Hilfe, meine Hebamme ist weg! - Lili Stollowsky - E-Book

Hilfe, meine Hebamme ist weg! E-Book

Lili Stollowsky

4,8

Beschreibung

Jahrtausendelang haben Hebammen Kindern gesund auf die Welt geholfen und Mütter eigenständig und kompetent durch Schwangerschaft, Geburt und Wochenbettzeit begleitet. Seit es Menschen gibt, gibt es Hebammen. Heute ist der Beruf der Hebamme in Gefahr. Aus der von Leben und Tod wissenden Weisen Frau ist eine esoterisch angehauchte und mit homöopathischen Kügelchen bewaffnete nette Tante im Kreißsaal geworden, die den Gynäkologen die Instrumente anreicht und die süßen kleinen Babys wickelt. Wie konnte es soweit kommen? Ist daran noch etwas zu ändern? Der Beruf der Hebamme scheint auszusterben. Viele haben ihren Job schon an den Nagel gehängt, ebenso viele sind kurz davor. Braucht die moderne Geburtshilfe keine Hebammen mehr? Ein Buch für Hebammen, Mütter und andere Menschen, die sich für das Thema Kinderkriegen interessieren. Die Autorin ist seit mehr als dreißig Jahren als Hebamme tätig.

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Dieses Buch ist all meinen Hebammenkolleginnen

gewidmet, die mit Ausdauer, Geduld und Nerven wie

Drahtseile weiterhin unserem wunderbaren Beruf

nachgehen und die Hoffnung nicht aufgeben.

Was soll ich Hebammen über die Hebammerei erzählen?

Eine Geschichte von einer vorzeitigen Plazentalösung? Wie wäre es mit der Frau, die postpartum geblutet hat wie ein Wasserkran? Oder dem HELLP-Syndrom? Einem Kind mit hässlichen 2-er Dips? Einer Fruchtwasserembolie?

Nein, davon will ich nicht reden. Diese Geschichten hört jede Hebammenschülerin schon im ersten Ausbildungsjahr.

Vielleicht soll ich von dem Assistenzarzt erzählen, der bei jeder Drittgebärenden am liebsten einen Schuchardt-Schnitt anlegt. Natürlich nur zur Vermeidung eines Dammrisses.

Oder von der Ärztin, die anfängt zu hyperventilieren, wenn die pressende Frau, die vor drei Minuten an der Kreißsaaltür geklingelt hat, immer noch keine Braunüle hat.

Nein, davon will ich auch nicht reden.

Ich erzähle lieber erstmal einen Hebammenwitz.

Ein Chefarzt, ein Oberarzt und eine Hebamme sitzen im Flugzeug. Der Pilot macht die Durchsage: Das Benzin ist alle, wir stürzen ab, tut mir leid, aber es gibt nur zwei Fallschirme an Bord. Der gynäkologische Chefarzt schnappt sich einen und ruft beim Herausspringen: Ich bin der Chef, ich bin hier der Wichtigste, ich muss auf jeden Fall überleben. Der Oberarzt sagt zu der Hebamme: Ich bin schon alt. Es ist nicht so schlimm, wenn ich sterbe. Sie sind jung und haben kleine Kinder, die Sie noch brauchen, nehmen Sie den zweiten Fallschirm. Wieso den zweiten, antwortet die Hebamme. Hier sind doch noch beide Fallschirme. Der Chef hat in seiner Eile nur nach meinem Hebammenkoffer gegriffen.

Ich habe über den Witz sehr gelacht. Nicht nur, weil ich zu dieser Zeit mit einem solch wichtigsten Chefarzt arbeitete, sondern auch weil ich an meinen Koffer dachte.

Ich habe noch einen Hebammenkoffer. Einen richtig alten Koffer. Seit über dreißig Jahren begleitet er mich durch das Leben und meinen Beruf. Eine damals in Rente gehende Hausgeburtshebamme hat ihn mir zum Examen geschenkt, verbunden mit dem Wunsch, dass ich als ihre Nachfolgerin auch in die Hausgeburtshilfe einsteige.

Diesen Wunsch habe ich ihr erfüllt.

Über zwanzig Jahre bin ich Tag und Nacht herumgefahren, um den Kindern zuhause auf die Welt zu helfen. Nebenbei, wie bei vielen Hebammen, habe ich als alleinerziehende Mutter zwei eigene Kinder großgezogen. Als die beiden erwachsen waren, hat mich ein Burn-Out aus den Socken gehauen und ich habe die Hausgeburtshilfe aufgegeben.

Einige Jahre war ich dann als Beleghebamme unterwegs und heute sind in meinem Hebammenkoffer nur noch Utensilien für die Wochenbettzeit. Das reicht mir mit meinen jetzt über sechzig Jahren.

Ja, genau das wollte ich erzählen. Wie lange ich schon als Hebamme arbeite, wie viel Erfahrung in der Hebammerei ich über diese Zeit gewonnen habe und welche Moden rund um das Thema Geburt mir begegnet sind.

Mir kann keiner mehr Angst einjagen.

Trotzdem habe ich Angst. Nicht mehr um mich und meine eigene Zukunft, aber um unseren Beruf.

Ich habe Angst um meine jüngeren Kolleginnen und um die Frauen und neugeborenen Kinder, die wir betreuen. Ich habe Angst, dass der Hebammenberuf aussterben wird. Nicht mit einem Knall, sondern allmählich und unbemerkt.

Ich habe aber nicht nur Angst, ich bin auch wütend.

Wütend auf die Politik, die uns mit ein paar warmen Worten im Regen stehen lässt. Wütend auf die Versicherungen, die Jahr für Jahr mehr Geld haben wollen und uns vielleicht bald überhaupt nicht mehr versichern. Wütend auf die Ärzte, die Schwangerschaft und Geburt immer mehr pathologisieren und schlecht über uns Hebammen reden.

Als ob wir keine Ahnung vom Verlauf einer Schwangerschaft und Geburt hätten. Als ob wir mit angeblichem Halbwissen vorsätzlich Frauen und Kinder gefährden würden.

Frauen bekommen seit Jahrtausenden Kinder. Ebenso lange kümmern sich Hebammen kompetent und handfest um das Wohl der Mütter und Kinder.

Selbstverständlich und ohne Frage ist die heutige moderne Geburtshilfe ein Segen, aber Hebammen scheinen in dieser Geburtshilfe keinen Platz mehr zu haben.

Unser Beruf ist ernsthaft in Gefahr.

Wir klemmen in einer Art Schulterdystokie zwischen Leben und Tod fest und keiner hilft uns.

Wir müssen uns wehren und meine Art, mich zu wehren, ist, dass ich dieses Buch schreibe.

Es gibt einen Moment bei der Geburt, den ich den heiligen Raum nenne. Das bedeutet für mich nichts Religiöses oder Esoterisches. Es ist ein Moment, der außerhalb von Zeit und Raum existiert und den vielleicht nur wir Hebammen so begleiten und erleben dürfen.

Diesen heiligen Raum habe ich bei jeder Hausgeburt erlebt.

Die gebärende Frau mit ihrem Mann, das ungeborene Kind und ich, wir treten an einem bestimmten Moment unter der Geburt in die Zeitlosigkeit ein.

Wir bewegen uns außerhalb der Welt.

Wir sind da und trotzdem nicht da.

Wir sind zusammen auf einer Reise und auf einem anderen Planeten gelandet, eben in diesem heiligen Raum.

Es ist Nacht. Viele Kinder machen sich in der Nacht auf den Weg. Die Stille und Dunkelheit geben der werdenden Mutter Schutz in dieser verletzlichen Zeit.

Wir sprechen leise miteinander. Sanftes Licht. Wärme. Keine Betriebsamkeit.

Die Reise, die wir gemeinsam unternehmen, braucht Ruhe, Achtsamkeit und Geduld.

Da ist die schwangere Frau. Vorsichtig und langsam geht sie mit ihrem schweren Leib umher. Die Blase ist gesprungen und in Schüben läuft das Fruchtwasser heraus.

Ich kann mit meinen Händen fühlen, wie groß das Kind ist und welche Lage es eingenommen hat.

Das Ungeborene tritt mich mit seinen kleinen Füßen. Es antwortet auf meine Untersuchung.

Es ist da und gleichzeitig unsichtbar. In seiner engen dunklen Welt, die es seit Monaten bewohnt, ist eine Veränderung eingetreten. Das Fruchtwasser läuft an seinem Kopf vorbei einem unbekannten Ausgang entgegen.

Wer hat sich für die Veränderung entschieden?

Will das Kind geboren werden?

Der Blasensprung ist ein Punkt ohne Wiederkehr. Keiner kann diese Entscheidung zurücknehmen.

Wie wird dieses Kind aussehen? Der Ultraschall von letzter Woche sagt: Es ist vermutlich ein Mädchen, es liegt kopfüber zur Geburt bereit und wiegt etwa dreieinhalb Kilo. Finger und Zehen sitzen in richtiger Anzahl an der richtigen Stelle. Herz, Magen und Nieren sind normal geformt. Die Plazenta arbeitet gut. Es kann geboren werden.

Doch dieses Kind ist nicht nur ein Kind.

Es ist ein neuer Mensch.

Ein Mensch, wie er noch nie geboren wurde.

Ein einzigartiger neuer Mensch.

Auch wenn er die gleichen Augen haben wird wie der Vater oder die Haarfarbe einer entfernten Tante. Jeder weiß, dass es keine zwei Menschen auf der Welt mit einem identischen genetischen Code gibt.

Dieses Menschenkind könnte den Lauf der Welt verändern.

Alles zum Guten wenden.

Jedes neugeborene Menschenkind trägt diese Hoffnung neu in unsere Welt.

Davon weiß der Ultraschall nichts.

Jetzt beginnt der Vorgang der Geburt.

Millimeterweise wird das Ungeborene von der unsichtbaren in unsere sichtbare Welt geschoben. Es muss sich beugen.

Das Herz der Mutter versorgt es zuverlässig mit Sauerstoff.

In immer kürzeren Abständen zieht sich die Gebärmutter zusammen. Die Wehen werden stärker.

Alle müssen warten. Auch ich. Stunde um Stunde.

Es ist immer noch Nacht. Alle sind müde. Die Wolfsstunde fordert ihren Tribut, aber Gebärende lassen sich nicht hetzen und eine Geburt lässt sich nicht beschleunigen.

Die Frau versenkt sich in sich selbst und ist doch ganz auf meine Anwesenheit angewiesen. Die Kraft, mit der das Kind ins Leben will, kann kaum eine Frau alleine aushalten.

Wir sind gemeinsam in einem Raum und jeder ist mit seiner Aufgabe allein. Stunde um Stunde.

Wir nähern uns zusammen und doch jeder allein langsam dem heiligen Raum. Die dunkelste Stunde der Nacht weicht endlich der Morgendämmerung.

Niemand spricht mehr. Es gibt auch nichts mehr zu sagen.

Nur Atmen und die jeweiligen Aufgaben erfüllen.

Doch plötzlich und unerwartet macht meine Müdigkeit einer staunenden Zärtlichkeit Platz, denn auf einmal ist er da, der heilige Raum. Wir haben ihn nach den Stunden des Wartens ohne unser Zutun betreten. Er hat einfach den Weg in unser Zimmer gefunden.

Es ist Frieden.

Es ist Frieden in diesem Zimmer.

Jetzt und hier. An diesem Ort der Welt. In diesem Moment.

Es gibt keinen anderen Ort mehr.

Es gibt nur noch jetzt und hier.

Wir alle, die wir in diesem Zimmer sind, wir beugen uns. Wir beugen uns dem Ort und dem Moment. Wir hasten nicht, wir drängeln nicht, wir haben keine anderen Pläne.

Wir sind nur da. Gemeinsam und jeder mit sich allein.

Die wehende Frau liegt jetzt auf dem Bett und atmet in tiefen Zügen ihre Schmerzen hinaus.

Von Zeit zu Zeit höre ich nach dem Herzschlag des Kindes.

Verträgt es die Kraft? Es ist allein auf seinem schweren Weg.

Verträgt es das Leben?

Wo ist das Kind jetzt? Was fühlt und empfindet es in den Stunden seiner Geburt? Ist der unbekannte Ausgang eine Herausforderung? Oder kämpft es um sein Leben? Ich weiß es nicht.

Bei uns ist Frieden. Wir sind nur da.

Lange Zeit nur Atmen, Da-Sein und Frieden.

Nichts anderes. So viel und doch so wenig.

Die Morgendämmerung nimmt zu, es wird langsam hell, und dann, wieder plötzlich und von ganz alleine, ändert die Kraft ihr Gesicht.

Der Weg ins Leben ist offen und die Mutter muss ihrem Kind helfen, diesen Weg zu gehen. Sie hat Angst und muss doch ihre Aufgabe erfüllen.

Sie arbeitet und schwitzt und keucht.

Ich bin vollkommen wach und behüte zwei Menschenleben.

Dann auf einmal dunkles Haar in der Tiefe des Weges.

Walnussgroß. Mandarinengroß. Apfelsinengroß.

Das dunkle Haar wird weiter zu mir geschoben. In meine, in unsere Welt.

Honigmelonengroß. Eine dunkle feuchte Honigmelone, die mir vom Leben in meine Hände geschoben wird.

Und dann kommt der verzauberte Moment, in dem die Zeit still steht, um für eine Ewigkeit den nassen zerknautschten Haarschopf eines neuen Menschen an der Grenze zwischen Himmel und Erde in der Vagina der Mutter anzuhalten.

Dies ist der Moment, in dem ich ahne, wie alle Dinge zusammengehören und wie wir alle auf unserem Planeten den gleichen Atem teilen. Der Moment geht vorüber.

Die Honigmelone entpuppt sich als ein Köpfchen. Ich muss den Dammschutz vornehmen, dem Kind auf die Welt helfen, meine medizinischen Verrichtungen tun.

Ich bin verantwortlich für das Leben von Mutter und Kind und darf mich nicht im Zauber dieses Augenblicks verlieren.

Das Kind ist da.

Mit einem letzten kräftigen Schub hat die Mutter es zur Welt gebracht. Die Nabelschnur pulsiert noch. Das Kind öffnet die Augen und gibt einen Schrei der Erleichterung von sich, dass seine einsame lange Reise nun ein Ende gefunden hat.

Schon ist es auf dem Arm der Mutter und wird getröstet.

Der Vater weint.

Ich schaue auf die Uhr, sehe die Sonne im Zimmer und weiß, dass wir den heiligen Raum wieder verlassen haben.

Auf meine handfeste Hebammenweise spreche ich in Gedanken einen Segen an die guten Kräfte, die uns bei unserer Reise begleitet haben und gebe dem neuen Menschenkind meine besten Wünsche mit auf seinen Lebensweg.

So leicht ist gebären.

Mutter und Kind mit Ruhe und Achtsamkeit begleiten, den natürlichen Verlauf abwarten und Vertrauen haben in diesen natürlichen Verlauf. Vertrauen in das Leben.

So schwierig ist aber auch gebären.

Vertrauen in das Leben. Wer hat das schon? Wer kann sich dem Leben ohne Angst hingeben?

Vor allem den Risiken, die es birgt.

Denn selbstverständlich birgt das Leben Risiken. Jeden von uns kann jederzeit das Schicksal ereilen. Eine Krankheit, ein Unfall, der Tod. Alles ist unsicher, nichts ist für immer.

Auch bei der Geburt kann es zu allen möglichen und unmöglichen Komplikationen kommen. Jede Hebamme weiß das. Jahrelang lernen wir, jede Komplikation jederzeit im Sinn zu haben. Wir wissen abzuschätzen, wann sich das Befinden der Gebärenden in eine riskante Richtung neigt. Der Herzschlag des Ungeborenen ist uns vertraut wie der eigene Herzschlag. Jede kleinste Abweichung der Frequenz setzt uns in Alarmbereitschaft.

Das Leben ist ein Risiko.

Niemals ist das klarer als im Moment der Geburt. Alle halten den Atem an und hoffen auf einen guten Ausgang.

Tausendmal geht alles gut. Einmal nicht. Dieses eine Mal haben wir Hebammen immer vor Augen.

Die ruhige und achtsame Reise kann ihren Verlauf ändern.

Der heilige Raum kann sich innerhalb von Sekunden in den Vorhof zur Hölle verwandeln. Das Leben von zwei Menschen ist in Gefahr. In Lebensgefahr.

Die Mutter blutet zu stark. Der Herzschlag des Kindes fällt zu weit ab. Die Schulter klemmt und lässt sich nicht entwickeln.

Wir alle kennen sie, die Risiken der Geburt.

Sofort wollen Medikamente aus der Tasche gezaubert sein, kalte Instrumente müssen ihren Dienst tun, vielleicht wird sogar operiert.

Das Leben von Mutter und Kind muss gerettet werden.