Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt - Josef Kraus - E-Book

Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt E-Book

Josef Kraus

0,0
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Werden unsere Kinder immer dümmer? Nein. Doch sie werden immer ungebildeter. Das liegt an einer Bildungspolitik, die keine Probleme löst, sondern Probleme schafft. Drei große Bereiche prangert Bestsellerautor Josef Kraus an: die uneinheitliche und teils unsinnige Struktur unseres Bildungssystems; die Inhalte der Lehrpläne, die eher Leerpläne sind; und das Problemfeld "Sprache", die doch das Grundlegende ist, was Schüler überhaupt zum Lernen und Leben befähigt. Ist also alles verloren? Nicht ganz. Laut Kraus gibt es durchaus Möglichkeiten für Politiker, Pädagogen und Eltern, dem Abwärtstrend entgegenzuwirken. Was Bildung braucht, sind Inhalte und Zeit. Eine provokante und praxisnahe Streitschrift, in der es darum geht, wie man heute, online oder offline, Kindern bei ihrem Weg in die Welt beistehen kann. - Bildungslücken dank desolatem System: Wie Eltern trotzdem ihre Kinder aufs Leben vorbereiten können - Streitbarer Bildungsexperte - Provokant, klar und strukturiert

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 304

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Josef Kraus

Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt

Und was Eltern jetzt wissen müssen

HERBIG

Besuchen Sie uns im Internet unter:

www.herbig-verlag.de

© für die Originalausgabe und das eBook:

2017 F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagfoto: Ostill/iStock by Getty Images

Satz und eBook-Produktion: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

www.Buch-Werkstatt.de

ISBN 978-3-7766-8263-2

Meiner Familie

und all denen,

die sich Sorgen um den

Zustand unserer Bildungsnation

machen

Inhalt

VORWORT

Wider eine Bildungspolitik, die keine Probleme löst, sondern Probleme schafft

KAPITEL 1

Falsche Strukturen

Wohin man schaut: Wohlfühl-Pädagogik!

Machtspiele: Eine Stiftung hält die Fäden in der Hand

»Kompetenzen« – Lehrpläne oder Leerpläne?

KAPITEL 2

Falsche Vorgaben

Online oder offline – Welche Bildung brauchen wir?

Das Gymnasium – eine Endlosbaustelle?

Ganztagsschule: Eine Schule, die keine sein darf?

Inklusion: Ideologie oder Kindeswohl?

KAPITEL 3

Falsche Sprache

Wie die Deutschen mit ihrer Sprache umgehen (sollten)

Rechtschreibung – Schlechtschreibung

Pädagogische Sünden wider die Sprache

KAPITEL 4

Was Eltern trotz allem tun können

ANMERKUNGEN

»Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen gerne zeitlebens unmündig bleibt; und warum es andern so leichtfällt, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein.«

Immanuel Kant (1784)

VORWORT:

Wider eine Bildungspolitik, die keine Probleme löst, sondern Probleme schafft

Dieses Buch ist keine Gebrauchsanleitung für die Zerstörung eines ehemals weltweit angesehenen Bildungswesens, sondern eine – bisweilen grimmige – Untersuchung der Trümmer und Ruinen, die deutsche Bildungspolitik und deutsche Bildungswissenschaften hinterlassen haben: Trümmer und Ruinen, die man mittels »Reformen« hinterlassen hat.

Seit den 1960er Jahren werden solche Reformen in Szene gesetzt, zumeist sind Deformationen daraus geworden. Damals unterwarf man Bildung bzw. das, was man dafür hielt, einem radikalen Egalisierungswahn. Kaum hatte sich das deutsche Schulwesen mit diesem Wahn arrangiert oder ihn halbwegs abgepuffert, folgte der nächste Wahn. Er trägt seit der Jahrhundertwende von 2000 die Namen »Pisa« und »Bologna«.

Dabei sind Pisa und Bologna doch »nur« Städte in Italien. Seit Jahrhunderten, gar Jahrtausenden. Die Luftlinie zwischen beiden misst rund 120 Kilometer. Für manche Deutsche, die in Sachen Bildung missionieren, sind Pisa und Bologna allerdings die vermeintlich notwendigen Neugründungsmythen deutscher Bildungspolitik. Damit ist der Abstand zwischen »Pisa« und »Bologna« für eine zunehmend hysterisch-hypochondrisch angesäuerte Bildungspolitik und »Bildungsforschung« die Entfernung von einer bildungspolitischen Fallgrube zur nächsten.

Deutschlands Bildungsdebatten und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen haben sich schlicht und einfach zwischen »Pisa« und »Bologna« festgefahren. Das gilt zum einen für viele der »Pisa«-Kapitäne. Diese verkünden unbeeindruckt Einheits- und Gesamtschule. Ihre Destinationen lauten: Mit dem deutschen »Pisa«-Ergebnis sei zugunsten eines »gerechten« Schulsystems endlich der Jüngste Tag für das gegliederte, begabungs- und leistungsorientierte Schulwesen angebrochen. Die andere Cockpit-Vereinigung ist die der »Bologna«-Crew. An wunderbaren Destinationen fehlt es auch hier nicht: »Bologna« samt Bachelor, Master, Workloads und Credit Points schaffe endlich Effizienz, Mobilität, Modularisierung, Kompatibilität, Praxistauglichkeit, »Employability« und eine gewaltige Steigerung der Akademikerquote.

Die Folge ist eine Politik wider besseres Wissen und wider jede Vernunft. Da können Bildungsexperimente, die immer zugleich Experimente an Schutzbefohlenen sind, noch so völlig scheitern, sie werden dennoch durchgezogen oder – wie etwa im Fall der Gesamtschule mit ihrer durchschlagenden Erfolglosigkeit – in neuem Gewand unter dem Etikett »Gemeinschaftsschule« präsentiert. Damit und mit kuriosen Lehrplanreformen kann man ein Schulwesen innerhalb einer einzigen Legislaturperiode, in diesem Fall innerhalb von fünf Jahren, an die Wand fahren. Baden-Württembergs grün-rote Regierung hat dies von 2011 bis 2016 vorexerziert. Das »Ländle«, das seit Jahren und Jahrzehnten bei allen Leistungsstudien immer zu den vier besten unter Deutschlands sechzehn Ländern gehörte, ist in kürzester Zeit »Vom Musterschüler zum Problemfall«[1] geworden. Zum Beispiel ist Baden-Württemberg beim Ländervergleich des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) bei den neunten Klassen von 2010 bis 2015, dem Zeitpunkt der Tests, von einem Spitzenplatz auf Platz 12 im Lesen und Platz 14 beim Zuhören gefallen.

Hier scheint zu gelten, was Peter Sloterdijk feststellte: »Macht ist das Vermögen, die Tatsachen in die Flucht zu schlagen.« Zwei seiner großen Vorgänger hätten es kaum anders gesagt: »Denn so ist der Mensch! Ein Glaubenssatz könnte ihm tausendfach widerlegt sein– gesetzt, er hätte ihn nötig, so würde er ihn immer wieder für wahr halten.« (Nietzsche) Oder: »Was dem Herzen widerstrebt, lässt der Kopf nicht ein.« (Schopenhauer) Mit solchem »Bildungs«-Verständnis aber stolpern unsere ewig-morgigen bildungspolitischen Schlaumeier in die stets gleichen Fallgruben.

Die fünf Fallgruben

Eine Falle ist die Egalitäts-Falle. Das ist die Ideologie, dass alle Menschen, Strukturen, Werte und Inhalte gleich bzw. gleich gültig seien. Das ist auch die Ideologie, dass es keine verschiedenen Schulformen, keine verschiedenen Begabungen, keine verschiedenen Fächer sowie keine bestimmten Werte geben dürfe.

Eine zweite Falle ist die Hybris-Falle. Das ist der aus dem Marxismus (»Der neue Mensch wird gemacht«) und dem Behaviorismus (»Der neue Mensch ist konditionierbar!«) abgeleitete Wahn, jeder könne total gesteuert und zu allem »begabt« werden.

Eine dritte Falle ist die Falle der Spaß-, Erleichterungs- und Gefälligkeitspädagogik. Diese tut – angestrengt und sehr bemüht – so, als ob Schule immer nur cool sein könne und ja alles tun müsse, dass sich Kinder doch ja nicht langweilen.[2]

Eine vierte Falle ist die Quoten-Falle. Das ist die planwirtschaftliche Vermessenheit, es müssten möglichst alle das Abiturzeugnis bekommen und es dürften möglichst wenige oder gar keine Schüler sitzenbleiben. Dabei müsste doch eigentlich klar sein: Wenn alle Abitur haben, hat keiner mehr Abitur!

Und schließlich fünftens die Beschleunigungs-Falle. Das ist die Vision, man könne mit einer immer noch früheren Einschulung in immer weniger Schuljahren und mit immer weniger Unterrichtsstunden zu besser gebildeten jungen Leuten und zu einer gigantisch gesteigerten Abiturienten- und Akademikerquote kommen.

Fünf Fallgruben sind das– je nach Land in Deutschland unterschiedlich intensiv ausgeprägt. In diesen fünf Fallgruben drohen Individualität, Leistung, Anstrengungsbereitschaft, natürliche Reifung und Qualität zu versinken. Und so wird seit Jahrzehnten, verschärft seit dem groß inszenierten Pisa-Schock, drauflos re- und deformiert. Reformen über Reformen werden in den Sand gesetzt, ohne Produkthaftung von Seiten derjenigen, die all dies inszeniert haben. Dass die allermeisten Reformen eben gerade denen schaden, denen sie zugutekommen sollten, nämlich den sozial Schwächsten, wird verdrängt. Die Kinder aus »gutem« Hause bekommen die Verirrungen der Schulpolitik durch elterliches Zutun kompensiert, die Kinder aus »bildungsfernen« Elternhäusern aber bleiben in ihren »restringierten Codes«, in ihren Herkunftsmilieus eingekerkert. Das gilt für die Einheitsschule gleichermaßen wie für »neue« Formen eines (sogenannten) Unterrichts, in dem der Lehrer nur noch den Moderator spielt. Fast ist man versucht, von einer bildungspolitischen Variante eines Morgenthau-Plans zu sprechen. Man erinnere sich: Harry Morgenthau, damals US-Finanzminister, trat im August 1944 mit dem Plan an die Weltöffentlichkeit, Deutschland solle entindustrialisiert und zum Agrarstaat zurückgeworfen werden.

»Die Wüste wächst« ist der Titel eines Liedes von Nietzsches Zarathustra. Dieses Bild hat Helmut Schelsky 1976 als Überschrift über ein Buchkapitel gewählt, um die Entkulturierung zentraler Institutionen der modernen Gesellschaft, darunter der Universität, zu charakterisieren.[3] Peter J. Brenner hat dieses Bild bei einem Vortrag am 23. Januar 2008 in Bonn aufgegriffen und getitelt: »Die Wüste wächst– Über die Selbstzerstörung der deutschen Universität.«[4]

Um in diesem Bild zu bleiben: Die Bildungsnation wird unfruchtbar, sie verödet, weil ihre Grundlage erodiert. Die misslungenen, aber offiziell dennoch für erfolgreich erklärten Reformen sind wie ein Eingriff in die Ökologie von Bildung mit all ihren Folgen bis hin zum Verlust an Artenvielfalt, zum Beispiel Schularten-Vielfalt. Man könnte auch sagen: Diese Bildungsnation wird von den einen willentlich, von anderen naiverweise an die Wand gefahren– brav assistiert von den meisten Parteien, von den meisten Bildungsforschern, von moralisierenden Schwätzern, von diversen Stiftungen sowie von manch karriereorientiertem Lehrer und Schulleiter. Dass von höchster Regierungsseite eine »Bildungsrepublik« ausgerufen wird, so Kanzlerin Merkel im Juni 2008, und auf diversen Bildungsgipfeln eitle Heerschauen inszeniert werden, ändert nichts daran. Sedativa sind das.

Vier Verirrungen

Dabei spielen vier mentale und intellektuelle Verirrungen eine Rolle. Erstens spielt die Selbstvergessenheit der Deutschen eine Rolle, also die in allen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Belangen spürbare, typisch deutsche Selbstverleugnung. Das politische und mediale Deutschland inszeniert gerne seine eigene Tribunalisierung, und man zerrt sich gerne vor das Weltgericht, denn wir Deutsche sind ja so gern die Schlimmsten, Schlechtesten, Ungerechtesten auf der Welt. Wahrscheinlich weil wir vertuschen möchten, dass wir eigentlich gerne Schulmeister wären. Dass wir die Schlimmsten, Schlechtesten, Ungerechtesten auf der Welt sind, daran ist angeblich ein Bildungswesen schuld, das uns unter anderem einen Hitler und seine Anhängerschaft beschert habe. Diese Selbstverleugnung lässt uns zum Beispiel ein weltweit renommiertes Diplom wegschmeißen, das Gymnasium entkernen und unsere Sprache denglifizieren. Ob das noch das späte Ergebnis einer »reeducation« ist, sei dahingestellt. Vielleicht glauben viele Deutsche sogar – ohne sie näher zu kennen – an die abstruse Analyse des US-Amerikaners, Philosophen und Pädagogen John Dewey (1859–1952), der die offenbar schier genetisch angelegte Neigung der Deutschen zum Nationalsozialismus schon in den Philosophien und Schriften von Luther, Kant, Herder, Hegel, Fichte, Schelling, insgesamt des Deutschen Idealismus angelegt sah. Wie auch immer: Jeder persönliche oder kulturelle Abstieg beginnt mit Selbstverleugnung und Überangepasstheit. Oder noch härter ausgedrückt: Der Verlust der Selbstachtung ist der Beginn des Verfalls, der Dekadenz. Das gilt für jede Einzelperson, jede Familie, jede Gruppe, jede Nation, jede Kultur.

Ein zweiter Grund für die Abrisslaune ist: Deutsche sind gerne Gesinnungsethiker. Gleichheit, Gerechtigkeit, Kuscheligkeit – so lauten die pädagogischen Glaubens- und Gesinnungsbekenntnisse. Immer und immer wieder werden sie mantramäßig vorgebetet, ohne Rücksicht auf die Folgen solcher Haltungen. Bereits Max Weber hat den Gesinnungsethiker im Jahr 1919 so beschrieben: Er fühle sich nur dafür verantwortlich, dass die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlösche. Der Verantwortungsethiker dagegen bedenke stets die Motive und Ergebnisse seines Handelns.[5] Hermann Lübbe hat diesen Gedanken 1987 mit dem Untertitel eines nach wie vor sehr lesenswerten Buches aufgegriffen: »Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft«.[6] Es geht vielen Deutschen bzw. ihrer Elite nicht um eine rationale Verantwortungsethik, nicht um das qua Bildung und Erziehung behutsam Machbare, sondern um die reine Gesinnung. Jedenfalls gehören die Deutschen zu den Weltmeistern der »political correctness« und der »educational correctness«[7] mit ihren Denkverboten, Denkgeboten, Tabus, mit ihren Euphemismen, mit ihren Hui- und Pfui-Begriffen gerade in der Pädagogik.

Drittens: Eigentlich entspringt solche Gesinnung einem egalitären, sozialistischen Denken. Nun aber kommt etwas Paradoxes ins Spiel: Dieselben Leute, die ständig von Gleichheit, Gerechtigkeit, Kindgemäßheit reden, betreiben unter Einflüsterung der Wirtschaft und der OECD eine Ökonomisierung von Bildung. Alles an »Bildung« soll messbar, nützlich, verwertbar sein. Der Mensch wird zum »Humankapital« und damit verdinglicht. Das ist Neoliberalismus, ja Kapitalismus, Ausbeutung pur. Es hat sich dies schon lange vor Pisa angekündigt. Vor mehr als einem halben Jahrhundert, 1961, hat die OECD, die ja auch für die Pisa-Testerei verantwortlich zeichnet, in einem Grundsatzpapier festgehalten: »Heute versteht es sich von selbst, dass auch das Erziehungswesen in den Komplex der Wirtschaft gehört, dass es genauso notwendig ist, Menschen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen. Das Erziehungswesen steht nun gleichwertig neben Autobahnen, Stahlwerken und Kunstdüngerfabriken. Wir können nun, ohne zu erröten und mit gutem ökonomischen Gewissen versichern, dass die Akkumulation von intellektuellem Kapital der Akkumulation von Realkapital an Bedeutung vergleichbar– auf lange Dauer vielleicht sogar überlegen– ist.«[8] Dabei ist die Ökonomisierung von Bildungspolitik volkswirtschaftlich nicht wirklich zu Ende gedacht. Die Wachstumsbremse der Zukunft wird die Überakademisierung sein, weil sie einhergeht mit einem gigantischen Fachkräftemangel. Wir haben seit 2011 ziemlich genau ebenso viele Studienanfänger wie junge Leute, die eine Berufsausbildung anfangen. Und neben 330 anerkannten Ausbildungsberufen gibt es in Deutschland über 17 000 Studiengänge.[9] Eine gewaltige Schieflage! Denn dort, wo man in Europa die niedrigsten Abiturienten-Quoten hat, gibt es zugleich die besten Wirtschaftsdaten: nämlich in Österreich, in der Schweiz und eben in Deutschland. Ein wichtiges bildungspolitisches Kriterium wird ebenfalls häufig übersehen, nämlich das Ausmaß an Jugendarbeitslosigkeit. Hier haben oft sogar vermeintliche Pisa-Vorzeigeländer mit Gesamtschulsystemen eine Quote, die deutlich über derjenigen Deutschlands oder gar der süddeutschen Länder liegt. Im Juli 2016 gab es in Deutschland eine Quote an arbeitslosen Jugendlichen von 7,2 Prozent, in den schulpolitisch vermeintlich vorbildlichen Ländern dagegen Quoten um 20 Prozent: in Schweden mit 20,2 und in Finnland mit 21,7 Prozent. Baden-Württemberg bzw. Bayern hatten übrigens eine Quote von 2,7 bzw. 2,8 Prozent. Länder mit gegliederten Schulsystemen, vergleichsweise niedriger Studierquote und dualer Berufsbildung liegen also erheblich besser. Warnende– und zwar namhafte– Stimmen zur Vernachlässigung der beruflichen Bildung gibt es durchaus. Im April 2014 veröffentlichte der Wissenschaftsrat seine Stellungnahme mit dem Titel »Empfehlungen zur Gestaltung des Verhältnisses von beruflicher und akademischer Bildung«. Darin warnt er vor vordergründigen Image- und Prestigegesichtspunkten. Aber es dringt nicht durch: Der Mensch scheint für viele immer noch beim Abitur zu beginnen.

Ein vierter Kardinalfehler »progressiver« Pädagogik ist schließlich deren Infantilisierung durch Psychologisierung. Für die Psychologie und ihr Image ist dies nicht gut, denn vieles von dem, was an Psychologischem in die Pädagogik hereingenommen wird, ist triviale Alltagspsychologie und damit Banalisierung von Psychologie. Alle Pädagogik soll offenbar vom zerbrechlichen Kind, dessen permanenter Traumatisierbarkeit, dessen Gegenwartsperspektive und dessen unmittelbaren Bedürfnissen her gedacht werden.[10] Dem Kind, dem Schüler soll bloß nichts zugemutet werden, es könnte ja frustriert, demotiviert, ja traumatisiert werden. Dass man Kinder damit in einer Käseglocke und in einer ewigen Gegenwart einschließt und ihnen die Zukunft raubt, scheint nicht zu zählen. Statt ihnen ein bisschen etwas zuzumuten, weil man ihnen ja eigentlich mehr zutrauen kann, werden unsere Kinder von einem Teil der Eltern, von den »Helikoptereltern«, rundum »gepampert«.[11]

Wo bleibt eine bürgerliche Revolte?

Welche politische Kraft stellt sich all diesen Verirrungen in den Weg? Antwort: Keine. Dass sich die Bildungsnation Deutschland allmählich abschafft, hat damit zu tun, dass die vormals bürgerliche Volkspartei CDU schulpolitisch die Segel gestrichen hat. Jahrzehnte war sie gestanden: für ein begabungs- und leistungsorientiertes, vielfältig gegliedertes Schulwesen, gegen Einheitsschule, gegen eine verlängerte Grundschule, für eine stabile Hauptschule, für anspruchsvolle Abiturstandards, gegen eine Inflation an Hochschulzugängen, für eindeutige Anforderungen beim Zugang zum Gymnasium sowie für ein duales System der beruflichen Bildung. Heute kann man die Frage nach der bildungspolitischen Ausrichtung der CDU nicht mehr so recht beantworten. Die CDU ist bildungspolitisch – auch wenn eine CDU-Kanzlerin eine »Bildungsrepublik« ausgerufen hat – zu einem programmatischen Bauchladen geworden.

Das sagt bzw. schreibt der Autor dieses Buches, der 1995 für die CDU bei der Wahl zum Hessischen Landtag als Schattenkultusminister angetreten war und den bestimmte hessische Zeitungen mit Überschriften wie folgenden empfingen: »Die schwarze pädagogische Gefahr aus dem Süden« oder »Die pädagogische K- und K-Stahlhelmfraktion«.

Es geht mir nicht um Rechthaberei, selbst wenn es durchaus schmeichelt, wenn mich ein amtierender Kultusminister als »Titan der Bildungspolitik«, ein ehemaliger Kultusminister als »einzige verbliebene Konstante deutscher Schulpolitik« bezeichnet hat, wenn Heike Schmoll mir in der »Frankfurter Allgemeinen« attestiert, dass ich »kein Blatt vor den Mund« nehme, wenn ich von Markus Lanz in seiner gleichnamigen ZDF-Sendung als »Deutschlands wichtigster Lehrer« bezeichnet werde oder wenn ich in der »Süddeutschen«, die mir nicht immer nur wohlwollend gegenüberstand, aus der Feder Johan Schloemanns über mich lesen konnte: »Er hat einen bayerischen Zungenschlag, ein liberalkonservatives Weltbild, ein kantiges Gesicht und ein ebenso kantiges Selbstbewusstsein. Das macht es Menschen, die anders sozialisiert und anders gestimmt sind, ziemlich leicht, Josef Kraus als einen gestrigen Talkshow-Humanisten aus der süddeutschen Provinz und als Hardliner abzuschreiben und sich auf diese Weise seinen Einsichten zu entziehen. Das Problem ist nur: Der Mann hat mit fast allem recht, was er über Schule und Erziehung sagt. Und er ist gar kein Hardliner, sondern er will, dass die Kinder erstens mit Liebe und zweitens mit klaren Regeln Selbstständigkeit gewinnen, ohne allzu viel hektisches Zutun, ohne eine panische Funktionalisierung aller Bildungsinhalte.«[12]

Warum mische ich mich ein? Warum schreibe ich Bücher? Warum habe ich mich als »außerparlamentarischer« Bildungspolitiker im Laufe der Jahre auf vermutlich 200 bis 300 Rundfunk- und Fernsehstreitgespräche eingelassen, eine vierstellige Zahl an Kurzinterviews nicht mitgerechnet? Warum setze ich mich in Talkshows zusammen mit Skandalrappern, mit Blödelentertainern, mit Autorinnen und Autoren schräger Bücher, mit einem durchgeknallten Europa-Abgeordneten? Wo ich doch am liebsten sagen würde: Ein Land, das mit solchen »Experten« Bildungspolitik diskutiert, braucht eigentlich keinen Pisa-Test mehr. Und wo die Erwartung mancher Talkshow-Redaktionen doch ist, dass ich gegen drei oder vier andere den bösen pädagogischen Buben geben soll, der am nachfolgenden Tag in den Blogs der Sender aber zumeist 80 Prozent zustimmende Einträge findet. Ja, darum geht es mir: Der schweigenden Mehrheit eine Stimme zu geben.

Vieles, was ich immer und immer wieder mitdiskutiert habe, meist in dreimal Ein-Minuten-Blöcken, bringe ich mit diesem Buch ausführlicher zur Sprache. Manches kommt aus Gründen des begrenzten Umfangs hier nicht zur Sprache. Meine Positionen dazu sind in meinen früheren Büchern oder im Internet zu finden. Zum Beispiel zu Themen wie: Flüchtlinge, Reformschulen, Lehrerbild und Lehrerbildung, »Gender«-Pädagogik, Islamunterricht, Burka in der Schule usw.

Mit diesem Buch geht es mir um Diagnosen und Analysen. Für abgehobene Visionen, die nicht schulreif sind und es nicht werden können, bin ich nicht zu haben. Auch deshalb nicht, weil Visionen mit ihren Perfektionismusvorstellungen etwas Destruktives an sich haben; sie verhindern nämlich, dass das real (!) Beste aus einer Situation gemacht wird.

Diagnosen und ehrliche Analysen sind der erste und wichtigste Schritt zur Besserung. Dabei befleißige ich mich da und dort einer durchaus kräftigen Rhetorik. Es geht mir ferner darum, Misstrauen zu säen gegenüber vermeintlichen bildungspolitischen Göttern. Die wollen ihr Ding drehen, und sie scheren sich nicht um den Willen des Volkes. Sie mögen Runde Tische einbestellen. Aber es ist oft nur eine Inszenierung, die nach Demokratie ausschauen soll. Zu oft habe ich es selbst erlebt, dass Minister zu solchen Tischen eingeladen haben, »ergebnisoffen«, wie es heißt, aber bereits vor Beginn einer solchen Zusammenkunft die Ergebnisse in Kameras und Mikrophone sprachen.

Das muss man sich nicht gefallen lassen. Deshalb ist es mein größter bildungspolitischer Wunsch, dass wir für ordentliche Bildung eine bürgerliche Revolte hinkriegen. Dass so etwas gelingen kann, hat die Initiative »Wir wollen lernen« des Rechtsanwalts Walter Scheuerl und vieler seiner Mitstreiter gezeigt. Dort hat man per Volksentscheid am 18. Juli 2010 die Pläne der schwarz-grünen Regierung Hamburgs zur Verlängerung der Grundschule von vier auf sechs Jahre vom Tisch gewischt. Das war nicht nur das Ende eines Gesetzentwurfes, sondern einer ganzen Landesregierung. Dergleichen sollte sich wiederholen.

Den Mut aufzubegehren wünsche ich all denen, die sich um diese Bildungsnation sorgen. Denn die Bildungspolitik benimmt sich teilweise wie ein trotziges Kind, das keine Verfehlungen einräumen oder wenigstens abstellen will. Diesen Trotz zu brechen, das ist das Recht, ja die Aufgabe des Souveräns, des Volkes. Dazu bedarf es des Mutes, der Courage, wie dies schon vor zweieinhalb Jahrtausenden Perikles (ca. 490–429 vor Christus) gesagt hat: »Zum Glück brauchst du Freiheit, zur Freiheit brauchst du Mut.«

KAPITEL 1

Falsche Strukturen

Wohin man schaut: Wohlfühl-Pädagogik!

Gemeinsames Merkmal progressiver Pädagogik scheint ihre Abräumlaune zu sein. Beispiele gefällig? Gymnasium? Elitär, weg damit! Hauptschule? Restschule, weg damit! Förderschule? Diskriminierend, weg damit! Berufliche Bildung »qualified in Germany«? Gibt’s doch sonst auf der Welt nicht, weg damit! Literaturkanon? Bürgerlich, weg damit! Noten und Zeugnisse? Beleidigend, weg damit! Sitzenbleiben? Zeitverschwendung, weg damit! Hausaufgaben? Stressig, weg damit! Frontalunterricht? Mittelalterlich, weg damit! Auswendiglernen? Überflüssig in Zeiten von Google und Wikipedia, weg damit! Anstrengung? Spaßbremse, weg damit! Rechtschreibung? Herrschaftsinstrument, weg damit!

Ein Wort von Karl Jaspers aus dem Jahr 1931 über die geistige Situation der Zeit liegt hier so nahe, als sei es heute erst geschrieben worden: »Symptom der Unruhe unserer Zeit um die Erziehung ist die Intensität pädagogischen Bemühens ohne Einheit einer Idee, die unabsehbare jährliche Literatur, die Steigerung didaktischer Kunst … Es werden Versuche gemacht und kurzatmig Inhalte, Ziele, Methoden gewechselt. Ein Zeitalter, das sich selbst nicht vertraut, kümmert sich um Erziehung, als ob hier aus dem Nichts wieder etwas werden könnte.«[13]

Wahrscheinlich berühren sich mit ihrer Abräumlaune sogar die Erbfeinde Kapitalismus und Sozialismus. Gemeinsam ist ihnen die Strategie der »schöpferischen Zerstörung«. Im Falle des Kapitalismus geht es um die Zerstörung von alten und die Schaffung von neuen Strukturen, die Marktanteile erobern und mehr Profit abwerfen lassen; im Sozialismus geht es um die Zerstörung von bürgerlichen Strukturen, insbesondere der Familie als Hort des Widerstandes gegen kollektivistische, staatliche Übergriffe.

Und alle mischen dabei mit: eine Kohorte von ständig wechselnden Ministern, Hunderte von »Bildungsforschern«, diverse Stiftungen und Wirtschaftsorganisationen, Journalisten, Interessensvertretungen von Eltern, Schülern und Lehrern, der berühmte Mann und die berühmte Frau von der Straße. Jeder kennt sich aus, weil er selbst einmal in der Schule war oder zumindest jemanden kennt, der… Oder aber man hat mit den eigenen Kindern gewisse Erfahrungen mit der Schule und ihren Lehrern gemacht. Und so meint man zu wissen, was denn in der Schule so alles schiefläuft und was anders oder gar besser laufen sollte. Kommen dann noch die Meinungen von diversen »Experten« hinzu, ist man schnell bereit, die Schule alles über Bord werfen zu lassen, was Schule eigentlich ausmacht. Um das Gesamtergebnis vorwegzunehmen: Wenn man all das abgeschafft hat, was Schule bislang ausmachte, dann kann man Schule gleich ganz abschaffen. Die öffentliche Hand könnte sich damit viel Geld sparen, sie könnte die Steuerbelastung für jeden Bürger senken, es gäbe weniger Ärger in den Familien. Aber: Es gäbe dann niemanden mehr, der eines Tages mit qualifizierter Arbeit die Sozialsysteme garantierte, und es gäbe keine Einrichtung mehr, die den Eltern die Kinder wenigstens halbtags vom Leib hält. Trotzdem wird so ziemlich alles munter in Frage gestellt.

Schluss mit Leistung und Elite?

Die um sich greifende Wohlfühl-, Gute-Laune-, Spaß- und Gefälligkeitspädagogik schadet unseren Kindern. Je niedriger die Hürden in der Schule, desto schwerer fällt es den jungen Leuten, die Hürden im späteren Leben zu überwinden. Statt den Kindern wieder mehr zuzutrauen und auch mehr zuzumuten, greift in Deutschland indes seit einigen Jahrzehnten eine Erleichterungspädagogik um sich.[14] Begründet wird dies mit der Behauptung, dass Deutschlands Schüler doch sehr unter schulischer Belastung leiden würden. Das stimmt aber nicht, wenn man sich allein die Tatsache anschaut, dass viele Heranwachsende mehr Zeit vor irgendeinem Bildschirm als beim Lernen verbringen. Und es stimmt auch im internationalen Vergleich nicht: Unter den 11- bis 15-Jährigen fühlen sich in Deutschland 24 Prozent gestresst, in den USA 40 und in Finnland (!) 44 Prozent.[15]

Progressive Pädagogen und Bildungspolitiker tun trotzdem so, als müsste Bildung und Lernen in Deutschland mit noch weniger Anstrengung gehen. Dass diese pseudopädagogische Erleichterungsattitüde falsch ist, wussten Generationen von Eltern und Lehrern seit der Antike. Einer der großen Schriftsteller der Weltliteratur und gewiss einer der größten Analytiker menschlicher Psyche, Fjodor Michailowitsch Dostojewskij, schrieb dazu: »Es ist bedauerlich, dass man den Kindern heute alles erleichtern will … Die ganze Pädagogik kennt jetzt nur noch die Sorge um die Erleichterung. Erleichterung ist aber keineswegs eine Förderung der Entwicklung, sondern im Gegenteil ein Verleiten zu Oberflächlichkeit.«

Moderne Pädagogik tut genau dies: Sie erzieht zur Oberflächlichkeit. Wenn etwas schwierig erscheint, dann denkt Pädagogik nicht darüber nach, wie man den Kindern das Schwierige erfolgversprechend beibringen könnte. Stattdessen schafft man schwierige Inhalte ab. Selbst ein Sigmund Freud, der bekanntermaßen vieles auf das Luststreben des Menschen zurückführte, war überzeugt: Leistung und Erfolg, ja das Erleben von Glück, setzen Bedürfnis- und Triebaufschub voraus. Trotzdem wurden Leistung und Anstrengung vor allem von einer 68er-geprägten Pädagogik zu Missgunst-Vokabeln. Wer aber das Leistungsprinzip bereits in der Schule untergräbt, setzt eines der revolutionärsten demokratischen Prinzipien außer Kraft. In unfreien Gesellschaften sind Geldbeutel, Geburtsadel, Gesinnung, Geschlecht Kriterien zur Positionierung eines Menschen in der Gesellschaft. Freie Gesellschaften haben an deren Stelle das Kriterium Leistung vor Erfolg und Aufstieg gesetzt. Das ist die große Chance zur Emanzipation für jeden Einzelnen. Ganz zu schweigen davon, dass der Sozialstaat nur dann funktioniert, wenn er von der Leistung von Millionen von Menschen getragen wird. Jeder soll seines Glückes Schmied sein können. Mit Ellenbogengesellschaft hat das nichts zu tun. Vielmehr ist auch der Sozialstaat zugunsten Benachteiligter, Kranker und Alter nur realisierbar mit der millionenfachen Leistung und Anstrengung der Leistungsfähigen. Auch Sozialstaatlichkeit ist nur mit dem Leistungsprinzip machbar. Deshalb kann das Sozialprinzip auch nicht über das Leistungsprinzip gestellt werden. Auch im internationalen, im globalen Wettbewerb geht es nicht ohne Leistung. Wir sollten froh sein, wenn wir leistungshungrige Spitzenschüler für zukünftige Eliten haben.

Schluss mit dem gegliederten Schulwesen?

Die Gesamtschule hat in Deutschland Jahrzehnte durchschlagender Erfolglosigkeit hinter sich.[16] Deshalb gibt es keinen Grund, sie im Gewande der Gemeinschaftsschule neu aufzulegen. Seit den 1970/80er Jahren hat diese Schulform in allen Studien schlecht abgeschnitten. Besonders eindrucksvoll ist die Studie »Bildungsverläufe und psychosoziale Entwicklung im Jugendalter« (BIJU) des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (MPIB). Für NRW etwa wird als Hauptergebnis festgehalten: Am Ende der 10. Klasse liegen Gesamtschüler in Mathematik im Vergleich mit Realschülern um zwei, im Vergleich mit Gymnasiasten um mehr als zwei Jahre zurück– und dies trotz einer Schülerklientel, die sich von der Schülerklientel der Realschule weder hinsichtlich sozialer Herkunft noch hinsichtlich intellektueller Fähigkeiten unterscheidet. Zugleich sind es die Länder Bayern und Sachsen, die bei Pisa eben ohne Gesamtschulen ganz nahe an die internationalen Spitzenwerte herankommen. Im internationalen Vergleich möge man außerdem beachten, dass ein Einheitsschulsystem etwa im angloamerikanischen Bereich, in Frankreich oder in Japan sozial in hohem Maße selektiv ist. Dort bekommt für seine Kinder nur der eine anspruchsvolle Bildung, der dafür jährlich umgerechnet 30 000 Euro für den Besuch einer privaten Schule aufbringen kann. Es ist auch keineswegs jede öffentlich hochgejubelte oder gar preisgekrönte Gesamtschule die »beste Schule Deutschlands«. Allein die Tatsache, dass es eine Inflation an Schulpreisen gibt, an denen sich in der Regel jeweils kaum mehr als hundert der 42 000 Schulen in Deutschland beteiligen, macht das deutlich.

Schluss mit »Frontalunterricht«?

Seit bald schon einem halben Jahrhundert kursiert die Kampfvokabel vom »Frontalunterricht«, den es endlich abzuschaffen gelte. Es mag ja Lehrer gegeben haben oder vereinzelt auch noch geben, die in die Klasse kamen und die pro forma ein Buch aufschlagen ließen, um die Schüler dann mit Monologen zuzuschütten. Aber diese Art von Unterricht ist vorbei. Längst öffnete sich der Unterricht, er wurde anschaulicher, er wurde nach und nach diskursiv, Schüler wurden zu aktiven Mitgestaltern, die Lehrer nahmen sich zurück. Von Frontalunterricht im Sinne der polemischen Nutzung dieses Begriffs kann schon lange nicht mehr die Rede sein.

Dann kam die Wende, und das Kind wurde mit dem Bade ausgeschüttet. »Neue Formen« des Lernens wurden angesagt. Der Lehrer sollte zum Edutainer und Animateur werden. Er sollte nur noch dafür da sein, die Lern-»Stationen« oder das Arbeitsmaterial vorzugeben: als »Moderator«, als Lern- und Projekt-»Manager«, als »Lernprozessorganisator«. Die Schüler sollten die Stationen und das Material auswählen, und sie sollten entscheiden, in welcher Sozialform (Einzel-, Partner-, Gruppenarbeit) sie arbeiten wollten.

Eine Evaluation haben diese Formen des Unterrichts nie über sich ergehen lassen müssen. Im Gegenteil: Alles, was empirisch über effizienten und effektiven Unterricht eruiert wurde, wird verdrängt, um schnell wieder in die Aversion gegen »Frontalunterricht« einzumünden. Dabei widerlegten mehrere namhafte Studien schon in den 1990er Jahren die reformpädagogischen Erwartungen an einen hauptsächlich schülerzentrierten Unterricht. »Demnach ist ein besonders leistungsförderlicher Unterricht dadurch charakterisiert, dass der Lehrer hohe Anforderungen stellt, die Schüler auch individuell intensiv berät und unterstützt, einen klaren und verständlichen Unterricht abhält und wenig Zeit in nicht-fachliche Aktivitäten investiert, Geduld bei Langsamkeit von Schülern hat und die Klasse effizient führt, so dass nur wenige Störungen und Unterbrechungen resultieren.«[17]

Und an anderer Stelle heißt es: »Zum Entsetzen vieler Reformpädagogen erwies sich in den meisten seriösen Studien eine Lehrform als überdurchschnittlich effektiv, die gelegentlich als ›direkte Instruktion‹ bezeichnet wird… Direkte Instruktion verbessert die Leistungen fast aller Schüler, erhöht deren Selbstvertrauen in die eigene Tüchtigkeit und reduziert ihre Leistungsängstlichkeit… Allerdings dominiert in vielen einschlägigen Arbeiten oft eine sehr einseitige Betrachtungsweise, so dass die attraktive Vorstellung vom Schüler, der zugleich lehrt und lernt, nicht als wichtiges Ziel, sondern fälschlicherweise als gegebene Voraussetzung dieses Forschungsprogramms angesehen wird.«[18]

Bei einem guten Lehrer handelt es sich dementsprechend um einen Lehrer »mit geschickter Fragetechnik und hoher Leistungserwartung, der einen wohlgeplanten und streng organisierten Unterricht hält, das aufgabenbezogene Verhalten der Schüler sicherstellt, viel bekräftigt, das zielerreichende Lernen betont, tutorielle Hilfen gibt und diagnostisches Feedback anbietet… Bemerkenswert ist schließlich, dass die pädagogischen Vorzüge guter Lehrer nach unseren Befunden eher in kognitiven als in sozio-emotionalen Aspekten der Unterrichtsgestaltung liegen.«[19] Sogar die TIMSS-Studie warnte 1997 davor, dass »die in Deutschland vor allem in der allgemeinen Didaktik, weniger in der Fachdidaktik verfolgte Strategie, die Struktur des lehrergeleiteten Fachunterrichts grundsätzlich in Frage zu stellen, möglicherweise zur Kumulation von Problemen führt.«[20]

Sind all diese Erkenntnisse Schnee von gestern? Nein! John Hattie mit seiner monumentalen, 380 Seiten starken Metastudie »Visible Learning« (dt.: »Lernen sichtbar machen«[21]) hat 138 Faktoren identifiziert, die– kategorisiert in sechs Gruppen– einen Effekt auf das schulische Lernen ausüben: Lernende, Elternhaus, Schule, Curriculum, Lehrer und Unterricht. Unter anderem kommt er zum Ergebnis, dass die höchsten Effektstärken zwei Schüler-Faktoren haben: deren Selbsteinschätzung und deren kognitive Entwicklungsstufe. Zu den Faktoren Lehrer und Unterricht stellt Hattie fest: Hohe Effektstärken haben Micro-Teaching, Klarheit der Lehrperson, Lehrer-Schülerbeziehung. Und: Geringe Effektstärken haben vor allem Freiarbeit und webbasiertes Lernen. Alles recht und schön. Und– siehe oben– in nichts neu!

Und noch etwas: Unterricht kann auch nicht zur Info- und Edutainment-Veranstaltung werden, wie es sich etwa der Moderator Ranga Yogeshwar vorstellt. Die Filme, die er über Naturphänomene produziert, sind durchaus sehenswert und attraktiv. Aber zu meinen, schulischer Unterricht solle so inszeniert werden, wie er es in den Filmen tut, ist nicht von dieser Welt. In der ARD-Talkrunde »Hart aber fair« mit dem Titel »Armutszeugnis für die Schule– Sparen wir die Zukunft unserer Kinder kaputt?« hat er dies im August 2008 so suggeriert. Ich habe ihm daraufhin in der Sendung einen sofortigen Lehrervertrag an meiner Schule angeboten, wenn er es schaffe, in jeder Woche 25 Stunden Unterricht in der Art seiner Filme zu halten– und zwar ohne gigantisches Redaktions- und Technikteam.

Übrigens: Gerade leistungsschwächere und jüngere Kinder profitieren von einem klar strukturierten Unterricht. Gerhard Roth, einer der führenden deutschen Hirnforscher, bestätigt dies 2011 eindrucksvoll. Laut Roth ist eine »demokratische« Schule des »selbstbestimmten« Lernens nur für eine »sehr kleine Gruppe hochbegabter Schüler sinnvoll, aber nicht für die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler«. Über den in gewissen Kreisen polemisch diskreditierten »Frontalunterricht« schreibt Roth: »DerFrontalunterricht eines kompetenten, einfühlsamen und begeisternden Lehrers ist allemal wirksamer als eine wenig strukturierte Gruppenarbeit und ein nicht überwachtes Einzellernen.«[22] Das ist richtig, und jeder Schulerfahrene weiß: Kinder ziehen begeistert mit und lassen jede Animation beiseite liegen, wenn ein Lehrer von einer Sache spannend und mitreißend zu erzählen weiß.

Und was ist mit der romantischen Vorstellung von »innerer Differenzierung« im Unterricht? Das Fazit der empirischen Unterrichtsforschung (so Rainer Dollase am 27.11.2015 bei einer Anhörung der Enquete-Kommission Bildung des hessischen Landtages) kann nur lauten, dass die individualisierte Instruktion keine sonderlich positiven Effekte hat. Das kann daran liegen, dass man in einem Unterricht mit der gesamten Klasse alle Erklärungen des Lehrers und alle Verständnisprobleme von Schülern erfahren kann. Im individualisierten, binnendifferenzierten Unterricht erfahren alle Schüler nicht dasselbe, sondern nur Partielles. Nur im lehrerzentrierten Klassenunterricht erfahren potentiell alle alles.[23] Durch die Aufhebung einer äußeren Differenzierung der Schülerschaft durch unterschiedliche Schulformen verlagert sich nun die Differenzierung in eine Schulklasse hinein. Aus einer äußeren Differenzierung wird eine innere Differenzierung. Das heißt aber auch: Aus der äußeren Diskriminierung wird eine innere Diskriminierung.

Im Zusammenhang mit Frontalunterricht ist es zudem interessant, den Absturz Finnlands bei den Pisa-Testungen ab 2009 näher zu betrachten. Der Vorsprung Finnlands vor Deutschland hat sich– je nach Testbereich– nämlich von rund 55 Pisa-Punkten bei der Testung im Jahr 2000 auf rund 15 Pisa-Punkte bei der Testung 2012 reduziert.[24] Manche führen den Rückgang der finnischen Pisa-Werte auf Sparmaßnahmen und auf einen wachsenden Migrantenanteil zurück. Wahrscheinlicher ist etwas anderes: Bei den ersten Pisa-Testungen zehrte Finnland vom strengen Frontalunterricht. So im Wesentlichen das Ergebnis einer Untersuchung der London School of Economics vom April 2015 mit dem Titel »Real Finnish Lessons– The true story of an education superpower«. So schreibt denn auch Die Welt am 7. Juli 2015: »Finnlands Pisa-Wunder entpuppt sich als Irrtum«. Als Gründe sieht die Welt: Finnland habe anfangs von Früchten gezehrt, die lange zuvor gesät wurden: vom Frontalunterricht und von der Autorität des Lehrers (wie in Asien). Kein deutscher Referendar könnte mit solcher Methodik in einer Lehrprobe bestehen. Finnlands Lehrer waren noch nicht zu »Lernbegleitern« degradiert. Zwei Tage später, ebenfalls in der Welt, 9. Juli 2015, schrieb Chefkorrespondent Alan Posener einen Artikel mit der Überschrift: »Finnische Pisa-Entzauberung«. Er bemüht Kritiker der Gesamtschule, wenn er schreibt: »Das scheinbar schülerfreundliche Gesamtschulsystem schade genau jenen, denen es helfen soll.«

Weg mit Noten und Zeugnissen?

Regelmäßiger als Weihnachten kommen aus progressiven Kreisen Aufschreie gegen Zeugnisse und Noten. Schier ein Werk des Teufels seien diese Instrumente. Da heißt es dann: »Schicksalsziffern« seien die Noten, und überhaupt stelle sich das Schulsystem mit seiner Notenpraxis ein »Armutszeugnis« aus. Schließlich hätten Noten ja nur einen einzigen Effekt, den der Demütigung und Sortierung von Schülern.

Aus dem Glaubenskrieg um Schulnoten wurde ein Politikum. Die mit der Abschaffung von Noten verbundene Hoffnung aber, damit zugleich schlechte Schulleistungen abschaffen zu können, wäre schließlich kaum etwas anderes als das Bemühen, das Fieber aus der Welt zu bannen, indem man alle Fieberthermometer verbietet. Schule kann aber nicht auf Elfenbeinturm-Attitüde machen oder zur leistungsfeindlichen Spielwiese werden. Schule ist Sozialisationsvehikel, das mit gängigen Werten und Normen vertraut zu machen und diese – mit der gebotenen Sensibilität und altersspezifisch angemessen – einzuüben hat. Erziehung zur Leistung impliziert Leistungsbewertung. Wer an diesem Prinzip festhalten will, der darf nicht via Schule – also via Geringschätzung einer klaren, individuellen Leistungsanalyse – an einem maßgeblichen Eckpfeiler dieser Gesellschaft sägen, es sei denn, er will via notenfreie Schule eine vereinheitlichende Schule und damit ein Stück entindividualisierte Gesellschaft. Ansonsten gibt es sehr wohl pädagogische Gründe für klare schulische Leistungsbewertung. Notenzeugnisse, so unvollkommen sie sein mögen, geben eindeutig Rückmeldung über Gelerntes; sie signalisieren zusätzlichen Förderbedarf; sie erleichtern eine individuell optimale Wahl der Schullaufbahn, und sie sind Anreiz zu unverminderter oder vermehrter Anstrengung.

Mehr als dreißig Jahre pädagogische »Forschung« um schulische Leistungsbewertung haben jedenfalls Zeugnisse und Noten nicht obsolet werden lassen. Aber die für einen Laien in fast undurchdringbarem Fachchinesisch geführte Diskussion um »Rasterzeugnisse«, »Bausteinzeugnisse«, »Berichtszeugnisse«, »Briefzeugnisse«, »Zeugnisbriefe«, »lehrplanbezogene Bewertungsmaßstäbe«, »schülerbezogene Bezugsnormen«, »kriteriumsorientierte Leistungstests«, »zuwachsorientierte Leistungsmessung«, »Maßstäbe eines zielerreichenden Lernens«, »standardisierte und normorientierte Tests«, »relative Notengebung«, »intraindividuelle und interindividuelle Bezugsnormen«, »Objektivitäts-, Reliabilitäts- und Validitätswerte«, »kriteriale und curriculare Normen« – diese Diskussion konnte nicht verbergen, dass all dies Zeugnisattrappen sind. Nicht selten sind es »schöne« Zeugnisse, die, weil die Lehrer die Wahrheit nicht schreiben wollen, nichts aussagen. Oft befleißigen sie sich einer Semantik, die kein Elternpaar, geschweige denn ein Schüler versteht. Häufig sind sie so verklausuliert, dass Eltern ohnehin nachfragen, welcher Ziffernnote das Worturteil denn nun entspricht. Bisweilen sind diese Wortzeugnisse wegen des enormen Formulierungsaufwandes gebrauchsfreundlich und floskelhaft mit dem PC produziert. Und manchmal bewerten sie einen Schüler in seiner Gesamtpersönlichkeit, was noch viel verletzender als eine Ziffern-Fünf sein kann.

Zum Popanz wird die Note dann, wenn Eltern Liebe gegen Noten handeln oder wenn für die gute Einzelnote reichlich materielle Belohnung bis hin zum Hunderteuroschein »rüberwächst«. Bei etwas mehr Gelassenheit hätten die Kinder auch weniger Nöte mit ihren Erziehern, denn mit den Noten gehen sie ohnehin viel unbefangener um als ihre »Alten«. Und zum ungedeckten Scheck werden Noten und Zeugnis, wenn es nur noch Bestnoten gibt. Eine solche Noteninflation kommt in ihrer Wirkung geradezu einer Abschaffung von Zeugnissen und Noten gleich. Und wie denkt die breite Bevölkerung darüber? Laut einer YouGov-Umfrage vom Juli 2016 halten 75 Prozent der 1024 Befragten Noten für sinnvoll – und zwar nahezu unabhängig vom Alter der Befragten.

Schluss mit Sitzenbleiben?

Für viele Generationen waren Wiederholer wie selbstverständlich Teil schulischer Realität. Dann, in den 1970er Jahren, wurden sie zum Streitthema. Mit der Gesamtschule wurde damals eine Schulform erfunden, in der es kein Sitzenbleiben mehr geben sollte. Die öffentliche Debatte darum blieb erhitzt. Das Versagen von Schülern sei ein Versagen des ganzen Schulsystems, so heißt es noch heute, denn Letzteres produziere geradezu »Absteiger«, »dropouts«. Besonders Beflissene instrumentalisieren schon auch einmal Gewaltvorfälle bis hin zum Massaker vom 26. April 2002 in Erfurt für ihre Forderung nach Abschaffung des Sitzenbleibens. Zumindest aber wird gerne behauptet, das Wiederholen einer Klasse bringe nichts.

Angesichts von so viel Herzblut ist etwas mehr Realitätssinn vonnöten. Die Fakten in Sachen Sitzenbleiben geben keine schulpolitische Generaldebatte her. Das gilt bereits für die Zahlen: Alarmisten sprechen von 200 000 Schülern pro Jahr, die »durchfallen«. Das bringt Schlagzeilen. Diese Zahl schrumpft aber in der Relation zur Schülerzahl auf einen lächerlichen Anteil zusammen. Dann sind es von elf Millionen Schülern gerade noch 1,8 Prozent, die sitzenbleiben.