Im Schutz des Nebels - Anja Buchmann - E-Book

Im Schutz des Nebels E-Book

Anja Buchmann

5,0

Beschreibung

Der Fantasy-Roman „Im Schutz des Nebels“ setzt die mit „Töchter der Sechs“ begonnene Welten-Nebel-Tetralogie fort, ist aber in sich abgeschlossenen und kann daher als Einzelwerk gelesen werden. Zwei junge Menschen wurden vom Schicksal auf Martul, dem Land unter der Nebelglocke, zusammenführt. Nur langsam wird ihnen ihre Aufgabe offenbart. Neben den Widrigkeiten ihrer Mission müssen sie auch immer wieder um die Beziehung zueinander kämpfen. Nur mit gegenseitigem Vertrauen und dem Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten können sie alle Hindernisse überwinden und Martul schützen. Seit fast viertausend Jahren ist Martul von einem undurchdringlichen Nebel umgeben, der es von der Außenwelt abgrenzt. Obgleich noch jung an Jahren, lastet eine schwere Bürde auf Ewens Schultern: Als Einzige ihres Volkes weiß sie um die Vergangenheit und um den Grund für den Nebel, ein Wissen, das sie in der Abgeschiedenheit der Berge Martuls hütet. Doch ihre Einsamkeit wird durchbrochen von einer Verbindung zu Btol, die durch Ewens Fähigkeit zum Gedankensehen, doch ohne ihr Zutun zustande kommt. Immer wieder wird sie Zeugin seines Lebens, versteht jedoch nicht, was die Götter damit bezwecken wollen. Btol ist der Prinz Helwas und seine Suche nach Abenteuern treibt ihn dazu, sein Heimatland zu verlassen. Durch einen Sturm wird er an die Küste Martuls gespült. Als Ewen feststellen muss, dass Btol ganz in Nähe weilt, kann sie die Augen nicht mehr davor verschließen, dass ihnen ein gemeinsames Schicksal bestimmt ist. Doch welches?

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Inhaltsverzeichnis

Im Schutz des Nebels

Karten

Die Bewahrerin

Berührung mit fremden Gedanken

Zu zweit

Die Nebelquellen

Epilog

Personen

Orte und Begriffe

Bonus: Die Geschichte der Sechs

Leseprobe aus "Weltenspiegel" - Welten-Nebel Band 3

Lust auf mehr?

Die Autorin

Impressum

Im Schutz des Nebels

-  Fantasyroman von Anja Buchmann -

Welten-Nebel-Tetralogie Band 2

Karten

Martul

Helwa

Die Bewahrerin

Die Götter aber breiteten einen undurchdringlichen Nebel aus,

der Margan und Tulup verschlang und seine Bewohner.

Nur jene, deren Herzen nicht von Krieg und Hass vergiftet worden waren,

fanden Gnade vor dem Gericht der Götter und eine neue Heimat im Schutz des Welten-Nebels.

Aus den Chroniken der Bewahrerinnen

Jahr 3631, Martul

Es war an der Zeit. Sobald der Schnee im Frühjahr getaut wäre, würde sie ins Tal aufbrechen, um ihre Nachfolgerin auszuwählen. Sie selbst hatte schon achtzig Sommer gesehen. Obgleich die Götter die Bewahrerinnen mit einer langen Lebensspanne segneten, musste sie nun endlich diesen Schritt gehen. Schließlich hatte Wilka viel Wissen weiterzugeben.

Es war ihr schwergefallen, diese Entscheidung zu fällen, denn auch wenn es schon siebzig Jahre her war, konnte sie sich noch gut erinnern, welche Qualen sie als Zehnjährige durchlebt hatte, nachdem sie erwählt worden war. Es tat ihr in der Seele weh, einem Mädchen dies antun zu müssen.

Sie trat vor ihr Haus und schaute auf zur fahlen Sonnenscheibe, die gerade ihre tägliche Bahn begann. Sie nahm den Eimer auf, um frisches Wasser aus dem Gebirgsbach zu holen. Sie stellte fest, dass das Tauwasser diesen schon merklich hatte anschwellen lassen. Sie würde ihre Reise bald beginnen können. Sie ächzte, als sie den gefüllten Eimer aus dem Bachlauf hob. Ihr Alter machte sich mit aller Macht bemerkbar.

Wieder einmal musste sie das strenge Urteil ihrer Mutter fürchten. Sie hatte einen Stapel Handtücher säumen sollen, und da Nähen noch nie zu ihren Lieblingsaufgaben gehört hatte, hatte Ewen sich recht lustlos ans Werk gemacht. Seit ihre vierjährige Schulzeit mit Beginn des neuen Jahres geendet hatte, war sie von früh bis spät den Launen ihrer Mutter ausgesetzt. Gerne hätte sie einen Beruf erlernt, doch ihre Mutter hielt dies für unnötig. Sie selbst war schließlich auch nur Hausfrau und Mutter. Zugegebenermaßen hatte sie damit genug zu tun, denn das Haus, in dem Ewens Familie lebte, war groß und der umgebende Garten nicht minder. Auch drei Kinder mussten versorgt werden. Wobei man ihren älteren Bruder wohl kaum noch als Kind zählen konnte, immerhin war er schon sechzehn und damit fast erwachsen. Den ganzen Tag über ging Agor ihrem Vater in der Landwirtschaft zur Hand. Er sollte später einmal das Haus und das Land übernehmen. Sie hingegen musste sich mit solchen Dingen wie Näharbeiten abgeben; ihre Mutter war fest entschlossen, eine annehmbare Partie aus ihr zu machen. Dabei lag Ewen nichts ferner, als ein Dasein als Ehefrau zu fristen. Doch so oft sie versuchte, dies ihrer Mutter begreiflich zu machen, erhielt sie stets die gleiche Antwort: Es sei eine ehrenvolle Aufgabe und sie wolle ihrer Familie doch keine Schande bereiten, indem sie sich dem Willen der Eltern widersetzte. Dann sollte doch ihre jüngere Schwester Kila diesen Weg einschlagen. Doch dies war undenkbar. Sicher wäre Kila frei, zu tun, was immer ihr beliebte. Schon mit ihren zwei Jahren konnte sie ihre Mutter um den Finger wickeln. Alle Liebe und Aufmerksamkeit der Mutter richtete sich auf sie, sodass für Ewen nur die Ermahnungen und Schelte übrig blieben. Sie tat die letzten Stiche und stapelte die Tücher auf. Vielleicht konnte sie ungesehen aus der Küche und dem Haus schlüpfen, bevor ihre Mutter sich ihrer Anwesenheit wieder bewusst wurde.

In diesem Moment aber schaute ihre Mutter auf. Sie fragte: „Bist du endlich fertig? Dann zeig her!“ Sorgfältig inspizierte sie Ewens Arbeit. „Naja, das ist ja ganz gut geworden.“

„Kann ich dann jetzt gehen?“

„Wo willst du denn hin?“

„Einfach nur ein bisschen raus. Wenn du willst, kann ich dir auch ein paar wilde Kräuter sammeln.“

„Dann geh, aber komm nicht zu spät. Und vergiss die Kräuter nicht.“

Den letzten Satz hörte Ewen kaum noch, sie war schon fast zur Tür hinaus.

Sie folgte nun seit zwei Monden dem vorgeschriebenen Pfad der Suche und hatte die großen Ebenen im Norden Martuls schon komplett durchquert. Als Bewahrerin war sie ein gern gesehener Gast in den Dörfern und viele Familien hätten es gern gesehen, wenn sie ihre Tochter mit sich genommen hätte, doch noch war das göttliche Zeichen ausgeblieben. Dabei hatte sie gehofft, in der dichter besiedelten Ebene fündig zu werden. Als Nächstes musste sie ihre Schritte nun in Richtung der Rogmündung im Westen wenden. Dort war das Gelände sumpfig, die Dörfer kleiner und weiter verstreut. Das Reisen würde daher beschwerlicher werden und sie würde die Nächte des Öfteren im Freien verbringen müssen.

Sie hatte aufgehört, die Dörfer zu zählen. Die höflichen Floskeln der Dorfvorsteher konnte sie inzwischen auswendig. Langsam wurden ihr die Menschen lästig. All die herausgeputzten jungen Mädchen, die darum wetteiferten, von ihr wahrgenommen zu werden, die übereifrigen Mütter, die es anscheinend kaum erwarten konnten, ihre Kinder loszuwerden. Welche Wohltat wäre es, in ihr Haus in den Großen Bergen zurückzukehren. Doch noch war die Erwählte nicht gefunden. Auch der Besuch der Dörfer des südwestlichen Hügellandes hatte sich als Zeitverschwendung entpuppt. Doch was auch geschah, sie musste dem althergebrachten Weg folgen. Seit Jahrhunderten wurde er von den Bewahrerinnen auf der Suche nach ihren Nachfolgerinnen beschritten. Er war ein Zeugnis der Beständigkeit Martuls. Schon lange waren keine neuen Siedlungen hinzugekommen und die bestehenden wuchsen nur langsam. Stets lebten nur so viele Menschen in ihnen, wie das umliegende Land ernähren konnte. Ein jedes Dorf konnte sich unabhängig versorgen, jede Siedlung stellte die Güter her, die zum Leben gebraucht wurden. Nur selten kam es zum Austausch von Waren zwischen benachbarten Gemeinden. Die Einzigen, die regelmäßig reisten, waren die Erzähler und Sänger. Daher begegnete Wilka auf ihrem Weg auch selten Menschen. Wenn sie doch mal jemanden traf, so konnte sie sicher sein, dass es sich dabei um einen jungen Mann handelte, der auf der Suche nach einer Frau durch Martul zog.

Als sie die großen Wälder des Südens erreichte, war der Sommer vorüber und der Herbst brach an, seit mehr als sechs Monden war sie unterwegs. Das Wandeln unter den großen alten Bäumen kam ihrem Bedürfnis nach Ruhe entgegen. In den großen Wäldern gab es nur einige kleine Dörfer auf den vereinzelten Lichtungen. In manchen würde es sicher kaum mehr als zwanzig Einwohner geben. Wenn sie auch hier keinen Erfolg hätte, so bliebe nur noch das Tausend-Bäche-Dorf am Fuß des Gebirges, dort, wo sich die Gebirgsbäche zum Fluss Rog vereinigten.

Es war das Fest der Ernte, doch ihr war nicht nach Feiern zumute. Erst am Morgen hatte sie wieder einen Streit mit ihren Eltern gehabt. Obgleich sie bei der Ernte genauso tatkräftig geholfen hatte wie jeder Erwachsene, wollte ihr Vater sie nicht in der Kunst des Ackerbaus unterweisen, wie er es bei ihrem Bruder getan hatte. Dabei gab es viele Frauen, die die Felder ihrer Familie bestellten, während die Männer einem Handwerksberuf nachgingen. All dies hatte sie ihren Eltern vorgehalten, und obgleich sie spürte, wie sich die Wut der beiden immer weiter steigerte, hatte sie nicht innehalten können. Es geschah selten, dass sie die Beherrschung verlor, doch diesmal hatte sie die angestaute Frustration nicht zurückhalten können. Nachdem sie sich wegen ihrer Aufsässigkeit sogar eine Ohrfeige von ihrer Mutter gefangen hatte, war sie einfach davongelaufen. Sie war gelaufen, hatte erst das Dorf und dann die Felder hinter sich gelassen. Sie hatte erst angehalten, als sie die ersten Felsbrocken erreichte, die den Fuß des Gebirges säumten. Nun saß sie auf einem großen Stein, schöpfte Atem und verfluchte die Ungerechtigkeit der Welt.

Langsam aber wurde sie ruhiger. Tief atmete sie die klare Luft ein, spürte die Kühle des Steins und lauschte dem Murmeln eines nahen Baches. Sie dachte: 'Agor mag Vaters Kind sein und Kila Mutters, doch ich bin ein Kind der Berge und Bäche. Hier bin ich zu Hause.' Noch während sie diesem plötzlichen Gedanken nachspürte, wusste sie um seine tiefe Wahrheit. Sie ließ sich auf den Rücken fallen und richtete ihren Blick auf den Himmel. Eine Weile lag sie einfach nur da und beobachtete die Wolken, die träge dahinzogen.

Sie überquerte eine Hügelkuppe und plötzlich lag das Tausend-Bäche-Dorf im Licht der Morgensonne vor ihr. Sie hatte ihren Zeitplan eingehalten, heute war Erntetag, der letzte Tag ihrer Reise. Heute würde sie ihre Nachfolgerin treffen. Sie eilte sich, um das Dorf noch vor dem Mittag zu erreichen, denn noch bevor am Abend die Feierlichkeiten begannen, wollte sie es wieder verlassen haben.

Ob der Festvorbereitungen war es nicht einfach für sie gewesen, sich Gehör zu verschaffen. Doch jetzt war man ihrem Wunsch nachgekommen. Nicht weniger als elf Mädchen im Alter von zehn bis vierzehn Jahren hatten sich auf dem zentralen Platz versammelt, an dem sich sonst die Dorfgemeinschaft einfand, um Gericht zu halten und Entscheidungen zu fällen. Bei solchen Zusammenkünften waren stets alle Bewohner ab vierzehn Jahren berechtigt, ihre Meinung zu verkünden und abzustimmen, unabhängig von Beruf und Geschlecht.

Langsam schritt sie die Reihe der Mädchen ab, doch bei keinem spürte sie auch nur den leisesten Anflug eines göttlichen Zeichens. Sie fragte: „Sind das wirklich alle?“

Die Antwort ließ ihr Herz stocken. Sollte es wirklich auf ganz Martul kein Mädchen geben, das geeignet war, ihre Nachfolgerin zu werden? Nie hätte sie gewagt, den Ratschluss der Götter anzuzweifeln, dennoch ängstigte sie die Vorstellung, dass es nach ihrem Tod keine Bewahrerin mehr geben sollte. Was bedeutete dies für die Zukunft Martuls? Hatte sie sich im Laufe der Reise immer noch Mut machen können, dass noch Dörfer vor ihr lagen, so konnte sie ihr Scheitern nun nur noch resigniert zur Kenntnis nehmen.

Sie war bemüht, sich ihre Sorgen und Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Das Angebot, die Nacht im Dorf zu verbringen, schlug sie aus. Sie wollte so schnell wie möglich zurück in ihr Heim. Vielleicht fand sie in den Aufzeichnungen ihrer Vorgängerinnen einen Hinweis darauf, was dies alles zu bedeuten hatte.

Mechanisch setzte sie einen Fuß vor den anderen, während sie in Gedanken ihre Reise Revue passieren ließ. Hatte sie etwas übersehen, waren ihre die göttlichen Zeichen entgangen, die eines der Mädchen als ihre Nachfolgerin kennzeichneten?

Sie erklomm die ersten Steigungen der Bergkette und spürte ihr Alter dabei wie nie zuvor. Jeder Schritt fiel ihr plötzlich unendlich schwer. Obgleich es erst Nachmittag war, beschloss sie, ihr Nachtlager aufzuschlagen.

Sie legte ihr Reisebündel ab und beugte sich über einen kleinen Bach, um sich zu erfrischen. Als sie ihre Hand in das klare kühle Nass tauchte, löste sich eines ihrer Armbänder und wurde vom Wasser davongetragen.

Irgendetwas hatte sich verändert. Ewen glaubte, ein Summen zu vernehmen, doch sie konnte die Quelle nicht ausmachen. Sie erhob sich von dem Stein und blickte sich suchend um. Das Summen wurde stärker und sie verspürte Verunsicherung und Sorge. Doch es waren keine Gefühle, die von ihr ausgingen. Um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, kniete sie am nahen Bach nieder und benetzte ihr Gesicht mit Wasser. Die seltsamen Empfindungen ließen nach. Doch was war das? Der Bach führte ein eher ungewöhnliches Treibgut mit sich. Sie griff danach und hielt ein Armband in den Händen. Es war aus Leder gefertigt und mit kunstvollen Brandzeichen verziert. Wem es wohl gehörte? Sie drehte das Schmuckstück unschlüssig in den Händen. Die abstrakten Zeichnungen lösten eine nie gekannte Faszination und Neugier aus. Es war ihr ein Bedürfnis, den Eigentümer zu finden. Weit konnte er nicht sein. Das Armband machte nicht den Eindruck, als habe es lange im Bach gelegen. Der Besitzer musste also irgendwo am Lauf dieses Baches zu finden sein.

Sie sollte recht behalten. Sie war dem Wasserlauf noch keine halbe Stunde gefolgt, als sie eine alte Frau sah, die mit geschlossenen Augen an einen Stein gelehnt dasaß. Langsam näherte Ewen sich. Sie wollte die Frau nicht erschrecken. Was machte eine so alte Frau allein in den Bergen, ob sie sich verlaufen hatte?

Da war es wieder, dieses seltsame Summen. Ob es wohl mit der Frau zusammenhing? Neugierig ging sie noch einen Schritt auf die Alte zu.

Sie bemühte sich, Ruhe zu finden, um mit den Göttern in Kontakt zu treten. Mit geschlossenen Augen fokussierte sie sich ganz auf das Fließen ihres Atmens. Plötzlich spürte sie, wie etwas oder jemand an die Pforte ihres Geistes klopfte. Zunächst glaubte Wilka, ihr Gebet habe die Götter erreicht, doch diese Präsenz hatte so gar nichts Göttliches und Erhabenes an sich. Was mochte dies bloß sein? Die Überlegungen unterbrachen ihre Konzentration, sie öffnete die Augen und blickte um sich. Unweit stand ein Mädchen, das sie neugierig aus großen blauen Augen anblickte. Äußerlich unterschied sie sich nicht sehr von den vielen Kindern, die Wilka während ihrer Reise gesehen hatte, die Haut war blass wie bei fast allen Einwohnern Martuls und bildete kaum einen Kontrast zum hellblonden Haar. Doch dann spürte sie wieder diese Präsenz. Das Mädchen war eine Gedankenseherin! Wilka selbst verfügte über eine schwache Anlage auf diesem Gebiet, die sie erst nach jahrelangem Training hatte nutzen können. Die Gabe dieses Kindes aber war stark, noch roh wie ein ungeschliffener Stein, doch schon jetzt unverkennbar in ihrer Macht. Das musste die Erwählte der Götter sein.

Die Alte starrte sie nun schon eine ganze Weile an und Ewen wusste nicht, was sie tun oder sagen sollte. Dann erinnerte sie sich an das Armband. Zaghaft streckte sie es der alten Frau entgegen und sagte: „Entschuldige die Störung. Ich fand dies etwas bachabwärts im Wasser treibend. Gehört es vielleicht dir?“

Die Frau nickte. „Hab Dank, dass du es mir zurückgebracht hast. Doch sag, wie heißt du und was machst du ganz allein hier in den Bergen?“

Für gewöhnlich war sie Fremden gegenüber eher zurückhaltend, doch zu der Alten hatte sie sofort Zutrauen. Sie erzählte ihr, dass sie von Zuhause weggelaufen war. Ehe sie es sich versah, hatte sie der Fremden auch von ihrem Kummer berichtet. Als sie geendet hatte, war jedoch jede Spur von Trübsal verschwunden. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich verstanden, obgleich die alte Frau kein Wort gesagt und nur bisweilen verstehend genickt hatte. Danach saßen sie schweigend nebeneinander und lauschten dem Murmeln des Baches.

Wilka hielt den Zeitpunkt für gekommen, das Mädchen, von dem sie zuvor nicht nur den Namen, sondern gleich die ganze Lebensgeschichte erfahren hatte, in ihre göttliche Bestimmung einzuweihen. Behutsam begann sie: „Ewen, jetzt hast du mir so viel von dir erzählt, es ist an der Zeit, dass ich dir von mir erzähle. Mein Name ist Wilka. Ein Auftrag der Götter führte mich hierher. Seit nunmehr fünfzig Jahren diene ich den Göttern als Bewahrerin. Du weißt sicher, was meine Aufgabe ist.“

„Ja, du hütest das Wissen unseres Volkes.“

„Das ist richtig. Nun bin ich auf der Suche nach meiner Nachfolgerin. Das heißt, ich war es. Denn ich glaube, du bist es, die die Götter ausgewählt haben.“

Als sie diese Worte sprach, beobachtete sie Ewen genau. Dies wäre jedoch nicht nötig gewesen, denn Ewens ungesteuerte Gabe sandte deutliche Signale in Wilkas Geist. Sie spürte Freude und Ungläubigkeit, Glück und Zweifel.

Es dauerte, bis Ewen ihre Sprache zurückerlangt hatte. Sollte dies wirklich wahr sein, sie und eine Erwählte der Götter? Sie musste ungläubig geschaut haben, denn Wilka versicherte ihr, dass sie es ernst meinte. Am liebsten wäre Ewen sogleich zur Einsiedelei der Bewahrerin aufgebrochen, doch diese dämpfte ihren Eifer. Zunächst mussten sie zum Tausend-Bäche-Dorf zurückkehren. Dort sollte sich Ewen von ihren Eltern verabschieden. Aus ihrer Sicht ein unnötiger Umweg, doch Wilka bestand darauf, es war Bestandteil des Auswahlprozesses.

Obgleich es schon dunkel wurde, machten sie sich auf den Weg. Ewen trug Wilkas Bündel. Die Feuer des Erntefestes waren weit zu sehen, sodass sie nicht Gefahr liefen, im Dunklen fehlzugehen. Als sie schließlich das Dorf erreichten, nahm niemand Notiz von ihnen. Alle waren berauscht von dem offenbar reichlich geflossenen Alkohol. Es gelang Ewen nicht, ihre Eltern in dem Getümmel ausfindig zu machen, also führte sie Wilka in das elterliche Haus und richtete ihre eigene Schlafkammer für sie her. Sie selbst suchte sich einen Platz im Speicher auf dem frischen Heu.

Der Schlaf aber wollte sich nicht einstellen, es gab zu viel, worüber sie nachdenken musste. Wilka hatte ihr auf dem Weg schon einiges über die Aufgabe der Bewahrerin berichtet und auch die Härten eines Lebens in Abgeschiedenheit nicht verhehlt. Doch diese bereiteten Ewen kein Kopfzerbrechen. Es war vielmehr die Aufregung, die sie nicht schlafen ließ. Wilka war ihr von Anfang an sympathisch gewesen und sie freute sich darauf, zukünftig bei der alten Frau zu leben. Ihr war es, als verbände sie mehr mit dieser eigentlich Fremden als mit ihrer eigenen Familie. Es würde ihr keineswegs schwerfallen, ihre Eltern und Geschwister zurückzulassen. Auch die anderen Kinder des Dorfes würde sie nicht vermissen. Während der vier Jahre, die sie mit ihnen gemeinsam in die Dorfschule gegangen war, hatten sich allenfalls lose Freundschaften entwickelt, die jetzt, nur neun Monde nach Verlassen der Schule schon wieder in Auflösung begriffen waren. Die Vorstellung, eine Auserwählte der Götter zu sein, ließ all dies noch bedeutungsloser erscheinen.

Noch wusste sie nicht genau, was von ihr als zukünftige Bewahrerin erwartet werden würde, Wilka hatte sich noch nicht so konkret geäußert, doch sie wusste, dass es eine große Menge Wissen zu erlernen gab, von dem der Rest der Bevölkerung nichts ahnte.

Über ihre Grübeleien schlief sie schließlich ein.

Am Morgen wollte sie gerade die Küche betreten, als sie Wilkas und die Stimme ihrer Mutter aus dem Raum vernahm. Obgleich sie wusste, dass Lauschen sich nicht gehörte, blieb sie im Schatten des Türrahmens stehen. Sie wagte einen Blick in den Raum. Auch ihr Vater war anwesend. Soeben hatte Wilka das Wort ergriffen: „Als ich euer Dorf gestern besuchte, habt ihr die Abwesenheit eurer Tochter noch nicht einmal bemerkt oder sie für nicht erwähnenswert gehalten. Nun aber wollt ihr mir erzählen, wie sehr ihr sie liebt und wie ungern ihr sie ziehen lassen wollt. Was gedenkt ihr damit zu bezwecken? Wünscht ihr Gefälligkeiten meinerseits oder vonseiten der Götter im Austausch für eure Tochter?“

Ewens Mutter ergriff das Wort: „Nun, natürlich haben wir dies nicht erwartet. Es ist schon Ehre genug, wenn unsere Tochter Bewahrerin wird. Doch du musst wissen, dass es nicht leicht sein wird, unseren Hof ohne ihre Hilfe zu führen. Daher käme ein göttlicher Segen für Haus und Hof gerade zur rechten Zeit.“

Obgleich Ewen Wilkas Gesicht nicht sehen konnte, vermochte sie, ihre Wut zu spüren. Die Stimme der Bewahrerin klang plötzlich laut und ehrfurchtsgebietend: „Was glaubt ihr, wer ihr seid, dass ihr göttliche Gnade verdient habt? Dass eure Tochter als meine Nachfolgerin geeignet ist, ist mitnichten euer Verdienst. Wagt es nicht, eine Gegenleistung für ihren Weggang zu fordern.“

Zerknirschtheit spiegelte sich in den Gesichtern ihrer Eltern, als diese eilfertig nickten. Wilka sprach erneut: „Wenn ihr euch später von Ewen verabschiedet, so verhaltet euch anständig. Wünscht ihr alles Gute und lasst sie ziehen.“

Erneut nickten ihre Eltern und Ewen hielt den Zeitpunkt für geeignet, aus ihrem Versteck zu treten. Was sie gesehen und gehört hatte, war nicht überraschend gewesen. Wobei, die Dreistigkeit, die Bewahrerin um eine Entschädigung für sie zu bitten, hatte sie selbst ihren Eltern nicht zugetraut.

Ewens Anwesenheit war ihr bewusst, ihre Präsenz war deutlich zu spüren, doch sie sah keinen Anlass, sich nicht mit harschen Worten an die Eltern zu wenden. Das Mädchen wusste um die Natur seiner Beziehung zu ihnen und das, was sie eventuell zu sehen und zu hören bekäme, würde sie nicht überraschen. Möglicherweise wäre es sogar heilsam für das Mädchen, wenn ihre Eltern einmal ihr Verhalten vor Augen geführt bekämen.

Obgleich die Spannung im Raum beinahe greifbar war, gelang es ihr, sich vollkommen unbekümmert zu geben. „Guten Morgen, Vater und Mutter. Guten Morgen, Wilka. Wie ich sehe, habt ihr euch schon kennengelernt. Hat Wilka euch schon berichtet, dass ich mit ihr gehen werde?“

Ihr Vater sagte: „Ja, Ewen, und wir sind damit einverstanden.“

Im Stillen dachte sie: 'Wilka hat euch ja auch keine andere Wahl gelassen.' Aber sie erwiderte nichts.

Das Frühstück nahmen Wilka und sie gemeinsam mit ihrer Familie ein und nach einem Abschied, dem es gänzlich an Emotionalität mangelte, machten sie sich auf in Richtung Berge. Mit jedem Schritt, der sie von ihrem Heimatdorf wegführte, fühlte sie sich freier und beschwingter. Nach einer Weile stimmte sie sogar ein Lied an.

Es war schön zu sehen, mit welcher Zuversicht Ewen ihr neues Leben als ihre Nachfolgerin begann. Die Götter hatten wahrlich eine vortreffliche Wahl getroffen. Nur eine Sache bereitete Wilka Kopfzerbrechen: Ewens starke Gabe des Gedankensehens. Eine solche Begabung verliehen die Götter nicht ohne Grund, dem Mädchen musste Großes vorherbestimmt sein. Wilka hoffte, dass es ihr gelingen würde, ihre Nachfolgerin ausreichend darauf vorzubereiten. Sie sandte ein stummes Gebet zu den Göttern, in dem sie um Kraft und Führung bat.

Während sie sich bemühte, mit der jugendlichen Leichtfüßigkeit Ewens Schritt zu halten, begann sie, Pläne für die Ausbildung des Mädchens zu machen. Sollte sie gleich damit beginnen, sie in der Beherrschung ihres Talentes zu unterrichten? Am Morgen erst hatte sich gezeigt, wie stark diese Gabe bei Ewen ausgeprägt war. Ohne es zu wollen, hatte sie Wilka ihre Anwesenheit verraten. Auch war sie sich fast sicher, dass Ewen unbeabsichtigt Zeugin ihrer Emotionen geworden war. Es wäre angenehmer für sie beide, wenn das Mädchen schnell lernte, wie sie ihre Gabe ausblenden konnte. Wenn sie permanent Wilkas Gefühle und Gedanken spürte, würde es sie belasten. Aus den Büchern der Höhle wusste Wilka, dass es in der Vergangenheit einzelne Fälle gegeben hatte, in denen Gedankenseher ob des ständigen Zustroms fremder Gefühle den Verstand verloren hatten. Daher würde sie gleich morgen mit dem Unterricht beginnen.

Fünf Tage hatten sie sich ihren Weg durch die zerklüftete Berglandschaft gebahnt, bevor sie den Hort des Bewahrens erreichten. Hier in den Bergen waren die ersten Vorboten des nahenden Winters schon deutlich spürbar, die Nächte waren kalt und am Vortag waren ihre Schlafdecken am Morgen mit Reif bedeckt gewesen. Wilka spürte den nahenden Winter in ihren Knochen. Er kam ungewöhnlich früh in diesem Jahr und würde sie für sechs Monde von allem abschneiden. Es war fast so, als wollten die Götter ihnen die nötige Ruhe für den Unterricht verschaffen.

In den wenigen Tagen, die sie mit Ewen gereist war, hatte Wilka bereits feststellen können, wie lernwillig und klug das Mädchen war. Die Übungen, die ihr helfen sollten, ihren Geist zu fokussieren und sich zu konzentrieren, hatte sie trotz der kurzen Zeit bereits gut verinnerlicht. Noch hatte Wilka ihr jedoch den Zweck dieser Techniken nicht enthüllt. Sicher wäre es für das junge Mädchen nicht leicht, mit einer solch mächtigen Gabe konfrontiert zu sein. Daher schien ihr ein behutsames Vorgehen angeraten. Auch wollte sie selbst noch einen Blick in die Bücher werfen, bevor sie mit dem eigentlichen Training des Gedankensehens begann. Da ihre eigenen Kräfte nur schwach ausgeprägt waren, musste sie alle verfügbaren Quellen nutzen, um Ewen bei der Beherrschung ihres Talents zu unterstützen. Sicher unterschieden sich Ewens Wahrnehmungen von den ihren.

Wilkas Lehrmeisterin war eine starke Gedankenseherin gewesen und sie hatte Wilka oft vor den potenziell zerstörerischen Aspekten dieser Kunst gewarnt. Nicht nur der Geist des Ausübenden konnte geschädigt werden, auch andere Personen konnten in Mitleidenschaft gezogen werden. Sie konnte nicht riskieren, dass Ewen oder ihr etwas Derartiges widerfuhr.

Sie hatte eine kleine Holzhütte erwartet, doch die Wohnstätte der Bewahrerin war aus solidem Stein und stand ihrem Elternhaus in Größe kaum nach. Gleich nach ihrer Ankunft führte Wilka sie herum. Es gab eine große Küche, einen gut gefüllten Vorratsraum, eine Wohnstube, ein Schreibzimmer sowie zwei Schlafräume, von denen einer in Zukunft ihr Reich sein würde.

Durch Wilkas Abwesenheit war alles mit einer dicken Staubschicht überzogen und es würde sicher einige Stunden dauern, alles herzurichten, doch Arbeit schreckte sie nicht. Ohne auf Wilkas Anweisung zu warten, entzündete Ewen zunächst ein Feuer im Küchenherd und bereitete eine warme Mahlzeit zu, während Wilka sich von den Strapazen der Reise erholte, so glaubte Ewen zumindest. Als die Suppe jedoch fertig war, konnte sie Wilka im Haus nicht finden, auch im Umkreis der Hütte konnte sie sie nicht entdecken. Wohin mochte sie wohl gegangen sein, es würde bald dunkel werden. Um sich die Wartezeit zu vertreiben, begann sie, die Möbel vom Staub zu befreien.

Alle Räume waren gesäubert, nur Wilkas Schlafzimmer hatte sie unberührt gelassen. Sie fand es unpassend, im privaten Raum ihrer Meisterin zu stöbern. Es war schon seit Stunden dunkel, doch von Wilka fehlte noch immer jede Spur. Hoffentlich war ihr nichts zugestoßen. Aber nein, schließlich lebte sie schon lange hier, sie kannte die Berge mit allen Gefahren. Außerdem hätte Ewen es gespürt, wenn sich etwas Außergewöhnliches ereignet hätte. Obgleich sie sie erst kurze Zeit kannte, war eine tiefe Verbindung zu der Bewahrerin entstanden. Bisweilen hatte sie sogar geglaubt, ihre Gefühle und Gedanken zu teilen. Natürlich wusste sie, dass dieser Eindruck trog, doch sie konnte sich dessen dennoch nicht erwehren. Im Moment schenkte ihr dies das Wissen, dass es der alten Frau gut ging, wo immer sie auch sein mochte. Als ihre Lehrerin war sie ihr schließlich keine Rechenschaft schuldig.

Sie wärmte die Suppe auf und aß. Dann legte sie nochmals Holz nach, auf dass die Küche über Nacht nicht auskühlte, bevor sie sich zu Bett begab.

Der Zauber der Höhle nahm sie stets aufs Neue gefangen, auch wenn sie seit fast siebzig Jahren in der Höhle der Weisheit aus- und einging. Zwei Jahre nach Beginn ihrer Ausbildung hatte ihre Vorgängerin sie hierher mitgenommen und seitdem war sie regelmäßig in der Grotte gewesen, die versteckt unweit ihres Hauses lag. Hier lagerte der Schatz, den die Bewahrerinnen seit Jahrtausenden hüteten, das Wissen Martuls, niedergeschrieben in Tausenden von Büchern, die die in Stein gehauenen Regale füllten, teilweise so dicht, dass die Wände nur aus Büchern zu bestehen schienen. Selbst die lange Lebensspanne der Bewahrerinnen reichte nicht aus, alle zu lesen, daher hatte eine von ihnen schon vor langer Zeit damit begonnen, sie nach Themen zu ordnen und kurze Inhaltsangaben zu verfassen. Jede ihrer Nachfolgerinnen hatte diese Arbeit fortgesetzt und so war es gelungen, die Gesamtheit der Bibliothek zu ordnen und inhaltlich zu erfassen. Seit zehn Generationen mussten nur noch neu hinzukommende Werke in den Katalog aufgenommen werden. Neben der jährlich um ein Band wachsenden Geschichtsschreibung kamen bisweilen auch neue Erkenntnisse über die Natur oder Errungenschaften der Technik hinzu. Wilka konnte sich jedoch nicht erinnern, etwas wirklich Wichtiges während ihrer Lebensspanne niedergeschrieben zu haben. In den letzten Jahrzehnten war das Leben der Bevölkerung stets gleichförmig im Takt von Saat und Ernte verlaufen, Menschen starben, Kinder wurden geboren, Ehen geschlossen. Es hatte gute Ernten gegeben und schlechte, harte Winter und milde, aber nichts, was für die Nachwelt von Bedeutung sein würde. Wilka aber war sich sicher, dass sich dies schon bald ändern würde, Ewens ausgeprägte Gabe war ein deutliches Vorzeichen.

Neben den Büchern gab es noch etwas, das die Höhle zu einem besonderen Ort machte und das war das Gestein, aus dem ihre Decke bestand. Niemand konnte sich erklären, warum es leuchtete, aber es tat es. Der gesamte Raum war stets in ein angenehm warmes Licht getaucht, ohne das je auch nur eine einzige Lampe entzündet werden musste. Keine ihrer achtundsechzig Vorgängerinnen hatte eine Erklärung für dieses Phänomen finden können und auch Wilka hatte einsehen müssen, dass es sich wohl um eine Schöpfung der Götter handeln musste, die die Einzigartigkeit und Besonderheit dieses Ortes unterstreichen sollte.

Ganz gefangen im Gefühl der Heimat und Geborgenheit war sie lange die Reihen der Bücher entlanggegangen und hatte jene Bücher entnommen, die Auskunft über das Gedankensehen geben konnten. Sie hatte eines nach dem anderen durchgeblättert und die vielversprechendsten beiseitegelegt, um sie mit ins Haus zu nehmen. Dabei hatte sie nicht bemerkt, wie die Zeit vergangen war. Es hatte nur ein kurzer Abstecher werden sollen, doch als sie aus der Höhle trat, war die Nacht schon weit fortgeschritten. Hoffentlich hatte sich Ewen nicht geängstigt. Schnell kehrte sie ins Haus zurück.

Es war vollkommen still und sie schärfte ihre Sinne, um Ewens Befinden zu erforschen. Ihre Fähigkeit des Gedankensehens verriet ihr, dass das Mädchen in tiefem, gleichmäßigen Schlaf lag. Ohne ein Licht zu entzünden, legte sie die Bücher in der Schreibstube ab und begab sich ebenfalls zur Ruhe.

Sie erwartete keine Erklärung über das Verschwinden am Vortag und war erstaunt, eine zu erhalten. Bevor ihre Lehrmeisterin sich am Morgen an den von Ewen hergerichteten Frühstückstisch setzte, sagte sie: „Guten Morgen, Ewen. Du hast hoffentlich eine angenehme Nachtruhe gehabt. Ich hoffe, du hast dich nicht zu sehr geängstigt, als ich dich gestern allein ließ. Ich hatte etwas für deine Ausbildung vorzubereiten und habe darüber die Zeit vergessen. Aber wie ich sehen konnte, hast du dich ja gut zurechtgefunden. Danke, dass du das Haus in Ordnung gebracht hast.“

Es freute sie, Lob für ihre Arbeit zu erhalten. Von Zuhause war sie stets nur Schelte gewohnt gewesen. Sie antwortete: „Deine Abwesenheit hat mich zunächst verwundert, doch Angst verspürte ich keine. Auch bist du mir keine Rechenschaft über dein Tun schuldig, schließlich bist du meine Lehrerin.“

„Es ehrt dich, dass du mir diesen Respekt zollst, doch das ist nicht nötig. Ich werde dich zwar ausbilden, doch wir sind einander gleichgestellt, wir sind beide Dienerinnen der Götter. Dass ich dich gestern allein ließ, war eine Unbedachtheit. Ich muss mich erst daran gewöhnen, dass du jetzt hier bist. Schließlich habe ich ein halbes Jahrhundert allein gelebt.“