Hier irrt Maigret - Georges Simenon - E-Book

Hier irrt Maigret E-Book

Georges Simenon

0,0

Beschreibung

Die junge Prostituierte Louise Filon alias »Lulu« ist tot. Sie wurde in ihrer Wohnung im exklusiven 17. Arrondissement ermordet. Schnell stellt sich heraus, dass es in Lulus Leben neben ihrem Freund, einem mittellosen und vorbestraften Saxophonisten, einen zweiten Mann gegeben hat: den wohlhabenden Hirnchirurgen Étienne Gouin, der zugleich Lulus Vermieter war und sie als Gegenleistung für ihre Liebesdienste mietfrei wohnen ließ. Bei den Ermittlungen verlässt sich Maigret ganz auf seine Menschenkenntnis, die ihn aber diesmal auf eine falsche Fährte führt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 185

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

 

Der 43. Fall

Georges Simenon

Hier irrt Maigret

Roman

Aus dem Französischen von Rainer Moritz

Kampa

1

Es war acht Uhr fünfundzwanzig am Morgen. Maigret stand vom Tisch auf und trank seine letzte Tasse Kaffee. Obwohl es erst November war, brannte Licht. Madame Maigret versuchte, vom Fenster aus die Passanten zu erkennen, die vornübergebeugt, die Hände in den Taschen, zur Arbeit eilten.

»Besser, du ziehst deinen warmen Mantel an«, sagte sie.

Denn was draußen für ein Wetter war, machte sie an den Menschen auf der Straße fest. Alle hatten es eilig an diesem Morgen, viele trugen einen Schal und traten fest auf, um sich aufzuwärmen. Sie hatte gesehen, wie sich einige die Nase putzten.

»Ich hol ihn dir.«

Er hielt noch seine Tasse in der Hand, als das Telefon klingelte. Er nahm ab und blickte nun selbst nach draußen, auf die von der gelblichen Wolke, die während der Nacht hinabgesunken war, fast konturenlos gewordenen Häuser gegenüber.

»Hallo? Ist da Kommissar Maigret? … Hier Dupeu, Quartier des Ternes.«

Merkwürdig, dass ihn ausgerechnet Kommissar Dupeu anrief, denn der passte vermutlich wie kaum ein anderer zur Stimmung an diesem Morgen. Dupeu war Polizeikommissar in der Rue de l’Étoile. Er schielte, wie seine Frau, und es hieß, dass seine drei Töchter, die Maigret nicht kannte, auch schielten.

Er war ein gewissenhafter Beamter, ängstlich darauf bedacht, alles richtig zu machen, sodass er darüber fast krank wurde. Alles um ihn herum nahm eine trübsinnige Note an, und so sehr man sich auch sagte, dass er der beste Mensch auf Erden war, kam man doch nicht umhin, ihm aus dem Weg zu gehen, zumal er sommers wie winters für gewöhnlich erkältet war.

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie zu Hause störe. Ich dachte mir, dass Sie noch nicht aufgebrochen sind, und da hab ich mir gesagt …«

Es blieb einem nichts übrig, als abzuwarten. Er musste alles loswerden und hatte ständig das Bedürfnis, zu erklären, warum er dies und jenes tat, als fühlte er sich immerzu im Unrecht.

»Ich weiß, dass Sie selbst gern vor Ort sind. Vielleicht irre ich mich, aber meinem Eindruck nach handelt es sich um einen ziemlich speziellen Fall. Wobei ich natürlich noch nichts weiß oder fast nichts. Ich bin gerade erst angekommen.«

Madame Maigret wartete mit dem Mantel überm Arm, und damit sie nicht die Geduld verlor, flüsterte er ihr zu:

»Dupeu!«

Der redete mit monotoner Stimme weiter.

»Ich war wie üblich um acht Uhr in meinem Büro und bin die erste Post durchgegangen, als mich um sieben nach acht die Putzfrau anrief. Sie hat die Leiche gefunden, als sie die Wohnung in der Avenue Carnot betrat. Da das nur zwei Schritte von hier entfernt ist, bin ich mit meinem Mitarbeiter gleich hingelaufen.«

»Ein Verbrechen?«

»Man könnte es für Selbstmord halten, aber ich bin überzeugt, dass es sich um Mord handelt.«

»Wer?«

»Eine gewisse Louise Filon, von der ich noch nie gehört habe. Eine junge Frau.«

»Ich komme.«

Dupeu fing wieder zu sprechen an, doch Maigret tat so, als hörte er nichts, und legte auf. Bevor er aufbrach, rief er am Quai des Orfèvres an und ließ sich mit dem Erkennungsdienst verbinden.

»Ist Moers da? … Ja, holen Sie ihn an den Apparat … Hallo! Bist du’s, Moers? … Komm bitte mit deinen Leuten in die Avenue Carnot … Mord … Ich bin gleich dort.«

Er gab ihm die Hausnummer durch, warf sich seinen Mantel über, und Augenblicke später gab es eine düstere Gestalt mehr, die durch den Nebel hastete. Erst an der Ecke Boulevard Voltaire fand er ein Taxi.

Die Straßen rund um die Place de l’Étoile waren fast ausgestorben. Ein paar Männer karrten die Mülltonnen fort. Die meisten Vorhänge waren noch zugezogen, und nur in wenigen Fenstern brannte Licht.

Auf dem Gehweg in der Avenue Carnot stand ein Polizist in Pelerine, aber nirgendwo gab es einen Menschenauflauf, nirgendwo Schaulustige.

»Welches Stockwerk?«, fragte Maigret.

»Im dritten.«

Er ließ das mit blank polierten Messingknöpfen beschlagene Hoftor hinter sich. Die Concierge frühstückte in ihrer hell erleuchteten Loge. Ohne aufzustehen, musterte sie ihn durch die Glasscheibe. Der Aufzug funktionierte geräuschlos wie in jedem gepflegten Haus. Die Teppichläufer auf den gewachsten Eichenstufen hatten ein schönes Rot.

Im dritten Stock waren drei Türen. Zögernd stand er da, als die linke aufging. Und da war Dupeu, mit roter Nase, ganz wie es Maigret erwartet hatte.

»Kommen Sie. Ich hab lieber nichts angefasst und auf Sie gewartet. Ich hab nicht mal die Putzfrau befragt.«

Sie gingen durch den Flur, in dem es nur einen Garderobenständer und zwei Stühle gab, und gelangten in einen erleuchteten Salon.

»Die Putzfrau hat sich gleich gewundert, warum da Licht brannte.«

In der Ecke eines gelben Sofas war eine junge Frau mit braunen Haaren eigentümlich in sich zusammengesunken. Auf ihrem Morgenmantel war ein großer, dunkelroter Fleck zu sehen.

»Sie hat eine Kugel in den Kopf abbekommen. Der Schuss scheint von hinten abgefeuert worden zu sein, von ganz nah. Wie Sie sehen, ist sie nicht zu Boden gestürzt.«

Sie war nur nach rechts gesackt, ihr Kopf hing herunter, die Haare berührten fast den Teppich.

»Wo ist die Putzfrau?«

»In der Küche. Sie hat mich um Erlaubnis gebeten, sich eine Tasse Kaffee zu machen. Ihren Angaben zufolge war sie um acht Uhr hier, wie jeden Morgen. Sie besitzt einen Wohnungsschlüssel. Sie kam rein und sah die Leiche. Sie sagt, sie hat nichts angefasst und mich sofort angerufen.«

Erst in diesem Moment begriff Maigret, was ihm bei seiner Ankunft merkwürdig vorgekommen war. Normalerweise hätte er sich schon auf dem Gehweg durch einen Knäuel von Schaulustigen zwängen müssen, und normalerweise lauerten die Bewohner auf den Treppenabsätzen. Hier aber war alles ruhig, als wäre nichts geschehen.

»Die Küche ist dort?«

Sie befand sich am Ende des Flurs. Die Tür stand offen. Eine dunkel gekleidete Frau mit schwarzen Haaren und Augen saß am Gasofen und trank eine Tasse Kaffee, den sie anhauchte, damit er abkühlte.

Maigret hatte den Eindruck, ihr schon einmal begegnet zu sein. Mit gerunzelter Stirn betrachtete er sie, während sie in aller Ruhe seinem Blick standhielt und weitertrank. Sie war sehr klein. Im Sitzen erreichten ihre Füße kaum den Boden, die Schuhe waren ihr zu groß, das Kleid zu weit und zu lang.

»Ich glaube, wir kennen uns«, sagte er.

»Gut möglich«, antwortete sie, ohne eine Regung zu zeigen.

»Wie heißen Sie?«

»Désirée Brault.«

Der Vorname brachte ihn auf die Spur.

»Sind Sie früher mal wegen eines Kaufhausdiebstahls festgenommen worden?«

»Deswegen auch.«

»Weshalb noch?«

»Ich bin so oft verhaftet worden …«

Ihr Gesicht verriet kein Anzeichen von Furcht. Eigentlich verriet es gar nichts. Sie sah ihn an. Sie antwortete ihm. Unmöglich zu erraten, was sie dachte.

»Sie waren im Gefängnis?«

»Steht alles in meiner Akte.«

»Prostitution?«

»Warum denn nicht?«

Das war offensichtlich lange her. Jetzt war sie fünfzig oder sechzig und ausgemergelt. Noch waren ihre Haare nicht weiß, nicht einmal grau, doch sie waren dünn geworden, ließen den Schädel durchscheinen.

»Es gab Zeiten, da habe ich richtig was hergemacht.«

»Seit wann arbeiten Sie in dieser Wohnung?«

»Kommenden Monat ist es ein Jahr. Ich hab im Dezember angefangen, kurz vor den Feiertagen.«

»Arbeiten Sie den ganzen Tag hier?«

»Nur von acht bis Mittag.«

Der Kaffee roch so gut, dass sich Maigret eine Tasse nahm. Kommissar Dupeu stand eingeschüchtert im Türrahmen.

»Wollen Sie auch, Dupeu?«

»Nein, danke, ich hab vor nicht mal einer Stunde gefrühstückt.«

Désirée Brault stand auf, um sich eine zweite Tasse einzuschenken, ihr Kleid hing an ihr herunter. Sie wog wohl nicht mehr als eine Vierzehnjährige.

»Arbeiten Sie auch woanders?«

»An drei, vier Orten, das hängt von der Woche ab.«

»Leben Sie allein?«

»Mit meinem Mann.«

»War der auch im Gefängnis?«

»Nein, er trinkt nur.«

»Er arbeitet nicht?«

»In den letzten fünfzehn Jahren hat er nicht einen Tag gearbeitet, nicht mal einen Nagel in die Wand geschlagen hat er.«

Sie sagte das ohne Bitterkeit, mit einer gleichgültigen Stimme, die so gut wie keine Ironie erkennen ließ.

»Was ist heute Morgen geschehen?«

Sie zeigte mit dem Kopf auf Dupeu.

»Hat er es Ihnen nicht gesagt? Na gut … Ich war um acht hier.«

»Wo wohnen Sie?«

»Nicht weit von der Place Clichy. Ich hab die Metro genommen, die Tür mit meinem Schlüssel aufgemacht und bemerkt, dass im Salon Licht brennt.«

»Die Tür zum Salon stand offen?«

»Nein.«

»War denn Ihre Arbeitgeberin üblicherweise nicht wach, wenn Sie kamen?«

»Sie stand erst gegen zehn auf, manchmal später.«

»Was machte sie dann?«

»Nichts.«

»Fahren Sie fort …«

»Ich hab die Tür zum Salon aufgestoßen und sie gesehen.«

»Haben Sie sie angefasst?«

»Ich brauchte sie nicht anzufassen, um zu sehen, dass sie tot war. Oder haben Sie schon mal jemand mit eingetretenem Gesicht rumspazieren sehen?«

»Und dann?«

»Hab ich die Polizei angerufen.«

»Ohne die Nachbarn oder die Concierge zu benachrichtigen?«

Sie zuckte die Achseln.

»Warum hätte ich denen was sagen sollen?«

»Und nach dem Telefonat?«

»Hab ich gewartet.«

»Und was gemacht?«

»Nichts.«

Das war von verblüffender Einfachheit. Sie war dageblieben, um zu warten, bis es an der Tür klingelte, hatte sich vielleicht die Leiche angesehen.

»Sind Sie sicher, dass Sie nichts angefasst haben?«

»Ganz sicher.«

»Haben Sie einen Revolver gefunden?«

»Ich hab nichts gefunden.«

Kommissar Dupeu mischte sich ein:

»Wir haben überall nach der Waffe gesucht, vergebens.«

»Besaß Louise Filon einen Revolver?«

»Wenn ja, hab ich ihn nie gesehen.«

»Gibt es Möbelstücke, die abgeschlossen sind?«

»Nein.«

»Dann wissen Sie also, was sich in den Schränken befindet.«

»Ja.«

»Und Sie haben nie eine Waffe gesehen?«

»Nie.«

»Wusste Ihre Arbeitgeberin, dass Sie im Gefängnis waren?«

»Ich hab ihr alles erzählt.«

»Das hat ihr keine Angst gemacht?«

»Das hat sie amüsiert. Vielleicht war sie ja auch mal da, möglich wär’s.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Bevor sie hier einzog, ging sie auf den Strich.«

»Woher wissen Sie das?«

»Weil Sie’s mir gesagt hat. Aber selbst wenn sie nichts gesagt hätte …«

Auf dem Treppenabsatz waren Schritte zu hören, und Dupeu ging die Tür öffnen. Es waren Moers und seine Leute, mit ihren Gerätschaften. Maigret sagte zu Moers:

»Fang nicht gleich an. Wart, bis ich fertig bin, und ruf den Staatsanwalt an.«

Désirée Brault faszinierte ihn – und alles, was ihre Worte erahnen ließen. Er zog seinen Mantel aus, weil ihm warm war, setzte sich hin und trank seinen Kaffee in kleinen Schlucken weiter.

»Setzen Sie sich.«

»Gern. Es passiert nicht alle Tage, dass eine Putzfrau so was hört.«

Jetzt lächelte sie fast.

»Haben Sie eine Ahnung, wer Ihre Arbeitgeberin umgebracht haben könnte?«

»Nicht die geringste.«

»Hatte sie oft Besuch?«

»Ich hab nie gesehen, dass jemand gekommen ist, nur ein Arzt aus der Nachbarschaft war mal da, als sie eine Bronchitis hatte. Und mittags geh ich ja.«

»Kennen Sie Bekannte von ihr?«

»Ich weiß nur, dass in einem Schrank Männerpantoffeln und ein Morgenmantel sind. Und auch eine Kiste Zigarren. Sie raucht keine.«

»Sie wissen nicht, wer der Mann ist?«

»Ich hab ihn nie gesehen.«

»Kennen Sie nicht mal seinen Namen? Hat er nie angerufen, wenn Sie da waren?«

»Das kam vor.«

»Wie hat sie ihn genannt?«

»Pierrot.«

»Ließ sie sich von ihm aushalten?«

»Irgendwen brauchte es für die Miete. Und für den Rest.«

Maigret stand auf, stellte seine Tasse hin und stopfte seine Pfeife.

»Und was mach ich jetzt?«, fragte sie.

»Nichts, Sie warten.«

Er ging in den Salon zurück, wo die Männer vom Erkennungsdienst auf sein Zeichen warteten, um mit der Arbeit zu beginnen. Das Zimmer war aufgeräumt. In einem Aschenbecher neben dem Sofa lagen Zigarettenasche und drei Kippen, zwei davon mit roten Lippenstiftabdrücken.

Eine halb geöffnete Tür verband den Salon mit dem Schlafzimmer, und Maigret stellte mit einer gewissen Überraschung fest, dass das Bett aufgeschlagen und das Kopfkissen eingedrückt war, als hätte jemand dort geschlafen.

»Ist der Arzt noch nicht da?«

»Er war nicht zu Hause. Seine Frau ist dabei, die Patienten anzurufen, die er heute Morgen besuchen muss.«

Er öffnete ein paar Schränke und Schubladen. Die Kleidungsstücke und die Unterwäsche gehörten zu einer jungen Frau, die einen schlechten Geschmack hatte, und nicht zu jemandem, den man in einer Wohnung in der Avenue Carnot vermutet hätte.

»Kümmere dich um die Fingerabdrücke, Moers, und um alles andere. Ich geh runter zur Concierge und rede mit ihr.«

Kommissar Dupeu fragte:

»Brauchen Sie mich noch?«

»Nein, ich danke Ihnen. Schicken Sie mir Ihren Bericht morgen im Lauf des Tages. Es war sehr freundlich von Ihnen, mich anzurufen, Dupeu.«

»Wissen Sie, ich hab mir sofort gedacht, dass Sie das interessieren würde. Hätte neben dem Sofa eine Waffe gelegen, dann hätte ich Selbstmord vermutet, denn der Schuss scheint ja aus allernächster Nähe abgegeben worden zu sein. Obwohl sich diese Sorte Frau normalerweise mit Veronal umbringt. In den letzten fünf Jahren mindestens gab es hier im Viertel keine Frau, die sich mit einem Revolver umgebracht hätte. Da also keine Waffe gefunden wurde …«

»Das haben Sie hervorragend gemacht, Dupeu.«

»Ich tue, was ich kann …«

Draußen im Treppenhaus redete er immer noch weiter. Maigret ließ ihn an der Fußmatte stehen, die vor der Tür zur Loge der Concierge lag, und trat ein.

»Guten Tag.«

»Guten Tag, Herr Kommissar.«

»Sie wissen, wer ich bin?«

Sie nickte.

»Sie wissen, was passiert ist?«

»Ich hab den Polizisten auf dem Gehweg gefragt. Er hat mir gesagt, dass Mademoiselle Louise tot ist.«

Die Loge sah so gutbürgerlich aus, wie es hier im Viertel üblich war. Die Concierge, die nicht älter als vierzig sein konnte, war korrekt gekleidet, ja ein wenig herausgeputzt. Sie war übrigens ziemlich hübsch, das Gesicht nur ein wenig aufgedunsen.

»Sie wurde umgebracht?«, fragte sie, als sich Maigret ans Fenster setzte.

»Wie kommen Sie darauf?«

»Vermutlich hätte niemand die Polizei gerufen, wenn sie eines natürlichen Todes gestorben wäre.«

»Es hätte Selbstmord sein können.«

»Das sähe ihr nicht ähnlich.«

»Kannten Sie sie gut?«

»Nicht sehr. Sie kam nie in meine Loge, machte beim Vorbeigehen lediglich die Tür einen Spaltbreit auf und fragte nach der Post. Sie fühlte sich hier im Haus nicht richtig wohl, wenn Sie verstehen.«

»Sie wollen damit sagen, dass sie aus einem anderen Milieu stammte als die übrigen Mieter?«

»Ja.«

»Und zu welchem Milieu gehörte sie?«

»Ich weiß es nicht genau. Ich habe keinen Grund, schlecht von ihr zu reden. Sie war still, nicht arrogant.«

»Ihre Putzfrau hat nie über sie gesprochen?«

»Madame Brault und ich sprechen nicht miteinander.«

»Sie kennen sie aber?«

»Ich lege keinen Wert darauf, sie zu kennen. Ich sehe sie kommen und gehen. Das reicht mir.«

»Ließ sich Louise Filon aushalten?«

»Möglich. Jedenfalls hat sie pünktlich gezahlt.«

»Hat sie Besuch bekommen?«

»Hin und wieder.«

»Nicht regelmäßig?«

»Regelmäßig kann man das nicht nennen.«

Maigret glaubte einen Vorbehalt zu spüren. Im Gegensatz zu Madame Brault war die Concierge nervös und warf immer wieder einen Blick zur Glastür. Sie verkündete dann auch:

»Der Doktor geht hoch.«

»Sagen Sie, Madame … Wie heißen Sie überhaupt?«

»Cornet.«

»Sagen Sie, Madame Cornet, gibt es etwas, was Sie mir verheimlichen möchten?«

Sie bemühte sich, ihm in die Augen zu sehen.

»Warum fragen Sie mich das?«

»Einfach so, ich würde es gern wissen. War es immer derselbe Mann, der zu Louise Filon kam?«

»Ich hab immer denselben vorbeigehen sehen.«

»Was für eine Art Mann war das?«

»Ein Musiker.«

»Woher wissen Sie das?«

»Weil ich ein- oder zweimal gesehen habe, dass er einen Saxophonkoffer unterm Arm hatte.«

»War er gestern Abend da?«

»Ja, gegen zehn.«

»Haben Sie ihm aufgemacht?«

»Nein. Ich schließe die Tür erst um elf, wenn ich zu Bett gehe.«

»Aber Sie sehen, wer hereinkommt?«

»Meistens. Die Mieter sind ruhig, fast alles bedeutende Persönlichkeiten.«

»Sie sagen, dass der Musiker gegen zehn hinaufgegangen ist?«

»Ja, er ist nur zehn Minuten geblieben, und als er ging, schien er es eilig zu haben. Ich hab gehört, wie er Richtung Étoile gelaufen ist.«

»Haben Sie sein Gesicht gesehen? Schien er erregt oder …«

»Nein.«

»Louise Filon hat gestern Abend keinen weiteren Besuch bekommen?«

»Nein.«

»Wenn der Doktor also feststellt, dass die Tat zwischen zehn und elf Uhr begangen wurde, wäre es ziemlich sicher, dass …«

»Das hab ich nicht gesagt. Ich hab gesagt, dass sie sonst niemand besucht hat.«

»Glauben Sie, der Musiker war ihr Geliebter?«

Sie antwortete nicht sofort.

»Weiß ich nicht«, murmelte sie dann.

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Nichts, ich dachte nur daran, was die Wohnung an Miete kostet.«

»Ich verstehe, also nicht die Sorte Musiker, der seiner kleinen Freundin so eine Wohnung spendiert.«

»Genau.«

»Sie scheinen nicht überrascht, dass man Ihre Mieterin getötet hat, Madame Cornet.«

»Gerechnet hab ich damit nicht, aber überrascht bin ich auch nicht.«

»Warum?«

»Einfach so. Ich glaube, dass solche Frauen gefährlicher leben als andere. Den Eindruck bekommt man auf jeden Fall, wenn man Zeitung liest.«

»Ich möchte Sie bitten, mir eine Liste zu machen von allen Mietern, die gestern Abend nach neun Uhr das Haus betreten oder verlassen haben. Ich nehme sie mit, wenn ich gehe.«

»Kein Problem.«

Als er die Loge verließ, sah er, wie der Staatsanwalt und sein Stellvertreter, begleitet vom Gerichtsschreiber, aus einem Wagen stiegen. Allen dreien schien kalt zu sein. Der Nebel hatte sich noch nicht verzogen und vermischte sich mit ihrem Atem.

Händeschütteln. Dann der Aufzug. Abgesehen von der dritten Etage, war das Haus so ruhig wie bei Maigrets Ankunft. Die Leute hier gehörten nicht zu denjenigen, die hinter halb geöffneter Tür das Kommen und Gehen der anderen verfolgten und am Treppenabsatz zusammenliefen, weil eine Frau umgebracht worden war.

Moers’ Techniker hatten ihre Apparate fast überall in der Wohnung aufgestellt, und der Arzt war gerade mit der Untersuchung des Leichnams fertig. Er gab Maigret die Hand.

»Um welche Uhrzeit?«, fragte der Kommissar.

»Schätzungsweise zwischen neun Uhr abends und Mitternacht. Vermutlich eher elf als Mitternacht.«

»Der Tod ist sofort eingetreten?«

»Sie haben sie gesehen. Der Schuss ist aus allernächster Nähe abgegeben worden.«

»Von hinten?«

»Von hinten, etwas seitlich.«

Moers schaltete sich ein:

»Sie muss in dem Augenblick eine Zigarette geraucht haben, die dann auf den Teppich gefallen und abgebrannt ist. Ein Glück, dass der Teppich nicht in Flammen aufgegangen ist.«

»Um was handelt es sich eigentlich?«, fragte der stellvertretende Staatsanwalt, der noch nichts mitbekommen hatte.

»Keine Ahnung, ein banaler Mord vielleicht, was mich aber wundern würde.«

»Haben Sie eine Idee?«

»Nein. Ich rede noch mal mit der Putzfrau.«

Bevor er in die Küche ging, rief er am Quai des Orfèvres an und bat Lucas, der Dienst hatte, sofort zu kommen. Um die Staatsanwaltschaft und die Spezialisten, die ihrer Arbeit nachgingen, kümmerte er sich nicht weiter.

Madame Brault war noch an ihrem Platz. Sie trank keinen Kaffee mehr, rauchte aber eine Zigarette, was nicht recht zu ihr passte.

»Ich darf doch, oder?«, fragte sie, als sie Maigrets Blick bemerkte, der sich ihr gegenübersetzte.

»Erzählen Sie.«

»Was?«

»Alles, was Sie wissen.«

»Ich hab Ihnen alles gesagt.«

»Wie hat Louise Filon ihre Tage verbracht?«

»Ich weiß nur, was sie am Morgen gemacht hat. Gegen zehn ist sie aufgestanden, nein, aufgewacht, aber aufgestanden ist sie nicht sofort. Ich hab ihr Kaffee gebracht, den sie im Bett trank, während sie rauchte und las.«

»Was hat sie gelesen?«

»Zeitschriften und Romane. Oft hörte sie auch Radio. Sie haben sicher den Apparat auf ihrem Nachttisch gesehen.«

»Hat sie telefoniert?«

»Erst gegen elf.«

»Jeden Tag?«

»Fast jeden Tag, ja.«

»Mit Pierrot?«

»Ja. Es kam vor, dass sie sich gegen Mittag anzog, um auswärts zu essen, aber das war eher selten. Meistens schickte sie mich zum Traiteur, um kalten Braten oder Fertiggerichte zu holen.«

»Haben Sie eine Ahnung, wie sie den Nachmittag verbracht hat?«

»Vermutlich ist sie aus dem Haus gegangen. Sie muss ausgegangen sein, weil ich morgens immer schmutzige Schuhe vorgefunden habe. Wahrscheinlich ist sie durch die Geschäfte gezogen, wie alle Frauen.«

»Hat sie abends zu Hause gegessen?«

»Da war selten schmutziges Geschirr.«

»Denken Sie, dass sie Pierrot getroffen hat?«

»Ihn oder einen andern.«

»Sind Sie sicher, dass Sie ihn nie gesehen haben?«

»Sicher.«

»Und andere Männer haben Sie auch nie bei ihr gesehen?«

»Nur den Gasableser oder einen Laufburschen.«

»Wie lange waren Sie nicht mehr im Gefängnis?«

»Sechs Jahre.«

»Haben Sie keine Lust mehr, in Kaufhäusern was mitgehen zu lassen?«

»Mir fehlt die Schnelligkeit, die es dafür braucht … Sie nehmen gerade die Leiche mit.«

Es war Lärm aus dem Salon zu hören, den tatsächlich die Männer von der Gerichtsmedizin machten.

»Sie hat nicht lange was davon gehabt.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Dass es ihr vierundzwanzig Jahre dreckig ging und sie nicht mal zwei gute Jahre hatte.«

»Hat sie sich Ihnen anvertraut?«

»Wir haben miteinander geredet, wie man das eben so tut.«

»Hat sie Ihnen gesagt, woher sie stammt?«

»Sie ist im 18. Arrondissement geboren, sozusagen auf der Straße. Den größten Teil ihres Lebens hat sie im Chapelle-Viertel verbracht. Als sie herkam, dachte sie, jetzt fängt das schöne Leben an.«

»Also war sie nicht glücklich?«

Die Putzfrau zuckte mit den Achseln, sah Maigret mit einer Art Mitleid an, als wäre sie überrascht, dass er so begriffsstutzig war.

»Glauben Sie, dass das ein Vergnügen war, in einem Haus wie dem hier zu leben, wo ihr die Leute nicht mal ins Gesicht sahen, wenn sie ihr auf der Treppe begegneten?«

»Warum ist sie hergezogen?«

»Sie hatte ihre Gründe.«

»Hat sie sich von dem Musiker aushalten lassen?«

»Wer hat Ihnen von dem Musiker erzählt?«

»Spielt keine Rolle. Pierrot spielt Saxophon?«

»Ich glaube, ja. Ich weiß, dass er in einer Tanzbar auftritt.«

Sie sagte nur, was sie ihm sagen wollte. Maigret hatte nun eine etwas genauere Vorstellung von Louise Filon und war sich sicher, dass die beiden Frauen jeden Morgen offen miteinander redeten.

»Ich glaube nicht«, sagte er, »dass jemand, der in einer Tanzbar spielt, die Miete für so eine Wohnung zahlen kann.«

»Ich auch nicht.«

»Das heißt?«

»Dass es einen anderen gegeben haben muss«, sagte sie ruhig.

»Pierrot ist gestern Abend zu ihr gekommen.«

Sie zuckte nicht zusammen, sah ihm weiter in die Augen.

»Und deshalb, vermute ich, steht für Sie fest, dass er sie getötet hat? Ich kann Ihnen nur eins sagen: Die beiden haben sich geliebt.«

»Hat sie Ihnen das gesagt?«

»Nicht nur, dass sie sich liebten, sondern dass sie davon träumten zu heiraten.«

»Warum haben sie es nicht getan?«

»Vielleicht, weil sie kein Geld hatten. Vielleicht auch, weil der andere sie nicht freigegeben hat.«

»Der andere?«

»Sie wissen es so gut wie ich, dass ich von dem rede, der gezahlt hat. Muss ich Ihnen das aufmalen?«