Dem Jenseits entkommen - Herbert Weyand - E-Book

Dem Jenseits entkommen E-Book

Herbert Weyand

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Beschreibung

Jeder kennt es, jeder mag es: die abendliche Geschichte des Opas im Bett. In diesem besonderen Fall, eine Geschichte, die endlos jeden Abend weitergesponnen wurde. Dann geschieht es ... Jana fällt einem Verbrechen zum Opfer und fällt ins Koma. Der Großvater sitzt am Bett der leeren Hülle seiner Enkelin und spinnt die Geschichte weiter. Er erreicht sie und findet den Funken Lebenswillen, bis Jana die Erzählung alleine gestaltet. Sie verbindet den Traum mit tatsächlichen Ereignissen, über die es ihr gelingt, nach dem Erwachen, die Verbrecher zu jagen und unschädlich zu machen.

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Seitenzahl: 451

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Dem Jenseits entkommen

Ein Roman von Herbert Weyand

[email protected]

173 Seite(n)

90231 Wörter

487828 Zeichen

Erstellt mit Papyrus Autor (http://www.papyrus.de)

Für Laura,

die maßgeblich für den Inhalt dieser Geschichte verantwortlich ist.

Prolog

»Guten Abend und frohe Weihnachten. Mein Name ist Frauke Smeets.« Die Journalistin stand vor einer schlichten Kulisse. Ein Bild das, verschwommen und unscharf, den Hintergrund ausfüllte. Sie sprach deutsch, mit niederländischem Akzent und einer rauen tiefen Stimme, als ob der Kehlkopf verletzt wäre. Die, ungefähr fünfundvierzigjährige Moderatorin trug einen dunkelblauen Hosenanzug zu ihrer hageren Gestalt. Das dunkle, halblange Haar lag sorgfältig frisiert um das hagere Gesicht, aus dem die grauen Augen konzentriert und intelligent in die Kameras schauten. »Ich freue mich, dass sie am heutigen Heiligen Abend eingeschaltet haben. Bevor ich Ihnen meine beiden Gäste präsentiere, möchte ich, dass Sie das Gemälde im Hintergrund fünf Minuten auf sich wirken lassen.« Das Bild rückte in den Vordergrund und füllte in Millionen Haushalten den Bildschirm. Die Stimme der Moderatorin wurde technisch in den Hintergrund gerückt und mit einem leichten Hall versehen. Dazu spielte leise unbekannte Musik.

»Dieses Werk ist fast zweitausend Jahre alt und bietet handwerklich und technisch alles, was in den nachfolgenden Jahrhunderten von den großen Malern entwickelt wurde. Das Gemälde ist der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Was Sie auf Ihren Bildschirmen sehen, ist ein Foto. Der Künstler war ein germanischer Druide namens Kendric, der der Überlieferung nach, in der, und durch die, Schaffungsphase des Werks, erblindete und den Verstand verlor. Dann gab er sein Leben, um das Böse, das in seinem Epos schlummert, zu verschließen und für immer, zu verbannen.«

Ein heller Punkt blinkte, rechts oben, auf einem nebelartigen bösem Gesicht, das in einem tiefblauen Himmel lag. In diesen Nebel drehte eine Spirale, die unendlich weit hinunter bis zum Erdboden reichte. Eine Spirale, die aus Menschen bestand. Sie strebten auf einer grünen Wiese, aus allen Richtungen und vereinigten sich zu einem Strom, der unausweichlich in die Windungen, die nach oben, in den Himmel liefen, gezogen wurde. Das Gemälde entwickelte unglaubliche Intensität und zog die Menschen in seinen Bann. Die Fernsehzuschauer seufzten kollektiv auf, als das Foto vom Bildschirm verschwand und sie wieder in ihre eigenen Gedanken entließ.

»Der Treibstoff der Evolution ist der Zufall. Das glauben die Wissenschaftler heute und wollen nichts von höheren Wesen, höheren Mächten oder gar von Gott wissen. Woher nehmen Sie diese Zuversicht? Allein aus den naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten? Heute Abend begrüße ich zwei Gäste, die Unglaubliches erlebt haben.

*

Kapitel 1 Professor Lauten

Die vier älteren Herrschaften drängten um den großen Bildschirm und beobachteten fasziniert die junge Frau, fast noch ein Mädchen, und den jungen Mann, die durch sumpfiges Gelände liefen. Sie wurden von drei Personen verfolgt. Das Bild auf dem Monitor ruckelte, als würde die Kamera unruhig geführt, und setzte sich aus Sequenzen mehrerer Aufnahmegeräte zusammen. Es war grobkörnig und die Figuren mehr zu erahnen, als zu erkennen. Einer der Beobachter war ständig damit beschäftigt, die Szene zu stabilisieren.

Schnell wurde klar, dies war kein Film, sondern eine Live-Übertragung oder Aufzeichnung realer Geschehnisse.

»Ich dachte, das Kind ist im Koma?«, stellte der kleinste der Runde fragend fest.

»Ist es auch.« Der Mittelgroße deutete auf einen Monitor, etwas abseits, auf dem eine flache Kurve lief. Oben rechts stand beständig eine Ziffernfolge: 68 und 84.

Nickend nahm der Erstere, den knappen Kommentar zur Kenntnis. »Wie lange ist sie in diesem Zustand?«

»Siebenhundertvierundsechzig Tage.« Sie waren keine Freunde von vielen Worten.

»Sie wird keine Erinnerung haben?« Wieder mehr eine Feststellung, als eine Frage. »Wir holen sie aus diesem Zustand.«

»Wann?«

»Jetzt.«

*

Claudia

»Frau Plum.« Staatsanwalt Dengler stand in der Tür zu ihrem Büro. Er trug, wie immer, einen braunen Anzug mit dezent darauf abgestimmtem Hemd und Krawatte.

Hauptkommissarin Claudia Plum hob langsam den Kopf vom Bildschirm und musterte ihn mit ihren grauen Augen, in deren Hintergrund es unmutig aufblitzte, abwartend. Wenn Dengler so in der Tür stehen blieb, suchte er wieder einen Dummen. Sie nickte ihm wortlos zu.

Der Staatsanwalt trat ein und ging zur Kaffeemaschine. Ein Rest dunkler Brühe schwamm in der Glaskanne, die er in eine Tasse goss. In diesem Büro, das drei Arbeitsplätze enthielt, konnte jeder ungefragt eine Tasse Kaffee haben, sofern er oder sie ab und zu eine Packung Kaffeepulver mitbrachte. Umständlich nahm er auf dem Stuhl, links neben dem Schreibtisch, von ihr aus gesehen rechts, Platz.

»Ich gebe Ihnen die Kurzfassung. Die Akten werden Ihnen gleich zugestellt. Sie können Sie auch auf dem PC abrufen. Das Aktenzeichen habe ich Ihnen vor wenigen Minuten auf Ihr Mailkonto geschickt.« Er begann ohne Floskeln, ganz, wie es seine Art war. »Vor ungefähr zwei Jahren, am 13. Oktober 2011, kamen drei Menschen ums Leben. Eine Explosion auf dem Markt, hier in Aachen. In der Nähe des Denkmals. Sie wissen … Kaiser Karl auf dem Pferd.

Vivian Seeger, Stefan Krüger, Lukas Leitner starben sofort. Marco Ruisten und Jana Winter fielen ins Koma. Der Junge, sechzehnjährig, wurde in seine Heimat, ich glaube, in die Nähe von Amsterdam, geschafft. Die sechzehnjährige Jana Winter ins Klinikum. Vor wenigen Tagen sollte sie in ein Pflegeheim verlegt werden, weil die Krankenkasse die Kosten nicht mehr tragen wollte. Sie wissen schon, Pflegefall. Jetzt ist das Mädchen vergangene Woche erwacht. Ich möchte, dass Sie mit ihr sprechen.«

Claudia atmete auf. Den Wunsch oder auch Auftrag würde sie gerne übernehmen. Ansonsten trieben sie die Aufträge des Staatsanwalts oder auch Polizeipräsidenten, wenn sie persönlich erteilt wurden, an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. »Muss ich auf etwas Besonderes achten?« Die Frage war mehr rhetorisch. Sie würde sich auf alle Fälle in die Akte hineinarbeiten, bevor sie ins Krankenhaus fuhr.

»Ich war damals genauso neu hier in Aachen, wie Sie und kenne den Fall faktisch nur aus der Presse und jetzt durch die Aktenlage. Das BKA und das LKA gingen zunächst von einem politisch motivierten Anschlag aus. Dafür gab es jedoch keine haltbaren Ansätze. Vielleicht kann das Mädchen sich erinnern.« Der Staatsanwalt war so um die Vierzig und ein verschlossener Mensch. Wie er gerade richtig erwähnte, begannen sie fast gleichzeitig nach einem größeren Polizeiskandal, in den der damalige Polizeipräsident und Staatsanwalt verwickelt waren, in Aachen. Wie immer ging es um Geld und Macht.

Die junge Hauptkommissarin nickte und wandte sich wieder dem Monitor zu. Dengler verübelte ihr die Ignoranz seiner Person nicht. Er kannte sie nicht anders. Im Präsidium war bekannt, dass sie nur bei ganz wenigen Menschen aus sich herausging. In dieser Beziehung standen sie sich in nichts nach. Er nickte kurz und stellte die Tasse auf dem Bord mit der Kaffeemaschine ab.

Claudia Plum war eins siebzig groß und trug heute ein dunkelgraues Kostüm. Der Rock endete zwei Fingerbreit über dem Knie. Das braune Haar fiel, leicht gelockt, bis auf die Schultern. Die Figur war sportlich mit normal großem Busen. Nicht zu klein und nicht zu groß. Aber das ist sowieso Geschmackssache. Sie war, Anfang dreißig … na ja … fast zweiunddreißig. Vor etwas mehr als zwei Jahren wurde sie nach Aachen versetzt und übernahm dort das Dezernat zwei für Tötungsdelikte. Trotz ihres jungen Alters konnte sie damals auf einen steilen Aufstieg beim LKA in Düsseldorf zurückblicken. In zwei spektakulären Mordfällen, die schon längere Zeit bei den Akten lagen, gelang ihr die Aufklärung. Für die fällige Beförderung zur Hauptkommissarin war keine entsprechende Planstelle frei. Es sei denn, die Bewerbung in den Innendienst. Darauf hatte sie keine Lust und bewarb sich nach Aachen.

Gleich bei ihrem ersten größeren Fall, im platten Hinterland Aachens, traf sie auf Kurt Hüffner, der, so wie es aussah, die Liebe ihres Lebens wurde.

Claudias Gesicht trug einen ständig distanzierten Ausdruck und schreckte viele, die sich ihr nähern wollten, ab. Sie besaß Ausstrahlung und beherrschte die Szene sofort, wenn sie sie betrat. Dabei war sie immer um Perfektion bemüht und verdeckte ihre, dadurch entstehenden, Unsicherheiten perfekt. Als größtes Manko sah die Hauptkommissarin ihre emphatische Veranlagung. Ihre Sensoren filterten die feinsten Schwingungen ihres Umfeldes heraus. Die Kollegen des Teams, mit denen sie zusammenarbeitete, verdrehten die Augen, wenn das Bauchgefühl bei ihr wieder zuschlug. Dabei stimmte der vorauseilende Ruf, sie löse ihre Fälle aus dem Bauch heraus nur teilweise. Letztendlich war es der analytische Verstand, der Fakten und Gefühle zu erfolgreichen Ergebnissen fügte.

Seit nunmehr einem Jahr lebte sie mit Kurt zusammen in dem kleinen Heidedorf Grotenrath. Dort wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten … dort wo die Gehwege jeden Abend hochgeklappt wurden, damit niemand stolperte. Nicht, dass jemand einen Bürgersteig benötigte. Grundsätzlich liefen die Dörfler mitten auf der Straße, sei es mit Kinderwagen oder Schubkarre. Für sie war es ein großer Schritt aus der Großstadt heraus in dieses verlassene Kaff. Doch mittlerweile liebte sie die Ruhe und das Bewusstsein, dass hier die Uhren anders tickten. Zeit war relativ, besonders hier. Immer wieder blieb eine Minute oder mehr für eine kurze Unterhaltung, die den alltäglichen Tratsch zum Inhalt hatte.

Kurt restaurierte sein altes Bauernhaus, dessen Rückseite zum Heidegebiet hinaus ging. Bis zum Saum des Waldes waren es keine dreihundert Meter. Zurzeit baute er einen Gebäudetrakt zum Pferdestall um. Drei Baustellen auf seinem Grundstück entsprachen der Norm. Es konnten jedoch auch manchmal vier oder fünf sein. Sein Job ließ ihm im Grunde zu wenig Zeit für die Restaurierungsarbeiten. In dieser Hinsicht war er eigensinnig, nach dem Motto: Selbst ist der Mann. Doch seit dem er Claudia kannte, ließ er es langsamer angehen. Na ja … ganz so freiwillig kam das Kürzertreten nicht. Kurt war unglaublich neugierig und steckte immer wieder seine Nase in Claudias Fälle. Diese Vorwitzigkeit kostete ihn fast das Leben. Ein Gutes erwuchs aus dieser Angelegenheit: Ihm wurde klar, dass es mehr als nur Arbeit im Leben gab. Von Haus aus hatte er einiges in petto, sodass er seine feste Beschäftigung bei der RWTH kündigte und als Freiberufler anging. Das wiederum gab ihm die Zeit, in Claudias Arbeit hineinzuwirken. Claudia allerdings sah das nicht so gerne. Zudem war Kurt ein Leichenspürhund. Wenn es im Umkreis von zwanzig Kilometern eine Leiche gab, konnte sie sicher sein, dass er darüber stolperte.

Die Entscheidung, in diesem kleinen Heidedorf zu leben, kam einer Rückkehr gleich. Denn Grotenrath war Claudias Geburtsdorf. Das erfuhr sie jedoch erst, nachdem sie mit Kurt schon einige Zeit zusammenlebte. Eine Kindheit erlebte sie hier nicht, denn ihre Eltern zogen nach Düsseldorf, bevor sie bewusste Erinnerungen aufbauen konnte. Erst spät erfuhr sie, dass der Tod ihres Bruders der Grund für den Umzug war. Er wurde bei seiner Erstkommunionfeier ermordet. Die Erinnerung daran, die sie verdrängt hatte, kam während einer spektakulären Entführung auf dem Aachener Katschhof wieder. Es gelang ihr nach Jahrzehnten, den Mörder dingfest zu machen. Seitdem war sie befreit, weil die unbekannte Last, die sie ihr Leben lang verfolgte, einen Grund hatte.

Wie das Leben so spielt, führte es Claudia also an die Wurzeln ihrer Familie zurück. Das alte Bauernhaus, das sie mit Kurt bewohnte, war das ehemalige Haus ihrer Großeltern. Mittlerweile kannte sie das Dorf gut genug, um nicht an einen Zufall zu glauben. Ihre empathischen Empfindungen, die sie einerseits in ihrem Beruf nutzte, wirkten andererseits störend im täglichen Leben. Dort wurde sie zur misstrauischen Ziege, wenn ihr ein Gesprächspartner nicht auf Anhieb sympathisch war. Im Verlaufe ihres Lebens machte sie sich oft Gedanken darüber, ob diese Begabung ein Fluch oder ein Segen war. Sie verbarg sie geschickt vor ihrer Umwelt. Nur wenige Menschen wussten darum. Selbst in ihrem Team, das aus Oberkommissarin Maria Römer und Hauptkommissar Heinz Bauer bestand, öffnete sie sich nicht. Ihre Kollegen sprachen von Intuition und Bauchgefühl, auch, wenn sie ahnten, dass mehr dahinter steckte.

Jetzt, in diesem Dorf, stellte sie fest, dass insbesondere die älteren Einwohner des Dorfes diese Begabung auch besaßen. Also lag der Ursprung wahrscheinlich hier. Irgendwelche Gene, die auch sie hatte.

Nun ja. Jetzt hatte sie Denglers Auftrag am Hals, aber das war sicherlich schnell erledigt. Der Fall, den sie zurzeit bearbeiteten, trat sowieso auf der Stelle. Ein wenig Abwechslung tat da gut.

Claudia dachte mit Schaudern an die seelenlosen Opfer, zu deren Fall sie zurzeit die Ermittlungen leitete. Vor ungefähr zwei Monaten wurden, an verschiedenen Stellen im Stadtgebiet, junge Leute aufgegriffen, die sich an nichts mehr erinnerten. Nicht nur das: Das Gehirn war faktisch leer … gelöscht. Über irgendeine Grenze im Dreiländereck Belgien, Niederlande, Deutschland schwappte wahrscheinlich eine Droge herüber, an deren Zusammensetzung sie noch rätselten. Auch sonst gab es keinen Anhaltspunkt. Die einschlägig bekannten Dealer schienen ebenso überfordert, wie die Polizei. In diesem Fall arbeiteten sie und ihre Kollegen mit den niederländischen und belgischen Behörden zusammen. Die bekannten Wege über Rotterdam oder Seebrügge brachten bisher keine Ergebnisse. Razzien und Ermittlungen in Diskotheken, die häufig als Umschlagplätze dienten, verliefen erfolglos.

Erst Anfang der Woche besuchte Claudia das Pflegeheim in Melaten, in dem die Staatsanwaltschaft die fünfzehn jungen Menschen untergebracht hatte, deren Gehirne durch die Drogen zerstört wurden. Willenlose Geschöpfe, die zu keiner selbstständigen Tätigkeit fähig waren. Starre, ausdruckslose Gesichter und Augen zerrten an den Nerven der Hauptkommissarin. Schaudernd dachte sie an den Anblick und zog fröstelnd die Schultern nach vorne. Welche Schweine taten Menschen so etwas an?

*

Kapitel 2 Jana

Der Sanitäter oder Notarzt lächelte auf sie herunter. Er gab sich große Mühe, nicht zu weinen, und es war seltsam, dann doch die Tränen laufen zu sehen. Sie wurde auf eine Trage gehoben und in einen Notarztwagen geschoben, auf dessen Dach das blaue Licht blinkte. Parallel sah sie eine weitere Trage, die in das Nachbarauto geschoben wurde. Ihr Blick erhaschte das blasse leblose Gesicht eines Jungen. Dann wurde es schwarz vor ihren Augen.

Der nächste Blick ging in das Gesicht eines älteren Mannes, der sichtlich erschrak, als Jana die Augen aufschlug. Er drückte auf den Kolben der Spritze, die im Zugang auf ihrem Handgelenk steckte. Sie versank wieder in Dunkelheit.

Jana Winter schlug die Augen ein weiteres Mal auf und sah nichts. Die Gedanken flossen so träge, dass eventuelle Angst- oder Panikgefühle das Denkzentrum nicht erreichten. Sie glitt wieder weg.

Jana Winter schlug die Augen auf. In ihrem Sehfeld erschien die kalte Neonleuchte an der Decke, in deren Abdeckung einige tote Fliegen lagen. Sie registriert nicht, dass seit ihrem ersten Erwachen, neunundsechzig Tage vergangen waren. Eine murmelnde Stimme drang an ihr Ohr. Aus dem Tonfall entnahm sie, dass sie erzählte. Gerade wollte sich eine Erkenntnis festsetzen, als sie wieder entglitt.

Jana Winter schlug die Augen auf und sah das bekannte Neonlicht. Etwas war anders. Die toten Fliegen in der Abdeckung fehlten. Was war geschehen? Wo war sie?

Eine bekannte Stimme schimpfte: »Sie müssen mir doch sagen können, woher die blauen Flecken kommen. Die erscheinen nicht aus dem Nichts.«

»Frau Winter wir sind fassungslos. Wir haben keine Erklärung für die Hämatome.«

Ihr Geist entschwand wieder. Einhundertfünf Tage waren seit ihrem letzten bewussten Gedanken vergangen.

Jana Winter hielt die Augen geschlossen. Sie wollte die Neonleuchte nicht sehen. Sie lauschte. Geräusche von Maschinen, die sie lediglich aus dem Fernseher kannte, drangen an ihr Ohr. Jana öffnete vorsichtig die Augen und ließ den Blick sofort nach links schweifen und fokussierte an einem Fenster, gegen das dicke Regentropfen schlugen. Aus den Augenwinkeln nahm sie die bekannte Lampe an der Decke wahr. Wieder wurde ihre Wahrnehmung unterbrochen und sie versank in Schwärze. Zweiundneunzig Tage waren nach ihrem letzten Erwachen vergangen.

Weitere dreihunderteinundsiebzig Tage später flutete die tief stehende Sonne in ihre Augen. Ihr Erwachen war anders. Sie spürte Lebensenergie und nicht dieses träge Dahingleiten. Ihre Gedanken arbeiteten sofort auf Hochtouren. In der Abdeckung der Neonleuchte lagen neue tote Insekten.

Jana löste den Blick und hob den Arm. Eine Kanüle auf der Handoberfläche, von der drei Schläuche irgendwohin abgingen. Da war Druck um ihren Kopf. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie medizinische Geräte, in die eine Vielzahl von Kabel führte. Der gleichmäßige Piepton war wohl ihr Puls. Krankenhaus … sie war in einem Krankenhaus. Janas Verstand glitt wieder weg, doch die Geräusche blieben.

»Unglaublich. Das Herz schlägt alleine, die körperlichen Funktionen und Reflexe sind wieder normal.« Die Stimme war ihr unbekannt.

»Das heißt tatsächlich, sie ist aus dem Koma erwacht?« Das war Opa. Er klang, als weine er.

Koma? Unmöglich. Sie war vorhin noch auf dem Markt. Jetzt lag sie hier. Wegen der Kopfschmerzen? Jana öffnete mühsam die Augen und sah in das glückliche Gesicht ihres Großvaters, der ungeniert seinen Tränen freien Lauf ließ. Sie versuchte zu sprechen, bekam jedoch keinen Ton heraus.

»Sei still Kind. Streng dich nicht an.« Der Großvater streichelte ihre Wangen. »Papa und Mama werden gleich hier sein. Ich habe sie sofort angerufen.«

Jana hob den Kopf aus dem Kissen. Eine Krankenschwester half ihr sofort und richtete das Kissen. Der Druck am Kopf war verschwunden, ebenso die Geräte, die sie vorhin – oder wann? – bemerkt hatte, bis auf einen kleinen Monitor, der Kurven ihrer Lebensfunktionen abbildete. Vom Handrücken lief noch ein Schlauch, zu einer Flasche, aus der irgendetwas in ihre Adern tropfte. Sie wandte den Blick zum Fenster, das zumindest vorhin noch dort war. Jetzt lag es an der anderen Seite der Wand. Träumte sie? Nein, das war ein anderes Zimmer.

Was ist los?, wollte sie fragen. Doch wieder kam kein Laut über ihre Lippen.

»Du bist vorgestern aus dem Koma erwacht.« Opa verstand sie, auch ohne Worte. »Jetzt musst du dich gesund schlafen.«

Jana schloss die Augen und schlief ein.

Das nächste Mal, als sie erwachte, war es Nacht. Über der Tür brannte eine kleine Notbeleuchtung. Der Monitor flackerte und gab die gleichförmigen Pieptöne ihrer Lebensfunktionen wieder. Ihre Gedanken waren träge und ziellos. Dennoch lenkten sie die Augen zum Fenster. Der Regen hatte aufgehört und Janas Blick wurde magisch vom Sternbild der Zwillinge angezogen. Castor und Pollux. Die Angst überfiel sie, wie ein Schlag und zog die Eingeweide zusammen. Von diesen beiden Sternen ging Gefahr aus, die sie nicht fassen konnte.

Sie erinnerte sich deutlich an alles, viel zu deutlich, als sie in den Herbsthimmel sah. Sie wusste, was geschehen war, gerade jetzt und in diesem Augenblick. Ihr Atem begann zu hecheln und Schweiß drang aus den Poren. Sie zwang sich in sitzende Stellung und brachte ihren Atem unter Kontrolle. Sie horchte nach draußen auf den Korridor, der jedoch still war. Sie wollte nicht, dass jemand sie so sah.

Vor wenigen Minuten stand sie mit Zerbi vor der Wand, durch die sie hindurch schritt, bevor sie in Dunkelheit versank. Diese Dunkelheit … immer wieder diese Dunkelheit …

*

Vor zwei Jahren lief Jana, von der Mayrschen Buchhandlung, in Aachen, zum Westbahnhof. Am 13. Oktober 2011, ihr Geburtstag. Sie wurde sechzehn Jahre alt. Zu diesem Anlass löste sie eines ihrer Geschenke, einen Gutschein, für den neuen Harry Potter ein. Auf dem Markt, in Höhe des Kaiser Karl Denkmals, sah sie den hellen Blitz und dann nichts mehr. Doch, da war noch etwas. Ein Schatten, der sich zwischen sie und das helle Licht schob. Aber das konnte auch Einbildung sein. Vom Zeitpunkt ihrer Ohnmacht bis heute wusste sie lediglich aus den Erzählungen ihrer Eltern, was geschehen war. Zumindest glaubte sie das fest.

Sie wurde damals in einem Hubschrauber ins Klinikum geflogen und jetzt, nach etwas mehr als zwei Jahren, entlassen. Von der Zeit des Krankenhausaufenthalts blieb die Erinnerung an die letzten sechs Wochen. Zumindest dachten das die Ärzte sowie Mama und Papa. Sie war wohlauf. Niemand fand eine Erklärung für den Ausfall ihrer Lebensfunktionen.

Die letzten sechs Wochen verliefen ereignisreich. Vier Tage nach ihrem Erwachen wurde der letzte Zugang auf ihrem Handrücken gezogen. Noch während die Krankenschwester die Kanüle zog, schwang Jana die Beine aus dem Bett und stand frei im Raum. Die beiden Ärzte und die Krankenschwester schrien auf und hilfreiche Hände zuckten zu ihr hin, die jedoch gleich wieder zurückgezogen wurden.

»Habe ich etwas falsch gemacht?«, fragten ihre Augen.

»Nein. Auf keinen Fall«, versicherte Doktor Wegener, der sie betreute, seit dem sie erwacht war. »Wir sind lediglich besorgt, weil du während der Zeit deines Komas, die Muskeln nicht belasten konntest. Tu ein paar Schritte.« Er fasste sie, für den Fall aller Fälle, leicht am Oberarm.

Jana ging zum Fenster und zurück. Die Bewegung bereitete keine Probleme.

Das Mädchen war körperlich gesund und, viel wichtiger, das Gehirn funktionierte einwandfrei ohne Ausfälle. Doch Jana sprach nicht. Die medizinischen Geräte und Untersuchungen sowie psychologische Gutachten lieferten keine plausible Erklärung, für den Verlust ihrer Sprechfähigkeit. Mit dem Trost, das gebe sich mit der Zeit, mussten ihre Eltern leben. Für Jana selbst bedeutete das keinerlei Problem, schließlich war es ihr Geheimnis.

*

Kapitel 3 Kriminalpolizei /Jana

»Guten Tag. Ich bin Claudia Plum, Hauptkommissarin der Aachener Kripo.« Claudia betrat forsch das Krankenzimmer und sah auf das hagere Mädchen im Bett. »Du bist Jana Winter«, stellte sie fest. Das Zimmer sah aus wie alle Krankenzimmer in einem Krankenhaus. Platz für zwei Betten, wo zurzeit nur das eine stand, und über dem Kopfende die Versorgungsleiste für Sauerstoff und die Anschlüsse für medizintechnische Geräte. Auf dem Beistellschrank mit dem ausklappbaren Tablett lagen Süßigkeiten sowie ein Notebook und ein I-Pad. An der dem Bett gegenüberliegenden Wand lief eine Kochshow im Fernseher, der, in zwei Meter Höhe, in einer Halterung hing. Ansonsten noch drei grässlich gelbe Stühle, die unbequem aussahen.

Jana nickte.

»Du kannst nicht sprechen«, fuhr Claudia vorsichtig fort. »Ich habe mit deinen Eltern gesprochen.«

Jana nickte wieder und griff zur Tafel, die auf der Konsole neben dem Bett lag.

»Hast du eine Erinnerung, wie es zu deinem Unfall kam?«, fragte Claudia und registrierte die nächste Verneinung. Sie sondierte die Lage. Das Mädchen wirkte weder krank noch verzweifelt. Jana schien keine Probleme mit dem Verlust, ihrer Sprechfähigkeit zu haben. Sie gefiel der Hauptkommissarin und war ihr sofort sympathisch. Die junge Frau, das war sie ja schließlich mit achtzehn Jahren, strahlte ungemein positive Signale aus. Doch Claudias Gefühl spürte etwas im Hintergrund der Gedanken des Mädchens, wo es sich lohnte nachzuhaken. Sie fiel mit der Tür ins Haus und sparte das Herantasten und die Floskeln aus. »Du hattest keine gravierenden körperlichen Verletzungen und dennoch lagst du ungefähr zwei Jahre im Koma. Wenn da irgendetwas war, möchte ich es wissen. Schließlich hatte es drei Tote gegeben und außer dir noch einen jungen Mann, der ins Koma fiel.« Claudia fasste sich innerlich an den Kopf. Sie fiel nicht mit der Tür ins Haus, sondern trampelte, wie ein Elefant im Porzellanladen. Ihr fehlte die Erfahrung im Umgang mit jungen Leuten. Sie revidierte ihre Gedanken: Sie hatte verlernt, mit Menschen umzugehen, die normal waren. Der Beruf forderte seinen Tribut.

Jana schrieb mit einem Stift auf die Tafel. »Die Ärzte haben mich auch schon gefragt. Ich habe keine Erinnerung an den Vorfall. Heute weiß ich, dass es eine Explosion war.«

Claudia saß mittlerweile auf dem Bettrand und las mit. »Das ist sehr schade. Drei Tote sind nicht gerade wenig. Und nicht zu vergessen, du und dieser junge Mann …«

Janas Stift flitzte wieder über die Tafel, die Stirn angestrengt gekraust. »Kennen Sie die Namen der anderen Beteiligten?«

»Du kannst Claudia zu mir sagen. Ja. Die Namen haben wir: also du, Vivian Seeger, Stefan Krüger, Lukas Leitner und Marco Ruisten.« Die Hauptkommissarin hielt den Blick auf die Tafel gerichtet. Ihrer inneren Eingebung folgend sah sie hoch und in die schreckgeweiteten Augen des Mädchens. »Was ist los? Kennst du diese Personen?«

Jana schüttelte den Kopf. Dabei stand ihr das schlechte Gewissen auf die Stirn geschrieben.

»Ich glaube dir nicht.« Claudia hakte mit ungutem Gefühl nach.

»Ich kenne sie nicht«, schrieb Jana und sah Claudia offen in die Augen. In ihrem Gesicht lag kein Falsch. Wenn da nicht das Ziehen in den Gedärmen der Kriminalistin wäre. »Kannst du mir Näheres zu den anderen sagen?« Janas Stift tanzte über die Tafel.

»Bis auf dich und den Jungen haben wir, so brutal das jetzt ist, nur Fleischreste gefunden. Dir ist äußerlich wenig geschehen. Dieser Marco hatte ein gebrochenes Bein und eine Kopfverletzung. Vom Alter her hättet ihr zusammengehören können.« Claudia beobachtete jetzt aufmerksam Janas Gesicht.

Die Genesene auf dem Bett schüttelte nachdenklich den Kopf. Ihre Gedanken schienen weit weg, als lausche sie in sich. Schließlich sah sie Claudia mit einem schmerzhaften Ausdruck an und senkte die Augen auf die Tafel.

»Können wir das Gespräch später fortsetzen? Heute nicht. Ich muss nachdenken.«

»Sofern es der Aufklärung dient … gerne.« Sie nickte und spürte das bekannte Kribbeln, wenn sie wieder in eine Katastrophe stolperte. Sie hatte weder Lust noch Zeit, einen zweiten Fall parallel zu bearbeiten. Außerdem lag die Geschichte hier zwei Jahre zurück. Staatsanwalt Dengler würde ihr den Fall so oder so aufdrücken. Hier waren die Toten … und Mordkommission war eben Mordkommission. Sie musste abwarten, was ihre Kollegen dazu sagten. Sie würden bestimmt nicht begeistert reagieren. Die Drogenopfer mussten warten oder das Team sich teilen. Und alles vor Weihnachten.

»Glaube mir bitte. Ich kannte Marco nicht. Es ist viel komplizierter. Du wirst mich für verrückt halten.« Jana wusste nicht, was sie trieb. Doch sie vertraute der Polizistin und spürte eine Seelenverwandtschaft.

»Ich respektiere deinen Wunsch.« Claudia spürte den Zwiespalt und wie sie auch selbst hineingeriet. Zu dem bekannten Ziehen im Unterbauch gesellte sich das ebenso bekannte Kribbeln zwischen den Schulterblättern. Sie war wieder einmal in die Falle gegangen. Der Fall war viel komplizierter, als zurzeit alle dachten. »Du wohnst in Grotenrath. Ich auch.«

»Ich weiß«, schrieb Jana. »In der Waldstraße. Ich lebe Hinter den Höfen.«

»Zufälle gibt es«, stellte Claudia fest.

»Das ist kein Zufall.«

*

Nun saß Jana hinten im Auto und Papa fuhr nach Hause. Es gefiel ihr aus dem Fenster zu schauen und zu sehen, wie die Landschaft vorbeiflitzte. Alles sah anders aus, als in ihrer Erinnerung. Aber nein … die Veränderung lag in ihr. Am Sonntag war der erste Advent und es bestand Hoffnung auf Schnee. Das wusste sie aus den Nachrichten des Fernsehers, der in ihrem Krankenhauszimmer stand.

Sie dachte an das Gespräch mit der Polizistin. Hatte sie vielleicht etwas voreilig gehandelt? Nein. Das wollte sie sich nicht vorstellen. Irgendwann musste sie ihre Geschichte erzählen und dann würde sie für verrückt erklärt. Claudia Plum konnte die Person werden, der sie vertraute. Doch zunächst musste sie einige Dinge erledigen. So lange würde sie jedem aus dem Weg gehen, der versuchte, ihre Zeit während des Komas zu hinterfragen.

Jana konnte kaum glauben, dass sie zwei Weihnachtsfeste verpasst hatte. Aber hatte sie das? Ein Lächeln lag um ihre Lippen, als sie sich erinnerte.

*

Kapitel 4 Zwischenwelt

Jana schlug die Augen auf und sah … nichts. Absolute Schwärze, absolute Stille. Ihr Magen krampfte und sie fuhr unwillkürlich mit den Händen dorthin. Keine Berührung … sie spürte keine Berührung. Sie würgte. Die Angst fraß in ihre Knochen. Knochen? Der Würgereiz war gedanklich, nicht körperlich. Sie bewegte die Beine zu Testzwecken. Das funktionierte … fiktiv … nicht physisch. Weitere Versuche ergaben: Sie dachte. Aber wo? Zumindest nicht in ihrem Körper. Wenn diese verdammte Dunkelheit nicht wäre …

Janas Gedanken waren zeitlos. Sie glitten in die Vergangenheit und suchten Halt. Sie kehrten zurück in die Gegenwart, in den körperlosen Zustand. Sie pochten an die Zukunft, die keine war. Sie spürte weder Wärme noch Kälte … hatte keinen Geschmack … hatte keine Sinne. Lediglich Gedanken, Gedanken …

Jana flüchtete und wandte einen Trick an, den sie immer dann benutzte, wenn ihr Herz schwer war. Sie tauchte in eine Geschichte, die sie selbst erfand oder die schon einmal erzählt war. Das wirkte immer.

»Was willst du denn hier?«, fragte die näselnde quenglige Stimme.

»Wo bin ich?«, wollte Jana wissen.

»Bist du blöd?« Dieselbe Stimme von vorhin stellte die Frage.

»Ich heiße Jana und wer bist du?«

»Lukas.«

»Weißt du, wo wir hier sind? Ich sehe nichts.«

»Ich wusste es. Du bist blöd.« Lukas Stimme klang genervt. »Die ersten paar Stunden sieht niemand etwas. Hat dir das niemand gesagt.«

»Nein. Wer sollte mir etwas gesagt haben? Ich weiß ja nicht einmal, wo ich bin.«

»Kümmere dich nicht um Lukas«, sagte eine freundliche Frauenstimme. »Er ist heute nicht gut drauf.«

»Ihr macht mir Angst.« Jana war versucht, zu weinen.

»Du musst dich nicht fürchten.« Jana fühlte etwas wie ein Streicheln. Leicht wie ein Hauch. Die Empfindung beruhigte sie. Endlich wieder ein Gefühl. »Wir haben das alle durchgemacht.« Die Frau mit der besänftigenden Stimme fuhr fort. »Habe Geduld.«

»Ich will nach Hause.« Jana weinte jetzt doch.

»Das ist nicht so einfach. Wir warten alle darauf, wieder nach Hause zu kommen. Ich bin übrigens Marco.« Die Stimme des Jungen klang so, als wolle er ihr helfen. Fingerspitzen fuhren durch die Tropfen der Tränen, die über ihre Wangen liefen. »Du weinst. Niemand weint hier.« Jana hörte das Erstaunen in seiner Stimme.

»Marco. Wo bin ich?« Sie bekam ihre Gedanken nicht in den Griff. Weshalb weinte hier niemand? Das Grauen kam wieder. Mit Macht zwang sie sich in die Geschichte.

»So genau kann ich das nicht sagen, Jana. Ich bin erst kurze Zeit hier.«

»Jetzt ist aber Schluss. Hört auf mit den Spielchen.« Die brummige Stimme eines Mannes mischte sich ein. »Wir sind an einem Ort, den es nicht gibt. Hier müssen wir uns entscheiden, ob wir leben wollen oder nicht.«

»Nein, nein. Ich will nichts mehr hören. Wo sind meine Mama und mein Papa.« Ihr Verstand knipste weg.

*

Kapitel 5 Zuhause

In Janas Erinnerung drang das Geräusch des fahrenden Autos. Sie sah von hinten, im Rückspiegel, das glückliche Gesicht ihres Vaters. Er hatte sie besorgt auf dem Rücksitz in Decken gepackt, als ob die Heizung des Fahrzeugs nicht ausreichte.

»Geht es dir gut, Kleines?«, fragte er mit besorgtem Ausdruck im Hintergrund seiner grünen Augen, wobei sein Gesicht einen freudigen Ausdruck trug.

Jana nickte lächelnd. Sie hatte beschlossen, nicht zu sprechen. Na ja … ganz so war es auch nicht. Sie hatte es geschworen.

Jana war einssiebzig groß und trug ihr blondes Haar halblang bis zur Schulter. An den Schläfen war sie rasiert, wegen der Elektroden, die die Gehirnströme gemessen hatten. Doch in den letzten Tagen hatte sie gelernt, ihre Haare so zu frisieren, dass die Stellen verdeckt wurden. Sie war schon immer ein schlankes Kind. Doch jetzt, nach der langen Krankheit, war sie hager und zu einer jungen Frau geworden. Die ehemals kindlichen Züge von vor zwei Jahren suchte sie vergebens. Der erste Blick in den Spiegel zeigte nicht sie, wie sie sich in Erinnerung hatte. Die Jochbögen in ihrem Gesicht traten hervor und die blauen Augen lagen in tiefen Höhlen. Trotz der schneeweißen Gesichtsfarbe sah sie keineswegs krank aus, sondern sprühte vor unbändiger Lebenskraft. Die junge Frau, die ihr entgegensah, hatte noch einiges vor im Leben.

Das Gesicht ihres Vaters trug einige Falten mehr, als in ihrer Erinnerung. Vor allem in den Augenwinkeln. Doch es waren die vertrauten Züge, die sie, trotz allem, vermisst hatte. Er trug sein blondes Haar kürzer, als früher.

Jana lenkte den Blick wieder zur vorüber gleitenden Landschaft.

*

Kapitel 6 Zwischenwelt

»Da bist ja wieder.«

Mit dieser Feststellung erreichte sie das Bild eines … ja was? … grauen Schattens, mehr war es nicht. Was geschah hier? Das war Lukas, der Junge von vorhin … oder wann? Auf jeden Fall musste der mit seinen Polypen etwas machen. Das Näseln war fürchterlich. Ganz langsam wurde aus dem grauen Schatten, eine graue Figur mit Gesichtszügen, wie auf einem Schwarz-Weiß-Foto. War etwas mit ihren Augen? Hier fehlte eindeutig Farbe. Mit diesem Gedanken knipste jemand die Farbe an. Nein. Nicht jemand. Eindeutig sie. Sie war in einer Geschichte. Doch nicht in der, die sie denken wollte. Egal … sie sah einen rothaarigen Jungen mit vielen Sommersprossen im Gesicht. Das war also Lukas. Er war ungefähr in ihrem Alter, vielleicht ein Jahr jünger und trug eine Jeans sowie ein kurzärmliges blaues T-Shirt. Seine nackten Füße standen in kurz gewachsenem Gras.

Gras? Nackte Füße? Jana sah an sich herunter. Tatsächlich auch ihre Füße waren unbekleidet und standen auf einer Wiese.

»Ich sehe dich«, stellte sie fest. Ihre Kleidung war seiner ähnlich. Eine etwas anders geschnittene Jeans und darüber ein gelbes Shirt. Sanfter, angenehm warmer Wind streifte die Teile ihres unbedeckten Körpers und rief angenehme Gefühle hervor. Sie hob den Blick und sah, was nicht sein konnte. Soweit ihr Auge reichte, Gras, unterbrochen von wenigen Bäumen mit mächtig ausladenden Kronen. Die Landschaft kannte sie. Doch woher, fiel ihr nicht ein. Sie sah zum Himmel hoch, der tiefblau über ihr hing. Keine Wolke und etwas tiefer, als sie in Erinnerung hatte. Keine Sonne und trotzdem taghell. Sie wusste, wenn sie jetzt den Blick nach unten richtete, blühten dort Gänseblümchen oder Krokusse oder Tulpen oder … eben die Blumen, die sie sich wünschte. So hatte es Opa erzählt. Und tatsächlich. Genau so war es. Sie dachte an eine schwierige Blume: Ranunkel. Und tatsächlich, eine neben der anderen, in leuchtenden Farben. Sie war also doch in ihrer Geschichte und wieder nicht. »Ich bin tot.« Die Feststellung kam leidenschaftslos über ihre Lippen.

»Nein. Weder lebst du, noch bist du tot«, stellte die Frau fest, die sie schon im ersten Gespräch kennengelernt, vielmehr gehört, hatte. Sie trug eine Jeans der gleichen Marke, wie Jana und ein gelbes Shirt. Sie war schon alt, wie Jana sah. Mindestens dreißig Jahre. Ihr rotes Haar war kurz gelockt und umschloss ein rundes angenehmes Gesicht. Die Augenfarbe war blau, wie bei Lukas. »Ich bin Vivian. Wir warten auf eine Entscheidung, was mit uns geschieht. Ob wir sterben oder leben.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Jana ganz ruhig. Sie empfand keine Angst mehr. »Mein Opa hat mir von diesem Garten erzählt. Als Einschlafgeschichte, und immer, wenn ein Tier starb oder ein lieber Mensch, den ich kannte. Alles sieht so aus, wie ich es aus seinen Geschichten in Erinnerung habe. Bis auf die vielen Menschen.« Sie beobachtete die wabernde Masse in stetiger langsamer synchroner Bewegung mit stumpfen Gesichtern. Alle starrten mit blassblauen leeren Augen irgendwo hin. Die weiblichen Personen trugen die gleiche Kleidung, wie sie und die männlichen Personen, wie Lukas.

»Dein Opa ist ein kluger Mann. Du hast keine Angst, wie ich sehe. Ich bin übrigens Stefan.« Der Mann, den sie bereits letztens gehört hatte, war dicklich und trug die gleiche Kleidung wie die Jungen. Er war nur mittelgroß, vielleicht ein Meter siebzig und hatte ein freundliches rundes Gesicht und eine spiegelblanke Glatze.

»Ich bin also nicht tot«, stellte Jana fest. »Was tue ich dann hier?«

»Du bist im Koma. Weshalb?, weiß ich nicht.« Marco baute sich vor ihr auf und sah sie ernst an. »Wir sind alle im Koma. »Ich hatte einen Verkehrsunfall mit meinen Eltern. Mein Vater kam von der Straße ab und das Auto überschlug sich an einer Böschung. Er war anfangs kurze Zeit bei mir. Doch jetzt ist er weg. Er wurde geholt.«

»Wie? Weg?« Jana schüttelte sich vor der Erkenntnis, die in ihr aufkam.

»Na ja, du weißt schon.« Marcus druckste herum.

»Du meinst doch nicht etwa tot.« Sie sprach aus, was sie faktisch wusste.

Marco nickte und hatte Tränen in den Augen. Jana nahm ihn in den Arm und strich über sein Haar, das sich nicht anders anfühlte, als in der richtigen Welt.

»Wer hat ihn geholt?« Jana schob ihn ein Stück weg.

»Sein Dunkles Ich«, er sah sie angstvoll an.

»Ich verstehe dich nicht.« Sie ließ ihn los und trat zurück, um seine Augen sehen zu können. Sie waren blassblau, wie die der anderen, ohne Ausdruck. Ob ihre Augen jetzt auch diese Farbe hatten? Wahrscheinlich. Ihre waren normal dunkelblau, diese hier fast durchsichtig.

»Jana.« Stefan sprach sie an. »Setz dich.« Er klopfte auf den Rasen neben sich, wo er schon saß. »Das ist alles neu für dich. Wir hatten anfangs auch Probleme.«

Sie nahm Platz und beobachtete, wie Marco und Vivian sich niederließen.

»Ich gehe so lange zu den anderen«, sagte Lukas, irgendwie genervt, und verschwand vor ihren Augen.

»Was ist denn jetzt wieder geschehen?«, fragte Jana erstaunt.

»Er hat keine Lust, die Geschichte schon wieder zu hören«, bemerkte Vivian. »Sieh dich um.«

Jana hob den Blick und ließ ihn über die Wiese schweifen. Da waren die vielen Hundert Menschen, die ihr schon vorher aufgefallen waren. Sie bildeten Gruppen. Normalerweise hätte sie gesagt, sie gingen spazieren, das stimmte jedoch nicht. Sie verhielten sich wie ein Schwarm. Dabei bildeten sie eine optische Einheit, in der die einzelnen Individuen sich nicht berührten. Jede Gruppe ein Schwarm und viele dieser Gruppen eine geschlossene Formation. Sie wirkten ruhig und doch fühlte Jana die Spannung, die in der Luft lag. Die Personen hatten eins gemeinsam. Sie warteten. Sie warteten auf ein bestimmtes Ereignis, das sie nicht greifen konnte. Doch die Erwartung war fühlbar und steigerte sich sekündlich.

Aus dem Nichts waberten Nebelschwaden über den Boden und nahmen ihr die Sicht. Dennoch nahm sie am Rande ihres Gesichtsfeldes unaufgeregte Veränderung wahr. Die Menschen glitten in einer Bewegung auseinander und öffneten eine kreisförmige freie Fläche von ungefähr zwanzig Metern. In deren Mitte standen zwei Männer. Vom Aussehen waren sie Zwillinge. Nur die Kleidung unterschied sie. Während der eine die übliche Männerkleidung trug, war der andere in dunkles Rot gewandet. Jeans und Shirt waren rot. Der rubinrote Mann machte eine völlig unbeteiligte Miene, besaß jedoch eine machtvolle Ausstrahlung, die durch die leuchtenden roten Augen untermalt wurde. Der Zwilling im blauen Shirt sah seinem Gegenüber mit so viel Liebe entgegen, das es Jana schmerzte. Wie zum Ende einer amerikanischen Seifenoper, dachte sie. Der Rote öffnete die Arme und empfing seinen Zwilling, zog ihn zu sich und verschmolz mit ihm. Dann stand er kurz still und verschwand, wie vorhin Lukas.

»Jetzt werden wieder Maschinen abgeschaltet und eine Familie wird vielleicht traurig sein«, stellte Vivian fest.

»Das heißt, der Mann ist jetzt tot.« Jana sah Stefan an, der nickte. »Er hat sich nicht gewehrt«, fuhr sie nach kurzer Überlegung fort.

»Weshalb sollte er?«, fragte Marcus.

»Ich weiß es nicht.« Jana zuckte mit den Schultern. »Es fiel mir auf.« Da war sie in eine merkwürdige Geschichte gestolpert. Vorhin? Gestern? Wann? Sie ging über den Marktplatz in Aachen und wollte zum Westbahnhof. Der Schmerz kam aus dem Nichts und das Nächste, an das sie sich erinnerte, war Lukas Stimme.

»Jana«. Stefan holte sie aus ihren Gedanken. »Ich wollte dir erzählen, was hier geschieht. Sonst machst du dir Gedanken. Du kennst das Sternbild der Zwillinge, das nach den Zwillingsbrüdern Castor und Pollux benannt ist.« Er wartete, bis sie nickte. »Pollux war der Sage nach unsterblich, da er der Sohn des Göttervaters Zeus war, Castor dagegen hatte einen menschlichen Vater und zählte daher zu den Sterblichen. Die beiden Brüder waren große Helden und trennten sich niemals voneinander. Als Castor bei einem Kampf getötet wurde, war sein Bruder Pollux untröstlich. Besonders quälte ihn, dass Castor in das finstere, unterirdische Totenreich steigen musste. Pollux bat seinen Vater, ihn auch sterben zu lassen, damit er seinem sterblichen Bruder folgen könne.«

»Zeus war von der Bruderliebe des Pollux so gerührt, dass er ihm vorschlug, statt immer bei den Göttern im Olymp zu wohnen, mit Castor zusammen abwechselnd einen Tag im Totenreich und einen Tag im Olymp zu verbringen.« Vivian übernahm die Erzählung der Geschichte. »Ohne lange Überlegung wählte Pollux die zweite Möglichkeit, um nie mehr von Castor getrennt zu sein. Später soll Zeus die beiden Brüder zum Lohn für ihre treue Verbundenheit dann in Sterne verwandelt haben. Als Sternbild stehen sie seitdem am Winterhimmel und erinnern die Menschen an Bruderliebe und Kameradschaft.«

»Der Zyklus begann, als drei Brüder ihren Vater umbrachten, der machtgierig war und sie vernichten wollte.« Marco erzählte weiter. »Nachdem Kronos, der Vater, überwunden war, teilten die Brüder die Welt auf, indem sie Lose warfen. Dabei erhielt Zeus den Himmel, Poseidon das Meer, also die Oberwelt und Hades, die Unterwelt. Die Erde und der Himmel waren und sind ein gemeinsamer Bereich. Seitdem haben die Menschen einen Zwilling oder Drilling, ich weiß es nicht genau. Einer lebt im Himmel bei Gott oder den Göttern, der andere auf der Erde und ein weiterer im Hades.«

»Der Zwilling im Himmel hat immer Sehnsucht nach seinem Gegenstück, genauso wie damals Pollux. Dein Gegenstück wird mit allen Tricks versuchen, dich in den Himmel zu bekommen. Doch das kann es nur, wenn du in diesem Zwischenbereich bist, in dem wir uns jetzt befinden.« Stefan strich mit der Hand über seine Glatze. »Da ist aber auch noch Hades oder der Teufel, wie er heute genannt wird. Nur er oder seine Gehilfen können dich in sein Reich holen. Hades selbst kommt nicht in die Zwischenwelt und ganz selten auf die Erde. Wenn er jedoch kommt, dann in einer von vier schwarzen Rössern gezogenen schwarzen Quadriga.«

»Und seine Gehilfen mit der Sense.« Jana kicherte.

»Mädchen, sei nicht übermütig.« Vivian erhob die Stimme. »Du musst so wenig, wie möglich auffallen. Auch die Götter sehen nicht alles. Vielleicht übersehen sie dich und du kannst in deinen Körper zurück.«

Wie bin ich in diese Runde von Verrückten geraten?, überlegte Jana. Die waren doch nicht dicht. Wenn da nicht, Opas Geschichten wären? Außerdem erinnerte sie sich an die Sage von Castor und Pollux. Sollte da tatsächlich etwas dran sein? Eine weitere Geschichte in ihrer Geschichte? Sie schüttelte den Gedanken ab. Denn da war noch etwas. Zu Hause geriet sie gleich in Panik, wenn etwas Ungewöhnliches geschah. Hier legte sie eine Gelassenheit an den Tag, die nicht zu ihr gehörte. So etwas Beklopptes. Ein Rotes und ein Schwarzes Ich. Die Landschaft und Gesellschaft vor ihren Augen verschwamm und es wurde wieder schwarz.

*

Kapitel 7 Zuhause

Benommen riss Jana die Augen auf. Sie war eingedöst. Vater sagte etwas und sie hatte nicht verstanden, was. Das Mädchen sah mit hochgezogenen Augenbrauen in den Innenspiegel und suchte seinen Blick, den er erwiderte.

»Ich sagte, wir sind gleich da. Du bist wahrscheinlich müde und hast vor dich hingeträumt.« Er lächelte. »Mama wartet. Ich habe ihr die Girlanden und Willkommensschilder ausgeredet. Du weißt auch so, dass wir dich lieb haben.«

Sie nickte. Das fehlte noch, dass amerikanische Rituale bei ihnen Einzug hielten. Tatsächlich waren sie schon auf der Heerlener Straße in Scherpenseel und mussten gleich links nach Grotenrath abbiegen.

War sie verrückt? Wurde sie verrückt? Der Unfall oder was es war, hatte sie ganz schön durcheinandergebracht. Wieso dachte sie immer wieder ihren Traum, den sie scheinbar zwei Jahre geträumt hatte … oder etwa nicht?

Wenige Minuten später hielten sie vor ihrem Haus.

Ihre Mutter stand schon in der Türe. Was ihr im Krankenhaus nicht aufgefallen war, sah sie jetzt. Mama war immer ein wenig pummelig. Jetzt stand sie rank und schlank dort. Fast zu schlank dachte sie. Als ob sie krank gewesen war, nicht ich. Sie trug ihr braunes Haar offen. Früher hatte sie es immer zu einem Knoten im Nacken zusammengebunden. Jetzt hing es glänzend bis zwischen die Schulterblätter. Mama ist eine schöne Frau, ging ihr durch den Kopf.

»Gut, dass du wieder zu Hause bist.« Mama schloss sie in die Arme und drückte sie fest. Befangen gingen sie ins Gebäude. Nichts hatte sich verändert. Alles war so, wie sie es in Erinnerung hatte. Heimlich atmete sie auf. Zwei Jahre waren eine unendlich lange Zeit, da hätte viel geschehen können. Kläffend stürmte auch schon Dreckbär heran und warf sich winselnd vor ihr auf den Fußboden. Sie ging in die Hocke und nahm den Mischlingsrüden in den Arm. Mischlingsonkel wäre vielleicht besser. Er war kastriert und hörte normal auf den Namen Wolle. Weil er jede Pfütze und jeden Misthaufen liebte, blieb es, einmal ausgesprochen, eben bei Dreckbär. Sie vergrub ihren Kopf in seinem Fell und ließ den Tränen freien Lauf. Obwohl die Zeit der Abwesenheit für sie nur kurz war, merkte sie, wie lang sie für die anderen geworden war. Sie stand auf und nahm ihre Mutter noch einmal in den Arm. Sie bemerkte, wie groß sie geworden war. Eins zweiundfünfzig war sie, als sie ins Krankenhaus kam. Jetzt war sie kaum kleiner als Mama.

»Setz dich«, sagte ihre Mutter. »Ich mache dir einen Kakao.«

Jana schüttelte den Kopf und ging zum Schrank. Sie zeigte auf den Hagebuttentee. Im gleichen Augenblick kamen die Gedanken wieder. In der Zwischenwelt mussten sie weder trinken noch essen. Darüber hatte sie sich dort keine Gedanken gemacht. Blöde Gedanken, schalt sie sich. Sie wurde künstlich ernährt. Weshalb sollte sie Hunger oder Durst haben? Nein, so ganz stimmte das auch nicht. Dr. Wegener erzählte, dass sie mehrere Male festen Stuhlgang hatte, obwohl das unmöglich war. Die Laboruntersuchung habe auf durchaus normale Lebensmittel, wie Brot und Obst, gewiesen. Sie wurde bestimmt bekloppt, wenn sie es nicht schon war.

Sie bemerkte nicht, wie Papa sie am Arm nahm und zu einem Stuhl führte. Die Ärzte hatten den Eltern gesagt, dass Jana plötzlich in Gedanken stehen blieb, jedoch kein Anlass zur Sorge bestand und der Zustand in der Regel nur wenige Minuten dauerte. Dennoch tauschten Mutter und Vater einen unruhigen Blick.

Janas Eltern waren weder arm noch reich. Die Familie lebte in dem kleinen Heidedorf. Gemeinsam hatten sie dort das alte Haus restauriert und saniert. Hinter dem Haus lagen der selbst bewirtschaftete Garten und die große Wiese. Kein Rasen, wo jeder Halm, millimetergleich geschnitten war. Eine richtige Wiese mit Blumen, die vom Frühjahr bis zum Herbst, manchmal in den Winter hinein, blühten. Ab und an unterbrach ein Obststrauch die grüne Fläche. Stachelbeeren und Johannisbeeren. Das Gras wurde alle paar Wochen gesenst, und zwar abwechselnd von jedem Familienmitglied. Jana hatte darin eine wahre Meisterschaft entwickelt. Sie waren keine Naturfreaks, fanden es jedoch schöner, durch knöchelhohes Gras zu laufen, als über einem Teppich zu schweben. In einem abgegrenzten Bereich stand das große Gewächshaus und unweit davon schloss sich der Hühnerstall an einen Anbau an, der in früheren Zeiten als Schweinestall genutzt wurde. Darin hatte der Vater eine kleine Werkstatt und Jana einen Hobbyraum. Durch den Anbau gelangte man trockenen Fußes in den Wintergarten.

Jana liebte diesen Garten. Je älter sie wurde, umso deutlicher wurde ihr bewusst, dass die Geschichten ihres Großvaters, die er während ihrer Kindheit erzählt hatte, einen großen Einfluss auf ihr Leben nahmen. Darin spielte der Garten, vielmehr die Wiese, eine große Rolle. Mittlerweile war sie sechzehn Jahre alt, plus zwei Jahre im Koma. Zwei Jahre, die fehlten und die Gedanken, die sie zurzeit hatte, bestätigten. Oder war es möglich, dass sie diese Zeit woanders verbracht hat? Nein. Unmöglich. Sie war in kein Buch oder durch einen Spiegel gestiegen. Auch hinter ihrem Kleiderschrank gab es nichts. Nur eines wusste sie bestimmt: In den letzten zwei Jahren waren die Erzählungen ihres Großvaters wichtig und letztendlich der Grund, dass sie im Moment, wieder unter den Lebenden weilte.

Sie hatte niemals Angst in der Zwischenwelt, was sie jetzt im Nachhinein verwunderte. Sie fühlte sich jederzeit in der Geschichte ihres Opas. Woher nahm sie diese Sicherheit? Jana zuckte mit den Schultern und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Grund zu, der sie in die Zwischenwelt verschlagen hatte.

*

Kapitel 8 Zwischenwelt

»Was ist geschehen?« Jana sah Vivian an, die mit den anderen im Gras saß.

»Du warst in deinem Körper. Das geschieht im Anfang häufiger. Die Ärzte experimentieren mit den Medikamenten und beobachten dabei die Daten, die von dir aufgezeichnet werden. Wenn sie der Ansicht sind, dass du ruhig schläfst, lassen sie dich in Ruhe.«

»Langsam fange ich an, euch zu glauben. Wie lange seid ihr schon hier?«

Marco zuckte mit den Schultern. »Das weiß niemand so richtig. Hier gibt es keine Zeit. Weder Tag noch Nacht.«

»Und ihr hängt die ganze Zeit … blöd, ich weiß nicht, wie ich es anders sagen soll, hier herum und tut nichts?«

»Das ist eben so«, sagte Stefan. »Es macht keinen Sinn.«

»Falls ich länger hierbleibe, muss ich eine Aufgabe haben.« Jana sah sie nacheinander eindringlich an.

»Was willst du tun?«, fragte Marco.

»Ich finde es auch langweilig«, näselte Lukas dazwischen.

»Können wir auch noch woanders hin oder müssen wir hierbleiben?« Jana richtete das Wort an Stefan, dem sie wohl am meisten zutraute.

»Wir können überall hin«, antwortete stattdessen Vivian. »Es lohnt sich nicht und überall sieht es genauso aus, wie hier.«

»Das kann nicht sein«, begehrte Jana auf. »Hier. Sieh. Die Blumen kann ich verändern, so wie ich es will.«

»Welche Blumen? Ich sehe keine«, stellte Marco erstaunt fest.

Jana stellte sich eine Sommerblumenwiese vor und beobachtete, wie die Pflanzen im Wind wiegten und die Schmetterlinge, die sie gerade hineindachte. Der Angelegenheit musste sie auf den Grund gehen.

*

Kapitel 9 Professor Lauten

Professor Heiner Lauten und seine Kollegen Peter Lange, Holger Weimar sowie Heidi Meier drängten um das Bett, in der Wachstation des Untergeschosses, auf der eine scheinbar schlafende jungen Frau lag.

»Du bist sicher, dass sie keine Erinnerung haben wird?«, fragte Heidi, die Psychologin, eine schlanke Frau, um die siebzig, wie die anderen auch. Sie war besorgt, das sah jeder deutlich.

»Absolut sicher«, erwiderte Heiner Lauten. »Anders ausgedrückt, sie wird die Erinnerungen haben, die wir ihr gegeben haben. Sie wird als neue Person aufwachen. Nach mehr als zwei Jahren Koma wird niemand Verdacht schöpfen.«

»Ein Jahr wäre genug gewesen.« In Peter Langes Gesicht zuckte nervös ein Muskel. Er war Biomediziner und arbeitete seit mehr als dreißig Jahren mit den anderen zusammen.

»Eine Woche hätte gereicht«, stellte Lauten geringschätzig fest. »Aber wir haben eine Übereinkunft: drei Jahre. Doch ich sehe ein, dass wir die Zeit verkürzen können. Schließlich bin ich auch gespannt.«

»Sie ist gewachsen … erwachsen geworden.« Holger Weimar, der Techniker der Runde, sah gedankenvoll auf die schlafende Gestalt. »Ist je einer von euch hier gewesen, seit damals.«

»Zweimal«, sagte Lauten. »Des Nachts. Mich hat niemand gesehen. Jemand musste das Mittel spritzen.«

»Das klingt nach Entschuldigung. Was ist geschehen?« Weimar grinste geringschätzig.

»Was soll geschehen sein? Sie schlief und das Pflegepersonal wahrscheinlich auch.« Er verschwieg, dass die Patientin ganz kurz bei Bewusstsein war. Weshalb sollte er Unruhe in seine Gruppe bringen? Die Augen des Mädchens waren trübe. Sie hatte nichts gesehen.

»Euch ist klar, dass die Polizei die Ermittlungen zu der Explosion aufnehmen wird«, stellte Heidi Meier leicht fragend fest.

»Da besteht keine Gefahr.« Holger Weimar stellte die Behauptung so sicher in den Raum, dass alle überzeugt waren. »Die Waffe gab es nur einmal. Sie ist Geschichte.«

»Was ist mit dem Jungen?« Der Biomediziner sah zu Meier.

»Der liegt in den Niederlanden. Die dortige Klinik wird ihn im Oktober 2014, also wie abgemacht nach drei Jahren, aufwecken.« Sie blinzelte aufgeregt. »Ich bin in Kontakt mit denen. Zweimal im Jahr bekomme ich einen Bericht, wie bei der Kleinen hier. Wir verschweigen besser, dass wir unsere Klientin aufwecken. Dann bekommen wir keinen Konflikt.«

Der Professor nickte zustimmend. »Hoffentlich wissen die Ärzte, was sie zu tun haben, wenn unsere Patientin hier aufwacht?« Er sah Lange an.

»Kein Problem. Morgen früh hat ein Team Bereitschaft, das bei uns ausgebildet wurde. Wir haben in unseren Vorlesungen gezielt darauf hingearbeitet. Aber was soll das alles, wir haben den gleichen Informationsstand.«

»Wir sind nervös«, bestätigte Meier, was alle wussten.

Sie verließen das Zimmer, ungefähr zwei Minuten nach Holger Weimar. Der Diplomingenieur lenkte das Personal der Station im Bereitschaftszimmer ab.

»Da habt Ihr aber Glück gehabt, dass ich gerade in der Leitwarte war. Sonst hättet Ihr die ganze Nacht laufen müssen.« Weimar lächelte auf den kleinen Trupp des Pflegepersonals nieder, der Bereitschaft schob und am Tisch Pflegebogen ausfüllte. »Die Kameras müssten jede Minute wieder senden.« Fast im gleichen Augenblick erschienen die Patienten und deren Daten auf den Monitoren.«

*

Kapitel 10 Zuhause

Jana saß in ihrem Zimmer und fuhr den PC hoch. Vor wenigen Minuten hatte sie ihren Eltern bedeutet, sie wolle ein wenig ruhen. Hier in ihrer heimischen Höhle fühlte sie sich sofort wieder wohl. Sie strich mit den Fingerspitzen über die Gegenstände und konnte kaum fassen, was sie, während ihres Komas erlebt hatte.

Am liebsten hätte sie etwas gesagt. Aber da war ihr Versprechen. Sie musste schweigen, bis das ›Spiel‹ zu Ende war. Jana durfte einen Menschen aussuchen und nur mit diesem konnte sie sich zukünftig unterhalten. Das sollte ihr Opa sein, hatte sie beschlossen.

Sie klickte mit dem Mauszeiger auf Google und gab Marco Ruisten ein.

Freundlicherweise sagte ihr die Kriminalbeamtin die Namen der am Anschlag beteiligten Personen. Bis dahin kannte sie lediglich die Vornamen. Sie wusste, damals in ihrer Geschichte, nicht, dass die Nachnamen vielleicht einmal wichtig wurden, und fragte nicht danach. Ihr blieb fast das Herz stehen, als Claudia Plum die Opfer des Anschlages aufzählte. Ihre Erlebnisse standen also in konkretem Zusammenhang mit der Wirklichkeit. Das war schon einmal sicher, wenn auch kaum zu glauben. Stefan, Vivian, Lukas und Marco waren reale Personen. Jana starrte blicklos und gedankenverloren auf den Monitor und versuchte, die Puzzlestücke zu ordnen. Nur langsam fokussierte der Blick wieder.

Ungefähr siebenhundertfünfzig Tausend Einträge warf die Suchmaschine aus. Auf den ersten Seiten keine Ergebnisse, die sie erwartete. Geduldig klickte sie Seite um Seite weiter. Nichts. Sie musste die Suche erweitern. Marco sprach von einem Autounfall. Als tippte sie ›Ruisten Autounfall‹ in die Begriffsspalte zur Suche. Wieder nichts.

Aber … sie schlug die Hand vor den Kopf. Wie konnte sie so blöd sein? Schnell tippte sie eine neue Suchanfrage: Ruisten, 13. Oktober 2011. Und tatsächlich. Der Hinweis auf einen Zeitungsbericht der Aachener Zeitung vom darauffolgenden Tag. Gegen sechzehn wurden drei Personen getötet und zwei schwer verletzt. Sie sah zum ersten Male ein Foto des Unglücks und war entsetzt, welche Verwüstung die Explosion angerichtet hatte. Ein Wunder, dass nicht mehr geschehen war. Der Artikel war halbseitig und zeigte einen tiefen Krater mit Kreidestrichen auf dem umgebenden Pflasterboden des Marktplatzes. Sie googelte weiter und bekam nach und nach einen Überblick zu dem Geschehen.

Als das Koma andauerte, wurde er auf Wunsch seiner Eltern verlegt. Wohin? Darüber fand sie kein Wort. Nur so viel, dass Marco Niederländer war. In der Zwischenwelt, vielleicht waren es auch nur Träume, hatte er keinen Akzent.

Jana ruckelte auf ihren Drehstuhl, der Körper schmerzte, und überlegte. Holland, das war eine Spur. Zu blöd, dass Marco gerade zu den wichtigen Informationen gelogen hatte. Was erzählte der Blödmann von einem Autounfall? Vielleicht war es auch nur ein Filmriss. Jetzt musste sie selbst an die Informationen gelangen. Die Gelegenheit, ihn zu fragen, war dahin. Möglicherweise spielten die Götter ihres Traumes ein böses Spiel. Sie sah auf den Kalender und rechnete, wie viel Zeit ihr noch blieb. Heute war der 29. November 2013. Also noch fünfundzwanzig Tage bis zum Heiligen Abend.

Weshalb gerade der Heilige Abend? Das hatte bestimmt eine Bewandtnis. Aber welche? Ihre Erlebnisse in der Zwischenwelt deuteten auch nicht, auf gerade diesen christlichen Feiertag. Sie war dort in einer Zeit der Götter, lange bevor es Christen gab.

Was hatte Marco, vielleicht unbewusst, noch mitgeteilt? Möglicherweise sah sie es nicht. War er eine besondere Person und für die Zwischenwelt aus irgendeinem Grund, wichtig? Die Informationen, die sie hatte, deuteten nicht auf ihn. Demnach war er mehr oder weniger ein Zufallsprodukt um die Ereignisse, in deren Mittelpunkt sie stand.