Im Licht der Lagune - Hanns-Josef Ortheil - E-Book

Im Licht der Lagune E-Book

Hanns-Josef Ortheil

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Beschreibung

Auf der Entenjagd macht der Conte di Barbaro einen seltsamen Fund: Im Schilf der Lagune hat sich ein Boot verfangen, und darin liegt ein junger Mann, nackt und scheinbar tot. Nach langer Zeit der Pflege erwacht er aus seiner Bewußtlosigkeit, an seine Herkunft kann er sich aber nicht erinnern. Nachdem ihn der Conte in seinem Palazzo aufgenommen hat, zeigt er eine bestechend genaue Beobachtungsgabe, die ihn zu einem genialen Maler und Zeichner werden lässt. Auch die junge Caterina Nardi, di Barbaros Nachbarin und seine heimliche Liebe, wird auf den schönen Fremden aufmerksam. Sie macht ihn nach ihrer Heirat mit di Barbaros jüngerem Bruder, der als venezianischer Gesandter in London tätig ist, zu ihrem ständigen Begleiter. So beginnt ein faszinierendes Kammerspiel, in dem Erotik und Malerei sich immer inniger durchdringen und zu einem berauschenden Fest der Sinne steigern.

In Hanns-Josef Ortheils Roman wird das Venedig des ausgehenden 18. Jahrhunderts mit seinen Palazzi und alten Dynastien, mit seinen labyrinthischen Gassen, den heimlichen Gondelfahrten und lauten Komödienbesuchen wieder zum Leben erweckt. Noch einmal erstrahlt diese Welt in ihrem verführerischen Glanz, eine Welt, in deren Zerfall sich die Ankunft ihres genialsten Malers, William Turners, ankündigt.

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btb E-Books erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
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ISBN 978-3-641-10866-3V003
www.btb-verlag.dewww.penguinrandomhouse.de

Buch

Auf der Entenjagd macht der Conte di Barbaro einen seltsamen Fund: Im Schilf der Lagune hat sich ein Boot verfangen, und darin liegt ein junger Mann, nackt und scheinbar tot. Nach langer Zeit der Pflege erwacht er aus seiner Bewußtlosigkeit, an seine Herkunft kann er sich aber nicht erinnern. Nachdem ihn der Conte in seinem Palazzo aufgenommen hat, zeigt er eine bestechend genaue Beobachtungsgabe, die ihn zu einem genialen Maler und Zeichner werden läßt. Auch die junge Caterina Nardi, di Barbaros Nachbarin und seine heimliche Liebe, wird auf den schönen Fremden aufmerksam. Sie macht ihn nach ihrer Heirat mit di Barbaros jüngerem Bruder, der als venezianischer Gesandter in London tätig ist, zu ihrem ständigen Begleiter. So beginnt allmählich ein faszinierendes Kammerspiel, in dem Erotik und Malerei sich immer inniger durchdringen und zu einem berauschenden Fest der Sinne steigern. In Hanns-Josef Ortheils Roman wird das Venedig des ausgehenden 18. Jahrhunderts mit seinen Palazzi und alten Dynastien, mit seinen labyrinthischen Gassen, den heimlichen Gondelfahrten und lauten Komödienbesuchen wieder zum Leben erweckt. Noch einmal erstrahlt diese Welt in ihrem verführerischen Glanz, eine Welt, in deren Zerfall sich die Ankunft ihres genialsten Malers, William Turners, ankündigt.

Autor

Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Der Autor lebt heute in Stuttgart. Für seinen Debütroman Fermer erhielt er 1979 den aspekte-Literatur-Preis. Es folgten die Romane Hecke, Schwerenöter, Agenten und Abschied von den Kriegsteilnehmern. Neben zahlreichen Essaybänden (u.a. Mozarts Sprachen) veröffentlichte er Das Element des Elefanten. Wie mein Schreiben begann und das literarische Tagebuch Blauer Weg. Zuletzt erschien von ihm der Roman Die Nacht des Don Juan.

Inhaltsverzeichnis

Über den AutorErster Teil
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11
Zweiter Teil
Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21
Dritter Teil
Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33
Vierter Teil
Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41
Fünfter Teil
Kapitel 42
ANMERKUNGCopyright

Erster Teil

1

An einem klaren, windstillen Abend des Jahres 1786 erkannte der Conte Paolo di Barbaro, der mit einer kleinen Schar von Jägern in einem entlegenen Teil der Lagune auf Entenjagd war, in den fernen Schilfmatten die Umrisse eines Bootes. Im ersten Augenblick glaubte er noch, sich zu täuschen, doch als er auch bei längerem Hinsehen die dunklen, im Abendsonnenlicht zitternden Formen wahrnahm, machte er seine Begleiter auf die seltsame Erscheinung aufmerksam.

Alle Blicke richteten sich kurz auf das anscheinend herrenlos im Schilf treibende Boot, es war ein einfaches, altes, in diesen Gegenden kaum mehr gebräuchliches Fischerboot, das sich im morastigen Sumpf verfangen hatte. Di Barbaro erteilte den leisen Befehl hinzurudern, die Männer schwiegen, manche auf ihre Gewehre gestützt; so näherte man sich langsam dem geisterhaft fremden Schwarz, das die dunkelgrünen Linien der Schilfhalme wie ein kräftiger, breiter Pinselstrich grundierte.

Drei- oder viermal im Jahr erschien der Conte zur Jagd, nahm in seinem weiten, pelzgefütterten Mantel auf der Ruderbank Platz und verfolgte unbeweglich das Geschehen, die ruhige, gespannte Vorbereitung der Männer, die ihre Flinten putzten, das plötzliche, meist unerwartete Aufschwirren eines kleinen Schwarms von Vögeln, die krachenden, wie ein Feuerwerk ins Blau zischenden Gewehrsalven und den kräftigen Sprung des Hundes, der die erlegten Tiere in unermüdlicher Folge, kaum zu beruhigen, aus dem Wasser fischte. Früher hatte di Barbaro noch selbst an der Jagd teilgenommen, doch seit einigen Jahren beschränkte er sich auf das Zuschauen, weil er erkannt hatte, daß es ihm einen viel größeren Genuß bereitete.

Wenn er zuschaute, bekam er jede Einzelheit mit, es war, als spielten die Männer nur für ihn diese Szenen, die etwas Einfaches, Endgültiges hatten, etwas von jenem Leben, von dem seine venezianischen Freunde nichts ahnten. Die meisten von ihnen waren munter, ruhelos und verschwatzt, sie hätten es auf dieser harten Bank nicht lange ausgehalten, und erst recht hätten sie die schweigsame, nach innen gewandte Art der Jäger nicht zu schätzen gewußt. Er aber, Paolo di Barbaro, mochte diese ruhigen Menschen, die im Herbst Tag für Tag unterwegs waren und in einem der kleinen Fischerorte der Lagune lebten, fern von der Stadt. Er begleitete sie einige Stunden, bezahlte sie gut und saß mit ihnen bis in die Nacht zusammen, bei einer einfachen Mahlzeit, die sie an einem großen Kaminblock in der Mitte einer geräumigen Jagdhütte einnahmen. Sie kannten die Kanäle und Sümpfe der Lagune genau, und sie liebten ihre unendliche Weite, in der Menschen sich noch völlig verloren. Nachts fanden sie sicher zurück, sie achteten nur auf die Sterne und folgten den Gerüchen, als seien sie längst selbst zu einem Teil dieser in sich verschlossenen Natur geworden.

Di Barbaro schaute zur Seite. Jetzt hatten sie das fremde Boot erreicht, einige der Männer schrien kurz auf, so unerwartet und heftig, daß er sich unwillkürlich von seinem Sitz erhob, um einen Blick hinüber zu werfen. Da erkannte er den nackten Leichnam eines ungewöhnlich großen, jungen, schwarzhaarigen Mannes. Dessen Augen waren entzündet, gerötete, aufgequollene Flecke, von Salzinseln verkrustet, der Körper war stark gebräunt, ganz gleichmäßig, als habe er sich lange Zeit in der Sonne befunden. Der Tote lag auf dem Rücken, mit ausgebreiteten Armen, als wolle er dem weiten Himmel huldigen, doch wirkte seine Nacktheit verstörend, als habe man ihn gewaltsam all seiner Kleider beraubt.

Der Conte ließ zwei seiner Jäger hinübersteigen, man drehte den schweren Leichnam herum, doch es waren keine Spuren einer Gewalttat zu erkennen. Sonst war in dem dunklen Boot weiter nichts zu entdecken, keinen einzigen Gegenstand führte der Einsame bei sich, nichts, das dazu hätte dienen können, seine Herkunft oder sein Schicksal genauer zu bestimmen. Di Barbaro starrte den Toten an, während die Männer, durch den erstaunlichen Fund erregt, miteinander flüsterten und Vermutungen austauschten, was dem jungen Mann zugestoßen sein mochte.

Niemand kannte ihn, niemand hatte ihn je gesehen. Auch di Barbaro war ihm noch nicht begegnet; irgend etwas war ungewöhnlich an diesem etwa zwanzigjährigen Menschen, irgend etwas an seiner Erscheinung paßte nicht zu diesem vielleicht gewaltsamen Tod. Ohne sich lange zu besinnen, zog der Conte seinen weiten Mantel aus und befahl, ihn dem Toten unterzulegen. Als das samtene Dunkelgrün den reglosen Körper grundierte, erkannte di Barbaro plötzlich, was ihn verwirrt hatte. Es war die ungewöhnliche Schönheit des Jungen; der Leichnam lag auf dem dunklen Mantel wie ein Modell zu einer anatomischen Skizze. Die Sehnen und Muskeln waren die eines an harte Arbeit gewöhnten Menschen, die Gesichtszüge aber waren von solcher Feinheit, daß sie an die einiger Patriziersöhne der Stadt erinnerten. Doch diese Burschen, denen di Barbaro auf Bällen und Festen begegnete, wenn sie ihre gelangweilten Blicke durch die kerzenbeleuchteten Säle streifen ließen, hatten nicht einen so kräftigen, geschulten Körper. Für einen Mann aus dem Volk waren dagegen die schwarzen, langen Haare viel zu gepflegt, seidig schimmernde Strähnen, die, da hätte di Barbaro wetten können, beinahe täglich gekämmt worden waren.

Die Männer wurden unruhig, er mußte jetzt etwas sagen und rasch entscheiden, was mit dem Toten zu geschehen hatte. Er dachte sich, daß es besser sei, die Sache geheimzuhalten, solange sie nicht aufgeklärt war. Wenn man in Venedig anlegte, würde man großes Aufsehen erregen; besser wäre ein abgelegener, unauffälliger Ort, der den Leichnam den Blicken der Gaffer zunächst entzog. Di Barbaro dachte sofort an das Kloster von San Giorgio Maggiore, mit dem Abt war er seit vielen Jahren befreundet. Man könnte sich zunächst gemeinsam beraten, man könnte in aller Vorsicht weitere Leute des Vertrauens in die Geschichte einweihen, vielleicht ließen sich Erkundigungen einziehen, die das Rätsel Stück für Stück ein wenig erhellten.

Der Conte sprach langsam und ruhig. Er verlangte von den Männern absolute Verschwiegenheit, sonst werde er sie hart bestrafen, doch noch während er sprach, wußte er, daß er sich auf sie verlassen konnte. Ihnen konnte selbst nicht daran gelegen sein, die Sache öffentlich zu machen; man hätte sie mit dem Ereignis in Verbindung gebracht, man hätte Nachforschungen angestellt, die Untersuchungsmethoden der venezianischen Behörden waren gefürchtet. Sie nickten auch gleich, als seien sie ganz mit ihm einig, stumm machten sie sich daran, das fremde Boot am Heck der Barke zu vertauen. Der Conte hatte die richtigen, klugen Worte gesprochen, genau die Worte, die man von ihm erwartet hatte.

Paolo di Barbaro nahm wieder auf der Ruderbank Platz. Die Jagd war abgebrochen, langsam trieben die beiden Boote durch die plötzlich wieder auffälligere Stille der Lagunenlandschaft. Es war, als habe diese Stille für einen kurzen Moment eine geheimnisvolle Gestalt erzeugt und als stellte sie den Findern die Aufgabe, dieses Geheimnis zu ergründen. Manchmal schaute der Conte zu dem Boot zurück, das sich im Schlepptau befand. Der pelzgefütterte Mantel hatte sich geöffnet und gab den nackten Leichnam frei. Di Barbaro ließ ihn wieder einhüllen und ordnete an, den starren Körper mit den erlegten Tieren zu bedecken. Am liebsten wäre ihm gewesen, er hätte diesen Toten in den Untiefen der Kanäle versenken können, etwas Bedrohliches, Unheimliches ging von ihm aus.

Einer der Jäger begann plötzlich, leise zu singen. Der Conte schaute auf das regungslose, glatte Wasser der Lagune, in dem hier und da violette und ockergelbe Inseln wuchernden Krauts trieben. Die in sich erstarrte Wasserfläche lauerte über Abgründen von Schlick und spiegelte den Himmel doch in beinahe übertriebener Klarheit. Irgendwo in der Ferne lag Venedig, dieses große, mühsam immer wieder zusammengestückelte Floß.

2

Der Conte wartete im Kreuzgang des Klosters San Giorgio, bis der Abt alles Nötige veranlaßt hatte. Er behandelte die Sache mit erstaunlicher Sachlichkeit, so, als sei er an solche Fälle gewöhnt. Di Barbaro aber spürte noch immer die innere Unruhe; seine Finger waren erkaltet, und er bemerkte ein leichtes Zittern der Hände, das ihn verärgerte. Im Grunde ging ihn dieser Tote nichts an, und doch hatte sein Anblick eine wunde Stelle seines Inneren berührt. Er ging langsam auf und ab, unwillig mit dem Kopf schüttelnd, als könnte er alles mit einigen Gesten abtun. Dann sah er den Abt, der schnellen Schrittes auf ihn zukam. Sie umarmten sich. Obwohl sie gut miteinander befreundet waren, hatten sie einander seit Monaten nicht mehr gesehen.

»Was denkst Du darüber?« fragte der Conte.

»Daß er aussieht wie einer unserer gemalten Heiligen, wie die Figur eines Altarbilds ...«, antwortete der Abt.

»Daran dachte ich auch«, sagte der Conte. »Und was machen wir nun mit soviel erkalteter Schönheit?«

»Wir begraben sie feierlich und schweigen.«

»Glaubst Du, daß er eines natürlichen Todes gestorben ist? Ich glaube es nicht. Und müssen wir nicht wenigstens herausbekommen, wer er ist?«

»O nein, lieber Paolo. Diesen Fragen werden wir nicht weiter nachgehen. Wir werden ihn bestatten und für seine Seele beten.«

»Vielleicht wollte man ihn sogar loswerden. Ich vermute, er trieb tagelang so auf dem Wasser.«

»Mag sein, was geht es uns an? Er ist tot.«

»Hast Du seine Haare gesehen? Ich habe noch selten so gepflegte Haare gesehen, beinahe wie die einer Frau ...«

»Ja, die Haare ... Aber wir sollten uns nicht in solche Betrachtungen vertiefen. Wir sollten ihn beerdigen und vergessen, mehr können wir nicht für ihn tun. Sobald wir Fragen stellen, werden sich die Behörden einschalten und das Fragen übernehmen. Sie werden sich hier einnisten und wochenlang schwadronieren. Sie werden Karten spielen und die unsinnigsten Theorien aufstellen, und wir werden sie verpflegen müssen. Ich sehe sie schon vor mir, wie sie hier einfallen und sich mittags und abends über unsere Polenta hermachen.«

»So oft fütterst Du Deine Lieben mit diesem Zeug?« fragte der Conte.

»Damit sie nicht in Versuchung kommen. Polenta und Risotto, das reicht. Abwechslungen im Essen machen nur lüstern und auf die Dauer doch unzufrieden. Das zufriedene Leben ist ein einfaches Leben, das jede Veränderung scheut.«

»Was Du nicht sagst! Dann müßte ich ja ein glücklicher Mensch sein«, lachte der Conte. »Ich hause in meinem Palazzo wie einer Deiner Mönchsbrüder in seiner Zelle. Ich gebe mich keinen Ausschweifungen hin, ich besuche wöchentlich einmal die Messe, ich arbeite dann und wann für unsere Republik, und ich ernähre mich wie eine Maus, die manchmal an einem Stück Käse knabbert.«

»Aber Du bist nicht glücklich, Paolo. Das bist Du nicht.«

»Ah, Du mußt es wissen! Und warum bin ich nicht glücklich?«

»Weil Du nicht verheiratet bist, Paolo! In Deinem monströsen Palazzo fehlt die Frau und fehlen vor allem die Kinder. Was Ihr Euch einbildet, Ihr vornehmen Herren! Eine Familie nach der andern stirbt aus, weil Ihr es nicht fertigbringt, wenigstens einen der Söhne zur Heirat zu zwingen! Deine Mutter hat mich beschworen, Dir ins Gewissen zu reden. Jetzt ist sie schon über zwei Jahre tot, und zehn Jahre sind seit dem Tod Deines Vaters vergangen! Ein sechsundvierzigjähriger Mann wie Du sollte geheiratet haben! Oder wird Dein Bruder Dich darin übertreffen?«

»Antonio ist noch immer in England, als Sekretär unserer Gesandtschaft. In einem Jahr wird er den Gesandten ablösen.«

»Er fehlt Dir. Ich sehe Dir an, daß er Dir fehlt«, sagte der Abt und legte den rechten Arm um di Barbaros Schultern. Der Conte blieb stehen. Jetzt wußte er, warum ihn die Entdeckung des Toten so unangenehm berührt hatte. Seit dem Tod seiner Mutter hatte er keinen Leichnam mehr gesehen; Beerdigungen war er ferngeblieben, er hatte den Tod von sich fernzuhalten versucht, so gut es ging.

»Du solltest mich häufiger besuchen«, sagte der Abt. »Du solltest nicht nur an Deine Kunstsammlungen denken, nicht nur an tote Bilder ...«

»Die Bilder sind nicht tot«, unterbrach ihn di Barbaro, »sag so was nicht. Was verstehst Du von Bildern?!«

»Du hast recht«, sagte der Abt. »Ich wollte Dich nicht verletzen. Aber ich stelle mir vor, wie Du allein mit all Deinen Dienern in Deinem Palazzo sitzt und Bilder betrachtest. Kaum ein Sonnenstrahl stiehlt sich hinein ...«

»Wenn ich die Bilder betrachte, werden die Räume verdunkelt« , sagte di Barbaro knapp. Der Abt nahm den Arm von seinen Schultern. »Bleibst Du zum Abendessen?« fragte er.

»Polenta oder Risotto?« fragte der Conte.

»Risotto mit Fisch«, antwortete der Abt.

»Einverstanden«, sagte di Barbaro. »Aber vorher möchte ich unseren Heiligen noch ein letztes Mal sehen. Wo habt ihr ihn hingeschafft?«

»Er liegt in einer der Krankenstuben. Bruder Ennio wäscht ihn, am Ende wäscht man uns alle wie Kinder, komm mit!«

Sie durchquerten den Kreuzgang, gingen eine schmale Treppe hinauf, liefen einen langen Flur entlang und betraten durch eine enge, niedrige Tür die Krankenstube. Der Raum wurde nur durch eine einzige, dicke, dicht neben dem Totenlager brennende Kerze erleuchtet. Die Wände waren mit dunkelrotem Stoff drapiert, auf einem kleinen, runden Holztisch standen eine Karaffe mit Wasser und ein kleines Glas, sonst war der Raum kahl, ähnlich jenen Räumen, in denen man nichts anderes tat als warten. ›Darauf verstehen sie sich‹, dachte di Barbaro, ›für jedes Ereignis haben sie ihr Dekorum ...‹

Bruder Ennio hielt kurz inne, als er die beiden Männer bemerkte. Der Abt gab ihm jedoch ein Zeichen, und sofort setzte er die Waschung fort. Der Conte beobachtete, wie der Leichnam sorgfältig mit einem Schwamm gereinigt wurde. Die Augen waren von den Salzspuren befreit, die Haut war überall aufgesprungen, als hätten die Sonnenstrahlen wie feine Nadeln lauter Einstiche verursacht. Di Barbaro wagte nicht, näher heranzutreten. Der Bruder tat seine Arbeit so selbstverständlich und doch vorsichtig, als säuberte er einen wertvollen Kunstgegenstand von einer leichten, mit geübten Handgriffen zu entfernenden Patina. ›Warum wollte ich ihn noch einmal sehen?‹ dachte di Barbaro. ›Weil ich versuche, mich an diesen Anblick zu gewöhnen ...‹

Der Abt faltete die Hände, als wollte er zu beten anheben, der Conte spürte, wie er bei dem Gedanken an ein Totengebet starr wurde, und Bruder Ennio hob den rechten Arm des Toten, als hätte er ein einzelnes, schweres Teil zu stemmen. In diesem Augenblick hörte jeder der Drei ein deutliches, tiefes, mehrmals einsetzendes Stöhnen. Es klang wie ein Röcheln, als versuchte jemand, nach langem Schlaf die richtige Stimmlage zu finden. Bruder Ennio hatte den aufgerichteten Arm sofort fallen gelassen und war an die Wand zurückgewichen. Der Abt hatte versucht, nach di Barbaro zu greifen, doch der hatte sich als einziger nicht entfernt, sondern war näher zu dem sich schwach regenden Körper hingetreten.

»Er lebt«, sagte der Conte leise. Er hatte jetzt einen trockenen, beinahe erstickten Mund. Er wunderte sich, daß er die Worte so sicher hatte herausbringen können, denn seine Aufregung war so groß, daß er ein starkes Herzklopfen spürte. Gleichzeitig bemerkte er, wie die innere Freude diese Aufregung langsam verdrängte, ja, es war, als stiege eine Freudenwelle in ihm auf, so heftig, daß er sich für einen Moment nach vorn beugte, um die Beherrschung nicht zu verlieren. Es kam ihm beinahe so vor, als habe er, der Conte Paolo di Barbaro, Teil an dem unerwarteten Wunder.

Die Drei sahen, wie der Erwachte seine Augen zu öffnen versuchte, diese Anstrengung aber sofort einen derartigen Schmerz hervorzurufen schien, daß er den Kopf zur Seite fallen ließ.

»Holen Sie den Arzt, Bruder Ennio!« flüsterte der Abt.

Di Barbaro war instinktiv zu dem Tisch mit der Wasserkaraffe hinübergegangen. Er schenkte das kleine Glas voll und setzte es dem jetzt wieder unbeweglich daliegenden Mann an den Mund. Da sah er, wie die aufgeplatzten, schründigen Lippen, die wie zwei schwere Wulste aufeinanderlagen, langsam, kaum merklich zuckten. Es war nur eine sehr kurze, immer wieder ansetzende Bewegung, eine Art Flackern, wie ein Insektenrucken, doch es ließ in di Barbaro noch einmal jenes Glücksgefühl aufleben, das er seit langem nicht mehr empfunden hatte. Das Wasser lief in kleinen Perlen, aufgefädelt wie an einer Schnur, durch eine kaum wahrzunehmende Öffnung zwischen den Lippen. Di Barbaro goß etwas stärker nach, doch das Wasser schoß nun wie ein kleiner Schwall zu beiden Seiten des Halses hinunter zum Kinn. Die Brust des Erwachten hob sich für einen Moment, dann hörte man noch einmal das Röcheln, darauf aber gleichmäßige Atemzüge, als habe er endlich den ersehnten Schlaf gefunden.

Bruder Ennio kam mit dem Arzt zurück, der sich gleich daran machte, den Mann zu untersuchen. Der Abt nahm di Barbaro am Arm, und sie gingen zusammen hinaus.

»Was meinst Du?« flüsterte der Conte.

»Er ist von den Toten auferstanden ...«, sagte der Abt.

»Es würde mich nicht wundern, wenn er auch noch in den Himmel auffährt«, erwiderte di Barbaro, »Du wirst die Glocken läuten lassen, und Venedig hat endlich einen neuen Heiligen, der den alten San Marco bald in den Schatten stellen wird.«

»Jetzt wird uns die Sache beschäftigen«, sagte der Abt. »Ich ahne, daß uns das Ganze nicht loslassen wird.«

»Dir wäre wohl lieber gewesen, er hätte sich schnell ins Grab legen lassen?«

»Das habe ich nicht gesagt«, lächelte der Abt. »Ich weiß nur, daß solche Auferstandenen manchmal zu predigen anfangen.«

»Das wäre das Schlimmste, was er uns antun könnte«, sagte di Barbaro.

Der Arzt trat aus der Krankenstube und schüttelte den Kopf so demonstrativ, als spielte er eine Szene. »Die Atmung ist normal, auch das Herz schlägt wieder regelmäßig.«

»Und wie erklären Sie uns das, dottore?« fragte der Conte.

»Erklären?! Wie kann man so etwas erklären?«

»Sagen Sie nicht, es sei ein Wunder. Für Wunder ist unser ehrwürdiger Freund hier zuständig.«

»Es gibt solche Fälle«, sagte der Arzt ausweichend und betont langsam, als müßte er sich an ein längst vergessenes Wissen erinnern, »es gibt sie, sehr selten, äußerst selten, besser gesagt! Es handelt sich um eine Art Scheintod. Die Atmung ist so schwach, daß man sie nicht bemerkt, auch die Herztätigkeit ist eingeschränkt. Der Lebende ähnelt einem Toten.«

»Und wie erreicht man diesen angenehm unaufwendigen Zustand?«

»Darüber weiß man beinahe nichts, Conte di Barbaro. Unser Freund könnte etwas Giftiges zu sich genommen haben, auch eine Verletzung am Kopf könnte die Ursache sein. Ich werde das in den nächsten Tagen genauer erforschen. Jetzt braucht der Kranke jedenfalls Ruhe. Ich werde mich um ihn bemühen, ich werde nicht von seiner Seite weichen, bis er uns selbst erklären kann, was ihm zugestoßen ist.«

»Wie lange wird das dauern?« fragte der Abt.

»Einige Tage«, antwortete der Arzt, »wenn man meinen Anweisungen folgt und jede Störung vermeidet.«

»Sagen Sie Bruder Ennio, was Sie brauchen«, sagte der Abt und nahm den Conte am Arm. Sie gingen langsam den Flur entlang, nachdenklich und versonnen, als müßten sie sich anstrengen, eine Lösung des Rätsels zu finden.

»Er ist ein Prinz aus Mantua«, sagte di Barbaro leise. »Sie haben ihn in der Lagune ausgesetzt, weil er seine Mutter geschwängert hat.«

»Paolo, ich bitte Dich! Er ist ein Meeresjünger, ein Heiliger, auf den die Fische hören!«

»Oh, auch gut! Aber warum haben die Fische ihn dann nicht an Land getragen?«

»Weil der heilige Petrus dagegen war! Der heilige Petrus ist eifersüchtig in diesen Dingen!«

Sie erreichten wieder den Kreuzgang. Der Conte blickte kurz hinauf zu den Sternen. »Ich kann jetzt nichts essen«, sagte er. »Keine Polenta, keinen Risotto, vor allem aber keinen Risotto mit Fisch! Du verstehst das, mein Lieber?«

»Ich verstehe«, sagte der Abt, »aber versprich mir, daß Du mich bald wieder besuchst.«

»Wenn man mit unserem Auferstandenen reden kann, werde ich kommen«, lächelte der Conte. »Dann essen wir etwas Passendes, Petersfisch zum Beispiel.«

»Ich erwarte Dich«, sagte der Abt und begleitete seinen Freund zu der Stelle, wo die Gondolieri des Klosters warteten. Sie umarmten sich wieder, dann stieg Paolo di Barbaro in eine der schwarzen Gondeln und ließ sich zu seinem Palazzo bringen.

3

Am nächsten Morgen erwachte er sehr früh. Seit einigen Monaten gelang es ihm nicht mehr, länger als bis zum Sonnenaufgang zu schlafen. Obwohl die Fenster des Schlafzimmers mit dicken Vorhängen verdunkelt und die Holzläden geschlossen waren, schienen die ersten Sonnenstrahlen einen geheimen Weg in sein Hirn zu finden. Selbst im tiefen Dunkel seines Gemachs glaubte er die frühe Helligkeit wahrzunehmen, so unvermittelt und stark, als griffe ihm das Licht unter den Kopf, um ihn aufzurichten.

Di Barbaro erhob sich. Sobald ihn das verborgene Strahlen geweckt hatte, ging er zu den Fenstern, um die Läden einen Spalt zu öffnen und die Morgenluft hineinziehen zu lassen. Dann legte er sich für einige Minuten noch einmal hin, schwerfällig und zitternd, wenn der Wind hereinfuhr. In dieser Lage spürte er die Kühle des großen Baus. Jeden Morgen mußte er sich langsam gegen diese Kühle anstemmen, als sollte er den gewaltigen Bau beleben und den Tag über auf seinen Schultern tragen, bevor er in den Nachtstunden wieder im Wasser versackte.

Jetzt hörte er die ersten Geräusche, das feine, in den Morgenstunden noch hohe Schlacken des Wassers, die Stimmen der Verkäufer vom nahen Markt, den stechenden Schrei einer Möwe, der in den Kanälen nachhallte. Unten wurde gerade das große Tor zur Eingangshalle geöffnet; undeutlich hörte er die Begrüßungsrufe der Männer, die mit einem Lastboot wenige Ruderschläge ins Innere des Palazzos vorstießen, wo die Waren entladen und in den Lagerräumen verstaut wurden.

Eine Handvoll Sonnenstrahlen hatte sich in das Zimmer geschmiegt und legte sich wie eine klebrige Spur auf die dunkelblauen Tapeten. Das kleine Handkreuz auf dem Tisch neben seinem Bett leuchtete. Di Barbaro regte sich nicht; in diesen ersten Minuten konnte er noch an allem teilhaben, ohne sich um etwas kümmern zu müssen. Daher liebte er diese Stunden, von denen keiner seiner Diener etwas ahnte. Er brauchte ihnen keine Aufträge zu erteilen, das Leben geriet allmählich von selbst in Bewegung.

Nach einigen Minuten stand er auf, kleidete sich in einen leichten seidenen Mantel und setzte sich an den schmalen Schreibtisch, der vor Jahren im Zimmer seiner Mutter gestanden hatte. In der meist klemmenden Schublade pflegte er nur ein einziges Buch aufzubewahren, in dem er an jedem Morgen eine Zeitlang las, wenige Zeilen nur, immer wieder, als wollte er seine Gedanken mit diesen herbeizitierten Worten füttern. Er blätterte und wartete, bis ihn einige Verse lockten: »Allein und sinnend durch die ödsten Lande/ geh’ ich mit langsam abgemessnem Schritte,/ die Augen halt ich fluchtbereit, wo Tritte/von Menschen sind zu sehn, geprägt im Sande ...«

Aus einer gewissen Anhänglichkeit las er gern in den Versen des alten Petrarca. Vor über vierhundert Jahren hatte er hier in Venedig gelebt, in einer Vergangenheit, die er, Paolo di Barbaro, sich vorstellen konnte, als handelte es sich um seine Jugendtage. Nichts war vergangen, in Venedig gab es nur eine einzige Gegenwart, die Gegenwart des Alters, die begonnen hatte, als man den Leichnam San Marcos aus dem Orient hierher geschafft hatte. Von da an hatte die Stadt sich vollgesogen mit seinen Aromen, bitteren, weichen Altersaromen, die alle Jugend und alles Neue vertrieben.

Di Barbaro legte das Buch zur Seite. Wie schön und gelassen das doch gesagt war – »allein und sinnend«; so allein, so sinnend war er in der gestrigen Nacht nach Hause zurückgekehrt und hatte sich, nach der kurzen Begrüßung durch seinen Kammerdiener, in seine Zimmer zurückgezogen. Er hatte unruhig geschlafen, noch am heutigen Morgen beschäftigten ihn die Ereignisse der Nacht. Er hätte gerne mit jemandem darüber gesprochen oder sie jemandem erzählt, doch mit wem hätte er sprechen können?

Er ließ das Buch in der Schublade verschwinden und nahm einige Blätter hervor. Er holte sich Feder und Tintenfaß, gürtete den seidenen Mantel enger und begann zu schreiben: »Lieber Antonio, ich muß Dir berichten, was gestern geschah. Ich war auf der Jagd, mit den Jägern aus Pellestrina, die Dir bekannt sind. Die Jagd in der Lagune wird mit den Jahren zu einer immer größeren Freude, warum das so ist, werde ich Dir vertraulich erzählen, wenn wir uns wiedersehen. Gestern überraschte uns, kurz bevor die Sonne ins Meer sank, ein Boot ...«

Di Barbaro wußte, daß sein Bruder auch die Andeutungen verstand. Sie waren zusammen aufgewachsen, nur durch zwei Jahre voneinander getrennt. Und doch war Antonio immer der um vieles Jüngere gewesen, ein schneller, eifriger, in Gesellschaft aufblühender Mann, den es schon früh in die fernen Länder gezogen hatte. Meist sahen sie sich zwei- oder dreimal im Jahr, und immer waren diese Treffen von einer seltsamen Übereinstimmung getragen, als reichte diese wenige Zeit, um sie daran zu erinnern, wie gut sie sich im Grunde verstanden. Für einen längeren Zeitraum hätte diese Harmonie vielleicht nicht gereicht, jedenfalls vermieden sie es, die Probe auf ein dauerhafteres Zusammenleben zu machen. Antonio verschwand nach einigen Wochen so unerwartet und überraschend, wie er gekommen war, nachdem sie die Familienangelegenheiten wie zwei erfahrene Geschäftsleute miteinander besprochen hatten, die an übergeordnete Ziele zu denken hatten. Es war ihnen gelungen, den Reichtum der Familie zu mehren, doch über die Zukunft sprachen sie kaum miteinander, sie wußten beide, daß sie sich diesen ungewissen Zeiten nicht stellten, aus der geheimen Furcht, alles könnte sich von Grund auf ändern.

Der Conte spürte, wie es ihn erleichterte, die Ereignisse des gestrigen Tages aufzuzeichnen. Satz für Satz trennte man sich von ihrem Nachempfinden und schob sie in eine immer größere Ferne, die Ferne des Angeschriebenen. Als er fertig war, überflog er seine Zeilen noch einmal, versiegelte den Brief und legte ihn befriedigt in die Schublade. Er öffnete eines der Fenster weit, horchte kurz auf die lebhafter werdenden Geräusche des Tages und bestellte den Kammerdiener zu sich, der ihm eine Schokolade zu bringen hatte. Er kleidete sich an und wartete, immer gieriger werdend, auf das süße, mit frischem Rahm angedickte Getränk, das er löffelweise zu sich nahm wie eine feste Speise. Er wußte, daß man jetzt auf ihn wartete, alle Winkel des großen Baus warteten jetzt auf sein Erscheinen, er mußte sich zeigen; so verließ er das Schlafzimmer.

Unbewußt zog er den Kopf etwas ein, als er das abgedunkelte Umkleidezimmer betrat. Er blickte durch eine geöffnete Tür in die weite Flucht der Räume, in denen noch die Morgenstille nistete. Er erreichte den kleinen Salon mit den Deckenfresken der Vier Jahreszeiten, dreist und prall grinsenden Faunen und tanzenden Mädchen in Blumengewändern, deren Heiterkeit er nicht ausstehen konnte. Dann der große Speisesaal, mit den gewaltigen Leuchtern aus Murano und den aufdringlich hohen Spiegeln an jeder Seite, an der Decke das Allerheiligste, eine Apotheose der Familie di Barbaro, tapfere Feldherren, Engel, die sie direkt in den Himmel führten, eine einzige Gloriole des Ruhms seines Geschlechts, das zu den ältesten der Stadt gehörte und seine Wurzeln bis zu den Römern zurückdatierte. Weiter, in den grünen Salon, auch er an den Wänden voller Gemälde mit den Heldentaten der Ahnen, einer siegreichen Seeschlacht vor Zypern, dem Einzug eines Gesandten in Konstantinopel oder der feierlichen Ankunft eines di Barbaro auf der römischen Piazza del Popolo.

Solch ein Morgengang trug ihn zurück in die unendliche Weite des Vergangenen, Raum für Raum fühlte man sich aufgerufen, vor dem Tribunal dieser Dynastie bestehen zu müssen. Endlich der große Portego, der Festsaal, der die ganze Tiefe des Palazzo durchmaß, mit seinen Balkonen zur Wasser-und zur Landseite, mit den schweren, bemalten Kassettendecken, den hellen, wie in sirrender Luft erscheinenden Allegorien der Weisheit, Treue und Beständigkeit, die oberhalb der Türen nach den Eintretenden griffen, und dem breiten, sich labyrinthisch auf der Schauseite verankernden Stammbaum der Familie, einem Himmelskoloß von einem Baum, mit unzählbaren Ästen und Zweigen, der in der Krone immer mehr ausdünnte, bis hin zu seinem, Paolo di Barbaros, Namen und dem Namen seines Bruders Antonio, die wie hilf-und blattlose Andeutungen darauf warteten, sich mit anderen Linien und Zweigen zu verbinden.

Der Conte ging die breite Treppe hinunter zur ebenerdigen Empfangshalle, deren großes, schmiedeeisernes Tor sich so zum Wasser hin öffnete, daß Lastboote und Gondeln ins Haus einfahren konnten. Hier lauerte das hellgrüne, sonnenbekränzte Leuchten der Flut, die die schmalen Treppenstufen mit Tang einschlierte, Stufen, auf denen man ins Wasser hätte eintauchen können, wie ein Fisch, der das Weite suchte. Auf halber Höhe standen zur Rechten und Linken die Marmorbüsten der männlichen Ahnen auf muschelförmig geschwungenen Konsolen, als sollten sie die Festgäste mit empfangen, die hier abstiegen, in der zu diesen Gelegenheiten mit Hunderten von Fackeln erleuchteten Halle, die nach der anderen Seite einen Zugang zum großen Garten hatte, den di Barbaro an jedem Morgen kurz aufsuchte.

Unmittelbar an den Palazzo schlossen sich noch gepflasterte, kleine Wege an, die sich dann aber nach allen Seiten verzweigten, zu Schlupfwinkeln führten, zu dichten Laubendurchgängen oder zu kleinen Wäldchen von Granatapfelbäumen, zu einzeln stehenden Zypressen, zu Piniendächern, Oleanderhainen und mit Lorbeerbäumen gesäumten Pfaden, zwischen denen unvermutet kleine Statuen erschienen, eine lächelnde Nymphe oder ein Amor mit Kinderhut. Im hinteren Terrain dann stieß man auf das große Wasserbecken mit den Seerosen und einer Poseidon-Figur, einem sich quer über den Rand räkelnden, bärtigen Gesellen, bevor man im dunkelsten, geheimsten und stillsten Bezirk des Gartens auf ein kleines, gläsernes Türmchen traf, zu dem von zwei Seiten jeweils vier Stufen hinaufführten. Im Innern gab es nichts als einen runden Tisch und zwei halbkreisförmige Bänke, die Glasfenster waren von Glyzinien überwuchert, die sich längst bis hinauf zur Spitze des Türmchens ausgebreitet hatten, wo sie wie ein Wasserschwall überlappten und ziellos ins Blau schossen.

So weit ging der Conte am Morgen nie. In seiner Kindheit war er einige Male bis zu dem zugewachsenen Glasbau vorgedrungen, es war der Raum intimer, geheimer Gespräche gewesen, Gespräche von der Art, wie sie sein Vater manchmal mit einem Freund oder Bekannten geführt hatte, Gespräche zu zweit, die niemand hatte belauschen dürfen. Jetzt aber hatte lange schon niemand mehr diesen Raum betreten, auch er gehörte in die alten, vergangenen Tage, wie die meisten Pflanzen; die Ahnen hatten die seltsamen Züchtungen von ihren weiten Fahrten mitgebracht, Züchtungen, deren exakte Namen man mit der Zeit vergessen hatte und um die sich nun ein Gärtner kümmerte, das ganze Jahr lang.

Wie alle großen Familien der Stadt waren die di Barbaros durch den Handel reich geworden, durch ihre Schiffe im östlichen Mittelmeer, eine eigene Flotte, die unablässig unterwegs gewesen war, zwischen Alexandria, Konstantinopel, Kreta und Zypern, doch diese reichen Zeiten des Handels waren längst vorbei, das Geld hatte man allmählich in Landbesitz verwandelt, in große Güter, Weinberge und Ländereien, für die jetzt ein Verwalter zuständig war, der bald erscheinen würde, oben, in den kühlen Räumen der Bibliothek, wo der Conte seine Geschäfte zu erledigen pflegte.

Mehr als den alten Palazzo liebte er den großen Garten, am frühen Morgen war er oft geradezu süchtig nach dem Geruch von Erde und Pflanzen, nach feuchtem Gras und dem Urin der zahllosen, herumstreifenden Katzen. Es war, als wollte er sich vergewissern, daß es auch noch das Land gab, das blühende, schwere, sichere und beständige Land, das man dieser Wasserstadt abringen mußte wie einen kostbaren Schatz. Sein Vater hatte den Garten erneuern lassen, tonnenweise war die lehmige, rostbraune Erde Venetiens herbeigeschafft worden, dazu Steine aus Istrien, runde Tische mit schweren Sockeln und granitene Tischplatten aus dem Gebirge. Er, Paolo di Barbaro, hatte dafür gesorgt, daß diese versteckte, für Fremde nicht zugängliche Pracht erhalten blieb, jede Erdkrume bedeutete eine Art Luxus, etwas, das man in Venedig teuer bezahlen mußte, weil alles in dieser Stadt dem Wasser entzogen oder mit Gewalt ins Wasser gerammt werden mußte.

Die hohen Mauern und Hecken ließen keinen Einblick von irgendeiner Seite zu, nur von einem einzigen Ort aus konnte man den Garten etwas überblicken, von einem Altan, einem hochgelegenen, wie ein rechteckiges Storchennest auf vier hölzernen, schmalen Beinen schwebenden Balkon des Nachbargebäudes, das die Familie Nardi besaß. Die Nardis gehörten nicht zum alten Adel Venedigs, sie hatten sich erst vor vierhundert Jahren, nach einem Krieg gegen Genua, als die Republik Geld gebraucht und gegen hohe Summen Adelstitel vergeben hatte, in das Patriziat eingekauft. Jeder wußte, daß die Nardis gegenüber den di Barbaros nicht bestehen konnten, mochten sie sich noch so sehr mühen, auch die Räume ihres Palazzo mit Bildern gewonnener Seeschlachten und trompetenden Allegorien zu schmücken, die den Ruhm der Familie in den Himmel schmetterten.

Der Conte hielt daher zu ihnen Distanz, obwohl er nicht zögerte, ihre ebenfalls spärlichen Überbleibsel zu seinen Festen einzuladen. Das Haupt der Familie war der beinahe achtzigjährige Giovanni Nardi, ein Mann, den di Barbaro schon deshalb haßte, weil er seinen Vater bereits um zehn Jahre überlebt hatte. Es war nicht zu verstehen, wie dieser nörglerische, griesgrämige Mensch so alt werden konnte, ein Mann, der immer wieder als schwerkrank galt, nahe am Tode, und es doch jedesmal wieder geschafft hatte, sich ins Leben zu retten.

Di Barbaro blickte kurz zu dem Altan hinauf, als wollte er sich vergewissern, daß er nicht beobachtet wurde. Anders als erwartet sah er jedoch dort eine Dienerin, die das Stangengerüst des Balkons abwischte. Er trat hinter eine Zypresse, um nicht gesehen zu werden. Anscheinend sollte der Altan hergerichtet werden. Eine kurze Weile verfolgte der Conte die Anstrengungen der Frau, das Auslegen eines Teppichs auf dem Boden, das Herbeiholen von Tisch und Stühlen, das Ausbreiten von Decken, die über das Geländer gehängt wurden und wie bunte Fahnen sacht im Wind flatterten.

Als jedoch nach Beendigung dieser Arbeiten niemand erschien, trat di Barbaro aus seinem Versteck, kehrte in die Empfangshalle zurück, blickte noch einmal kurz zurück in den Garten und ging eilig die Treppe wieder hinauf. Auf den letzten, oberen Stufen erkannte er Carlo, seinen Diener, der ihn bereits zu suchen schien.

»Guten Morgen, Signor Paolo!«

»Guten Morgen, Carlo! Was gibt es Neues?«

»Signore, man erzählt sich in der Stadt von einem Wunder. Im Kloster von San Giorgio ist einer von den Toten auferstanden!«

»Carlo! Glaubst Du an solche Märchen?«

»Man hat ihn tot im Wasser gefunden und ...«

»Wer hat ihn gefunden, Carlo?«

»Ich weiß es nicht, Signore. Irgendwelche Menschen, vielleicht einige Mönche, haben ihn tot im Wasser gefunden. Sie wollten ihn zur letzten Ruhe betten, da stand der Tote auf und wandelte durch die Stube wie unser Herr Jesus.«

»Er stand auf und wandelte?«

»So sagt man. Niemand weiß, woher der Heilige kommt. Er ist so schön, daß die Frauen erröten und den Blick abwenden, wenn sie ihn sehen.«

»Die Frauen erröten? Welche Frauen sollten erröten?«

»Seit Sonnenaufgang pilgern sie in Gondeln hinüber zur Insel, Signore. Sie wollen den Fremden berühren. Sie haben Kinder und Kranke dabei, damit er sie segnet.«

Der Conte starrte Carlo an und versuchte zu lächeln. Das Wunder hatte ihn also übereilt und sich noch in der Nacht in Venedig verbreitet. Er schüttelte den Kopf, als wunderte er sich über die kuriosen Nachrichten, und durchquerte den Portego. Auf der anderen Seite drehte er sich noch einmal um.

»Ach, Carlo, und was denkst Du? Ist der Fremde tatsächlich ein Heiliger oder ein Scharlatan?«

»Er ist ein Heiliger, Conte!«

»Und warum bist Du so sicher?«

»Weil Venedig einen Heiligen braucht, mehr denn je!«

Di Barbaro verschwand, als wollte er diese Mitteilungen loswerden, mit raschen Schritten in der Bibliothek. Er hatte zu tun; zwei, drei Stunden lang hatte er nun mit seinen Geschäften zu tun.

4

Als die junge Caterina Nardi am späten Morgen den Altan betrat, sah sie zuerst die kaum unterbrochene Kette der Gondeln, die sich von San Marco hinüber zum Kloster San Giorgio hinzog. Wie ein Magnet schien das Kloster die Gondeln anzuziehen, sie stauten sich bereits vor der Anlegestelle wie eine dunkle, langsam hin und her wandernde Traube.

Caterina schaute eine Zeitlang dem Schauspiel zu, dann nahm sie Platz. Giulia, die alte Amme, hatte den Altan für sie geschmückt, der festlich hergerichtete Platz sollte die ins Elternhaus heimgekehrte Tochter begrüßen. Denn schon wenige Monate nach ihrer Geburt war Caterina, wie die meisten adligen Töchter, in ein Kloster auf der Giudecca gegeben worden. Dort hatte sie über zwanzig Jahre verbracht, aufgezogen von einer Schar älterer, längst müde gewordener Nonnen, die sich den Aufenthalt gut hatten bezahlen lassen. Sie hatte singen, lesen, rechnen und nähen gelernt, und die Jahre waren so langsam vergangen, daß sie manchmal geglaubt hatte, die Bäume des Klostergartens wachsen zu sehen.

An hohen Festtagen hatte sie ihre Eltern besuchen dürfen, für zwei, drei Tage hatte sie ihr sonst unbewohntes Zimmer in dem alten Palazzo bezogen, so wie ihre zwei Schwestern, die ebenfalls in Klöstern aufwuchsen, weitab vom Elternhaus. Giovanni Nardi hatte seine erste Frau früh verloren und im hohen Alter eine viel jüngere geheiratet, die ihm drei Töchter geschenkt hatte, in so rascher Folge und so auf den ersehnten männlichen Erben aus, daß auch sie nach der dritten Geburt bald gestorben war. Mit der Zeit hatte Giovanni Nardi sich mit seinem Mißgeschick abgefunden, Spötter hatten schon behauptet, er habe seine beiden Frauen und die drei Töchter längst vergessen, bis er plötzlich den Wunsch geäußert hatte, Caterina, die Älteste, um sich zu haben.

Die meisten brachten diesen Wunsch mit einer Lähmung zusammen, die ihn an den Stuhl fesselte. Den ganzen Tag lang mußte er umhergeschoben oder umhergetragen werden, von einem Fenster des Palazzo zum andern, unaufhörlich den Platz wechselnd, als könnte nichts seine noch immer lodernde Unruhe besänftigen. Wie aus einer Laune heraus hatte er sich mit einem Mal an Caterina erinnert, tagelang hatte er plötzlich von nichts andrem gesprochen als von seiner »schönsten, ältesten Tochter«, es hatte sich angehört, als spräche er vom Liebsten, das ihm geblieben sei, und so hatte man auf Anraten des Arztes, der diese Stimmungen bereits mit dem nun doch nahenden Ende des alten Mannes in Verbindung gebracht hatte, nach Caterina schicken lassen.

Ihr aber war der Wunsch des Vaters, sie zu sehen, mehr als ein Befehl gewesen. Sie hatte ihm das Versprechen abgetrotzt, nie wieder ins Kloster zurückkehren zu müssen, schwarz auf weiß hatte er es ihr geben müssen, und erst als sie seine Unterschrift unter dem von ihr aufgesetzten Kontrakt gesehen hatte, hatte sie sich bereit erklärt, ihm in seinen letzten Tagen zur Seite zu stehen.

Innerlich aber jubilierte sie. Nichts hatte sie sich sehnlicher gewünscht als das Ende der Klostertage, das Ende einer eintönigen und schlimmen Leidenszeit, in der sie niemand andren zu Gesicht bekommen hatte als die übrigen Zöglinge und die mißmutigen, überforderten Nonnen, die sich längst keine Mühe mehr gegeben hatten, den Mädchen etwas beizubringen. Seit gestern aber war diese Zeit vorbei, Caterina Nardi hatte heimgefunden in ein Reich, das sie von nun an mitzugestalten gedachte. Zum Glück war Giulia all die Jahre geblieben, neben dem Vater und ihren Schwestern war sie der einzige Mensch, der seit ihrer Geburt zu diesem Hause gehörte, ein Ersatz für die früh verstorbenen Frauen, von denen niemand mehr sprach.

Caterina lehnte sich gegen die Brüstung. Der hohe, heitere Platz mit der weiten, bis zum Horizont reichenden Aussicht war genau der richtige Ort für diesen ersten Morgen zu Haus. Am liebsten wäre sie hinabgesprungen in das Getümmel, um sich unter die Menschen zu mischen! Den Nächstbesten hätte sie ausgefragt, nach den neusten Geschichten, und ohne Umschweife wäre sie zur Piazza San Marco gelaufen, zu den Kaffeehäusern und Läden, wo sich die meisten Fremden herumtrieben, von denen sie gerade die hätte kennenlernen wollen, die am weitesten gereist waren und die phantastischsten Gewänder trugen!

Doch sie wußte, daß es unmöglich war, den Palazzo allein zu verlassen. Keine junge, unverheiratete Frau ihres Standes durfte sich so in der Stadt sehen lassen. Wäre sie verheiratet gewesen, so hätte sie wie alle anderen verheirateten Frauen auch einen Cicisbeo gehabt, einen Kavalier ihrer Wahl, der sie den ganzen Tag begleitet hätte und zuständig gewesen wäre für ihre Vergnügungen. Ihren Mann aber, ihren Mann hätte sie nur selten zu Gesicht bekommen, die verheirateten Männer lebten ihr eigenes Leben und überließen ihre Frauen den Kavalieren oder übernahmen selbst diese Rolle bei einer anderen Schönen. Niemals tauchten Mann und Frau daher zusammen auf, im Gegenteil, sie gingen sich aus dem Wege. Dieses getrennte Leben aber hätte sie, Caterina, nicht weiter gestört, eher war es ja der Beginn eines freieren, von niemandem eingeschränkten Daseins, das die meisten Frauen genossen.

Ohne verheiratet zu sein aber durfte sie höchstens in den frühsten Morgenstunden in Begleitung zweier Diener zur Kirche eilen. Sie hatte den Blick auf den Boden zu richten, als ginge sie die ganze Umgebung nichts an, während sie sich in Wahrheit noch nach dem einfachsten Leben sehnte, nach einem Gang über den Fischmarkt, nach einem Gespräch mit einer Blumenverkäuferin, nach dem Eintauchen in die Menschenmengen, trunken von all den neuen Eindrücken. Da ihr das alles aber untersagt war, kam es ihr so vor, als hätte sie bisher nicht gelebt; sie kannte die Stadt nur durch Gerüchte, weitergegeben im nächtlichen Flüstern ihrer Klosterfreundinnen, nie hatte sie bisher einen einzigen Laden betreten, selbst die Schneider und Schuster waren ins Kloster oder in den Palazzo bestellt worden, damit nicht gegen die guten Sitten verstoßen wurde. Ein solches Frauenleben, hatten die Freundinnen sich erzählt, gab es nur in Venedig. Nur hier waren die unverheirateten Mädchen des Adels dauerhaft Gefangene und vom Treiben der Welt ausgeschlossen, nur hier konnten die verheirateten andererseits tun und lassen, was ihnen beliebte. So war denn die Heirat auch die Sehnsucht aller gewesen, von nichts war im Kloster häufiger die Rede gewesen als von der Heirat: jemanden heiraten, um frei zu sein, irgendwen, und wäre es der lächerlichste Kerl gewesen, schließlich hätte man das Leben nicht mit ihm zu teilen brauchen!

Von diesem Altan aus aber konnte sie zumindest wie aus einem Versteck teilhaben an ihrer Umgebung. Sie konnte die Augen schließen und den Geruch der nahen Häuser einatmen, den Duft des wuchernden Grüns aus dem benachbarten Garten, den salzigen Dunst von Wasser und Tang, ja selbst den Gestank des Abfalls, der manchmal tagelang in den Gassen faulte! All diese Gerüche wirkten auf ihre Sinne so maßlos wie die Düfte des Paradieses, sie gehörten zu dem lebendigen Dasein, nach dem sie sich sehnte und das ihr noch verwehrt war, solange ihr Vater sich nicht entschieden hatte, einen Mann für sie zu finden. Es gehörte sich nicht, den Schwerkranken darauf anzusprechen, niemand wußte, ob er überhaupt noch an eine solche Heirat dachte, jedenfalls sprach er nicht davon, sondern zog sich zurück auf seine letzten, späten Passionen, das gierige Naschen von Gebäck, nach dem er die Diener durch die ganze Stadt ausschickte, oder das Wiederkäuen einiger Zeilen aus einem verstaubten Buch, aus dem sie ihm vorlesen mußte.

Jetzt kam Giulia endlich. Sie hatte den Vater mit Melissengeist eingerieben, von Kopf bis Fuß, so erfrischt hielt er es eine Zeitlang an einem Platz aus. Am frühen Morgen aber war sie für fast zwei Stunden in der Stadt gewesen, Caterina hätte gerne mit ihr getauscht, wie herrlich wäre es gewesen, in Begleitung eines einzigen Dieners, der die gekauften Waren zu tragen hatte, durch die Gassen zu gehen!

»Dort, schau!« rief sie und deutete in die Ferne, wo der dunkle Zug der Gondeln jetzt schon paarweise nach San Giorgio aufbrach, »siehst Du die Prozession?! Alle wollen ihn sehen!«

Giulia hielt die rechte Hand über die Augen und schaute hinüber. Dann setzte sie sich mit einer Stickerei neben Caterina. »Man spricht von nichts anderem«, sagte sie, »er soll so schön sein, daß es einen heiß durchfährt, wenn man ihn anschaut.«

»Wer ist er? Was meinst Du?«

»Niemand kennt ihn. Man hat ihn nach seinem Namen gefragt, und er hat ihnen geantwortet, daß er Andrea heißt.«

»Nur Andrea? Nichts weiter?«

»Nichts weiter. Man sagt, er redet kaum ein Wort. Nach wenigen wachen Minuten schläft er sofort wieder ein. Er ißt nichts, aber er trinkt viel, sie sagen, er habe schon Unmengen Karaffen mit Wasser getrunken.«

»Und wo kommt er her?«

»Er antwortet nicht auf solche Fragen. Er schüttelt den Kopf und fällt zurück auf sein Lager.«

»Der Arme! Sicher hat man ihn überfallen und ihm seine Kleider geraubt!«

»Man sagt, er sieht aus wie ein Jünger unseres Herrn Jesus!«

»Ach Unsinn, so etwas sagen nur die alten, frömmelnden Frauen, die seine Schönheit nicht mehr wahrhaben wollen!«

»Alte, frömmelnde Frauen, soso, Frauen wie Deine Amme Giulia, solche Frauen?«

»Aber nein, Giulia, Du bist doch keine von denen! Sie haben mich zwanzig Jahre verfolgt, Tag und Nacht, ich hasse sie! Aber nichts mehr davon! Was erzählt man sich sonst, sag doch, was hast Du am Morgen gehört?«

»Der Perückenmacher bei San Giacomo hat mir zugeflüstert, ganz in der Nähe hätten sich ein Hund und eine Katze gepaart. Und, stell Dir vor, die Katze hat sechs Junge zur Welt gebracht, drei mit einem Hundekopf und einem Katzenleib!«

»Nicht so etwas, Giulia, nicht so etwas Häßliches!«

»Auf dem Markt ist mir Roberto begegnet. Er ist der Sohn des Buchhändlers vom Campo Santa Maria. Er sagt, er hat zu Hause zwanzig Frösche, und er hat ihnen beigebracht, wie im Chor gemeinsam zu quaken. Ist das nicht komisch?«

»Nein, Giulia, das ist es nicht. Du erzählst genau dieselben Geschichten wie meine albernen Freundinnen drüben im Kloster! Jetzt sitzen sie draußen im Garten, am kleinen Springbrunnen, und spielen Karten!«

»Aber was willst Du hören, Caterina? Nichts ist Dir gut genug!«

»Eine heimliche Geschichte, etwas, das sich ganz im Verborgenen zugetragen hat!«

»Etwas Heimliches? Ach, ich verstehe, Du meinst Geschichten wie die vom jungen Francesco, der sich kein Gesicht merken konnte.«

»Kein Gesicht? Was ist das nun wieder?«

»Der junge Francesco hat sich in eine der fünf Töchter des Advokaten Bomboni verliebt. Jedes Mal, wenn er kommt, sie zu besuchen, sitzt sie da mit ihren vier Schwestern, und alle fünf schauen ihn an, und er muß sich zu ihnen setzen. Doch da sie sich sehr ähnlich sehen und sich, um ihn zu ärgern, auch ähnlich kleiden, verliebt er sich immer neu. Einmal lächelt er Chiara an, dann Bianca, dann ist es wieder Carlotta! Er weiß schon nicht mehr, wo ihm der Kopf steht!«

»Oh, das ist gut, liebe Giulia, das gefällt mir, das ist ja beinahe wie ein Stück im Theater! Er kniet hin und reicht Bianca einen Strauß Blumen, und kaum hat er sich umgedreht, steht Chiara vor ihm und spielt dann die Bianca, und so verwandelt sich die eine immerfort in die andere, und unser Francesco kommt schließlich mit fünf Blumensträußen und übernimmt sich mit seiner Liebe. Aber dann wird ihm alles zuviel, und er liebt sie eben alle, heimlich, jede für sich, denn wenn sie nackt sind, kann er sie gut unterscheiden, an vielen Einzelheiten...«

»Caterina! An so etwas denkt eine junge Frau Deines Standes nicht!«

»An so etwas denke ich die halbe Zeit, liebe Giulia! Wie schön wäre es, einen Verehrer zu haben, wie schön wäre es, ins Theater gehen zu dürfen, am späten Abend, in einer Loge eine Mahlzeit zu sich zu nehmen und die Nacht zu verplaudern, nur zu verplaudern!«

»Wenn Du verheiratet bist, kannst Du tun, was Du willst! Jetzt aber ist Dein Platz hier, an der Seite Deines Vaters!«

»Ach, Giulia, er hört doch auf Dich. Kannst Du ihm nicht etwas einflüstern, mit leisen, unaufdringlichen Worten? Am Ende läßt er mich noch unverheiratet zurück!«

Giulia wandte den Kopf zur Seite und unterbrach die Stickerei. »Er ruft«, sagte sie, »Du sollst zu ihm kommen! Aber hüte Dich, von so etwas zu sprechen! Überlaß es mir, ich weiß schon, wie ich seinen Zorn umgehen kann.«

Caterina streifte den weißen Schleier, mit dem sie wegen des Sonnenlichts den Kopf bedeckt hatte, ab. Nun hörte auch sie das krächzende Rufen ihres Vaters, das aus einem weit geöffneten Fenster drang. Sie legte Giulia den Schleier in den Schoß und stieg langsam die kleine Treppe herunter. Unten saß der Vater in seinem mächtigen, breiten Stuhl, zur Seite gerutscht, als könnte er gleich ganz herausfallen. Er winkte sie zu sich heran, setzte sich mühsam auf und gab ihr ein Buch, aus dem sie ihm vorlesen sollte. Caterina schaute hinein. Es waren Verse von Petrarca, alte, klapprige Verse, die sie langweilig fand, aber er wollte diese Verse hören, die er längst auswendig kannte, und wenn er sie hörte, begann er zu nicken, unaufhörlich, als müßte er jedem Vers zustimmen. Doch nach einiger Zeit hatte er sich so in den Schlaf genickt, sie mußte noch ein Stück weiterlesen, fünf, sechs Minuten, dann hatten die vertrauten Worte ihn einschlafen lassen.

»Wieder Petrarca, Vater? Ach, laß uns doch einmal etwas anderes lesen, etwas Neues, etwas von heute! Wir könnten ein Theaterstück lesen, mit verteilten Rollen, wir könnten eines der neuen, komischen Stücke lesen, die man jetzt im Theater San Angelo spielt!«

Giovanni Nardi antwortete nicht einmal. Er hob nur langsam die Rechte und deutete auf das Buch. Caterina zögerte noch einen Moment, doch als er ein zweites Mal, jetzt drohender, den Zeigefinger streckte, nahm sie einen Stuhl, setzte sich neben ihn und schlug die abgegriffenen Seiten auf. Was verstand Petrarca, dieser alte, einsame Mann, schon von der Liebe? Er bedichtete sie viel zu vernünftig, wie einer, der sie doch nur aus Büchern kannte: »Allein und sinnend durch die ödsten Lande/ geh’ ich mit langsam abgemessnem Schritte,/ die Augen halt ich fluchtbereit, wo Tritte/ von Menschen sind zu sehn, geprägt im Sande...«

Caterina las langsam und feierlich. Doch während sie die schweren, schleppenden Worte sprach, wanderten ihre Gedanken unmerklich hinüber zum Bild des jungen, aus dem Wasser geborgenen Mannes, des Mannes mit dem schwarzen, glänzenden Haar, der erwachte, nur um zu trinken, und der vielleicht von Reichen und Gegenden träumte, die niemand sonst kannte ...

5

Andrea lag still in der schwach beleuchteten Krankenstube. Sie hatten ihm ein weiches, niedriges Bett hergerichtet, mit feinen, weißen Leintüchern, die die Haut kühlten. Die Augen schmerzten am meisten. Wenn er sie nur einen kleinen Spalt öffnete, schoß das schwache Kerzenlicht in seinen Kopf wie eine Garbe von gleißendem Sonnenlicht.

Er lag mit geschlossenen Augen und horchte. Vor dem roten Vorhang, der an Stelle der Tür den Raum verschloß, brodelte das dunkle Gemurmel. Schon vor Stunden hatte es begonnen, ein zunächst verhaltenes, scheues, vorsichtiges Flüstern, das mit der Zeit angeschwollen war zu einem mächtigen Raunen und lauter werdenden Reden. Scharen von Menschen schienen vor diesem Vorhang vorbeizuziehen; ab und zu glaubte er sich durch ein Augenpaar beobachtet, aufleuchtend in dem kleinen Spalt, den der Vorhang frei ließ. Dazu der üble Gestank, ein dichter, immer schärfer werdender Geruch von Schweiß oder Verbranntem, von klebrigem Schmutz oder Unrat, so miteinander vermengt, daß nichts mehr zu unterscheiden war!

Er preßte die Lippen zusammen und versuchte, einen Moment nicht zu atmen. Schon wurde das Geräusch des Wassers wieder lauter, ein ununterbrochener, leichter Wellenschlag, ein Auf und Ab, das ihm Übelkeit bereitete und ihn nicht freigab. Seit er erwacht war, hatte er dieses Geräusch hören müssen, manchmal auch heftiger, als wollte es das Gemurmel verdrängen oder sich aufbäumen gegen die Stimmen. Am liebsten hätte er sich einmal aufgerichtet, doch wenn er den Kopf nur ein wenig bewegte, trat der kleine, zierliche Mönch, der neben seinem Bett saß und unaufhörlich Gebete aus einem schwarz eingeschlagenen Buch flüsterte, an sein Bett und preßte das Wasserglas dicht an seine Lippen. Dann trank er, ohne sich noch zu besinnen. Das lauwarme Wasser sickerte in seine Kehle wie in einen dunklen Kanal, er brauchte nicht einmal zu schlucken. Schließlich fiel sein schwerer, hinten stark schmerzender Schädel gegen das Kissen, ein überhelles Flimmern setzte ein, und er sah wandernde Schilfregionen und winzige Grasflächen, die sich vom Grund lösten und den sich im Wasser spiegelnden Wolken in langsamem Zug folgten.

Schwärme von hellen Vögeln flogen schnee- und silberweiß über seinem Kopf oder fielen ins Wasser wie Steine, die aus dem Himmelsblau ins Blau der glatten Flächen geschleudert worden waren. Dann sah er die stehenden Fischschwärme, Schwärme von kleinen Sardinen, dicht gedrängt, wie von einem Netz gezogen, und Schwärme von Brassen und Barschen, die ihre Flossen kaum bewegten, schwerelos an den klaren, versandeten Stellen, blitzartig den Ruheplatz wechselnd ...

Die großen Fischaugen aber, die ihn aus diesen Tiefen umkreisten, verwandelten sich manchmal in die wandernden, ruhelosen Augen eines älteren Mannes, der ihn, sobald er erwachte, befragte. Er hatte eine tiefe, schwebende Stimme, oft hörte es sich beinahe an wie ein Gesang, doch traf diese Stimme nur einen einzigen Ton, unablässig. Die Fragen kamen schnell hintereinander, er verstand sie kaum, sie verklangen im Raum und wurden begleitet von den kurzen, hastigen Antworten, die der ältere Mann sich selber gab: »er versteht uns nicht«, »er antwortet nicht«, »er zuckt mit den Augenbrauen«, »er schläft«. Wenn er sie mehrmals gehört hatte, entfernten sich diese Sätze in den hellen, offenen Raum der Lagune, wo sie dann langsam verhallten.

Am liebsten hätte er das taumelnde, unablässig schwankende Boot endlich verlassen, um über Bord zu gleiten. Manche Fische konnte er mit bloßen Händen greifen, so schnell war er; vor allem aber durchdrangen seine Augen selbst die morastigen Untiefen, so leicht, daß er in diesem braunen Wirrwarr selbst die sich gut verborgenen Muränen erkannte, die in diesen Schlammgründen hausten, oder die weichen, geschmeidigen Aale, die im Schilf schimmerten, als seien sie zu Pflanzen erstarrt ...

Manchmal erwachte er dadurch, daß sie ihn abtasteten. Zwei feuchte, leicht zitternde Finger zogen seine Augenlider auseinander, trommelten sanft auf seine Brust, beklopften den Bauch und streiften durch seine Haare. Dann wurde er mit einer eiskalten, brennenden Flüssigkeit eingerieben, sein Mund trocknete aus, die Mundhöhle schrumpfte langsam zusammen wie ein Pilz, die Zunge wurde dick und pelzig, bis die Lippen zu zucken begannen, und der kleine, zierliche Mensch wieder aufstand und seinen brennenden Rachen mit Wasser füllte.

Daß dieses Gemurmel kein Ende nahm! Es hörte sich jetzt an wie ein lautes Flehen, Litaneien tönten darin, Gebete, manche flüsterten ihm auch seinen Namen zu, doch er hätte sich am liebsten von ihnen abgewandt und wäre in der Stille des Wassers verschwunden, das er so gut kannte ...

Doch ihm fehlten die Ruder. Die Sonne brannte, es gab keine Nacht mehr; selbst wenn es etwas kühler wurde, hielten sich doch die helleren Farben, schlierige Ockertöne, Goldkaskaden und ein immer wieder zerfließendes, ölig schweres Orange.