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Sind die Tage des Westens gezählt, ist er in seiner Vitalität erschöpft? Europa und Nordamerika werden jedenfalls massiv von außen bedroht: politisch, wirtschaftlich, demographisch. Die wohl größte Gefahr aber lauert im Inneren: Geburtenschwund, Bildungsmisere, Konsumismus, Milliardärssozialismus, Weltrettungs-Moralismus, Infantilismus, schwindende Verteidigungsbereitschaft, De-Industrialisierung, getrieben von einer schier suizidalen Sehnsucht nach dem eigenen Verschwinden aus der Geschichte. Es ist ein »wokes«, anti-aufklärerisches Gebräu aus Ideologien bzw. Ersatzreligionen, das geradezu rauschhaft in eine dekadente Epoche hinzuführen droht. Werden die freiheitlichen Demokratien fortbestehen? Sicher nur durch die Besinnung auf die Werte und Prinzipen, die den Westen einst groß gemacht und die Welt bereichert haben. Notfalls auch, indem der Westen transatlantisch zu einer intellektuellen Festung wird. »Dekadenz ist das Ergebnis von Wohlstand ohne Weisheit, Freude ohne Dankbarkeit und Macht ohne Verantwortung.« G. K. CHESTERTON
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Seitenzahl: 383
»nicht ratsam ist’s, verfall / verfall zu nennen / vor der katastrophe«
Reiner Kunze (*1933) im Gedicht »Teurer Rat« (2006)
»Civilizations die from suicide, not by murder« – »Zivilisationen/Kulturen werden nicht ermordet, sie begehen Selbstmord.«
Arnold J. Toynbee (1889–1975)
»Hey, hey, ho, ho, western culture has to go«
Kampfparole der linksextremen Bewegung in den US-Universitäten in den 1990er-Jahren
»Der Mangel an Selbstachtung ist der Beginn dessen, was wir Dekadenz genannt haben.«
Karl Heinz Bohrer (2007)
»… denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht.«
Mephisto in Fausts Studierzimmer
Josef Kraus
Im Rausch der Dekadenz
Der Westen am Scheideweg
Meiner Familie
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ISBN 978-3-7844-8495-2
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Inhalt
Vorwort: Denken Sie selbst!
Teil I: Historische Verortungen
1. 2500 Jahre Dekadenz-Diagnostik
2. Wie »geht« Geschichte?
3. Der Westen zwischen Expansion und Schrumpfung
Teil II: Struktureller und institutioneller Verfall
4. Demokratie als Demokratur
5. Der EU- und Weltstaat-Hype
6. Milliardärssozialisten
7. Deindustrialisierung: Morgenthau 2.0?
8. Un-Bildung und Halb-Bildung
9. Universitäten: Massen- und Wokeness-Fabriken
10. Kapitulation vor zunehmender Kriminalität
11. Armut an Kindern, Atomisierung der Familie
12. Polit-mediale Seilschaften
13. Kirchen als NGO – Ersatzreligionen
Teil III: Ideologische Verirrungen
14. Der Machbarkeitswahn
15. Pink-rosa Marxismus
16. Grenzenlosigkeit
17. Selbstverachtung, Anti-Patriotismus und Hypertoleranz
18. Infantilismus und Verwöhnung allenthalben
19. Humanitarismus und Universalismus
20. Anti-Rassismus und Kolonialismus-Buße
21. Der naive Pazifismus
22. Die Multikulti- und Asyl-Doktrin
23. Islamophilie und 1001 Demutsgesten
24. Retro-Exorzismus und Geschichtspolitik
25. Die Links-Intelligenzia
26. Sprach- und Denkregime
27. Narzisstische Schöpfungen und Er-Schöpfungen
28. Wokeismus – der neue Totalitarismus
29. Roter Faden: Die Lust am Un-Strukturierten
Teil IV: Blick in drei andere westliche Länder
30. USA – went left
31. Großbritannien – »woke« wie die USA
32. Dystopie Frankreich?
Teil V: Wohin am Scheideweg?
33. Der Westen als intellektuelle Festung
34. Westliche Geopolitik und der Westen als Sicherheitsfestung
35. Leitkultur Bürgerlichkeit
Nachwort: Lebt nicht mit der Lüge!
Danksagung
Anmerkungen
Namensverzeichnis
Vorwort: Denken Sie selbst!
Ist ein Buch über Dekadenz nicht selbst ein Dekadenzsymptom? Manchen gilt ja allein schon die Verwendung des Begriffs »Dekadenz« als ewiggestrig und dekadent. Der Globus drehe sich schließlich weiter. Ja, er dreht sich weiter. Aber es fragt sich, welche Rolle dann der Westen, Europa und Deutschland noch spielen werden und wohin die Reise geht, wenn Errungenes und Bewährtes verfällt – lateinisch: »decadit«. Um dies zu erkennen, muss man auch als kleiner, schier ephemerer Zeitgenosse verinnerlicht haben, was das Errungene, das Bewährte ist. So wie es Bernhard von Chartres um das Jahr 1120 schrieb: Aus der Perspektive der Ewigkeit betrachtet, sei der Mensch ein Zwerg, aber auf den Schultern von Riesen könne er weit sehen.
Wohin aber steuern der Westen, Europa, Deutschland? Spielt es eine Rolle, ob die Fahrt auf einem Narrenschiff oder auf der Titanic erfolgt? »Titanic« ist klar: Der Riesendampfer galt als Wunderwerk des Westens, und er galt als unsinkbar. Der Kapitän aber hatte Warnungen vor Eisbergen in den Wind geschlagen. Bis in der Nacht vom 14./15. April 1912 ein riesiger Eisberg dazwischenkam. Die Bordkapelle spielte derweil kräftig weiter und die noblen Passagiere amüsierten sich köstlich. Zwei Stunden und 40 Minuten später gingen die Lichter aus, die »Titanic« versank in den Fluten des Atlantiks und riss 1500 Menschen in den Tod.
Oder segeln der Westen, Europa und Deutschland auf einem Narrenschiff dahin? Wohin auch immer? Sebastian Brandt hat 1494 ein solches Narrenschiff anhand von 112 Narreteien beschrieben. In Kapitel 34 heißt es dort: »Denn eines plagt den Narren sehr: Was neu ist, das ist sein Begehr’; doch ist die Lust dran bald verloren und etwas andres wird erkoren.« Ähnlichkeiten mit der Transformitis einer real existierenden Politik, die keinen Stein mehr auf dem anderen lässt und das für Konstruktivismus hält, sind wohl rein zufällig.
Damit die Reise keine Reise ins Nichts wird, muss sie durchdacht geplant sein, und es muss nachgedacht werden, was man als Navigationshilfe mitnimmt. Vor allem an kultureller, mentaler, intellektueller Ausstattung. Kurz: an Tradition. Ja, das ist konservativ gedacht. Aber es ist nun einmal die Stärke des Konservatismus, dass Traditionen und Werte Orientierung geben. Es sind schließlich Traditionen und Werte, die Freiheiten sowie Bürger- und Menschenrechte geschaffen und in großen Teilen der Welt ein menschenwürdiges Leben ermöglicht haben.
Um im Bild des Schiffes zu bleiben: Wenn der Westen aber seine in Freiheit, Aufklärung und Vernunft begründeten Werte über Bord wirft, sie gar »de(kon)struiert«, wenn Anstrengungen nachlassen und ein saturierter Schlendrian um sich greift, dann obsiegen das Chaos und das Recht des Stärkeren.
Fragen über Fragen, Sorgen über Sorgen
Sind die Tage des Westens gezählt? Ist er ermüdet? Werden antiwestliche Gegenkulturen zur Hauptkultur? Wird es einsam um den Westen? Jedenfalls schwankt der Westen. Nach Jahrhunderten der Europäisierung und Verwestlichung der Welt sehen sich Europa und der Westen massiven Bedrohungen von außen ausgesetzt: wirtschaftlich, demografisch, kulturell, religionspolitisch, militärisch. Siehe die Bedrohungen durch den Islamismus, siehe Chinas expansiven Darwinismus und siehe Russlands Nationalismus.
Die wohl größte Bedrohung des Westens kommt aber von innen: Geburtenschwund, Wohlstandsverwahrlosung, Übersättigung, Nachlassen der Verteidigungsbereitschaft, Selbstzweifel bis hin zu Schuldneurosen, Deindustrialisierung, nihilistische »Moral«, Toleranzdelirium, moralisierende Totalitarismen, suizidale Sehnsucht nach dem Verschwinden aus der Geschichte. Es ist ein totalitär-wokes Gebräu aus Ideologien und Ersatzreligionen, das in schier rauschhafte Dekadenzphasen führt.
Gewiss hat Dekadenz real oder fiktiv mit Niedergang zu tun. Ich bin deswegen kein defätistischer, pessimistischer, nihilistischer Mensch geworden. Aber die Selbstvergessenheit, ja der Selbsthass des Westens sowie die wiederkehrenden, emsig gepflegten Prognosen von Klima-, Pandemie- sowie von sozialen und kosmischen Apokalypsen nerven mich, sie sind selbst ein Dekadenzphänomen.
Gerade Deutschland inszeniert gerne seine eigene Tribunalisierung, das heißt, es zerrt sich vor das Weltgericht, denn wir Deutsche sind ja mit Lust die Ungerechtesten auf der Welt. Diese Selbstverleugnung lässt Deutschland zu einem Land ohne Grenzen werden, das offenbar der ganzen Welt gehören soll. Lässt uns ein weltweit renommiertes Diplom wegwerfen und unsere Sprache denglifizieren. Die Beispiele sind Legion. Jeder persönliche oder kulturelle Abstieg beginnt indes mit Selbstverleugnung und Überangepasstheit. Oder noch härter: Der Verlust der Selbstachtung ist der Beginn des Verfalls. Das gilt für jeden Einzelnen, jede Gruppe, jede Nation, jede Kultur.
Der Westen berauscht sich am Niedergang, statt der Kreativität der Menschen und der Evolution zu vertrauen. Apokalypsen vermiesen das Leben, auch wenn man vor dem Verfall noch schnell die Segnungen der Errungenschaften verkonsumieren will. Apokalypsen verleihen falschen Propheten Macht, deshalb werden sie von ihnen gezielt inszeniert. Apokalypsen fördern einen totalitären Staatsapparat, der vorgibt, alle Gefahren im Ansatz zu ersticken – mittels gesetzlicher Korsette und mittels Bespitzelung, als Erziehungs-, Klima- und Ökodiktatur.
Es ist absurd, dass gerade der Westen solchen Apokalypsen frönt, sie mental befördert, sich ihnen unterwirft. Glaubt er nicht mehr an seine eigene Vitalität? Verteidigt er nicht mehr seine großen Errungenschaften: die Bürger- und Menschenrechte, die Prinzipien Freiheit und Subsidiarität, die Wissenschaftlichkeit des Denkens, die weltanschauliche Neutralität des Staates? Oder ist er dabei, diese Errungenschaften zu pervertieren oder zumindest zu relativieren: als »weiße« Erbsünde? Ist der Westen – masochistisch besessen von Schuldkomplexen – berauscht von seinem Niedergang, befördert er ihn willentlich oder unwillkürlich? Wird auf diesen Rausch eine Ernüchterung folgen? Kann eine Krise, wenn man sie denn erkennt, auch reinigen?
Warum »Rausch«?
Ein Rausch verläuft – sehr individuell – in drei Phasen, wenn man denn die vierte, komatöse Phase weglässt: Erst ist man in der exzitativen/euphorischen, sich selbst überschätzenden Phase. Daraus wird oft eine aggressive Phase – als Aggression nach außen. Schließlich kann eine depressive Phase folgen: Weltschmerz ist angesagt, Depression als Aggression nach innen. Es können je nach Persönlichkeit und Rauscherfahrung bestimmte Phasen endlos verlängert oder auch übersprungen werden. Ob eine Ernüchterung folgt, hängt vom Phasenverlauf und vom Typ der Abhängigkeit ab. Beispiel Alkoholiker: Es gibt die Problemtrinker, die Gelegenheitstrinker, die Suchttrinker, die Spiegeltrinker und die Quartalstrinker. Sie sind unterschiedlich therapiefähig und therapiewillig.
Ob westliche Gesellschaften sich aus ihrem Rausch der Dekadenz befreien wollen und können, ob sie an einen Scheideweg kommen, diesen erkennen und dort den richtigen Weg einschlagen, hängt von einem Leidensdruck und von der Einsicht ab, dass etwas geschehen muss. Wie der Süchtige kann der Westen nur dann sich wieder selbst gewinnen, wenn er unbefangen über sich reflektiert. Selbsterkenntnis ist auch für ihn der Weg nach vorne. Dann kann er verhindern, zu einem abgeschlossenen Kapitel der Geschichte zu werden.
Meinen Beitrag sehe ich darin, Patrioten deutscher, europäischer, westlicher Prägung zu sensibilisieren für, ja zu konfrontieren mit Verirrungen, die eingeschlagen wurden. Auf dass eine Einsicht und ein Leidensdruck entstehen. Noch mehr rauschhaft-politisch-ideologische Verirrung darf es nicht geben. Oder aber ist all dies nur mit der Legalisierung von Cannabis erträglich? Nein, wir sind es unseren Kindern, Enkeln und Urenkeln schuldig aufzuwachen, damit unsere Nachkommen wie wir Älteren ein Deutschland, ein Europa, einen Westen erleben können, der uns Wohlstand, Sicherheit und Freiheiten beschert hat.
An die Leser
Dieses Buch ist keine Fortsetzung meines Buches »Der deutsche Untertan«1. Es ist über drei Jahre des Lesens, Recherchierens, Beobachtens, Sammelns entstanden. Es hätte zwei- oder dreimal so voluminös werden können, weil das Thema »Dekadenz« ein unerschöpflich variantenreiches Thema ist. 800 oder 1000 Seiten waren den Lesern und dem Verlag nicht zumutbar. Dennoch habe ich versucht, sehr viel hineinzupacken. Ein Lehrbuch sollte daraus nicht werden, auch wenn es meine Absicht war, Leser nicht nur zum Nachdenken, sondern auch zum eigenen Recherchieren und Vertiefen anzuregen. Deshalb die über 300 Querverweise und Literaturempfehlungen, die ich in Endnoten eingefügt habe, um den Lesefluss nicht zu bremsen. Man kann das Buch auch lesen, ohne dort ständig nachzuschlagen. Und man muss es nicht Kapitel für Kapitel lesen, sondern kann dieses oder jenes punktuell einzeln herausgreifen.
Vor allem möchte ich dafür sensibilisieren, was jeden Tag im Westen der Welt, im Besonderen in Deutschland, geschieht. Möchte auch dazu motivieren, ein politisches Tagebuch zu führen, das Freunden oder politischen Gegnern als aktualisierte Auflage die Lektüre dystopischer Romane wie »Brave New World« oder »1984« ersetzt.
Es geht um den Westen der Welt. Nicht alle Länder und Gesellschaften, die man zum Westen rechnet, können in diesem Buch berücksichtigt werden. Der Schwerpunkt liegt auf Deutschland, als maßgebliche Vertreter des Westens werden die USA einbezogen, teilweise Großbritannien und Frankreich. Im Angelsächsischen wird ebenfalls über Dekadenz, über »doom« (= Untergang, Verderben) debattiert. Und in Frankreich, das von allen westlichen Ländern immerhin die am meisten kritischen, mittlerweile nicht-linken Intellektuellen hat, ebenfalls.
Den deutschen Lesern möchte ich zurufen: Lassen Sie nicht andere für sich denken, denken Sie selbst, ehe es der Staat, irgendwelche NGOs, Medien, »Intellektuelle«, »Wissenschaftler« für Sie tun.
Die Geschichte jedenfalls belegt: Jeder Abstieg beginnt mit Selbstverleugnung und Überangepasstheit. Noch einmal: Der Verlust der Selbstachtung ist der Beginn der Dekadenz. Geschichtsblinde wollen das nicht sehen. Wer aber die Vergangenheit ignoriert, der muss damit rechnen, sie zu wiederholen – mitsamt ihren Fehlern und Verirrungen, womöglich bis zu einem langsamen und langen Dahinsiechen.
In diesem Sinn meine Erinnerung an die Leser: Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom. Aber auch: Nur wer gegen den Strom schwimmt, kommt zu den Quellen, hier zu den ideellen Quellen, die den Westen stark gemacht haben.
Und mein Appell: Leben wir nicht mit der Lüge!
Teil I: Historische Verortungen
Sorgen um Verfall sind nicht neu, sie begleiten die Menschheit, seit sie besteht und über ihre Existenz nachdenkt. Wer heute über Verfall nachdenkt, tut also gut daran, an diesem Nachdenken von zig Vorgängergenerationen anzuknüpfen. Es wird Aha-Effekte geben, aber auch amüsiertes Kopfschütteln. Dieses Nachdenken soll zu Beginn des Buches in seinem ersten Teil mit drei Kapiteln beginnen.
1. 2500 Jahre Dekadenz-Diagnostik
Dekadenz und Verfall gab es in der Geschichte zuhauf. Viele Bücher sind darüber geschrieben worden. Holger Sonnabend2 beschreibt 50 Reiche, Dynastien, Machtblöcke, die verschwanden. Es waren Staaten und Staatenbündnisse von einer Lebensdauer zwischen einem Tag (Ruthenien in den Karpaten) bis zu Hunderten, gar Tausenden von Jahren: das Römische Reich, das mehr als ein halbes Jahrtausend in Blüte stand, und das Ägypten der Pharaonenzeit mit seiner Geschichte von fast vier Jahrtausenden. Dazwischen eine Sowjetunion (SU), die es auf knapp 70 Jahre brachte.
Es sind Reiche, die zusammengehalten wurden durch Waffengewalt oder Diplomatie oder Heiratspolitik oder Geld. Namentlich nennt Sonnabend etwa: das jüdische Königreich, das Reich der Perser, den Staat der Spartaner, das Reich der Athener, das Reich Alexanders, China unter den Qin und Han, das Reich der Westgoten, das Reich der Vandalen, das Hunnenreich, Byzanz, das Reich Karls des Großen, die Republik Venedig, das Reich der Osmanen, die Maya, Azteken und Inka, das Reich der Habsburger, die Herrschaft Napoleons, das Zarenreich, das britische Weltreich, Preußen.
Norman Davies3 holt nicht ganz so weit aus, er fragt, welche Reiche Europas verschwunden sind. 15 Beispiele beschreibt er, teilweise in Übereinstimmung mit Sonnabend, darunter Burgund (411–1795), Byzanz (330–453), Preußen (1230–1945), Litauen (1253–1795) und die UdSSR (1924–1991). Der deutsche Doyen der Historiker, Alexander Demandt4 samt Mitautoren, analysiert das Ende folgender Weltreiche:Perserreich, Römisches Reich, fränkisches Großreich, Byzanz, das spanische Kolonialreich, die Donaumonarchie, das Osmanische Reich, das japanische Imperium, das British Empire, die UdSSR.
Die Geschichte keines dieser niedergegangen Reiche ist gleich. Weder hinsichtlich des Zustandekommens noch hinsichtlich des Verfalls. Mal waren es Feinde von außen, mal Völkerwanderungen, mal innere Auseinandersetzungen, mal war es der Tod eines Führers. Oft waren es »innere Krankheiten«, die zur Zerrüttung eines Gemeinwesens führten, so bereits Thomas Hobbes im »Leviathan« (1651). Davies nennt an Beispielen fünf Faktoren, die einen Verfall ausmachen: Implosion (UdSSR 1991, Jugoslawien ab 1991, Doppelmonarchie), Eroberung (Byzantinisches Reich, polnisch-litauisches Großfürstentum, Preußen, Estland, Lettland, Litauen 1940), Zusammenschlüsse, Verschmelzungen, »samtene« Scheidungen, etwa von Tschechien und Slowakei 1993. Mal war es eine »friedliche« Revolution, die einem Staat ein Ende bereitete: DDR.
Manchmal waren es Torheiten der Regierenden, wie Barbara Tuchman5 am Beispiel Trojas und der Renaissancepäpste darlegt. Wenn nämlich Regierende den Untergang ins eigene Haus holten (Troja) oder durch das Schisma die Christenheit halbierten (Päpste mit dem Abfall des Protestantismus 1470–1530). Hunderte an Gründen gab es. Demandt zählt allein für den Fall des Römischen Reiches 227 Gründe, die in Geschichtsschreibung und Literatur als mitverantwortlich für den Verfall eines politischen Gebildes geltend gemacht wurden. Insofern gilt die Sentenz: Geschichte wiederholt sich nicht. Aber es gibt Parallelen und einige Muster beim Systemversagen. Auch heute: in »Failed States«, also funktionsunfähigen Staaten wie Somalia, Tschad, Libyen.
Die Zahl der Dekadenz-Diagnostiker ist unüberschaubar, wiewohl man den Begriff »Dekadenz« in den Geschichtswissenschaften hat fallenlassen. Warum? Man darf spekulieren und kann sich an Reiner Kunzes Gedichtzeile vom Beginn des Buches erinnern: »nicht ratsam ist’s, verfall / verfall zu nennen / vor der katastrophe.«
Die Beschreibung von Dekadenzen und Untergängen gab es jedenfalls schon immer. Homer (falls er eine einzelne Person war, ca. 8./7. Jahrhundert v. Chr.) vergleicht den Gang der Geschichte mit Blättern von Bäumen, die fallen, wenn die Zeit gekommen ist. Andere antike Geister nutzen die Metapher der Jahreszeiten. Pythagoras (ca. 570–510 v. Chr.) reklamiert eine Abfolge von Überfluss zu Überdruss zu Übermut zum Untergang. Sallust (34 v. Chr.) geht als einer der Ersten den Ursachen des Verfalls nach: Im Luxus erlahme die Leistungsbereitschaft. Wenig anders Augustinus in »Civitas Dei«: Einfaches Leben sporne zu Anstrengung an, Siege brächten Macht, Macht bringe Reichtum, Reichtum bringe Luxus, und dieser untergrabe die Moral.
Klassisches Beispiel Rom
Das Römische Reich wird gerne als Musterbeispiel für Dekadenz gebraucht. Oder missbraucht? Römische Dekadenz: Ja, aber es wird dabei übersehen, dass Rom erst einmal lange überlebt hat. Doch es gab früh Zeichen von Dekadenz. Bereits Sallust (34 v. Chr.) hatte gemeint: Im Luxus erlahme die Leistungsbereitschaft. Petronius (66 n. Chr.) hat in seinem »Satyricon« in der Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. vor allem die Dekadenz der römischen Oberschicht beschrieben.
Von Edward Gibbon (1776–1781) in: »Verfall und Untergang des römischen Imperiums« und von nachfolgenden Dekadenzforschern werden weitere Gründe für das Verschwinden Roms als großes Reich genannt: ein »imperial overstretch«, also eine Überdehnung des Reiches; ein Ersterben der republikanischen, dann der ökonomischen, schließlich der geistig-religiösen Freiheit; immer mehr Staatsfunktionäre; eine Geldentwertung; obrigkeitliche Zünfte; Verstaatlichungen; Erstarken der Peripherie.
Maßgebliche Faktoren kamen von außen, vor allem die unkontrollierte Masseneinwanderung. 376 n. Chr. gab es einen gewaltigen Flüchtlingsstrom an den Grenzen des »Imperiums«, hier der Donau. Es kamen 200000 Goten, darunter 20000 Soldaten. 410 eroberten die Goten Rom. Am 28. August 476 n. Chr. verkündet der germanische Feldherr Odovacar in Ravenna, dass der letzte weströmische Kaiser, Romulus Augustulus, abgesetzt wurde.
Ein besonderes Problem war ab dem Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. die Armut an Kindern. Augustus ließ deswegen Gesetze beschließen, die Junggesellen, ehelose Paare und Witwen steuerlich schlechter stellten und ihre Erbfähigkeit zurücksetzten. Demgegenüber wurden Familienväter bevorzugt, der Kaiser schuf Ehrenzeichen für Mütter und Prämien für arme Ehepaare, die zahlreichen Nachwuchs hatten. Mitgewirkt am Untergangs Roms hat wohl auch die Ausbreitung des Christentums mit seiner Feindesliebe und dem Ideal der Jungfräulichkeit. So wurden aus vormals zwei Millionen Römern im 7. Jahrhundert nur noch 70000. Aus der Sicht Max Webers schwand damit »die dünn gewordene Hülle der antiken Kultur, und das Geistesleben der okzidentalen Menschheit sank in eine lange Nacht«.
Die Gründe für den Verfall des Römischen Reiches sind also vielfältig. Für Demandt am folgenschwersten war die Schwächung des militärischen Bereichs. Rom sei – wie Karthago – untergegangen, weil deren Bürger nicht mehr zur Selbstverteidigung bereit waren. Außerdem ist für Demandt »Dekadenz die Verbindung verfeinerten Lebensstils mit sinkender Lebenskraft«.
Niedergang und Religion
Während das Judentum eher keinen Weltuntergang kennt, sondern geprägt ist vom Warten auf den Messias, hat die Bibel im Alten und im Neuen Testament eine apokalyptisch-eschatologische Tradition. Es ist diejenige Religion, die sich am ausführlichsten mit einem Jüngsten Gericht befasst und Erdbeben, große Fluten, das Herabfallen des Himmels, Feuersbrünste, vollkommene Finsternis und kosmische Katastrophe prognostiziert.
Am anschaulichsten wird es in der »Offenbarung« des Johannes: »Da entstand ein großes Erdbeben, und die Sonne wurde schwarz wie ein härenes Trauergewand, und der ganze Mond wurde wie Blut, und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde …« Das Christentum scheint geradezu und stets reuig verliebt in die Eschatologie (griechisch: τὰ ἔσχατα), also in die Lehre von den letzten Dingen, fasziniert vom Verfall der »Hure Babylon« sowie der Städte Sodom und Gomorrha, von Apokalypsen (griechisch ἀποκάλυψις), von Gottes Jüngstem Gericht, von der Angst vor dem strafenden Gott, von den »dies irae« (Tagen des Zorns), von Weltuntergängen. Der Theologieprofessor Klaus Berger (1940–2020) erklärt das wie eine gerissene Taktik: »Wer den Horror nicht darstellen kann, wird auch kaum Sehnsucht nach Seligkeit wecken können.«
Weitere Untergangsvisionäre kamen hinzu: Mystiker, Pietisten, Zeugen Jehova. Nicht ganz so anschaulich geht es im Islam zu. In den frühesten Suren ist von einem Endgericht für die Seelen die Rede. Im Buddhismus von einem »finsteren Zeitalter« als vierte Epoche nach Buddhas Geburt.
Auch Dichter und bildende Künstler sind seit jeher von Untergängen fasziniert. Siehe das Sonett »Es ist alles eitel« des Barock-Dichters Andreas Gryphius 1637, inmitten des Dreißigjährigen Krieges:
Du sihst/ wohin du sihst nur Eitelkeit auff Erden.Was dieser heute baut/ reist jener morgen ein:Wo itzund Städte stehn/ wird eine Wiesen seyn/Auff der ein Schäfers-Kind wird spielen mit den Herden.
Was itzund prächtig blüht/ sol bald zutretten werden.Was itzt so pocht vnd trotzt ist morgen Asch vnd Bein/ …«
John Milton schrieb das Epos »Paradise Lost« (1667). Es ging um den Höllensturz der Engel, den Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies. Auch die bildende Kunst mischte mit: Der US-Amerikaner Thomas Cole schuf 1836 den fünfteiligen Gemäldezyklus »The Course of Empire« (Der Weg des Reiches) mit folgenden Stationen: The Savage State – The Arcadian or Pastoral State – The Consummation of Empire Destruction – Desolution. Auch Arthur Schopenhauer (1788–1860) gehörte zu denen, die meinten, dass sich die Welt ständig zum Schlechteren hin entwickle. Er hat daraus eine Philosophie des Pessimismus entwickelt, die Welt als Jammertal betrachtet und jeden Optimismus als kindisch, ja närrisch gebrandmarkt.
Von Nietzsche zu Spengler
Ein großer Diagnostiker der Dekadenz (er schreibt »décadence«) ist Friedrich Nietzsche (1844–1900). Er setzt Vitalismus gegen Dekadenz und gegen Hegels Idealismus, und er geht zugleich, wie bei Ebbe und Flut, von der ewigen Wiederkunft des Gleichen aus. Das heißt: Geschichte wiederholt sich ständig. Es gibt weder Fortschritt noch Rückschritt.
Der in Röcken bei Leipzig geborene Sohn eines früh verstorbenen Pfarrers hält dabei stets fest, dass das Christentum für Dekadenz verantwortlich sei: Als Religion der Schlechtweggekommenen, geprägt vom Erbsündeproblem und einem ewig schlechten Gewissen, sei das Christentum auch schuld am Untergang Roms gewesen. Die christliche »Sklavenmoral« habe Stolz und Selbstbewusstsein korrumpiert und an deren Stelle eine Moral der Demut, Nerven- und Willensschwäche, Reizbarkeit, Sentimentalität, des Pessimismus, der Selbstverachtung, Zerknirschung und des Mitleidens gesetzt.6 Denn: Das Christentum habe radikal mit der »Verfälschung natürlicher Werte« und mit der »Ablehnung nationaler Gemeinschaften« begonnen.
Zwar schreibt es Nietzsche nicht explizit so, aber viele verstehen darin die Prognose: Europa wird an der Mitleidsmoral des Christentums zugrunde gehen. Ähnlich schon Immanuel Kant: Auch er hatte jede Mitleidsmoral mit Entschiedenheit abgelehnt. Sie stehe im Widerspruch zum kategorischen Imperativ, der den Sinn des Lebens in der Tat, nicht im Nachgeben gegenüber weichen Stimmungen sieht. Nietzsche schließlich setzt auf eine »Wiederherstellung des Menschheits-Egoismus« und ein Nein zu allem, was schwach ist.7 Hier könne nur der »Übermensch« helfen.8Dass Nietzsche Dekadenz als Folge des Sieges christlicher Werte betrachtet, sieht der von ihm sehr geschätzte Dostojewskij übrigens völlig anders. Für letzteren ist Dekadenz Folge moralischer Fäulnis und Preisgabe der christlichen Werte.
Ähnlich pessimistisch wie Nietzsche denkt Sigmund Freud (1856–1939): Erbegründet seinen Pessimismus in seinen kulturtheoretischen Schriften: »Jenseits des Lustprinzips« (1920), »Massenpsychologie und Ich-Analyse« (1921), »Die Zukunft einer Illusion« (1927), »Das Unbehagen in der Kultur« (1930). Unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges formulierte Freud seine Dialektik von Destrudo versus Libido, Thanatos versus Eros, Todestrieb versus Lebenswillen. Max Horkheimer (1895–1973) und Theodor W. Adorno (1903–1969) deuten die Geschichte des Okzidents im Sinne von Destrudo schließlich als eine fortschreitende Unterdrückung der äußeren und der inneren Natur. Adorno wörtlich: »Keine Universalgeschichte führt vom Wilden zur Humanität, sehr wohl eine von der Steinschleuder zur Megabombe.«
Zentral in der Dekadenz-Debatte ist nach wie vor Oswald Spengler (1880–1936) mit seinem Werk, dessen Titel vollständig lautet: »Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte«.9 Es ist 1918 in einem ersten Band mit dem Untertitel »Gestalt und Wirklichkeit« und 1922 in einem zweiten Band mit dem Untertitel »Welthistorische Perspektiven« erschienen. Es ist ein Werk mit 1200 Seiten – zuzüglich 50 Seiten Register. Das Buch hatte binnen 20 Jahren nach Erscheinen 75 Auflagen mit über 200 000 Exemplaren erfahren. Zum Zeitpunkt der Genese des »Untergangs« war Spengler Mitte dreißig. Da er bereits mit 56 Jahren starb, darf man annehmen, dass er sein Hauptwerk später überarbeiten wollte.
Vermutlich wurde Spengler angeregt durch die Zweite Marokko-Krise 1911 (Panthersprung nach Agadir) und den erzwungenen Verzicht des Deutschen Reiches auf eine Kolonie Marokko. In der Endphase der Fertigstellung des Werkes dürfte auch die Katastrophe des ersten großen Krieges von 1914 bis 1918 eine Rolle gespielt haben. Da der Titel wohl schon 1912 feststand, könnte Spengler zudem vom Untergang der Titanic am 14./15. April 1912 inspiriert worden sein.
Ideell beeinflusst wurde Spengler von Größen der deutschen Geistesgeschichte. So schreibt er: »Zum Schlusse drängt es mich, noch einmal die Namen zu nennen, denen ich so gut wie alles verdanke: Goethe und Nietzsche. Von Goethe habe ich die Methode, von Nietzsche die Fragestellungen …« Der »Untergang« ist ein Werk, mit dem der Autor Jahrtausende Kulturgeschichte erklären und kommende Entwicklungen voraussagen will. Spengler ist der Überzeugung, dass sich Westeuropa mit einer untergeordneten Rolle begnügen müsse. »Der Untergang« ist gleichwohl kein durchaus pessimistisches: »Sagt man statt Untergang Vollendung, … so ist die pessimistische Seite einstweilen ausgeschaltet, ohne dass der eigentliche Sinn des Begriffs verändert worden wäre.«
Die Grundannahme von Spenglers Werk lautet: Die Weltgeschichte verläuft in einem Zyklus von Aufstieg und Niedergang. Dabei ist Spengler sehr beeinflusst von Goethes biologisch-morphologischer Metaphorik (siehe Spenglers Untertitel: »Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte« und Goethes 1790 erschienene Schrift »Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären«). Für beide gibt es in allem Leben Phasen der Jugend, der Reifung, des Alterns und des Absterbens. Solche Zyklen nimmt Spengler auch für Kunst, Gesellschaft, Politik und Staat an. Die Dauer einer jeden Hochkultur umfasse in etwa ein Jahrtausend. Bezogen auf das »Abendland« als eine von acht von ihm beschriebenen Hochkulturen setzt Spengler die Phasen wie folgt an: Frühling 500 bis 900 n. Chr.; Sommer und Hochblüte 900 bis Ende 18. Jahrhundert; Herbst und Verfall ab 1800; Winter und Sterben nach 2000.
Aus allen Kulturen werden laut Spengler in der Verfallsphase Zivilisationen. Kultur versus Zivilisation: Das ist für Spengler die große Antinomie – als Gegensatz Heimat gegen Kosmopolitismus, Religion versus Wissenschaft, Klugheit versus Intelligenz. Der späte Zustand einer jeden Zivilisation ist nach Spengler gekennzeichnet von folgenden Merkmalen: einem greisenhaften Ruhebedürfnis; Postheroismus und Geschichtslosigkeit; Künstlichkeit und Erstarrung aller Lebensbereiche; Herrschaft der anorganischen Weltstadt anstelle des lebensvollen bäuerlich geprägten Landes; kühler Tatsachensinn anstelle der vormaligen Ehrfurcht vor dem Überlieferten; Materialismus und Irreligiosität; anarchische Sinnlichkeit; Motto »panem et circenses« (Brot und Spiele); Unterhaltungsindustrien; Zusammenbruch der Moral und Tod der Kunst; Zivilisationskriege und Vernichtungskämpfe; Demokratie, Imperialismus und die Heraufkunft formloser Gewalten«; Geburtenrückgang; fehlender »Wille zur Dauer«, zum Beispiel auch in der Ehe.
Dazu kämen die Kommerzialisierung der Kunst, die Manipulierbarkeit der öffentlichen Meinung, eine Konsumhaltung und die Allgewalt der Finanzen (»Milliardärssozialismus«, siehe das eigene Kapitel dazu). Ein jedes ehemaliges Kulturgebiet, so Spengler, bewohnen am Ende primitive Volksmassen, die Fellachen (ägyptische Pflugbauern). Mit dem damit einhergehenden Niedergang der Freiheitsidee werde auch der Rationalismus diskreditiert und der Hunger nach Metaphysik melde sich wieder. Am Ende bleibe stets derjenige Sieger, der es verstanden habe, die anarchischen Tendenzen während der Zeit des Kulturzerfalls am besten zu beherrschen.
Ein Wesensmerkmal des Abendlandes ist für Spengler das Faustische – ganz im Sinne von Goethes »Dr. Faustus«: das Rast- und Ruhelose, das Expansive, das stets nach dem Höchsten und Tiefsten Suchende. Dazu schreibt Spengler: »Die faustische Kultur war im stärksten Maße auf Ausdehnung gerichtet, sei sie politischer, wirtschaftlicher oder geistiger Natur; sie überwand alle geografisch-stofflichen Schranken; sie suchte ohne jeden praktischen Zweck, nur um des Symbols willen, Nord- und Südpol zu erreichen; sie hat zuletzt die Erdoberfläche in ein einziges Kolonialgebiet und Wirtschaftssystem verwandelt.«
Gelegentlich wurde angesichts solcher Passagen unterstellt, Spengler sei ein Ideengeber des Nationalsozialismus gewesen. Nun, ein glühender Verfechter der Weimarer Republik war er nicht, aber die Nazis mochten Spengler nicht, und Spengler mochte die Nazis nicht. Ein Gespräch Spenglers mit Hitler am 25. Juli 1933 in Bayreuth bestätigte die gegenseitige Abneigung. Das erste Kabinett Hitler 1933 bezeichnete er als »Faschingsministerium«. Über das neben Hitlers »Mein Kampf« wohl wichtigste Buch der NS-Bewegung, das Buch des NS-Chefideologen Alfred Rosenbergs »Mythus des XX. Jahrhunderts«, schrieb Spengler: Das ist ein »Buch, an dem nichts stimmt außer den Seitenzahlen«.
An anderer Stelle schreibt Spengler: »Der Nationalsozialismus war zum guten Teil ein Einbruch tatarischen Wollens in das Grenzgebiet des Abendlandes, so undeutsch, ungermanisch, unfaustisch, wie nur möglich platt wie die großen asiatischen Ebenen!« Die NSDAP nannte Spengler 1933 eine »Organisation der Arbeitslosen durch die Arbeitsscheuen«. An den NS-Reichsleiter Hans Frank schrieb er 1936 hellsichtig in einem Brief: »… da ja wohl in zehn Jahren ein Deutsches Reich nicht mehr existieren wird!« Den Deutschen hatte Spengler 1914 einen »seelenlosen« Amerikanismus prophezeit: materialistisch, militaristisch und animalisch geprägt. Zudem ist das deutsche Volk für Spengler eine »politisch unerzogene Masse«, geprägt von politischen »Narren, Feiglingen, Verbrechern«. In den Parteien sah er »Erwerbsgesellschaften mit einem bezahlten Beamtenapparat«. Dieser »Sumpf« habe sich den Staat »zur Beute« gemacht.
Es bleibt die Frage: Ist Spenglers »Untergang des Abendlandes« heute noch diskussionswürdig? Kein Geringerer als Theodor Adorno meinte 1949: Der Gang der Weltgeschichte gebe Spengler in einem Maße recht, das erstaunen müsse. »Der vergessene Spengler rächt sich, indem er droht, recht zu behalten.«١٠ Ob diese Perspektive 75 Jahre nach Adornos Bewertung noch zutrifft? Adorno sorgt sich jedenfalls auch um den »Verfall von Bildung, Sitten, des Individuums, der Familie, der Philosophie«, vor allem den Verfall der Kultur zur Kulturindustrie und zur »kalkulierten Idiotie«.11
Weitere Diagnostiker
H. G. Wells beschreibt in »Die Zeitmaschine und Von kommenden Tagen« (1894) den Verfall der menschlichen Vitalität infolge der Tendenz zu immer mehr Wohlleben und Bequemlichkeit. Es geht in diesem Roman um eine Reise in die Vergangenheit und in die Zukunft bis ins Jahr 802701. Ähnlich Marcel Proust: Auf 3000 Seiten breitet er eine Chronik einer untergehenden Gesellschaft aus. Das voluminöse Werk trägt den Titel: »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« (erschienen zwischen 1913 und posthum bis 1927).
Thomas Mann, der sich selbst als »Verfallspsychologen« sieht und Nietzsche als »größten und erfahrensten Psychologen der Dekadenz« sein Vorbild nennt, beschreibt in »Buddenbrooks. Verfall einer Familie« von 1901 den Verfall der Lübecker Kaufmannsfamilie über vier Generationen hinweg. 1929 bekam er dafür den Literaturnobelpreis. Das Dekadenzmotiv kommt auch in seiner Novelle »Der Tod in Venedig« von 1912 zum Tragen. Der Philosoph Günter Rohrmoser sieht die Dekadenz des Bürgertums zudem in Manns »Zauberberg« und »Dr. Faustus« zutreffend dargestellt.12
Karl Kraus (1874–1936) skizziert »Die letzten Tage der Menschheit« (entstanden zwischen 1915 und 1922) als Reflex auf den Ersten Weltkrieg. Es wurde daraus eine apokalyptische»Tragödie in 5 Akten mit Vorspiel und Epilog« mit220 Szenen und 500 Figuren. Durchsetzt mitGlossen, Essays, Aphorismen, Gedichten von Kraus aus der »Fackel«. In Vollaufführung wären zehn Abende nötig. Die Hauptfiguren sind die »Erdenbewohner« als »elektrisch beleuchtete Barbaren«, die »das Bild der Schöpfung geschändet haben, die Tiere gequält und die Menschen versklavt« haben. Einen gescheiterten Gott lässt Kraus am Ende sagen: »Ich habe es nicht gewollt.« Es ist dies eine Anspielung auf ein gleichlautendes Zitat von Kaiser Wilhelm II. bei seinem letzten Besuch Anfang 1915 an den Gräbern gefallener deutscher Soldaten.
Stefan Zweig schreibt: »Todgeweiht schien mir Europa durch seinen eigenen Wahn, Europa, unsere heilige Heimat, die Wiege und das Parthenon unserer abendländischen Zivilisation … Das neunzehnte Jahrhundert war in seinem liberalistischen Idealismus ehrlich überzeugt, auf dem geraden und unfehlbaren Weg zur ›besten aller Welten‹ zu sein … Man glaubte an diesen ›Fortschritt‹ schon mehr als an die Bibel …« Vollbracht von der Wissenschaft, dem »Erzengel des Fortschritts«. Es sei aber eine Täuschung zu glauben, dieser Fortschritt »müsse unbedingterweise einen gleich rapiden moralischen Aufstieg zur Folge haben«.13 Das erinnert an Sigmund Freud, der in unserer Kultur, in unserer Zivilisation nur eine dünne Schicht sah, die jeden Augenblick von den destruktiven Kräften durchstoßen werden könne.
Zwischen all den Diagnostikern wurde Dekadenz im »Fin de siècle« zelebriert. Es war ein Schwanken zwischen Morbidität und Vitalismus, zwischen Verfall und Aufbruch. Diese Zeit um 1900 ging einher mit einer Auseinandersetzung mit dem anstehenden 20. Jahrhundert, mit seinen Fortschrittsverheißungen und Untergangsfantasien. Teilweise war es eine Lustam Untergang.14
Jahrzehnte später kamen »moderne«, säkulare Apokalypsen hinzu. Die Angst vor Computerherrschaft, Nanorobotern, Bioterrorismus, Virenterrorismus, Cyberkriegen, Atomtod durch Kernkraftwerke oder Atombomben, Killer-Asteroiden, kosmischen Katastrophen. Literatur und Hollywood ergötz(t)en sich darin. Urmutter moderner Apokalypsen ist die Schrift »Grenzen des Wachstums« des Club of Rome von 1972. Es ging um zu Ende gehende Ressourcen, um Waldsterben, damals schon ums Klima, ja um untergehende Städte: Der Kölner Dom steht 1986 laut Spiegel-Titelbild wegen Schmelzung der Polkappen in der Nordsee.15
Aktuelle Dekadenzdiagnostiker
Samuel Phillips Huntington (1927–2008), US-Politikwissenschaftler in Harvard, rüttelte den Westen mit seinem 1993 erschienenen Aufsatz und seinem 1996 veröffentlichten Buch »The clash of civilizations« (»Der Kampf der Kulturen«) auf.16 Huntington meint mit »civilizations« tatsächlich »Kulturen«, indem er wie 1784 bereits Kant Kultur als Summe innerer Güter und Zivilisation als Summe äußerer Güter unterscheidet. Huntingtons Grundthese ist: Die Konfliktlinien verlaufen seit 1989 nicht mehr entlang ideologischer, sondern kultureller Grenzen. Dabei ist die Religion der wahrscheinlich tiefgreifendste Unterschied. Der mit Abstand aggressivste Kulturkreis sei der islamische, weil er auf Eroberung ausgerichtet sei. Dem Westen stehe ein Niedergang bevor, weil die Kraft seiner Kultur verblasse.
Die Anzeichen der »inneren Fäulnis« des Westens sind für Huntington unübersehbar: Geburtenrückgang (der Demografieforscher Herwig Birg nennt es einen »Ethnosuizid«), Überalterung, Zunahme der Asozialität, Auflösung der Familienbande, Zunahme egomanischer Attitüden, Schwinden der Autorität von Institutionen, Hedonismus, Rückgang des Sozialkapitals, d. h. der Mitgliedschaft in Vereinen, das Schwinden des zwischenmenschlichen Vertrauens, ein Nachlassen des Arbeitsethos, ein zunehmender Egoismus, abnehmendes Interesse an Bildung. Unterschieden werden bei Huntington acht, bisweilen neun »Zivilisationen«: Sinisch; Japanisch; Hinduistisch; Islamisch; Orthodox; Westlich; Lateinamerikanisch; Afrikanisch; dazu Buddhistisch.
Der vormalige Kardinal Ratzinger und spätere Papst Benedikt XVI. sagte 2000: »Europa scheint in der Stunde seines äußersten Erfolgs von innen her leer geworden … Es gibt eine seltsame Unlust an der Zukunft … Kinder, die Zukunft sind, werden als Bedrohung der Gegenwart gesehen … Sie werden als Grenze der Gegenwart gesehen.« Noch deutlicher wurde er in seiner Rede zur Eröffnung des Konklaves vom 18. April 2005, bei dem er zum Papst gewählt wurde. Er sprach von einer »Diktatur des Relativismus«. Wörtlich: »Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt.«
An anderer Stelle hatte Ratzinger geschrieben: »Hier gibt es einen merkwürdigen und nur als pathologisch zu bezeichnenden Selbsthass des Abendlandes, das sich zwar lobenswerterweise fremden Werten verstehend zu öffnen versucht, aber sich selbst nicht mehr mag, von seiner eigenen Geschichte nur noch das Grausame und Zerstörerische sieht, das Große und Reine aber nicht mehr wahrzunehmen vermag.«17
Der Publizist Karl Heinz Bohrer wird 2007 noch deutlicher. Er schreibt: Kollektive Selbsterniedrigung, Selbstgeißelung und ein »Mangel an Selbstachtung ist der Beginn dessen, was wir Dekadenz genannt haben«. Und weiter: »Es gibt keine private Miserabilität, keine private Obszönität, keine private Hässlichkeit, die qua Massenmedien nicht zum Stand des öffentlichen Bewusstseins gemacht würde und dort inzwischen einschlägige normative Wirkung hat.«18
Sterbeglöckchen für den Westen?
Es sind keine larmoyanten Defätisten, die sich aktuell Sorgen um den Fortbestand des Westens machen. Man kann über sie nicht hinweggehen. Schon 1977 betrachtete der Franzose Raymond Aron19 (1977) als Ursache der Dekadenz einen um sich greifenden »Komfortismus« ohne Zukunftsperspektiver. Er schrieb: »Zwei Gespenster gehen um in Europa: die Freiheit und die Rote Armee.«20 Nun, die Rote Armee ist Vergangenheit, zumindest heißt sie nicht mehr so, aber sie erlebt unter Putin eine Wiedergeburt. Und was meint Aron mit »Freiheit« als Gefahr? Aron meint damit eine Wohlstandsgesellschaft, die sich die »Freiheit« nimmt, das Interesse an der Zukunft zu verlieren. Aron wörtlich: »Dann spricht sie sich damit selbst ihr Todesurteil.«21
Der Grieche Panajotis Kondylis lehnt sich 1991 an Nietzsche an: Die Verlagerung vom Apollinischen (Rationalen) zum Dionysischen (Rauschhaften) ist für ihn Ursache der Dekadenz.22 Für Kondylis ist der ökonomische Erfolg Ursache für einen Niedergang, ferner ein apolitischer Hedonismus bis zur resignierten Gleichgültigkeit. Vor allem das »juste-milieu« sei voller Halbheit, Heuchelei, Mittelmäßigkeit und Opportunismus. Eine (Selbst-)Verzwergung schütze aber nicht vor den Folgen der Weltpolitik.
Für Alexander Demandt23 ist westliche »Dekadenz die Verbindung verfeinerten Lebensstils mit sinkender Lebenskraft, eines Zuviel an Subtilität mit einem Zuwenig an Vitalität«. In seinem Buch »Endzeit?« hatte er 1993 geschrieben: »Das Schöne wurde verdrängt einerseits durch das Gefällige, andererseits durch das Abartige, Hässliche, Bizarre … Ein Papierkorb in einem Raum der Documenta IX wurde durch eine Katalognummer zum Kunstwerk … Es gibt kein Geräusch, das dem Auditorium der Philharmonie nicht als ›Musik« gilt, sofern es im Programm als solche angekündigt ist.«
Mit anderen Worten: Es greift eine »Ästhetisierung« des Seichten und Vulgären um sich – Hauptsache, es gibt sich provokant, progressiv, eventmäßig, aktionskünstlerisch. Unsere Anfügung: Bücher mögen noch so ordinär sein, sie bekommen 2022 den mit 24000 Euro dotierten Deutschen und/oder Schweizer Buchpreis und werden von Zeit, Spiegel und Co. hochgejubelt. Zitate aus solchen »Produkten« erspare ich meinen Lesern.
Der britisch-US-amerikanische HistorikerNiall Ferguson schreibt 2012: »Der Westen stagniert.«24 Ferguson sieht den Niedergang vor allem im Verfall der vier Säulen, die den Westen trugen: der repräsentativen Demokratie, der freien Marktwirtschaft, des Rechtsstaates und der Zivilgesellschaft. Bürgerliche Freiheiten seien durch Sicherheitsdenken und eine Manie an Regelungen bedroht. Zudem gefährde die Überschuldung die Partnerschaft der Generationen.
Imre Kertész, Holocaust-Überlebender und 2002 Literatur-Nobelpreisträger, sieht die frühere europäische Vitalität von Dekadenz angefressen und die europäischen »Intellektuellen« wie die »klassischen gockelhaften Syphilitiker des 19. Jahrhunderts durch die Welt torkeln«. Er spricht von einem »selbstmörderischen« Liberalismus, der am Ende seinen eigenen Feind anbete. Das hat der Autor vor dem großen Zustrom an Flüchtlingen von 2015 geschrieben.25 Nach Kertész werde Europa »bald wegen seines bisherigen Liberalismus untergehen, der sich als kindlich und selbstmörderisch erwiesen hat« – die Türen weit offen für den Islam. Man wage es nicht länger, über Rasse und Religion zu reden, »während der Islam gleichzeitig einzig die Sprache des Hasses gegen alle ausländischen Rassen und Religionen kennt.«
Der französische PhilosophMichael Onfray26, bekennender Atheist übrigens, sieht 2017 als Grund für den Niedergang die »ermattete« jüdisch-christliche Kultur sowie den Verlust des Respekts für das menschliche Individuum, dessen Achtung die große Leistung der jüdisch-christlichen Kultur ist. Im Zuge dieser Missachtung des menschlichen Individuums, so Onfray, kann und konnte sich der Islam in Europa ausbreiten, weil die »leere« westliche Welt ihm mit ihrer Metaphysik des Konsumismus wenig entgegenzusetzen hat. Wörtlich: »Eine Kultur schöpft ihre Kraft stets aus der Religion, von der sie legitimiert wird. Ist die Religion im Aufstieg begriffen, erblüht auch die Kultur. Ist sie im Niedergang, verfällt auch die Kultur und geht am Ende sogar unter.« Ursächlich ist für Onfray auch »die Entkoppelung von Sexualität und Fortpflanzung«.
Rolf Peter Sieferle kritisiert in seinem 2017 posthum erschienenen Band »Das Migrationsproblem« die Vision einer Welt von no borders, no nations, die zugleich eine Welt von no welfare, also ohne Sozialstaat wäre.27 Es ist dies das »Testament« des 2016 freiwillig aus dem Leben geschiedenen Historikers, der in seinem Abschiedsbrief mit Blick auf Europa und Deutschland von einem »gesinnungsethischen Rausch in den Untergang« schreibt.
Der Brite Douglas Murray28 beschäftigt sich 2018 ausführlich mit Feminismus, Rassismus, Trans-Problematik und Homosexualität. Dazu sollte man wissen, dass sich Murray selbst offen zu seiner Homosexualität bekennt. Murray seziert den modernen europäischen Schuldwahn. Und er fordert von den Europäern: »Genug mit der Unterwürfigkeit, die ihnen das Schuldbewusstsein aufzwingt … Wir sind die einzige Kultur auf der Erde, die so offen für Selbstkritik und für das Zugeben unserer Ungerechtigkeiten ist, dass wir imstande sind, unsere größten Gegner reich zu machen.« Murray betrachtet Diversität als höchste Stufe von Selbstverleugnung. Er schreibt: »Die größte Ironie der endlosen Freudenfeste über die Diversität ist, dass das Einzige, was nicht gefeiert wird, genau die Kultur ist, die diese Diversität in erster Linie ermöglicht hat.«
Zu den Dekadenz-Diagnostikern gehört Thilo Sarrazin, auch wenn er »Dekadenz« weder in seinen Buchtiteln noch in Kapitelüberschriften verwendet. Ein Auflagenrenner ist 2010 sein Buch »Deutschland schafft sich ab«29 geworden – mit 1,5 Millionen gekauften Exemplaren. Gerade weil es vom politischen und medialen Mainstream verteufelt wurde und deshalb Neugier weckte. Verteufelt, weil es präzise belegt, wie Deutschland im freien Fall ist. Eine Neuauflage eineinhalb Jahrzehnte später müsste noch ehrlicher ausfallen. Sarrazins SPD entblödete sich gar, ihm wegen dieses Buches die Parteimitgliedschaft zu entziehen.
Die Ethnologin Susanne Schröter belegt umfassend, wie sich der Westen selbst abschafft: durch ungesteuerte Zuwanderung, Parallelgesellschaften inkl. Scharia-Paralleljustiz, Duldung weitreichender Islamisierung, Cancel Culture, Selbsthass kombiniert mit Hypermoral, naives Appeasement, Doppelmoral, geschichtsklitternden »postkolonialen« Exorzismus, einen Rassismus gegen das Weißsein, die Ideologie der Intersektionalität sowie »Gender«. Wörtlich schreibt sie: »Verantwortlich ist eine krude Mischung aus Hybris und Selbsthass.« Um anzufügen: »Wer das Heil in einer Nachahmung indigener Bräuche und Strukturen sucht, sollte konsequenterweise nicht gleichzeitig die Annehmlichkeiten der Zivilisation in Anspruch nehmen.«30
Und dann?
Der »westliche« Mensch will im ewigen »hic et nunc« (hier und jetzt) leben. Möglichst ohne Geschichte. Er will, dass alles »post« ist: Postdemokratie, Postmoderne, Postkolonialismus … Aber was kommt hinter »post«? Das Nichts? Banalität und Vulgarisierung total? Die »Tyrannei des Intimen« und des Privaten (Richard Sennett)? Die Versklavung durch den Wohlstand? Die »Not der Notlosigkeit« (Heidegger). Womöglich geht es dem Westen noch zu gut. Wie lange noch? Dem Versuch, Auswege bzw. die richtige Abzweigung am Scheideweg zu finden, wird das Abschlusskapitel dieses Buches gelten.