die Hasen und Füchse. Erst vor einigen Tagen hat so ein Idiot mit einer Ladung Schrot in einen Schwarm Wildgänse geschossen. Das war dort hinten am Feldkreuz. Da war auch eine weiße Gans dabei. Ich musste sofort an Nils Holgersson denken. Können Sie sich so etwas vorstellen. Jetzt die Leiche direkt vor der Haustür. Aber gut, dass die Kinder sie gefunden haben, obwohl die mir leidtun. In dem Alter solch ein Anblick, das muss nicht sein. Stellen Sie sich vor, ein paar Tage später, wäre der Mais geerntet worden, dann hätte niemand etwas erfahren. Die Maschine zermalmt alles. Die meisten Katzen kommen während der Ernte weg. Wussten Sie das? Sie sind wie gelähmt, wenn die Maschine auf sie zu fährt. Dann die vielen Idioten, die unbefugt die Feldwege befahren. Da weiß niemand mehr, ob der von hier ist oder anderswo. Hier wohnen ja auch die Beschäftigten der AWACs. Der Tod kann jeden Tag zu jeder Tageszeit eingetreten sein, ohne, dass es jemand bemerkte. Oder war es ein Verbrechen?« Sie unterbrach einen Moment, um einen Schluck Kaffee zu nehmen.

Claudia und Heinz sahen sie mit erstaunten Augen an. Selten mussten sie einen solchen Wortschwall über sich ergehen lassen. Bevor die Frau wieder loslegen konnte, ergriff Heinz die Initiative.

»Die Leiche ist eine Frau.«

»Eine Frau?« Im Gesicht der Rothaarigen arbeitete es. Sie überlegte.

Claudia betrachtete sie interessiert. Sie wurde Doro genannt, das wusste sie. Die Abkürzung von Dorothee, wie in den Unterlagen stand. Sie redeten sich im Feld, wenn sie sich trafen, mit Vornamen an. Die Frau sah aus, wie Ende vierzig, Anfang fünfzig und Claudia war erstaunt, als sie im Protokoll der Kollegen, das Alter mit Mitte sechzig angegeben sah. Doro besaß ein markantes ausdrucksstarkes Gesicht, aus dem zu ersehen war, dass sie das, was sie wollte, auch bekam. Mit den Stallklamotten, die sie trug, konnte sie jedes Lokal besuchen. Die langen roten Haare hingen lockig und sorgfältig frisiert bis auf die Schultern. Irgendwann muss sie mir ihren Jungbrunnen verraten, dachte Claudia.

»Warten Sie … da war vor einem viertel Jahr etwas. Eine junge Frau lief häufiger durch das Feld. Sie fiel mir auf, weil sie keinen Hund dabei hatte. Wissen Sie, das ist absolut suspekt, einfach so durch die Felder zu laufen. Normalerweise erkenne ich die Leute an den Hunden. Namen kann ich mir nicht merken, die Tiere jedoch genau. Sagen Sie … hatte sie vielleicht dunkelbraunes Haar und meine Größe?«

Elektrisiert beugten sich die beiden Kriminalbeamten nach vorne.

»Ja«, forderte Claudia sie spannungsgeladen auf, weiterzusprechen.

»Ungefähr dreißig Jahre alt und immer die gleiche Art von Sonnentop mit Spaghettiträgern. Dreiviertellange Shorts … so bis in die Mitte der Oberschenkel. Die Nägel an den Händen und Füßen auffallend dunkel lackiert. Sie war ganz schön zurechtgemacht. Wir, meine Bekannten und ich, sind schon mal stehen geblieben, um zu sehen, was die so treibt. Von wegen Techtelmechtel und so. Doch wir haben nie etwas in dieser Richtung bemerkt. Sie lief immer alleine. Woher sie kam, konnten wir nie feststellen. Sie ging uns aus dem Weg. Vielleicht von der Fliegerhorst-Siedlung. Keine Ahnung.«

»Einen Moment bitte«, unterbrach Claudia und drückte die Kurzwahl für das Präsidium ins Smartphone. Sie ging zum anderen Ende des Wintergartens und murmelte ins Telefon.

»Volltreffer«, sagte sie zu Heinz. »Dunkelroter fast schwarzer Nagellack. Das hatte ich vorhin überlesen.«

»Doro … ich darf Sie doch beim Vornamen nennen?«

»Klar. Ich war mir auch unsicher. Ich wusste nicht, wie ich Sie ansprechen sollte. Claudia … nicht? Bei einem solch hochoffiziellen Besuch ist es anders, als im Feld.«

»Können Sie aufs Polizeipräsidium kommen und mit einem Kollegen ein Phantombild erstellen?«

»Sicher. Dann nehme ich mir aber ein oder zwei von den anderen mit, die haben sie schließlich auch gesehen. Ach … noch etwas … sie war keine Deutsche. Irgendwas aus dem englischsprachigen Raum … kann aber auch Holländerin gewesen sein, auch wenn sie nicht so klang. Sie stand einmal im Supermarkt zwei Einkaufswagen vor mir. Sie schaute jedoch nicht hoch, um zu grüßen.«

*

»Die Frau habe ich auch gesehen«, stellte Kurt fest, als ihm Claudia abends von ihrem neuen Fall berichtete. Sie lümmelten auf dem Sofa. Jeder in einer Ecke und spielten mit den Zehen aneinander herum. Im Fernseher lief eine Serie, auf die sie sich nicht konzentrierten.

»Wann willst du die gesehen haben? Du stolperst doch sonst nur über Leichen.« Claudia spielte auf ihre beiden letzten Fälle an, bei denen sie Kurt begegnete, bis sie hängen blieb. Ehrlich gesagt suchte sie die Nähe auch.

»Ich habe sogar mit ihr gesprochen. Sie kam aus der Fliegerhorst-Siedlung. Hatte was mit einem AWACs Menschen, wenn ich richtig verstanden habe. Wir haben uns in englischer Sprache unterhalten. Sie ist – oder heißt es jetzt ›war‹ - keine Deutsche. Engländerin, Amerikanerin ... kann ich nicht sagen. Sie sah exotisch aus.«

»Zufälle gibt es, die gibt es nicht.« Kurt überraschte sie immer wieder. Seit einigen Wochen lebte Claudia nun in Grotenrath. Der große Mann mit den breiten Schultern und schmalen Hüften hatte es ihr angetan. Das halblange mittelblonde Haar stand wie immer wirr vom Kopf und die grünen Augen musterten ständig und interessiert die Umgebung. »Und?«, fragte sie.

»Was und? Ich bin ihr zwei Mal begegnet. Die ungewöhnliche Lackierung der Finger- und Fußnägel fiel mir auf. Ja … sie war eine ausgesprochen hübsche Frau.«

»Dich kann man nicht alleine lassen. Kennst du diese Doro?«

»Meinst du die Wellmann. Klar. Die läuft, solange ich hier lebe, jeden Tag zweimal mit ihren Hunden um das Dorf. Eine sympathische Frau.«

»Weißt du, dass die Wellmann schon Mitte sechzig ist?«

»Nein. Dann hat sie sich gut gehalten. Was hast du mit der zu tun?«

»Die Frau fand unsere neue Leiche. Neben der Wellmann habe ich zwei weitere Frauen vernommen. Vernommen ist nicht der richtige Ausdruck. Ich habe mit ihnen gesprochen. Die wissen scheinbar alles, was in eurem Dorf vor sich geht.«

»Ich hoffe jetzt auch dein Dorf. Ja, die Truppe mit den Hunden ist immer unterwegs. Im Grunde sind es mehrere Grüppchen, die sich treffen.«

»Ich habe es festgestellt, als ich diesen Sommer herumspazierte. Gegen sieben, halb acht jeden Morgen geht das los. Fast immer die gleiche Zusammensetzung. Die Gruppen überschneiden sich, treffen sich, bleiben kurz stehen, tauschen Informationen aus bis gegen Mittag. Danach, ca. zwei Stunden später, wiederholt sich der Prozess bis gegen Abend. Ja … und dann kommen die, die nach ihrem Job mit den Tieren laufen.«

»Da bleibt im Grunde nichts verborgen … bist du verrückt«, Kurt sprang kreischend vom Sofa.

»Du bist kitzelig, das wusste ich noch nicht.« Claudia lachte vor Begeisterung. Sie geriet kurz mit den Zehen unter seine Fußsohle. Sie sprang auf und schlich katzenhaft auf ihn zu. Protestierend lief er davon.

*

drei

»Kennen Sie diese Frau?« Heinz klingelte schon an der fünften Tür in der Fliegerhorstsiedlung. Eine Familie hatte die Frau auf der Phantomzeichnung schon einmal gesehen, konnte jedoch nichts Weiteres dazu sagen.

Heinz rekapitulierte die Daten zur Siedlung in der Erinnerung. Ab den fünfziger Jahren hieß sie Fliegerhorstsiedlung, später dann Neuteveren. Im Sprachgebrauch blieb Fliegerhorstsiedlung, wobei die Einheimischen ihren Ortsteil »The Ghetto« nannten. Wenn man durch die Ansiedlung fuhr, gewann man den Eindruck auch.

Die British Royal Air Force baute und bezog 1953 in Teveren den Flugplatz, den sie bis 1968 nutzte. Während der Zeit entstand die Siedlung. Als Jugendlicher trieb sich Heinz häufiger am Flughafengelände herum. Hier gab es billige Zigaretten, wenn einer der Soldaten Geld brauchte. Außerdem gaben ihm die startenden und landenden Propellermaschinen das Gefühl, Verbindung mit der großen weiten Welt zu haben und nicht am Arsch der Welt zu leben. Später, als die NATO den Flugplatz übernahm, waren die Oktoberfeste auf dem Gelände angesagt. Wer Karten ergattern konnte, hatte für Wochen Gesprächsstoff. Dort lief nicht nur das Bier in Strömen, zumindest in den achtziger Jahren nicht. Der Standard war, eine Flasche Whiskey und Cola pro Person. Und zwar je ein Liter. Ein Gefühl von Wilder Westen und Freiheit.

»Kenne ich«, sagte der massige Mann im Unterhemd, dessen Bauch über den Hosenbund quoll. »Grace.«

»Und?«

»Sie wohnt dahinten in oder in der Nähe der Yorkstraße.«

»Können Sie mir Näheres über die Frau sagen?«

»Nee, kann ich nicht.«

»Wollen Sie nicht oder können Sie nicht?«

»Beides.« Er trat zurück und verschloss die Tür. Heinz klingelte noch mehrmals, jedoch erfolglos. Er war versucht, wütend gegen die Tür zu treten. Er hasste es, wie ein Hausierer, abgefertigt zu werden. Niemand überlegte, dass er zu ihrer Sicherheit tätig war. Diesen Typen bestellte er auf alle Fälle zur Belohnung ins Polizeipräsidium nach Aachen ein.

Wahrscheinlich hatten sie die letzten schönen Tage im Jahr. Ein goldener Oktober mit Temperaturen um die zwanzig Grad. In der nächsten Woche zogen die ersten Nachtfröste aus Osten heran. Er durfte nicht vergessen, den Oleander und die Geranien hereinzuholen.

Missmutig trabte Heinz zur Yorkstraße. Er bekam relativ schnell die mutmaßliche Adresse der Toten. Sie lag in einer willkürlich aufgebauten Häuseransammlung. Trist, mit schmutzigen Rasenflächen. Eine Reißbrettsiedlung. Nicht gewachsen. Sie besaß keine Atmosphäre, keine Geschichte und wenn, nur eine kurze. Trotzdem … mit ein wenig Pflege wäre ein schmucker Wohnbereich entstanden. Der ansehnliche Baumbestand erreichte teilweise ein Alter von über fünfzig Jahren.

Heinz stand vor dem schmucklosen Haus. Es wirkte unbewohnt, obwohl es trotz des guten Erhaltungszustandes einen toten Eindruck hinterließ. Das Gebäude beherbergte zwei Wohnungen. Weder an der einen noch an der anderen Türe erfolgte eine Reaktion, als er klingelte. Er war versucht, das ungepflegte Grundstück zu betreten und um das Haus herumzugehen. Das konnte Ärger geben, deshalb telefonierte er kurz mit Maria und bat sie, die Namen der Bewohner des Hauses zu ermitteln.

Von den Nachbarn wusste niemand etwas. Sie wirkten desinteressiert an dem, was in den anderen Häusern geschah. Eine merkwürdige Gesellschaft. Was erwartete er eigentlich? Sie waren Zugezogene, die in der Regel nach einigen Jahren wieder verschwanden. Heinz kannte hier einige, aber jenseits der Hauptstraße, auf der anderen Seite. Dort standen schmucke Häuschen, die von Einheimischen bewohnt wurden.

Minuten später rief Maria zurück. Peter und Grace Abels bewohnten die Hälfte des Hauses, vor der er stand. Abels arbeitete als Bordmechaniker bei den AWACs. Mehr konnte sie ihm im Moment noch nicht sagen. Claudia sei mit der Staatsanwaltschaft in Kontakt um das Personalbüro der Base, einzuschalten. Frustriert gab er für den Moment auf.

Heinz Bauer lebte nicht weit von hier in Windhausen, einem kleinen Dorf. Eine andere Welt als hier und dichterer Besiedlung. Als er, vor gefühlten hundert Jahren, den Berufsweg begann, lief vieles einfacher. Heute wurden die Verbrechen immer raffinierter und nutzten die neuen Techniken. Ihm bereitete dieser Umstand der Arbeit Probleme. Er hatte den Anschluss verpasst. In den Anfängen der DV-Einführung weigerte er sich standhaft, mit den Geräten zu arbeiten. Nie, zu keiner Zeit, bekam Heinz Zugang zu einem PC. Zwar benutzte er den technischen Schnickschnack mittlerweile als Schreibmaschine und rief E-Mails ab. Ansonsten bedeuteten diese Maschinen Teufelswerk für ihn. Er anerkannte die Möglichkeiten, die die Computerisierung in der Ermittlungsarbeit bot, doch wollte er damit nichts zu tun haben. Und … seitdem die Enkelkinder da waren, zog es ihn mehr und mehr nach Hause.

Dabei gefiel es ihm in dem Team mit Maria und Claudia. Die gemeinsame Vergangenheit … sie hatten so viel miteinander erlebt, dass er den Ruhestand immer wieder wegschob, wenn er darüber nachdachte. Die beiden Kolleginnen waren Teil seines Lebens und wussten sehr viel mehr von ihm, als irgendjemand anderes. Wahrscheinlich war das überall so, wo Menschen eng zusammenarbeiteten. Vor allen Dingen behagte ihm die unkonventionelle Abwicklung ihrer gemeinsamen Arbeit. Claudia ließ nie die Chefin heraushängen oder pochte auf ihren Status als Hauptkommissarin. Marias Frotzelei zu seinem Computerwissen würde ihm auch fehlen. Vielleicht machte er doch bis zum Ende. Mal sehen.

*

Mehrere Polizeifahrzeuge fuhren in der Yorkstraße vor und ein Schlosser öffnete die Eingangstüre der linken Haushälfte. Der Staatsanwalt stellte nach langem Hin und Her den Durchsuchungsbeschluss aus.

Ein kleiner dunkler Flur empfing Claudia und Heinz. Geradeaus und links ging je eine Türe ab. Keine Bilder an den Wänden oder gar eine Garderobe oder ein Schränkchen. Kahl und unbewohnt. Claudia öffnete die linke Türe und betrat den halbdunklen Wohnraum, der spärliche Möblierung aufwies. Eine braune Ledercouch, ein Sessel und ein kleiner Tisch sowie ein helles modernes Sideboard, auf dem ein Flachbildfernseher stand. Keine Gardinen oder Vorhänge an den Fenstern. Normale Unordnung, die zeigte, dass hier jemand lebte oder gelebt hatte. Aus dem Raum heraus ging sie in eine Küche. Das schmutzige Geschirr zeugte von längerer Abwesenheit der Bewohner. Festgetrocknete unappetitliche Speisereste und stapelweise ungespültes Geschirr. Aufgeschlagene Betten im Schlafzimmer sowie ein dumpfer feuchter Geruch in der Luft. Lange nicht mehr gelüftet. Bewohnt und wieder nicht. Hier gab es zwar keine Reichtümer, doch arme Leute lebten hier nicht. Die wenige Kleidung und Wohngegenstände zeugten von einer soliden finanziellen Grundbasis.

Was mochte geschehen sein?

Claudia stand ratlos im Wohnraum und nahm die nicht vorhandene Atmosphäre auf. Von Maria wusste sie, dass Peter Abels seit drei Monaten nicht mehr zur Arbeit erschienen war. Keine Krankmeldung oder Abmeldung … nichts. Sie schaute aus dem Fenster in einen kleinen Garten. Am Ende stand ein Holzhaus, mehr ein Geräteschuppen.

»Da schauen wir mal eben rein«, sagte sie zu Heinz, während das Unheil in ihrer Magengegend aufzog.

Er nickte zustimmend. Zwei in Kniehöhe gespannte Drähte markierten die Grundstücksgrenze zu den Nachbarn. Die Türe des Schuppens klemmte. Heinz zog mit aller Kraft daran und flog unversehens auf den Hosenboden, als sie nachgab. Zwischen den Gartengeräten und über einer kleinen Werkbank lag ein Mann. Tot. Heinz sah es sofort. Die Lage der Glieder und der süßliche Geruch ließen keinen anderen Schluss zu. Er winkte Claudia heran.

»Wahrscheinlich haben wir Peter Abels gefunden.« Er stand umständlich auf und rieb den Hintern.

Claudia drückte ihn zur Seite, um hineinsehen zu können. Jetzt wusste sie, weshalb sie die flaue Ahnung vorhin überkam. Wie im Maisfeld schoss sie auch hier einige Fotos und verständigte erst dann das Team der Spurensicherung.

Sie sahen von der Türschwelle, in der schummrigen Helligkeit der kleinen Hütte, auf den Rücken des Toten, der unverletzt erschien. Der Kopf hing herunter und die Schulter verdeckte das Gesicht. Der leicht süßliche Geruch des Todes hing in der Luft.

Sie stellten keine Spekulationen an, da diese nichts brachten, wie sie aus jahrelanger Zusammenarbeit wussten. Die Prozedere besagte, dass sie jetzt den Tatort verlassen mussten, um keine Spuren zu verwischen. Sie verließen das Grundstück und traten auf die Straße. Obwohl die Sonne schien, wehte es leicht winterlich aus Osten. Mitte Oktober. Etwas früh für die Jahreszeit. Die Wildgänse zogen in diesem Jahr früher. Aus dem Radio wusste Claudia jedoch, dass dies hauptsächlich an veränderten Lebensbedingungen in Sibirien lag. Immer wieder faszinierte sie der V-förmige Zug der Tiere, um den Schwachen die Gelegenheit zu geben, mitzuziehen. Ob dort im Schuppen auch ein Schwacher lag?

Rechts von ihnen lag die Einfahrt zur NATO Air Base mit der Natex auf der Ecke. Beschäftigte der Base konnten dort preiswert einkaufen. Das Gelände selbst spuckte Fahrzeug um Fahrzeug aus. Feierabend.

Nachdem die Engländer 1968 abzogen, übernahm die deutsche Luftwaffe den Stützpunkt als Standort für die Pershing 1 A Mittelstreckenrakete. 1980 zog dort die NATO mit dem AWACS-Verband ein. Claudias Mutter demonstrierte damals dort. Angeblich mit ihr im Kinderwagen. Auf dem Gelände lagerten auch Atomsprengköpfe. Die Amerikaner und die deutsche Politik bestritten dies stets. Doch, wenn man den Worten der Einheimischen Glauben schenkte, logen beide.

Seit 1982 flogen von dem Flugplatz der NATO, AWACs Aufklärungsflugzeuge vom Typ Boeing E-3A.

Das Personal der multinationalen integrierten Einheit umfasste mehr als 3000 Soldaten und Zivilbedienstete aus 16 NATO-Mitgliedstaaten.

Claudia sah zur Heide hinüber. Wie konnte jemand auf die wahnwitzige Idee kommen, in diese wunderschöne Gegend, einen Flughafen zu bauen? In der kurzen Zeit, in der sie jetzt hier lebte, lernte sie das Naturschutzgebiet lieben. Sie sah nach Grotenrath hinüber, dem Dorf, in dem sie ihre Kindheit verbrachte, an die sie keine Erinnerung hatte. Ihre Eltern sprachen nicht über ihre Zeit hier. Sie musste noch einmal nachhaken. Jetzt, wo sie in dem Dorf lebte, interessierten sie die Umstände, die Vater und Mutter dazu veranlassten, in die Großstadt zu ziehen. Ob hier wohl eine dunkle Seite ihrer Familiengeschichte lag? Vorsichtig hakte sie bei den Einheimischen nach. Außer unverständlichen Andeutungen erfuhr sie nichts. Sicher … sie hätte die Möglichkeiten ihres Jobs nutzen können … aber … das wäre ein Vertrauensbruch ihren Eltern gegenüber.

Sie lenkte die Gedanken zur Fliegerhorst Siedlung. Jetzt um diese Jahreszeit wirkte sie noch trister, als sowieso schon. Später würde sie noch einmal alleine hierherkommen. Sie brauchte immer ein wenig Ruhe, um ein Bild von den Lebensumständen der Opfer zu bekommen. Ob die weibliche Leiche im Maisfeld Grace war, schien zwar wahrscheinlich, wurde jedoch nicht zweifelsfrei belegt. Die berühmten achtundvierzig Stunden nach der Tat, in denen sich ein Fall angeblich am besten aufklären ließ, waren lange vorbei.

*

vier

Sie saßen zur morgendlichen Besprechung im Büro des Polizeipräsidiums. Claudia und Heinz etwas verschlafen, weil sie, nachdem die Gerichtsmedizin und die Spurensicherung in der Yorkstraße abzogen, noch einmal in Ruhe die Wohnung des Toten besuchten. Heinz bestand darauf, seine Chefin zu begleiten. Zunächst ärgerlich gab sie nach. Sie musste sich daran gewöhnen, Alleingänge zu unterlassen. Sie war keine gute Teamspielerin. Seit der Entführung im letzten Fall umsorgten die Kollegen sie. Sie mochten sie nirgendwo allein hingehen lassen.

Heinz wusste, dass Claudia, bei der Aufnahme des Tatorts, Ruhe benötigte, und blieb deshalb im Hintergrund. Er nutzte die Gelegenheit und strich noch einmal durch die Siedlung. Wer wusste, wozu das später gut war. Bis auf den Bereich jenseits der Hauptstraße wirkte die Häuseransammlung unbewohnt und leblos. Der Hauptteil der Gebäude sollte verkauft werden. Der Erhaltungszustand stand in keinem Verhältnis zum Preis. Nach ungefähr einer Stunde hatte er die Umgebung aufgenommen und gesellte sich zu seiner Chefin. Erst nach dreiundzwanzig Uhr verließen sie die Wohnung des Toten und traten die Heimfahrt an.

Maria saß wie das blühende Leben vor ihnen.

»Wollt ihr das Neueste hören?«, fragte sie gespannt. Beide verdrehten die Augen. Wenn Maria so drauf war, gab es keine Ruhe. »Ihr seid ja so was von ergiebig heute Morgen. In dem Maisfeld lag eine Hanfplantage. Fünfzig mal fünfzig Meter.«

»Cannabis oder Hanf?«, fragte Heinz gelangweilt.

»Mensch. Bist du bekloppt. Hast du dein Gehirn im Bett gelassen? Noch einmal: eine Plantage mit Cannabispflanzen auf zweitausendfünfhundert Quadratmetern.«

»Das ist doch etwas. Muss jedoch nicht unbedingt mit der Toten zu tun haben.«

»Hab‹ ich auch nicht gesagt.« Maria reagierte beleidigt, weil ihre Kollegen so desinteressiert reagierten.

»Ungewöhnlich, dass der Anbau unentdeckt blieb«, stellte Claudia trocken fest. »In der Zeit meiner Rekonvaleszenz flogen dort laufend Hubschrauber zur Base.«

»Tatsache ist … das Cannabisfeld existiert.«

»Kümmerst du dich darum?«, fragte Claudia.

»Was meinst du, was ich tue. Manchmal wünsche ich mir, wir hätten die gleichen Möglichkeiten wie im Film. Ein Mord … eine Soko. Dann hätten wir hier zwanzig muntere Kriminalisten sitzen und würden uns nicht anmuffen.«

»Mensch Maria. Halt‹ die Klappe. Während du mit deinem LKA-Lover telefoniertest, waren wir noch im Dienst.« Heinz reizte sie noch ein wenig. Doch der Schuss ging nach hinten los.

»Ich habe gar nicht telefoniert. Er war hier … in Aachen. Ich habe viel, viel weniger geschlafen als ihr. Und … sieht man es mir an?« Sie drehte sich kokett … das blühende Leben. Vor einigen Wochen lernte sie Armin Krüger kennen, der gemeinsam mit ihr und den anderen im Klinikum ermittelte. Was locker begann, entwickelte sich zu einer ernsten Beziehung. »Noch etwas. Eine merkwürdige Sache. Wie ihr wisst, war an der Toten nichts, worüber sie zu identifizieren wäre. Die Spurensicherung fand eine Münze. Entsprechend dem Fundort kann sie sich nur in der Hand der Frau befunden haben. Ein Kupfer- oder Bronzestück. Genaueres konnten sie noch nicht sagen. Auf jeden Fall: alt.«

»Wir behalten das im Auge«, sagte Claudia zerstreut. »Die Toten sind Amerikaner. Wir werden Schwierigkeiten und wahrscheinlich unliebsame Hilfe von den US Behörden bekommen. Fehlt mir noch, dass uns ein Sheriff in unsere Ermittlungen funkt. Ich habe vorhin mit Dengler, dem neuen Staatsanwalt gesprochen. Der faselte von Auswärtigem Amt und Bundesbehörden.«

»Sch …«, Heinz verkniff sich, das Wort auszusprechen. »Haben wir denn nie einen normalen Fall? Mit der Base um die Ecke mussten wir damit rechnen, dass irgendwann etwas passiert. Da kommt jede Menge Volk zusammen. Nicht, dass wir mit den Holländern nicht genug zu tun hätten … jetzt auch das noch.«

»Verkompliziere den Fall nicht, indem du deinen holländischen Kollegen einschaltest. Nicht, dass er bisher keine Hilfe gewesen wäre. Aber ... der hat drüben scheinbar nichts zu tun. Wenn ich jedoch die Zeitung lese und sehe, was im nahen Grenzbereich dort geschieht, frage ich mich, wie er seinen Laden am Laufen hält.«

»Raoul ist ein Organisationsgenie«, prahlt Heinz stolz. Raoul Janssen war der Polizeichef der Provinz Limburg und ein privater Freund des deutschen Kriminalisten. Im letzten halben Jahr mischte er in verschiedenen Ermittlungen auf deutscher Seite mit. Unkompliziert und kompetent räumte er die Verwaltungsbarrieren zwischen beiden Ländern beiseite.

»Wie soll ich das verstehen?«, fragte Maria. »Was hat das Auswärtige Amt mit unserer Arbeit zu tun?«

»Du weißt doch, wie die Amerikaner sind«, stellte Claudia fest. »Bürger der Vereinigten Staaten – zumindest müssen wir im Moment davon ausgehen – und die spielen verrückt. Die trauen uns nichts zu. Wenn Abels oder seine Frau Soldaten waren, dann gute Nacht.«

»Dann habe ich gute Nachrichten für euch«, Maria sah wichtigtuerisch in die Runde. »Abels arbeitete als Zivilangestellter. Eine Frau gibt es nicht?

»Wie … gibt es nicht? Sie wurde doch identifiziert«, maulte Claudia.

»Boah. Woher soll ich das wissen? Vielleicht ermitteln wir noch …«, Maria reagierte gereizt.

»Bleibt ruhig. Ich mach das«, mischte Heinz sich mit einer Handbewegung ein. »Vielleicht kann ich das auf die Staatsanwaltschaft abwälzen.«

»Wenn du das schaffst, hast du etwas gut bei mir. Diese Münze … wer ist damit beschäftigt?« Claudia sah Maria an.

»Die Spurensicherung. Wen die noch einschalten, weiß ich nicht. Aber ich kümmere mich darum.«

Nach der Besprechung mit den Kollegen zog es Claudia wieder zum Haus des Toten. Zwischen der toten Frau aus dem Maisfeld und dem Ermordeten aus der Yorckstraße bestand keine Verbindung, ging ihr durch den Kopf. Aber die Nachbarn erkannten sie doch? Wieder so ein blöder Gedanke, den sie nicht erklären konnte. Diese Gegend machte sie verrückt.

An und für sich wollte sie schon am frühen Morgen zur Fliegerhorst Siedlung fahren, wählte jedoch das Präsidium. Sonst hätte sie keine Gelegenheit mehr bekommen, die Kollegen zu sprechen. Von Kurts Haus zum Fundort der männlichen Leiche in der Yorckstraße war es ein Katzensprung, ungefähr ein Kilometer Luftlinie.