Töchter der Sechs - Anja Buchmann - E-Book

Töchter der Sechs E-Book

Anja Buchmann

4,8

Beschreibung

Ein Kind, das in einer stürmischen Nacht an die Küste Cytrias gespült wird und das Jahre später für eine schier unglaubliche Enthüllung sorgt: Als während des Rituals zur Wintersonnenwende plötzlich fremdartige Zeichen auf dem Heiligen Würfel erscheinen, setzt die Oberpriesterin Yerina alles daran, dieses Zeichen der Götter zu entschlüsseln. Was dabei offenbar wird, wird Cytria für immer verändern. Ein junger Gelehrter, eine Priesterin und eine Schiffbauerin machen sich auf Geheiß der Götter auf zu einer Reise ins Ungewisse. Neben vielen Gefahren müssen sie sich auch ihren eigenen Ängsten und Unsicherheiten stellen, um ihre Aufgabe erfüllen zu können. "Töchter der Sechs" bildet den Auftakt der Welten-Nebel-Tetralogie

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Inhalt

Töchter der Sechs

Karten

Prolog

Lehrzeit

Enthüllungen

Reise ins Ungewisse

Fremde Freunde

Getrennte Wege zum Ziel

Epilog

Personen

Orte und Begriffe

Leseprobe aus "Im Schutz des Nebels" - Welten-Nebel Band 2

Lust auf mehr?

Die Autorin

Impressum

Töchter der Sechs

 - Fantasyroman von Anja Buchmann -

 Band 1 der Welten-Nebel-Tetralogie

Karten

Cytria

Helwa

Prolog

Die Geschichte der Sechs

Viele Jahrhunderte lang lebten die Cytrianer ein behütetes Leben unter dem Schutz der Götter. Doch nicht alle Menschen wussten dies zu schätzen, Neid, Hass und Gier wuchsen in den Herzen.

Die Götter waren betrübt über solchen Undank ihren reichen Gaben gegenüber, doch sie wollten die Menschen nicht vorschnell verdammen und ihnen eine letzte Chance geben.

Am Tag der Wintersonnenwende des Jahres 3582 erblickten sechs Kinder die Welt, die von den Göttern mit besonderen Talenten gesegnet wurden. Lange ahnten die Auserwählten nichts von ihren Fähigkeiten, doch die Götter leiteten ihre Schritte, auf dass die Prophezeiung wahr würde.

Es werden sechs sein,

unter den gleichen Sternen geboren,

sie werden zueinander finden

und ihre Macht wird groß sein.

Noch bevor die Sechs selbst etwas von ihren Gaben ahnten, sendete der Prinz Cytrias, den es nach Macht dürstete, Häscher aus, um sie zu finden. Getrieben von ihren Verfolgern oder durch Eingebungen der Götter ließen die jungen Menschen ihre Leben hinter sich und suchten ihre Wege durch Cytria. Nicht nur von den Männern des neu gekrönten Königs drohte ihnen Gefahr. Ihre erwachenden Gaben aber halfen ihnen, jedem Unheil zu entgehen.

Dem Heiler Tharet war es gegeben, den menschlichen Körper über die Grenzen der gewöhnlichen Heilkunst hinweg genesen zu lassen, während der Priesterin Yerina Macht über den menschlichen Geist gegeben war. Der Seemann Aden erkannte sein Talent in der Beeinflussung des Wassers, wohingegen die mit ihm reisenden Kunstschmiedin Carlynn Einfluss auf Steine und Metall nehmen konnte. Der Hirte Jeven aber konnte mit den Tieren kommunizieren und die Bäuerin Peria war Macht über die Pflanzen geschenkt. Doch auch wenn die Beschwernisse ihrer Reisen sie ihre Gaben erkennen ließen, so wussten sie doch nicht, warum sie ihnen gegeben waren.

Auf der Suche nach Antworten trafen die Sechs auf den Inseln der Seherin zusammen und ihnen wart die vollständige Prophezeiung enthüllt.

Es werden sechs sein,

unter den gleichen Sternen geboren,

sie werden zueinander finden

und ihre Macht wird groß sein.

Von den Göttern auserkoren,

um ihre Welt zu retten,

müssen sie ihre Kräfte vereinen,

dort wo die Linien der Kraft sich schneiden.

Wenn die Sonne im Winter sich wendet,

können nur sie verhindern,

dass für immer sie erlischt

und die Welt in Dunkelheit versinkt.

All dies wird geschehen,

im sechzigsten Jahr des sechzigsten Zyklus.

Sie machten sich auf, jenen Ort großer Macht zu finden. Nicht nur die Unsicherheit über dessen Lage ließ die Sechs am Erfolg ihrer Mission zweifeln. Die Machtgier des Königs hatte einen Bürgerkrieg heraufbeschworen, der die Reise noch gefährlicher machte.

Die Götter aber waren mit ihnen und halfen ihnen, ihr Ziel zu erkennen. Auf dem Weg retteten sie dem Soldaten Roji das Leben und gewannen in ihm einen Verbündeten.

Sie stießen auf eine Linie der Macht und folgten ihr in den geheimnisvollen Uralt-Wald. Auf einer Lichtung fanden sie den Ort, an dem sich die Linien der Macht schnitten. Am Tag der Wintersonnenwende stellten sie sich dem Urteil der Götter. Willens, ihre Gaben und gar ihr Leben hinzugeben, flehten sie die Götter um Gnade für die Menschen Cytrias an. Und die Götter gewährten ihnen diese Gunst. Doch noch bevor sie ihre Aufgabe unter der Leitung einer göttlichen Botin vollenden konnten, erreichte sie der König mit seinen Häschern. Doch dessen Plan, Aden zu töten misslang, da Roji sein Leben für Adens gab.

Die Sechs beendeten ihr Werk und Cytria ward gerettet. Seit jenem Tag zeugt der schwarze Steinwürfel am Ort des Geschehens von ihrem Erfolg.

Lehrzeit

Sommer 3606, Eiren

Peria hätte nie geglaubt, dass kleine Kinder so anstrengend sein konnten - allerdings fehlte es ihr auch an Erfahrung. Madia hielt sie jede Sekunde des Tages in Atem. Sie erforschte die Welt mit allen Sinnen, berührte alles und hinterfragte, was immer ihr neu war. Nie stand der Mund der Viereinhalbjährigen still. Alles, was auf Perias Farm vor sich ging, hatte sie der kleinen Madia schon erklären müssen, doch der Wissensdurst war ungebrochen. Manchmal beneidete Peria Jeven, wenn dieser nach seinen kurzen Aufenthalten auf der Farm wieder mit seiner Herde weiterziehen konnte. Dennoch wollte sie das Mädchen auf keinen Fall missen, wie einsam wäre ihr Leben ohne sie. Obgleich Madia nicht ihre leibliche Tochter war, liebte sie sie wie ein eigenes Kind. Seit Jeven ihr seine damals einjährige Tochter nach dem Tod ihrer leiblichen Mutter anvertraut hatte, war die Liebe von Tag zu Tag gewachsen.

Herbst 3606, Jal

„Roji, hör auf, deine Schwester zu ärgern!“

Der Dreieinhalbjährige, der nach jenem Soldaten benannt war, der sein Leben damals für das Leben von Aden gab, scherte sich jedoch nicht um die Worte seiner Mutter Carlynn. Er fuhr damit fort, seiner fünfzehn Monde älteren Schwester die Stöckchen und Steine zu mopsen, mit denen diese gerade versuchte, eine kleine Hütte zu bauen. „Mama, er soll weggehen, er macht mir noch alles kaputt.“

„Roji, komm mit in die Küche. Wir backen einen Kuchen. Und wenn du brav bist, darfst du die Schüssel auslecken.“

Dies ließ sich der Kleine nicht zwei Mal sagen. Schnell lief er zu seiner Mutter. Diese nahm ihn an die Hand, nachdem sie sich den jüngsten Spross der Familie, den vierzehn Monde alten Jaren, auf die Hüfte gesetzt hatte. Gemeinsam wandten sie sich dem Haus im Handwerkerviertel zu, das Carlynns und Adens Familie als Heim diente und das sie von Carlynns Vater zu Hochzeit erhalten hatten. Darija ließen sie spielend im Garten zurück. Wenn Carlynn sich beeilte und die Kinder ihr keinen Strich durch die Rechnung machten, würde sie den Kuchen fertig haben, bevor Aden von der Inspektion der Lagerhäuser am Hafen zurückkehrte. Dann, so hoffte sie, würde ihr Mann einige Stunden auf die Kinder achtgeben. Sie wollte unbedingt in die Werkstatt im Erdgeschoss des Hauses gehen und das am Vortag begonnene Schmuckstück fertigstellen. Mit drei Kindern war es nicht immer einfach, genügend Zeit für ihren Beruf als Kunstschmiedin zu finden. Dennoch konnte sie sich nicht vorstellen, ihren Beruf aufzugeben, um nur Hausfrau und Mutter zu sein, wie es verheiratete Frauen allzu häufig taten. Der ehemalige Seemann Aden war inzwischen ein erfolgreicher Händler, sodass sie auf ihren Verdienst nicht angewiesen waren, aber sie liebte ihre Arbeit einfach viel zu sehr. Die Werkstatt war bereits seit drei Generationen in Familienbesitz. Sie hoffte, dass später eines ihrer Kinder die Familientradition fortführen würde. Voller Liebe und Mutterstolz betrachtete sie zunächst die beiden Jungen und warf dann einen Blick auf Darija, deren roter Haarschopf ganz versunken über ihr Bauprojekt gebeugt war. Carlynn wandte sich dem Haus zu und trat gemeinsam mit den beiden Jungen durch die Hintertür ein.

Jahr 3606 Mond 12 Tag 21, Aaran

Die Oberpriesterin Yerina schaute sich im Tempel um. Die anderen Priesterinnen hatten die Vorbereitungen für die Zeremonie zur Wintersonnenwende abgeschlossen. Alles war zu ihrer Zufriedenheit, der in weißem Marmor gehaltene Tempelraum war gereinigt und neue Kerzen warteten darauf, bei Sonnenuntergang entzündet zu werden. Mit Einbruch der Dunkelheit würden sich alle Priesterinnen und auch die Anwärterinnen um den Heiligen Würfel versammeln. Unter den Augen zahlreicher Gläubiger würden die Priesterinnen den auf einer Ecke stehenden schwarzen Steinwürfel berühren und ein Dankgebet sprechen. Den Rest der Nacht würden sie meditierend verbringen.

Dies war das sechste Mal, dass im Tempel von Aaran diese Feierlichkeiten zu Ehren der Götter stattfanden, um der Dankbarkeit zum Jahrestag der Errettung Cytrias Ausdruck zu verleihen. Vor sechs Jahren war es Yerina und ihren Gefährten im Uralt-Wald gelungen, die Götter zu überzeugen, dass die Menschen nicht alle verderbt und böse waren. Das und die Bereitschaft der Sechs, ihre Kräfte und sogar ihr Leben hinzugeben, hatte die Götter dazu bewogen, von der Auslöschung der Menschen abzusehen.

Es war noch eine gute Stunde bis zum Sonnenuntergang, für Yerina wurde es Zeit, sich zu reinigen und in ein neues schwarzes Gewand zu kleiden. Plötzlich klopfte es. Anders als gewöhnlich waren die Tempeltore bereits am Mittag geschlossen worden, um die Vorbereitungen für die abendliche Zeremonie zu ermöglichen. Normalerweise war der Tempel von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang für die Gläubigen zugänglich.

Yerina öffnete das Portal einen Spalt und blickte in das wettergegerbte Gesicht einer alten Frau, die sichtbar außer Atem war. Noch bevor Yerina der Frau erklären konnte, dass der Tempel momentan geschlossen war, begann die Frau mit stockender, zittriger Stimme: „Oberpriesterin, bitte entschuldigt vielmals die Störung. Aber dies duldet keinen Aufschub.“

Am Gesicht und Tonfall der alten Frau erkannte Yerina die Dringlichkeit. Sie öffnete den Flügel des Tores etwas weiter und ein Schwall kalter, klarer Luft strömte in den Tempel. Erst jetzt entdeckte sie das kleine Kind, dass sich ängstlich an die Hand der Alten klammerte und das Gesicht in deren Kleidung vergrub. Das Kind war in einen offensichtlich zu großen Mantel gehüllt. Dennoch zitterte es. Yerina konnte nicht erkennen, ob es sich um ein Mädchen oder einen Jungen handelte.

„Kommt herein und erzählt mir, was geschehen ist. Das arme Kind friert ja.“ Die Alte schob das Kind durch das Tempeltor und trat selbst ein. Sie war noch immer sichtlich aufgeregt. Yerina legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter und bat sie, ihr Anliegen vorzutragen. Sie erfuhr, dass das Kind – es handelte sich um ein Mädchen – der Grund für das zeitlich ungünstige Erscheinen der alten Frau war. Da es in der Nacht zuvor einen heftigen Sturm gegeben hatte, hatte die Frau die Strände um Aaran nach verwertbarem Treibgut abgesucht, welches gewöhnlich bei solchem Wetter angespült wurde. Dabei war sie auf einen großen Berg an Holztrümmern gestoßen. Nach ihrer Beschreibung handelte es sich dabei wahrscheinlich um ein zerschelltes Schiff. Unweit des Trümmerhaufens hatte sie dann ein Bündel entdeckt, das sie genauer in Augenschein nehmen wollte. Dabei hatte sie zu ihrem Entsetzen feststellen müssen, dass es sich dabei um ein kleines, vollkommen durchnässtes Mädchen handelte.

Das Kind war verstört gewesen, hatte unverständliche Worte gemurmelt und nicht auf das, was die Frau zu ihm sagte, reagiert. Zunächst nahm sie das Kind mit in ihre Hütte und gab ihm trockene Kleidung und etwas Essen. Widerspruchslos ließ das Mädchen alles über sich ergehen. Da die alte Frau aber keine Möglichkeit fand, mit dem Kind zu kommunizieren, hielt sie es für das Beste, die Kleine in den Tempel zu bringen. „Ich hoffe, ich belästige Euch nicht zu sehr mit dieser Angelegenheit. Wenn Ihr es wünscht, bringe ich das Kind in ein Waisenhaus.“ Mit diesen Worten schloss die Frau ihren Bericht.

Yerina hatte sich alles geduldig angehört. Die Umstände waren mehr als seltsam. War das Kind etwa mit dem kaputten Schiff angeschwemmt worden? Tausende Fragen schossen ihr durch den Kopf, aber die Klärung würde warten müssen, sie war ohnehin schon spät dran. Sie bedankte sich bei der Frau und gab ihr einige Münzen als Entschädigung für ihre Mühen. Sie versprach der Alten, sich um das Kind zu kümmern und bat sie, am nächsten Mittag wiederzukommen, damit sie weitere Einzelheiten erfragen konnte. Dann nahm sie das Kind bei der Hand und verließ den Tempel durch die rückwärtige Tür, die in den Tempelbezirk führte. Vorerst würde sie das Kind bei einer der Angestellten des Tempels lassen, da sowohl sie selbst als auch alle Priesterinnen und Anwärterinnen in weniger als einer Stunde mit dem Ritual der Wintersonnenwende beginnen mussten.

Gemeinsam mit anderen Gläubigen verfolgte Tharet aufmerksam die Rituale zur Wintersonnenwende. Wie jedes Jahr hatte er es sich auch diesmal nicht nehmen lassen, daran teilzunehmen. Als sich die Priesterinnen für den Rest der Nacht in Meditation versenkten, nutzte er die Zeit, die Ereignisse der letzten Jahre Revue passieren zu lassen und den Göttern für die zahlreichen glücklichen Fügungen zu danken, beginnend mit jenen Begebenheiten, die ihn damals mit den anderen fünf zusammengeführt und zu der Reise zur Rettung der Welt veranlasst hatten.

Vor etwas mehr als sechs Jahren hatte er in diesem Tempel Yerina kennengelernt. Damals war sie noch eine Anwärterin gewesen und hatte alles riskiert, um ihn vor gefährlichen Verfolgern zu retten. Danach waren sie zusammen aus Aaran geflüchtet, hatten Gefahren gemeistert und außergewöhnliche Macht bei sich entdeckt. Auf ihrem Weg waren sie auf Carlynn und Aden sowie Peria und Jeven getroffen, die wie sie über besondere Kräfte verfügten. Auf der Insel der Schwesternschaft der Seherin hatten sie dann auch den Grund für diese göttlichen Gaben erfahren: Sie waren auserwählt, Cytria vor dem Untergang zu erretten.

Ihre Mission war entbehrungsreich und beschwerlich gewesen, aber schlussendlich war es ihnen gelungen, die Gnade der Götter zu erringen. Seitdem hatten sie, in der sich nach dem Sturz des Königs veränderten Welt, ihren Weg gesucht. Während die anderen vier sich ins Private zurückgezogen hatten, waren Yerina und er aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft beteiligt gewesen. Yerina brachte es bis zur Oberpriesterin und war somit die Führerin des geistigen Lebens Cytrias. Oft suchte er ihren Rat, wenn sein Amt als Vorsitzender des Regierungsrates, dessen sechsunddreißig gewählte Delegierte aus allen Provinzen die Geschicke des Landes leiteten, ihn vor Probleme stellte. Obgleich er selbst keine Entscheidungsbefugnisse hatte, war dies eine verantwortungsvolle Aufgabe.

Oftmals war es gar nicht so einfach, zwischen den vielmals widerstreitenden Interessen der unterschiedlichen Landesteile zu vermitteln. Zunächst hatte er gedacht, sein Amt wäre irgendwann nicht mehr nötig, da sich die neuen Regierungs- und Verwaltungsprozesse einspielen würden, doch dem war nicht so. Er verwand noch immer einen Großteil seiner Zeit darauf, Sitzungen zu leiten und die verschiedenen Instanzen der Verwaltung zu koordinieren. Auch wenn er sich der Wichtigkeit seiner Position bewusst und dankbar war für das Vertrauen, das ihm von allen Seiten entgegengebracht wurde, so sehnte er sich bisweilen doch nach einem Leben als einfacher Heiler in irgendeinem Dorf. Zumindest bis vor sechs Monden hatte er regelmäßig davon geträumt, Aaran den Rücken zu kehren. Jetzt standen die Dinge jedoch etwas anders und daran war Galica schuld. Sie war wortwörtlich in sein Leben gestürzt und hatte es radikal verändert. Als er in einer Frühsommernacht auf dem Heimweg vom Regierungsgebäude, dem ehemaligen Königspalast, zu seinem Haus in einem der einfacheren Stadtteile unterwegs war, war er von einem spitzen Schrei aus seinen Gedanken gerissen worden. Als er sich umgewandt und mit seiner Laterne in Richtung des Krachs leuchtete, sah er eine schmächtige Gestalt auf dem Pflaster liegen. Schnell eilte er zum Unglücksort. Trotz des schwachen Lichtes konnte er erkennen, dass die junge Frau ernsthaft verletzt war. Ihr einfacher Rock war mit Blut getränkt und ihr Gesicht und ihre bloßen Arme mit Kratzern und blauen Flecken bedeckt. Sie sah aus, als habe man sie verprügelt. Sie blickte in aus großen, dunklen Augen ängstlich an, bevor sie in seinen Armen das Bewusstsein verlor. Da die Wunden alle oberflächlich waren, schloss Tharet schnell, dass das Blut auf ihrem Rock von einer inneren Verletzung herrühren musste. Für ihn sah es ganz so aus, als habe sich ein Mann der jungen Frau brutal aufgezwungen. Die ganze schreckliche Wahrheit sollte er später erfahren.

Da er auf der Straße nichts für die Frau tun konnte, trug er sie im Eilschritt nach Hause, wo er all seine heilerischen Fähigkeiten eingesetzte, um sie zu behandelt. Besonders ihre Unterleibsverletzungen waren schwerwiegend. Später stellte sich heraus, dass eine vollständige Heilung unmöglich war, Galica würde wohl niemals Mutter werden können.

Ihre äußerlichen Wunden jedoch heilten gut und schnell. Auch fasste sie Vertrauen zu ihrem Retter und vertraute ihm ihre Leidensgeschichte an. Sie war Magd in einem Gasthaus gewesen. Der Wirt war stets grob und gewalttätig gewesen, doch in jener Nacht war er im Alkoholrausch noch weiter gegangen. Gemeinsam mit einem Freund hatte er Galica zunächst geschlagen und auf den Boden geworfen, um sich anschließend mehrfach an ihr zu vergehen. Dabei waren die Männer so brutal vorgegangen, dass sie schwere Verletzungen erlitten hatte. Als die beiden ihren Rausch ausschliefen, war es ihr schließlich gelungen, das Haus zu verlassen und zu fliehen.

Noch während Galicas Genesung sorgte Tharet dafür, dass sich ihre beiden Peiniger vor Gericht verantworten mussten. Er schüchterte die beiden Verbrecher ob seines Amtes so sehr ein, dass sie freiwillig gestanden. Somit blieb Galica eine Aussage vor Gericht erspart. Ihre Peiniger jedoch würden einige Jahre im Kerker verbringen und mussten ihr eine hohe Summe zahlen.

Obgleich sie dadurch vermögend genug war, um zu tun, was ihr beliebte, entschied sie sich, bei Tharet zu bleiben. Dies machte ihn sehr glücklich, denn schon während er sie geheilt hatte, war sein Herz für sie entbrannt. Dennoch wagte er es lange nicht, ihr seine Gefühle zu gestehen. Er redet sich ein, dies geschähe aus Rücksicht auf ihre traumatische Vergangenheit. Rückblickend musste er jedoch zugeben, es war lediglich die Angst vor Zurückweisung gewesen.

Dennoch wendete sich vor drei Monden alles zum Guten. Er kehrte ungewöhnlich früh heim und fand Galica weinend am Küchentisch vor. Er legte den Arm um sie und fragte: „Warum weint Ihr, was ist geschehen?“

Sie jedoch schob seinen Arm beiseite und erwiderte traurig: „Bitte lasst das. Ihr dürft es mir nicht noch schwerer machen.“

Er schaute sie wohl ziemlich verdutzt an, denn sie fügte hinzu: „Ihr wart so freundlich zu mir. Aber ich muss Euch verlassen.“

„Warum? Fühlt Ihr Euch hier nicht mehr wohl? Bin ich Euch irgendwie zu nahe getreten?“

„Ganz im Gegenteil.“ Die nächsten Worte fielen ihr sichtlich schwer. „Ich habe Gefühle für Euch entwickelt. Ich ... Ich habe mich in Euch verliebt.“ Während dieser Worte brach sie erneut in Tränen aus.

In diesem Moment konnte Tharet seine Gefühle nicht mehr zurückhalten. Überglücklich schloss er Galica in seine Arme und gestand ihr überschwänglich seine Liebe. Sogleich bat er sie, seine Frau zu werden.

Jedoch stimmte sie keineswegs begeistert zu, vielmehr sträubte sie sich und bat ihn, sie gehen zu lassen und zu vergessen. Erst nach einigem Zureden konnte er ihr den Grund dafür entlocken. Sie hatte sich darauf versteift, ihn nicht glücklich machen zu können, da sie ihm aufgrund ihrer Verletzung wahrscheinlich niemals würde Kinder schenken können. Es kostete ihn seine ganze Überzeugungskraft, ihre Bedenken zu zerstreuen. Bereits sechs Tage später waren sie verheiratet.

Nun war Galica sein ganzes Glück. Wann immer es ihm möglich war, verbrachte er seine Zeit mit ihr. Er hatte ihr auch angeboten, ihn zu der Zeremonie zur Wintersonnenwende zu begleiten, sie jedoch hatte angelehnt. Wahrscheinlich wusste sie, wie besonders diese eine Nacht für ihn war.

Die Stunden der Meditation waren wie im Flug vergangen. Schon näherte sich das Ritual dem Ende.

Als am nächsten Morgen die Sonne aufging, sprach Yerina die rituellen Schlussworte und beendete damit das Ritual. Obgleich die nächtliche Meditation sie erschöpft hatte, blieb ihr keine Zeit, sich auszuruhen. Sie bahnte sich einen Weg durch die Gläubigen, die die Zeremonie die ganze Nacht verfolgt hatten, und schritt zum Hauptportal, um es zu öffnen. Dabei beobachtete sie aufmerksam die Menge. Zu ihrer Erleichterung entdeckte sie Tharet, der neben dem noch geschlossenen Hauptportal an der Wand lehnte. Bevor sie das Tor öffnete, bedeutete sie ihm mit einem Handzeichen zu warten.

Es dauerte eine Weile, bis sie alle Gläubigen, die der Zeremonie beigewohnt hatten, gebührend verabschiedet hatte. Als Oberpriesterin war sie eine der einflussreichsten Personen des Landes. Daher versuchten viele, ihr Wohlwollen und ihre Freundschaft zu erlangen. Nahezu jeder war ausnehmend höflich zu ihr, die sie doch nur ein Waisenkind war, das etwas Glück gehabt hatte. Sie war jedoch klug genug, sich nicht von Schmeicheleien und schönen Worten einwickeln zu lassen. Sie wusste, dass sie nur wenige wahre Freunde hatte und das waren jene, mit denen sie vor sechs Jahren unzählige Gefahren durchgestanden und Cytria gerettet hatte. Sie stand in regem Briefkontakt mit Peria und Jeven sowie mit Carlynn und Aden. Obgleich sie einander seit sechs Jahren nicht mehr gesehen hatten, – durch ihre Arbeit und die kleinen Kinder hatte keiner die Möglichkeit gesehen, eine weite Reise zu unternehmen - standen sie einander nahe und nahmen regen Anteil am Leben der anderen. Auch traf Yerina sich, wann immer es ihre Pflichten erlaubten, mit Tharet. Er erzählte ihr von den aktuellen Entwicklungen in der Politik, sie gab ihm im Gegenzug nützliche Hinweise zur Stimmung und zu den Problemen des Volkes. Durch die seelsorgerische Arbeit erfuhren die Priesterinnen stets zuerst von Dingen, die die einfachen Leute umtrieben. Aber auch bei privaten Themen hatten sie stets ein offenes Ohr füreinander. Daher hatte sie auch entschieden, sich wegen des kleinen Mädchens zuerst an ihn zu wenden. Vielleicht konnten er und seine Frau die Kleine sogar aufnehmen.

Tharet hatte geduldig gewartet, bis alle Gläubigen und die meisten Priesterinnen den Tempel verlassen hatten und Yerina endlich Zeit für ihn hatte. Da er sie so gut kannte, hatte er an ihrem Gesicht ablesen können, wie lästig ihr all die Gespräche waren, die ihr aufgezwungen wurden. Er kannte solche Momente aus eigener Erfahrung. Jetzt kam Yerina auf ihn zu und umarmte ihn freundschaftlich. Sie fragte: „Hast du einen Moment für mich? Ich habe etwas Wichtiges mit dir zu besprechen.“

Auf dem Weg durch den Tempelbezirk erzählte sie kurz, was sich am Vorabend zugetragen hatte. Sie erreichten ihr kleines Haus, in dem eine der Wäscherinnen noch immer über das kleine Mädchen wachte, welches noch in tiefem Schlaf lag. Yerina ließ sie berichten, wie die Nacht verlaufen war. Viel konnte die Angestellte jedoch nicht erzählen. Das Kind hatte mit Appetit gegessen und ruhig geschlafen. Es habe weder besonders schüchtern noch verstört gewirkt, das einzig Seltsame war, dass es sie nicht verstanden und auch kein verständliches Wort herausgebracht hatte. Yerina bedankte sich bei der Frau und entließ sie. Danach setzten sie ihr Gespräch leise fort.

Kurze Zeit später rührte sich das Mädchen in Yerinas Bett. Sofort stand Tharet auf und ging zu ihm hinüber. Er sprach beruhigend auf es ein, während er es aufmerksam betrachtete und dann begann, den kleinen Körper auf Verletzungen hin zu untersuchen.

„Sie scheint mir vollkommen gesund zu sein. Ich würde sie auf ungefähr sechs Jahre schätzen, auch wenn sie eigentlich zu klein für ein Kind dieses Alters ist. Ihre Ohren sind in Ordnung, es ist vielmehr so, als würde sie unsere Sprache nicht sprechen. Warum dem so ist, kann ich nicht sagen. Ich würde ja vermuten, dass sie abgeschieden in der Wildnis aufgewachsen ist, aber sie zeigt keinerlei Scheu vor Menschen.“

Yerina fragte: „Könnte sie irgendeine angeborene Behinderung haben, sodass sie Sprache nicht verstehen kann?“

„Das wäre eine Erklärung, aber das kann ich erst beurteilen, wenn ich mehr Zeit mit ihr verbracht habe.“

„Das trifft sich gut, ich wollte dich ohnehin bitten, sie bei euch aufzunehmen, bis ihre Herkunft geklärt ist. Ich habe einfach nicht die Möglichkeit, mich ausreichend um sie zu kümmern. Natürlich kann ich verstehen, wenn du erst mit Galica darüber reden möchtest.“

„Nein, das ist schon in Ordnung. Galica wird sich freuen. Und ich habe die Gelegenheit, herauszufinden, was mit der Kleinen nicht stimmt. Ist dir schon aufgefallen, dass ihr Aussehen sehr untypisch ist. Soweit ich mich erinnere, habe ich noch nie jemanden gesehen, der so zart und feingliedrig ist und dabei braune Haare und braune Augen hat. Die Leute aus der Gegend von Aaran sind zwar zart, aber selten so klein und außerdem eher blond. Im Hochland gibt es viele Braunhaarige, aber keiner ist so zart. Ihr Aussehen gibt uns also keinerlei Hinweise auf ihre Herkunft.“ Das Mädchen, welches sich bisher einfach nur interessiert umgeschaut hatte, wurde langsam unruhig. Yerina bedeutete ihr mit Gesten, dass sie aufstehen könne, und zeigte ihr das Separee, in dem sich eine Waschschüssel und ein Eimer für die Notdurft befanden. Das Kind nickte verstehend und Yerina ließ es allein. Wenn es wirklich schon sechs Sommer gesehen hatte, wie Tharet meinte, so müsste es seine Morgentoilette alleine erledigen können.

Sie schellte und kurz darauf klopfte eine junge Priesterin an ihre Tür. Yerina trug ihr auf, Frühstück für drei Personen zu besorgen und sich anschließend um neue Kleidung für das kleine Mädchen zu bemühen. Das Kind trug noch immer die Kleidung, die ihr die alte Frau gegeben hatte.

Später saßen die drei bei einer üppigen Morgenmahlzeit. Während das Mädchen stumm aß, spekulierten Tharet und Yerina über seine Herkunft. „Die Frau, die sie gefunden hat, wird heute Mittag wieder in den Tempel kommen. Vielleicht lässt du dir von ihr die Fundstelle zeigen. Mit etwas Glück hat sie auch die Sachen noch, die das Mädchen trug. Vielleicht findest du so irgendwelche Hinweise.“

„Gut. Aber vorher werde ich das Mädchen zu Galica bringen. Du hattest eine anstrengende Nacht, du benötigst sicher etwas Ruhe. Ich werde mich um alles kümmern, was das Kind betrifft und dich natürlich über alle Neuigkeiten unterrichten.“

„Ich danke dir, dass du diese Bürde auf dich nimmst.“

„Ein Kind ist doch keine Bürde. Ich denke, sie wird sich bei uns wohlfühlen. Und du weißt ja, dass Galica und ich wohl niemals eigene Kinder haben werden.“

Yerina sah einen kurzen Schatten aus Trauer und Bedauern über Tharets Züge huschen.

Bald darauf verabschiedeten sie sich voneinander und Tharet brachte das Mädchen in sein neues Zuhause.

Winter 3607, Aaran

„Zada, komm essen.“ Galica stellte einen großen Topf mit dampfender Suppe auf den bereits fertig gedeckten Tisch. Tharet trat hinter sie und drückte ihr einen Kuss in den Nacken. Kurz darauf betrat ein kleines braunbezopftes Mädchen die Küche und setzte sich an den Tisch.

Während des Essens erzählte Zada fröhlich von ihrem Tag. Über Nacht hatte es geschneit und sie hatte mit den Nachbarskindern wild im Schnee getobt. Manchmal musste sie ihren Redefluss jedoch kurz unterbrechen, da ihr die richtigen Worte fehlten. Dabei hatte sie im letzten Jahr gewaltige Fortschritte gemacht. Als sie im letzten Winter zu ihren neuen Eltern gekommen war, hatte sie diese nicht verstanden und auch Zada konnte sich nicht verständlich machen. Aber Tharet war sehr geduldig gewesen und hatte ihr die Sprache Wort für Wort beigebracht. Nach und nach waren auch die anderen seltsamen Worte aus ihrem Kopf verschwunden, zu denen sie zuvor immer wieder gegriffen hatte, um sich verständlich zu machen, deren Sinn aber außer ihr niemand zu kennen schien.

Woher die Worte gekommen waren, wusste sie nicht. Als sie sich einigermaßen verständlich machen konnte, hatten ihre Eltern ihr diesbezüglich allerlei Fragen gestellt, aber sie hatte keine Antworten für sie. Ihr fehlte jedwede Erinnerung an Geschehnisse, die weiter als ein Jahr zurücklagen. Ihre erste Erinnerung war die an eine alte Frau und einen Strand. Sie hatte dort gelegen und es war so furchtbar kalt gewesen. Das Einzige, was sie aus ihrer rätselhaften Vergangenheit wusste, war, dass ihr Name Zada war.

Viel mehr hatte auch Tharet trotz intensiver Nachforschungen nicht herausfinden können. Er vermutete, dass sie mit ihren Eltern in einem Boot unterwegs gewesen war und dass sie aufgrund des schlechten Wetters Schiffsbruch erlitten hatten. Ihre Eltern waren dabei wohl umgekommen, sonst hätten sie bestimmt nach ihr gesucht. Dass Zada sich an nichts erinnern konnte, lag Tharets Meinung nach an dem Unfall. Als Heiler hatte er schon mehrfach mit solchen Fällen zu tun gehabt, wenn auch nie mit einem, bei dem das gesamte Gedächtnis ausgelöscht worden war.

Da ihre Herkunft nicht zu klären war, hatten Galica und Tharet sie mit Zustimmung der Oberpriesterin an Kindes statt angenommen und nun lebte sie schon ein ganzes Jahr bei ihnen. Ihren Geburtstag hatten sie auf den Tag der Wintersonnenwende festgelegt, da dies der Tag gewesen war, als man sie gefunden hatte. Außerdem war es auch der Geburtstag ihres Vaters und der Oberpriesterin Yerina, die für Zada so etwas wie eine Tante war.

Vor wenigen Tagen erst hatte sie zusammen mit dieser und ihren Eltern ihren siebten Geburtstag gefeiert. Ihre Mutter hatte extra einen Kuchen für sie gebacken und sie hatte einen neuen, wunderhübschen Mantel bekommen. Was für ein Glück sie doch hatte, so liebe Eltern zu haben.

Herbst 3611, Eiren

Obgleich sie noch keine zehn Sommer gesehen hatte, war Madia schon jetzt klüger und gelehrter als die meisten Bewohner der Insel. Doch ihr Wissensdurst war noch lange nicht gestillt. Peria hatte ihre liebe Mühe damit, dem Mädchen die geistige Anregung zu bieten, nach der es sie verlangte. Sie und Madias Vater Jeven investierten einen nicht geringen Anteil ihrer Einkommen in Bücher und Lehrer für Madia. Madia war ihnen dafür sehr dankbar, dennoch spielte sie mit dem Gedanken fortzugehen, um noch mehr zu lernen. Schon verschiedentlich hatte sie von der Insel Roteha gehört, der Insel der Gelehrten. Ihr großer Traum war es, dort in die Ausbildung aufgenommen zu werden. Nun schien sich die Gelegenheit zu bieten. Einer der Gelehrten von dort war auf Eiren, um neue Lehrlinge für die Insel zu finden. Madia war fest entschlossen, sich ihm vorzustellen. Es gab nur ein Problem: Sie war ein Mädchen und so wie die Priesterinnen nur Frauen ausbildeten, gab es auf Roteha nur Männer.

Sie hatte bereits mit ihrer Mutter Peria darüber gesprochen, aber die sah keine Chance, dass man für Madia eine Ausnahme machen würde, so klug sie auch sein mochte. Deshalb würde Madia versuchen, Peria heute für einen zugegebenermaßen etwas riskanten Plan zu gewinnen: Sie wollte sich als Junge ausgeben. Mit der richtigen Verkleidung würde ihr dies sicher gelingen. Da sie ihre Haare stets kurz trug, war sie schon des Öfteren für einen Jungen gehalten worden. Soweit sie wusste, trugen die Gelehrten auf Roteha weite Gewänder, unter denen sie später auch eventuelle weibliche Rundungen verbergen konnte. Sie hatte alles gut durchdacht, nun musste sie nur noch ihre Eltern überzeugen.

Anfangs war Peria keineswegs begeistert von dem Plan ihrer Tochter, als Junge verkleidet nach Roteha zu gehen. Aber das Mädchen hatte auf sie eingeredet, sich über die Ungerechtigkeit beklagt, dass Frauen die Bildung verwehrt wurde. Wenn sie erst einmal zu den klügsten Köpfen des Landes gehörte, würde sie ihre Verkleidung lüften und den Männern somit beweisen, dass Frauen ebenfalls Gelehrte sein konnten. Sie würde damit allen anderen Frauen einen großen Dienst erweisen. Haarklein hatte Madia ihr erklärt, warum ihr Plan glücken würde. Schließlich gab sich Peria geschlagen, denn ihr lag das Glück ihrer Tochter am Herzen. Auch wusste sie, dass Madia versuchen würde, ihren Plan auch ohne ihr Einverständnis umzusetzen. Gerne hätte sie ihre Entscheidung mit Jeven diskutiert, doch dieser war mit seiner Herde unterwegs.

Ihr Herz wurde ihr schwer, wenn sie daran dachte, dass sie ihrer Tochter gerade erlaubt hatte, von ihr fortzugehen. Sie war doch noch so jung. Vielleicht hatte sie Glück und auch der Gelehrte sah dies so. Üblicherweise begann die Lehrzeit erst mit zwölf Jahren.

Nur einige Tage später traf der Gelehrte im nahegelegenen Dorf ein. Glücklicherweise war Jeven am Vortag auf Perias Farm eingetroffen. Zwar hatte er Perias Entscheidung nicht infrage gestellt, aber dennoch fühlte sie sich wohler, dass sie diese mit Madias Vater hatte besprechen können. Da möglicherweise einer der Dorfbewohner wusste, dass das Kind von Peria und Jeven ein Mädchen war, hatte sich Madia alleine auf den Weg in das Dorf gemacht. Peria hatte ihr zuvor das blonde Haar noch kürzer schneiden müssen und Jungenkleidung genäht. Sie hatten verabredet, dass Madia den Gelehrten auf die Farm einladen sollte, wenn dieser sie in die Lehre nehmen wollte.

Peria und Jeven warteten ungeduldig auf die Rückkehr ihres Kindes, dass sich nun Mawen nannte und wie ein Junge aussah.

Ein bisschen mulmig war ihr schon gewesen, als sie sich am Morgen allein auf den Weg in das nächste Dorf gemacht hatte. Aber kaum, dass sie angekommen war und den Gelehrten auf dem Dorfanger entdeckt hatte, wurde sie ganz ruhig. Gedanklich ging sie noch einmal die Worte durch, die sie sich zurechtgelegt hatte. Außerdem rief sie sich ins Gedächtnis, dass sie von nun an Mawen war.

Er ging selbstbewusst auf den Gelehrten zu. Er verneigte sich kurz und blickte ihn mit seinen grauen Augen unverwandt an. Dann hob er zu sprechen an: „Seid gegrüßt. Mein Name ist Mawen und ich möchte mich Euch vorstellen. Ich habe gehört, Ihr sucht Lehrlinge für die Insel Roteha.“

Der Gelehrte nickte. „Seid auch Ihr gegrüßt. Ich bin der Gelehrte Taleb. Wahrlich suche ich nach Lehrlingen. Jedoch muss ich Euch zunächst prüfen, um Eure Eignung festzustellen. Seid Ihr damit einverstanden?“

„Aber sicher. Ich bin bereit. Stellt Eure Fragen.“

„Gut, bitte setzt Euch.“ Taleb reichte Mawen ein Buch. „Bitte lest mir daraus vor.“

Mawen schlug das dicke Werk auf und begann, sicher und mit fester Stimme zu lesen. Er las mehrere Seiten, dann hieß der Gelehrte ihn, aufzuhören und das Gelesene mit eigenen Worten zusammenzufassen. Auch diese Aufgabe meisterte er ohne Probleme. Danach testete der Gelehrte sein Allgemeinwissen und seine mathematischen Fähigkeiten. Auch über seine Motivation, Gelehrter zu werden, musste Mawen Auskunft geben. Taleb schien mit allen Antworten zufrieden zu sein. „Sind Eure Eltern auch hier?“ „Nein, leider sind sie auf ihrer Farm unabkömmlich. Ich soll Euch jedoch herzlich einladen, sie dort zu besuchen.“

„Gerne nehme ich die Einladung an. Ich werde Euch nach Hause begleiten. Allerdings müsstet Ihr bis zum Abend warten, falls noch weitere potenzielle Lehrlinge auftauchen. Sagt, wie alt seid Ihr eigentlich?“

„Im Winter werde ich zehn Jahre alt.“

„Das ist wahrlich noch sehr jung. Für gewöhnlich beginnt die Lehre erst mit zwölf. Allerdings habt Ihr einen wesentlich reiferen Eindruck gemacht als so mancher Zwölfjähriger. Daher würde ich Euch gerne als Lehrling aufnehmen, sofern Eure Eltern wirklich einverstanden sind.“

„Habt Dank. Ihr ahnt nicht, wie viel mir das bedeutet.“

Jahr 3612 Mond 1, Roteha

Nachdem das Treffen des Gelehrten mit seinen Eltern zufriedenstellend verlaufen war, war Mawen am nächsten Morgen mit Taleb zusammen aufgebrochen. Zunächst waren sie noch zwölf Tage quer über Eiren gewandert, bevor sie sich nach Roteha eingeschifft hatten. Schon auf ihrer gemeinsamen Reise hatte seine Ausbildung begonnen. Nun war er seit drei Monden auf Roteha und jeden Tag begeistert von der Menge an Wissen, die an diesem Ort versammelt war.

Jahr 3612 Mond 12 Tag 21, Aaran

Weder Tharet noch Yerina hatten Zada in irgendeiner Weise beeinflusst. Das Mädchen hatte sich aus freien Stücken für den Dienst im Tempel entschieden. Yerina hatte ihre Motive geprüft und war zu dem Schluss gekommen, dass sie eine geeignete Kandidatin war. Da sie viel Zeit mit Tharets Ziehtochter verbracht hatte, hatte sie ab deren achtem Lebensjahr ein starkes Interesse an religiösen und spirituellen Dingen feststellen können. Stets hatte das Mädchen interessiert zugehört, wenn Yerina von Zeremonien und dem Alltag im Tempelbezirk erzählte, auch hatte es immer wieder Fragen diesbezüglich gestellt. Im Alter von zehn hatte Zada erstmals davon gesprochen, dem Tempel beitreten zu wollen. Dennoch hatten Tharet und Galica dafür gesorgt, dass sie auch andere Möglichkeiten der Ausbildung in Betracht zog. Nach Abwägung aller Optionen hatte sich an dem Wunsch des Mädchens jedoch nichts geändert.

Heute, an ihrem zwölften Geburtstag, würde sie als Anwärterin in den Dienst des Tempels treten. Am Abend, vor Beginn der Zeremonie zur Wintersonnenwende, würde das Ritual vollzogen werden. Galica half ihrer Tochter gerade, die Sachen für ihren Umzug in den Tempelbezirk zusammenzupacken. Ihr fiel der Abschied von ihrer Tochter schwer. Zwar konnten sie und Tharet Zada regelmäßig im Tempelbezirk besuchen, aber das Haus würde sich seltsam leer anfühlen ohne sie. Ein letztes Mal setze sie sich zu ihrer Tochter aufs Bett, um ihr das Haar zu flechten. Obwohl sie es eigentlich hatte vermeiden wollen, rollten Tränen über ihre Wangen. Nur mühsam unterdrückte sie ein Schluchzen. Sie wollte nicht, dass Zadas Vorfreude auf den bevorstehenden Eintritt in den Tempel durch ihre Sentimentalitäten getrübt wurde. Schnell wischte sie mit dem Handrücken ihr Gesicht trocken. „Lass uns nach unten gehen und noch etwas essen, bevor wir zum Tempel aufbrechen.“

„Ja, Mutter.“ Bevor sie jedoch Zadas Schlafkammer verließen, schloss Galica ihr Kind noch mal fest in die Arme, löste sich aber schnell wieder von ihr, als ihre Gefühle sie erneut zu überwältigen drohten.

Jahr 3613 Mond 12 Tag 5, Jal

Wenn es ihre Art gewesen wäre, so hätte sie sicher vor Freude getanzt und gesungen, doch Darija war eher still und besonnen. Dennoch fiel sie ihrem Vater Aden voller Dankbarkeit um den Hals. Sie hatte schon alle Hoffnung aufgegeben, doch ihm war es schlussendlich doch gelungen, einen Schiffbauer zu finden, der sie in Lehre nehmen wollte. Für gewöhnlich erlernten nur Jungen diesen Beruf und so war sie von mehreren angesehenen Schiffbauern abgewiesen worden. Nun war es Aden dank seiner guten Kontakte aber dennoch gelungen, ihr einen Ausbildungsplatz zu besorgen.

Sie war ihrem Vater dankbar, dass er ihr ihren Traum ermöglicht hatte. Ihre Liebe zur Seefahrt hatte sie schließlich von ihm geerbt, ihr handwerkliches Geschick hingegen hatte sie wohl ihrer Mutter zu verdanken. Im Schiffbau ließen sich diese beiden Eigenschaften ideal verbinden. Schon als sie ein kleines Kind war, hatte sie ihren Vater immer wieder angebettelt, mit ihm das Auslaufen der Schiffe aus dem Hafen von Jal beobachten zu dürfen, später hatte sie ihn mit Fragen rund um die Konstruktion gelöchert. Sie fand es faszinierend, wie die großen, oft schwer beladenen Handelsschiffe scheinbar mühelos durch das Wasser glitten. Obgleich sie auch die handwerkliche Arbeit ihrer Mutter bewunderte, so wollte sie doch lieber lernen, wie man diese Wunderwerke baute. Das Handwerk des Kunstschmiedes konnte auch einer ihrer beiden Brüder erlernen, um später den Familienbetrieb zu übernehmen.

Noch einmal umarmte sie ihren Vater. „Danke. Ich verspreche dir, ich werde die allerbesten Schiffe bauen. Mit denen werden deine Waren noch schneller und sicherer ans Ziel kommen.“

„Darija, heb dir deinen Enthusiasmus für deine Arbeit auf. Ich habe deinem zukünftigen Meister nämlich versprochen, dass du der beste Lehrling wirst, den er je hatte.“

„Aber wann darf ich anfangen?“

„Du wirst dich noch ein paar Tage gedulden müssen, deine Lehrzeit beginnt im neuen Jahr. Bis dahin, sei so gut, und hilf deiner Mutter. Sie kann bestimmt Hilfe in der Küche gebrauchen. Ich habe nämlich großen Hunger.“

Schnell lief Darija in die Küche, weniger um ihrer Mutter zur Hand zu gehen, sondern vielmehr, um ihr die großartigen Neuigkeiten mitzuteilen.

Jahr 3618 Mond 12 Tag 21, Aaran

Während sie Zada das braune Haar zu einem kunstvollen Zopf flocht, fragte sie sie ein letztes Mal, ob sie sich wirklich sicher war, dass sie dieses Leben wählen wollte. Wie jeder Anwärterin stand es Zada frei, vor der Weihe noch aus dem Tempel auszutreten. Da ihr Zada auch persönlich nahestand, hatte sie sich mit ihr besonders gründlich auseinandergesetzt. Obwohl Yerina sich bemüht hatte, Zada nicht gegenüber den anderen Anwärterinnen zu bevorzugen, so war die Ziehtochter von Galica und Tharet stets ihr persönlicher Schützling gewesen. Daher lag es ihr am Herzen, dass Zada keine Entscheidung traf, die sie später bereuen würde. Yerina wusste allzu gut, worauf eine Priesterin verzichten musste. Niemals würde sie eine Familie gründen, das Glück des Mutterseins erfahren. Auch wenn Yerina nie bedauert hatte, Priesterin geworden zu sein, so hatte sie das Familienleben von Tharet, Galica und Zada doch bisweilen mit Wehmut betrachtet. Auch das Glück, das sie aus dem Briefen von Carlynn und Aden sowie Peria und Jeven herausgelesen konnte, versetzte ihre manchmal einen leichten Stich.

Zada aber versicherte ihr, dass sie sich sicher war: Sie wollte Priesterin werden. Yerina hatte die Gewissheit, dass die junge Frau eine gute Priesterin werden würde.

Nachdem Yerina gegangen war, kleidete sich Zada ein letztes Mal in das graue Gewand einer Anwärterin. In der abendlichen Zeremonie würde sie die schwarzen Gewänder einer Priesterin erhalten. Im Anschluss würde sie das erstes Mal als vollwertiges Mitglied der Priesterinnenschaft am Ritual der Wintersonnenwende teilnehmen. Entgegen ihrer Erwartungen war sie keineswegs aufgeregt oder unsicher, sie fühlte eine große innere Ruhe.

Gemessenen Schrittes machte sie sich auf den Weg zum Tempel. Sie betrat ihn durch die rückwärtige Tür. Die Vorbereitungen für den Abend waren abgeschlossen und momentan hielt sich noch niemand im Tempel auf. Zada kniete nieder und begann zu beten. Sie bat die Götter um ihren Segen für die bevorstehende Weihe und ihr Wirken als Priesterin.

Auch bat sie darum, sie möge die Kraft haben, die in sie gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Sie war sich bewusst, dass das Amt der Priesterin ein verantwortungsvolles war. Ihre Aufgabe würde es sein, die Gläubigen zu einem Leben anzuleiten, welches ihnen das Wohlwollen der Götter einbrachte. Seit die Sechs die Welt gerettet hatten, arbeitete Yerina unablässig daran, ein neues Bild von den Göttern zu verbreiten. Zuvor waren die Götter als Schöpfer der Welt verehrt worden, die jedoch keine oder nur wenig Macht über das Leben hatten. Die Sechs aber hatten am eigenen Leib erfahren, dass die Götter nicht nur stille Beobachter waren, sondern fähig und willig waren, schlechtes Verhalten zu bestrafen und gutes zu belohnen. Daher waren die Lehren des Tempels nun viel mehr auf das tägliche Leben ausgerichtet. Immer wieder betonte Oberpriesterin Yerina, dass jeder mit einem achtsamen Leben mehr Gunst bei den Göttern erwerben konnte als mit regelmäßigen Besuchen im Tempel. Ein jeder sollte seinen Mitmenschen mit Güte und Liebe begegnen, die Natur schützen und von jeder Art von Gewalt Abstand nehmen. Die Regeln hatten anfangs eine radikale Neuerung dargestellt und nicht alle Menschen waren damit einverstanden gewesen. Einige hatten es als unangemessene Einmischung des Tempels in ihre Leben gesehen. Inzwischen hatten sich die Regeln jedoch als Bestandteil des Glaubens etabliert und hatten auch in zahlreiche geistliche Schriften Eingang gefunden. Dies bedeutete jedoch keineswegs, dass die Welt frei von Gewalt und Gier war. Während ihrer Ausbildung hatte Zada gelernt, dass es dunkle Flecken in der Natur eines jeden Menschen gab und dass es Anstrengungen und Disziplin erforderte, diese zu unterdrücken und nach den Regeln zu leben. Nicht alle Menschen waren dazu fähig oder willens.

Langsam füllte sich der Tempel mit Priesterinnen und Anwärterinnen, gleich würde ihre Weihe beginnen. Die Oberpriesterin trat zu ihr. „Seid Ihr bereit, Zada?“

Sie nickte und Yerina nahm ihre Hand und führte sie zum Heiligen Würfel. Die anderen Priesterinnen bildeten einen Kreis um sie und den schwarzen Würfel. Sie fassten einander bei den Händen und sprachen ein kurzes Gebet, in dem die Götter um ihren Segen für diese Zeremonie gebeten wurden. Dann erhob Yerina ihre Stimme: „Zada, Ihr seid heute hier vor die Götter getreten, um ihnen Euer Leben zu widmen und zu geloben, ihnen für den Rest Eures Lebens zu dienen aus vollem Herzen und mit ganzer Seele. Seid Ihr gewillt, nach den Regeln der Götter und unseres Glaubens zu leben? Dann gelobt es.“

„Ich gelobe es.“ Mit diesen Worten kniete Zada nieder.

Die Oberpriesterin legte ihr die Hände auf den Kopf und sprach die rituellen Worte der Weihe. Zwei Priesterinnen traten aus dem Kreis, zogen Zada das graue Gewand über den Kopf und streiften ihr ein schwarzes über.

Zada erhob sich und wurde von Yerina umarmt. Die Oberpriesterin küsste ihre Stirn. Danach traten die anderen Priesterinnen heran. Eine nach der anderen schloss sie in die Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, um sie im Kreise der Priesterinnen willkommen zu heißen. Damit war die Weihe abgeschlossen. Zada blieb jedoch nicht viel Zeit, die Ereignisse auf sich wirken zu lassen, denn sogleich wurden die Tempeltore geöffnet, um die Gläubigen einzulassen, die der Zeremonie zur Wintersonnenwende beiwohnen wollten.

Bisher hatte sie stets nur als Beobachterin an diesem Ritual teilgenommen, Anwärterinnen hatten keine aktive Rolle dabei. Daher war es schon etwas Neues für sie, obgleich sie es schon sechs Mal erlebt hatte.