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Audrey liegt das Kämpfen im Blut. Und kämpfen muss sie, für ihre Heimat Verneton und für ihre Liebe. Fantasyroman voller Spannung und mit einem Spritzer Erotik Audrey ist eine Waise und wächst unter Jungen in der königlichen Kampfschule auf. Dort lernt sie nicht nur die Kunst des Kampfes, sondern macht sich auch eine innere Härte zueigen. Als sie jedoch die Kampfschule verlässt und auf den Kämpfer Ondra trifft, muss sie erkennen, dass ihre vermeintliche Stärke die Gefahr birgt, daran zu zerbrechen. Wird es Ondra gelingen, Audreys Herz zu erreichen? Und wie wird Audrey die Wahrheit über ihre Herkunft verkraften?
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Seitenzahl: 282
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Fantasyroman von Anja Buchmann
Frühjahr 1388 n.N. (nach Nalani)
Jahr 23 des 109. Nachfahren Nalanis
Hauptstadt von Verneton
Anwesen der Seherin
»Mama, was hast du?«
Große, silbergraue Augen blickten zu Aya auf. Zärtlich strich sie über den blonden Schopf der Zweijährigen.
»Nichts, mein Schatz.«
Sie versuchte ein Lächeln. Dabei aber war es ihr, als würde ihr das Herz bei lebendigem Leibe herausgerissen. Um ihre Tränen zu verbergen, wandte sie sich ab.
Sie rief nach der Amme Esra, damit diese das Kind zu Bett brachte.
Aya wartete, bis das Mädchen eingeschlafen war. Dann schlich sie sich in dessen Schlafkammer, beugte sich über das Bett. Im schwachen Lichtschein der Kerze studierte sie das geliebte Gesichtchen. Ganz friedlich lag ihre Tochter da und schlief. Liebe durchströmte ihr Mutterherz. Sie drückte der Schlafenden einen Kuss auf die Stirn und verließ das Zimmer.
Obwohl es später Abend war, machte sie sich auf den Weg in die Heilige Grotte. Visionen kannten weder Tag noch Stunde.
Sie hatte ihre Pflichten als Seherin in den letzten Tagen sträflich vernachlässigt, dabei hing nicht weniger als das Wohl und Wehe Vernetons von ihr ab. Seit den Tagen der ersten Königin Nalani verließen sich alle Herrscher auf die Prophezeiungen, die die Seher und Seherinnen der geheimen Welt hinter der sichtbaren abrangen. Sie warnten vor Feinden, sagten gute und schlechte Ernten voraus, bewahrten die Könige vor Meuchelmördern. Seit fast 1400 Jahren waren sie der Garant für das Wohlergehen und das Wachstum des Volkes von Verneton.
Über die Gabe, hellsichtige Visionen zu empfangen, verfügten einige wenige Menschen. Doch nur dem Seher oder der Seherin des Königs sowie den erwählten Nachfolgern war es erlaubt, sie einzusetzen. Sie mussten einen Eid schwören, ihre Erkenntnisse einzig mit den Herrschern, die alle für sich beanspruchten, Nachfahren der weisen Königin Nalani zu sein, zu teilen. So sollte die kostbare Gabe dem Wohle des ganzen Volkes dienen.
Aya entzündete kein Licht. In völliger Dunkelheit ließ sie sich auf dem kalten Steinboden des heiligen Ortes nieder. Sie schloss die Augen und öffnete ihren Geist für die göttlichen Eingebungen, bereit, eine beliebige Vision zu empfangen. Auch wenn es möglich war, Antwort auf eine bestimmte Frage zu erbitten, so tat sie dies nur selten, war es doch ungleich anstrengender. Ferner barg es die Gefahr, dass man die falschen Fragen stellte und Dinge erfuhr, die besser im Dunklen hätten bleiben sollen. Mit Grausen dachte sie an den letzten Fehler dieser Art, den sie begangen hatte; ungefähr hundert Tage lag er zurück.
Es erforderte all ihre Willenskraft, diesen Gedanken ziehen zu lassen und ihren Geist wieder leer und bereit zu machen.
In dieser Nacht sollte ihr jedoch keine Weisheit zuteilwerden.
Selbst die königlichen Truppen hatten nach dem Kind der Seherin gesucht, das drei Tage zuvor aus seinem Bettchen gestohlen worden war. Dann aber brachte ein Bürger das blutige Nachtgewand eines Kindes. Aya vergoss bittere Tränen, als sie es als das ihrer Tochter erkannte.
Die ganze Hauptstadt trug an diesem Tage Trauer und der leere Sarg wurde mit solchem Pomp zu Grabe getragen, wie es sonst nur für Mitglieder der königlichen Familie üblich war. Jedermann beweinte das Schicksal des kleinen Mädchens, dem eine großartige Zukunft verwehrt worden war. Es wäre seiner Mutter dereinst als Seherin nachgefolgt.
Herbst 1388 n.N.
Jahr 1 des 110. Nachfahren Nalanis
Königliche Kampfschule in den Wäldern des Nördlichen Gebirges
Es ist nicht dasselbe ohne Agimar, dachte Myrna. Seit zehn Jahren war sie Wirtschafterin in der königlichen Kampfschule, genauso lange, wie Agimar hier Meister gewesen war. Jetzt aber war der ehrbare Krieger fort und die Schule erschien ihr seltsam leer.
Einen Moment lang dachte sie daran fortzugehen. Dann aber fiel ihr Blick auf Audrey, ihre Ziehtochter. Die Dreijährige bemühte sich redlich, die Bewegungen der älteren Jungen nachzuahmen, die im Innenhof ihr tägliches Training absolvierten. Immer wieder musste Myrna feststellen, dass sich das Mädchen dabei geschickter anstellte als die meisten der neuen Schüler, Jungen im Alter von fünf oder sechs Jahren. Es war erstaunlich, besonders wenn man bedachte, dass die Schüler der Kampfschule einem strengen Auswahlprozess unterworfen wurden. Nur die Besten schafften es, aufgenommen zu werden. Es war eine große Ehre für sie und ihre Familien.
Die Krieger, die hier ausgebildet wurden, erreichten zumeist Großes. Ob als Leibwache des Königs, als Befehlshaber in der Armee oder als Krieger für besonders heikle Aufgaben, ihre Talente wurden gefördert und dann optimal genutzt. Für dieses Privileg schworen sie dem König Treue bis in den Tod.
Einer der Jungen kam aus dem Takt und stolperte über Audrey. Beide gingen zu Boden. Noch bevor er sich aufrappelte, begann der Junge, die Kleine zu beschimpfen. Dabei war es seine Schuld gewesen, dass er gefallen war.
Er war zwei Köpfe größer als das Mädchen und es wäre nur natürlich gewesen, wäre sie vor Angst davongelaufen. Sie aber kam auf die Füße und baute sich vor ihrem Kontrahenten auf. Herausfordernd blitzten ihre Augen. Der Junge erhob die Hand. Jetzt erkannte Myrna das Kind: Es war Cahil, ein kräftiger Knabe von sechs. Er war ein ausgewiesener Raufbold, der Freude daran hatte, Schwächere zu unterdrücken. Wäre nicht in diesem Augenblick der Lehrer eingeschritten, der die Übungen beaufsichtigte, Cahil hätte sicher nicht davor zurückgeschreckt, Audrey zu schlagen. Der Lehrer tadelte ihn scharf, aber auch Audrey kam nicht ungeschoren davon.
»Wie oft haben wir es dir schon gesagt, das Training ist nichts für dich. Geh zu deiner Mutter.«
Jedes andere Kind hätte sich wohl trotzig auf den Boden geworfen, Audrey aber nickte, machte eine kleine Verbeugung als Zeichen der Ehrerbietung vor dem Lehrer und ging.
Was für ein seltsames kleines Mädchen sie doch war, dachte Myrna. Vielleicht hatte Agimar geahnt, dass sie etwas Besonderes war, als er das Waisenkind ein halbes Jahr zuvor in ihre Obhut gab.
Um sich und Audrey weitere Tadel zu ersparen, ließ sie das Kind an diesem Tag nicht mehr von ihrer Seite.
Sommer 1395 n.N.
Jahr 8 des 110. Nachfahren Nalanis
Königliche Kampfschule in den Wäldern des Nördlichen Gebirges
Sie ließ eine schnelle Folge von Stockhieben auf Cahil niederprasseln. Obwohl der Junge sich redlich mühte, diese zu parieren, würde er in dieser Übungsstunde mehr als nur einen blauen Fleck davontragen.
Sein Gesicht war von Anstrengung und Zorn gerötet. Von jeher störte er sich an Audreys Anwesenheit, und als sie vor vier Jahren die Erlaubnis erhalten hatte, mit den Jungen zu trainieren, hatte er sie offiziell zu seiner Feindin erkoren.
Er ließ keine Gelegenheit aus, sie zu ärgern und ihr das Leben schwer zu machen. Mal warf er ihre frisch gewaschenen Sachen in den Schmutz, mal stahl er ihr das Essen. Sie erduldete seine Gemeinheiten, ohne ihn bei Myrna oder den Lehrern zu verpetzen, achtete jedoch sorgfältig darauf, dass er ihr nicht ein zweites Mal auf diese Art übel mitspielen konnte.
Im Training ließ sie ihn jede seiner Schandtaten doppelt und dreifach büßen. Obgleich drei Jahre jünger als er, übertraf sie ihn in jeder Kampftechnik. Ob Ringen, Faust- oder Stockkampf, ihre extreme Wendigkeit erlaubte es ihr, jeder seiner Attacken auszuweichen, nur um alsdann eigene, gut gezielte Hiebe auszuteilen. Sie war ihm überlegen, und, was er noch schlimmer fand, fürchtete ihn nicht.
Während er der unangefochtene Anführer aller Jungen bis zum Alter von vierzehn war, respektiert und gefürchtet, machte Audrey keine Anstalten, sich ihm unterzuordnen. Sie, ein Mädchen, blamierte ihn mit feiner Regelmäßigkeit. Manchmal war er darüber so wütend, dass er seinen Zorn am nächstbesten Jungen ausließ. Die Strafen, die darauf folgten, heizten seinen Groll weiter an.
Hätte er gekonnt, Cahil hätte Audrey dermaßen verprügelt, dass sie sich nie wieder auf dem Trainingsplatz hätte blicken lassen. Oft schon hatte er überlegt, sie mit einigen Freunden zu überfallen. Gewagt hatte er es noch nie. Er redete sich ein, es habe an Gelegenheiten gefehlt. Schließlich schlief sie nicht wie alle anderen in dem riesigen Schlafsaal der Schüler, sondern teilte sich ein Zimmer mit ihrer Mutter Myrna.
Welch eine Ungleichbehandlung. Einerseits hatte Audrey so lange gebettelt, bis man sie mit den Jungen trainieren ließ, andererseits aber musste sie sich nicht den strengen Regeln unterwerfen, die für die Schüler galten. Weder musste sie in dem ungeheizten Saal auf dem Boden schlafen, noch dem strengen Tagesablauf folgen; auch vor Strafen musste sie sich nicht fürchten. Kein Lehrer würde es je wagen, die Rute gegen das Mädchen zu heben.
Cahil musste ihr zugestehen, dass sie viele der Entbehrungen auch ohne Zwang auf sich nahm. Kamen die Jungen morgens auf den Trainingsplatz, war sie schon da; mussten sie viele Meilen laufen, lief sie meist noch ein paar mehr. Ihr Kopf war ebenso kahl geschoren wie der seine und auch sie lief die meiste Zeit des Jahres barfuß. Sie tat alles, um dazuzugehören. Es war wohl einzig Myrnas Einfluss zu verdanken, dass Audrey nicht mit ihm im gleichen Raum schlief.
Nachdem sie ihrem Gegner den Stock drei Mal gegen den Kopf geschlagen hatte, nahmen sie wieder die Grundstellung ein, um den Kampf in einigen Augenblicken von Neuem beginnen zu lassen. Sie nutzte die Chance, Cahil aufmerksam zu mustern. Sein Atem ging schwer und Schweiß lief über sein Gesicht. Er war sichtbar erschöpft. Kein Wunder, bei der Kraft, mit der er den Stock gegen sie geführt hatte. Dennoch durfte sie in ihrer Aufmerksamkeit nicht nachlassen, lehrten die Meister nicht immer, verzweifelte Gegner seien die gefährlichsten. Wobei, Cahil war nicht verzweifelt, sondern wütend. Der Zorn auf sie war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Welch eine Verschwendung von Talenten, dachte sie. Der Dreizehnjährige könnte ein so guter Kämpfer sein, würde er sich den obersten Leitsatz nur mehr zu Herzen nehmen: keine Gefühle.
Aus eigener Erfahrung wusste sie, wie schwierig diese Anforderung war. Nicht selten war auch sie wütend, hatte Schmerzen oder war erschöpft. Doch niemals gab sie sich die Blöße, sich dies anmerken zu lassen. Und wäre sie erst so alt wie Cahil jetzt, sie würde diese störenden Empfindungen ganz hinter sich gelassen haben. Im Versuch, diesem Ziel näher zu kommen, bemühte sie sich jetzt, keinen Groll gegen ihren ständigen Widersacher zu empfinden, obwohl er ihr das Leben schwer machte, solange sie denken konnte.
Der Lehrer gab ihnen das Zeichen fortzufahren und sie konzentrierte sich allein auf ihre Bewegungen und die ihres Gegners.
Spätherbst 1396 n.N.
Jahr 9 des 110. Nachfahren Nalanis
Königliche Kampfschule in den Wäldern des Nördlichen Gebirges
»Sie ist noch zu klein für das Schwert. Sie wird es heben, doch nicht mit Kraft führen können«, gab Tearlach, der Lehrer für die Schwertkünste, zu bedenken.
Er war ein hochgewachsener Mann von vierzig Jahren. In seiner Hand wirkten selbst die mächtigen Großschwerter wie ein Kinderspielzeug. Viele Jahre war er Hauptmann im königlichen Heer gewesen. Im Kampf hatte er sein rechtes Auge verloren. Auch wenn er immer noch ein Kämpfer war, der seinesgleichen suchte, hatte man ihn danach mit der Ausbildung neuer Krieger betraut.
»Das ist in der Tat ein Problem«, stimmte ihm Raghnall, der Meister, zu. Nach Agimars Tod war er schnell zum neuen Meister der Kampfschule aufgerückt. Er genoss keinen besonderen Ruf als Krieger, doch er war ein guter Lehrer und verstand sich darauf, das Beste aus jedem Jungen herauszuholen, den man in seine Obhut gab. Mit seinen fünfzig Jahren war er außerdem der älteste unter den Ausbildern.
Er fuhr fort: »Bei jedem Jungen, der ihre Fähigkeiten zeigte, hätten wir schon vor einem Jahr mit dem Schwertkampf begonnen. Es ist eine Schande, ihr Talent brachliegen zu lassen. Doch wenn du der Meinung bist, werden wir noch ein Jahr warten.«
»Das könnte nicht reichen. Sie ist ein Mädchen. Bei aller Bewunderung für ihr Können, es ist möglich, dass sie nie groß genug wird, um ein normales Großschwert zu führen«, wandte Tearlach ein. »Ohnehin erschließt sich mir nicht, warum wir sie überhaupt ausbilden. Eine Frau kann nicht in das Heer eintreten.«
»Ein Talent wie das ihre verschwenden? Dazu bin ich nicht bereit. Bei ihr vereinen sich Wille und Fähigkeiten aufs Vortrefflichste. Sie wird ihren Weg gehen. Wenn du sie jedoch nicht ausbilden möchtest, so wird Einar diese Aufgabe übernehmen. Schick ihn zu mir.«
Tearlach deutete eine Verbeugung an und ging.
Raghnall strich sich gedankenverloren das Kinn. Audrey war eine Herausforderung für die gesamte Schule. Anfangs hatte Myrna versucht, das Mädchen in ihrer Nähe zu behalten, doch bald schon hatte sie einsehen müssen, welch aussichtsloses Unterfangen dies war. Obgleich erst drei Jahre alt, hatte das Kind schon damals gewusst, was es wollte: mit den Jungen trainieren.
Unablässig hatte sie in den letzten acht Jahren den anderen Schülern nachgeeifert. Es hatte nicht lange gedauert und ihre Fähigkeiten übertrafen die eines zwei Jahre älteren Jungen. Wie lange würde es dauern, bis selbst die Lehrer ihr nichts mehr beizubringen vermochten?
Der Erfolg war Audrey nicht zugeflogen. Sie hatte härter und ausdauernder trainiert als alle anderen. Was ihr an Kraft fehlte, machte sie mit Geschick und schnellem Denken mehr als wett. Vor einem halben Jahr hatte sie die Ausbildung im Lesen, Schreiben und Rechnen, für deren Bewältigung die Jungen bis zum zwölften Lebensjahr oder länger brauchten, abgeschlossen. Die freie Zeit, die sie dadurch gewann, wollte sie mit mehr körperlichen Übungen füllen. Sie hatte sogar den Mut gehabt, ihn persönlich darum zu bitten.
Sein Sinnieren wurde durch Einars Eintreten unterbrochen.
»Meister, du hast nach mir schicken lassen?«
»Ja. Setz dich, ich habe etwas mit dir zu besprechen.«
Einar nahm Platz. Auch im Sitzen überragte Raghnall ihn noch um Haupteslänge. Gegen die meisten Krieger wirkte Einar mit seinem niedrigen Wuchs und dem schmalen Körper wie ein Kind. Dennoch konnte Raghnall niemandem raten, den Mann zu unterschätzen. Der Lehrer für Messerkampf vermochte es, jeden mit nur einer schnellen Bewegung ernsthaft zu verletzen oder gar zu töten.
»Ich habe mich mit Tearlach besprochen. Er ist der Meinung, es mache keinen Sinn, Audrey in der Schwertkunst zu schulen.«
»Nun, er wird es wissen.«
»Deshalb möchte ich dich bitten, sie in deine Gruppe zu nehmen.«
»Sie soll den Messerkampf erlernen?«
Obgleich sein Gegenüber dies sorgsam zu verhehlen wusste, glaubte Raghnall, Ungläubigkeit und Widerwillen aus der Frage herauszuhören. Den Grund kannte er nur allzu gut. Es wäre nicht nötig gewesen, dass Einar ihn gleich darauf aussprach: »Das Messer ist die Waffe eines Assassinen. Willst du wirklich, dass ich sie zur Meuchelmörderin ausbilde?«
»Warum nicht? Niemand wird je von ihr verlangen, dass sie das Gelernte einsetzt. Selbst wenn sie kämpfen kann wie ein Mann, so bleibt sie doch immer eine Frau. Die Eide unserer Schüler hat sie nie gesprochen, noch wird der König je den Treueschwur von ihr einfordern.«
»Wie du meinst. Schaden kann es eigentlich nicht und für meine Gruppe wird sie eine Bereicherung sein. Wenn sie sich so geschickt anstellt wie bisher, werden alle meine Schüler ihr Bestes geben, um nicht gegen sie zu verlieren.«
»Diesen Effekt habe ich auch schon beobachtet. Vielleicht ist es wirklich eine glückliche Fügung, dass wir Audrey hier bei uns haben.«
»Redest du mit Myrna über den weiteren Ausbildungsweg des Mädchens oder obliegt dies mir?«
Raghnall lachte kurz auf, dann antwortete er: »Als ob es Sinn hätte, Myrna um Erlaubnis zu fragen. Du vergisst, Audrey ist nur ihre Ziehtochter. Und selbst wenn das Mädchen ihr leibliches Kind wäre, so könnte sie ihr doch nichts verbieten.«
Einar nickte. Wie jeder wusste er um die Sturheit des Mädchens. Und seit man ihr vor drei Jahren gesagt hatte, sie sei Waise und Myrna nur ihre Pflegemutter – ein Umstand, den sie schon vorher geahnt hatte –, ließ sie sich von dieser keinerlei Vorschriften mehr machen. Sie brachte ihr Respekt entgegen, doch sah sich ihr in keinster Weise verpflichtet.
»Dann erwarte ich sie ab morgen in meinem Unterricht«, sagte Einar, stand auf und ging.
Raghnall aber saß noch lange grübelnd da. Er hoffte, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Auf jeden Fall hatte er sich gerade Ärger mit Myrna eingehandelt. Die Wirtschafterin zürnte ihm schon lange, weil er sich nicht dazu durchringen konnte, Audrey vom Training auszuschließen. Ihrer Meinung nach war es an der Zeit, dass das Mädchen etwas lernte, was ihr im späteren Leben nützte. Gerne hätte sie es gesehen, wenn sie Audrey in die Lehre hätte nehmen können. Eine Frau, die sich darauf verstand, einen großen Haushalt zu führen – und nichts anderes war die Schule mit ihren ungefähr hundert Schülern und zehn Lehrern –, hatte keine Schwierigkeiten, die Gunst eines Mannes zu erlangen.
Er verstand diese Argumente, doch da Audrey sich beständig sträubte, fühlte er sich unfähig, Myrnas Wunsch zu entsprechen. Audrey von der Verfeinerung ihrer Kampfkünste abzubringen gelänge nur, wenn man sie von hier fortbrächte. Dies aber widerspräche den Wünschen des früheren Meisters Agimar, der die Waise vor achteinhalb Jahren mitgebracht hatte. Er hatte verfügt, dass man sie auf keinen Fall aus der Schule fortlassen sollte. Ob er wohl vorausgesehen hatte, welchen Weg das Mädchen einschlagen würde? Schwerlich.
Sommer 1399 n.N.
Jahr 12 des 110. Nachfahren Nalanis
Wälder des Nördlichen Gebirges
Man gestand den älteren Schülern jeden zehnten Tag einen freien Nachmittag zu. Als Audrey in Einar Gruppe kam, hatte man auch ihr dieses Privileg zuerkannt.
Sie war jetzt vierzehn und ihr Körper begann, sich zu verändern. Sie konnte es den Jungen nicht länger gleichtun und mit bloßem Oberkörper herumlaufen. Das hatten ihr sowohl Myrna als auch die Lehrer deutlich zu verstehen gegeben. Hier im Wald, eine Wegstunde vom Gebäude der Schule entfernt, aber war sie allein.
Sie streifte das Hemd ab, wollte gerade auch die Hose ausziehen, um ein Bad im klaren Wasser des Gebirgssees zu nehmen, als sie ein Knacken im Unterholz vernahm. Sie griff nach ihrem Stab. Das schulterhohe, zwei Finger dicke Rundholz war die einzige Waffe, die die Schüler außerhalb des Übungsplatzes tragen durften. Sie wusste ihn zu handhaben, sodass sie die Gefahren des Waldes nicht zu fürchten brauchte. Selbst die größten Tiere vermochte sie damit in die Flucht zu schlagen.
Doch es war kein Tier, das dort aus den Büschen sprang, sondern Cahil. Sie brauchte nicht darüber nachdenken, was er wohl hier wollte. Er ließ keine Gelegenheit aus, ihr Schwierigkeiten zu machen. Seit sie in Einars Gruppe war, während Cahil mit Tearlach trainierte, war es zwar seltener zu Zusammenstößen gekommen, doch sie wusste, dass der junge Mann schon so lange einen Groll gegen sie hegte, dass er keinen Anlass mehr brauchte, um seine Wut an ihr auszulassen. In diesen Tagen war er besonders zornig. Dabei war es nicht ihre Schuld, dass der Meister dem Siebzehnjährigen erneut den Abschluss verweigerte, während Jungen von fünfzehn und sechzehn ihn erhielten und nun ihren Dienst für den König antreten konnten.
Audrey wusste nicht, ob er ihr gefolgt oder nur zufällig auf sie gestoßen war, doch fest stand, dass er sie seinen Zorn spüren lassen würde.
Sie packte ihren Kampfstab fester, als er seinen zum Angriff hob. Im Licht der Sonne, das durch die Äste fiel, sah sie etwas an den Stockspitzen schimmern. Dies war kein Schülerstab, sondern der metallverstärkte eines Kriegers. Cahil musste ihn aus der Waffenkammer gestohlen haben.
Schon in seinen ersten Schlag legte Cahil all seine Kraft. Er hatte also noch immer nicht gelernt, mit Geschick zu kämpfen, setzte weiterhin auf reine Muskelkraft. Er war einen Kopf größer als sie und um einiges schwerer. Sie wusste, dass sie seinen Hieb nicht parieren konnte. Daher wich sie zur Seite aus, ließ seine rohe Gewalt ins Leere laufen. Nur seiner guten Ausbildung verdankte es Cahil, dass ihn weder dies noch Audreys anschließender Schlag auf seinen Rücken ins Straucheln brachte. Er drehte sich zu ihr und griff erneut an.
Drei Mal wiederholte sich das gleiche Spiel und bei jedem Mal fiel Audreys Schlag härter aus. Doch noch zielte sie stets auf seinen unempfindlichen breiten Rücken. Dabei wäre es ein Leichtes gewesen, ihm das Ende des Stabes von hinten in die Kniekehle zu rammen. Das hätte ihn in die Knie gezwungen. Sie wollte ihn jedoch nicht verletzen, sondern ermüden. Eine Niederlage, herbeigeführt durch die eigene Schwäche, war um ein Vielfaches kränkender als ein Aufgeben wegen einer Verletzung.
»Warum tust du das?«, fragte sie ihn.
Er aber antwortete nicht, zielte wieder auf ihren Kopf. Im letzten Moment ließ er jedoch das andere Ende des Stabes gegen ihre Beine vorschnellen. Damit hatte sie nicht gerechnet, konnte nicht mehr reagieren. Sie vernahm ein Knacken und wusste, dass es ihr Schienenbein war. Unter der Wucht des metallenen Stabendes war es gebrochen.
Sie spürte keinen Schmerz.
Das Bein gab nach. Sie musste sich auf ihren Stock stützen, um nicht zu fallen. Blitzschnell machte sich Cahil dies zunutze. In einer Bewegung schlug er ihr den Stock weg und versetzte ihr einen Stoß, der sie ihres Gleichgewichtes beraubte. Sie fiel auf den Rücken, und noch ehe sie sich aufrichten konnte, war er über ihr. Er stellte sein Knie auf ihren Brustkorb und fixierte sie so am Boden. Versuchte sie, sich aufzurichten, würde er sein ganzes Gewicht auf dieses Knie bringen und ihr sicher einige Rippen brechen. Audrey musste erkennen, dass Cahil sie besiegt hatte. Seit ihrem letzten Kampf hatte sich seine Technik wirklich verbessert.
Mit hasserfüllten Augen blickte er sie an. »Na, wie gefällt dir das? Hast du wirklich geglaubt, du wärst stärker als ich? Endlich bist du da, wo eine Frau hingehört: auf dem Rücken, unter einem Mann.«
Gründete sein ganzer Hass auf sie wirklich nur darauf, dass sie nicht die Rolle einnahm, die er Mädchen und Frauen zubilligte? Konnte er es nicht ertragen, dass sie den Kampfstab schwang und nicht den Kochlöffel? Es erschien ihr absurd. Sie kannte die Welt außerhalb der Schule nur aus Erzählungen, war sich aber der Tatsache bewusst, dass die meisten Frauen unter der Bevormundung eines Mannes standen. Doch es gab Ausnahmen: Frauen, die ohne einen Mann an ihrer Seite ein erfolgreiches Geschäft führten oder die gar ein öffentliches Amt bekleideten. Ob Cahil diese Frauen mit der gleichen Inbrunst verscheute, wie er es bei ihr tat?
Er griff nach dem Bund ihrer Hose. Sie ahnte, was er vorhatte. Er würde ihr die größte Demütigung zufügen, die ein Mann einer Frau zufügen konnte. Er würde sie vergewaltigen.
Aber das würde sie nicht zulassen. Obgleich sie Gefahr lief, schwere Verletzungen davonzutragen, musste sie den Versuch unternehmen, sich zu befreien. Sie tastete nach ihrem Kampfstab, umschloss ihn mit den Fingern ihrer rechten Hand. Cahil hatte inzwischen die Schnürung ihrer Hose gelöst. Um sie ihr herunterzuziehen aber musste er sein Gewicht verlagern. Das war ihre Chance. Sie riss den Stock nach oben, griff mit der zweiten Hand zu. Mit Schwung ließ sie die Hände nach vorne schnellen und übte mit dem Schaft so viel Druck wie möglich auf Cahils Körper aus. Er kippte nach hinten, doch seine antrainierten Reflexe ließen ihn sofort auf die Füße kommen. Groß und drohend ragte sein massiger Körper über ihr auf. Trotz des gebrochenen Beines schaffte sie es, vor einem Gegenangriff aufzustehen. Die heruntergerutschte Hose schüttelte sie ab. Völlig nackt stand sie nun vor ihrem Gegner. Sie ging in Angriffsstellung. Sie war im Vorteil, denn sein Stab lag noch am Boden. Bückte er sich danach, würde sie angreifen.
Stattdessen aber griff Cahil in den Bund seiner Hose. Er zog ein Messer hervor, das Kampfmesser eines Kriegers. Sie lächelte. Er war ein Narr, wenn er glaubte, dies würde ihm den Sieg verschaffen. Richtig gehandhabt war dies unbestreitbar eine tödliche Waffe, doch es fehlte ihr an Reichweite. Die Klinge war nicht viel länger als seine Handfläche. Mit dem Stock würde sie ihn problemlos auf Abstand halten können.
Erneut unterschätzte sie Cahil Wut. Das Messer fest im Griff rannte er auf sie zu. Sie schwang den Stab, um ihn abzuwehren, doch die Wucht seines Angriffs riss sie von den Füßen. Mit ihrem gebrochenen Bein war ihr Stand nicht sicher gewesen.
Er kam auf ihr zu liegen. Um ihn und sein Messer auf Abstand zu halten, stemmte sie den Stock gegen seinen Brustkorb nach oben. Ihre Arme zitterten. Lange würde das nicht durchhalten. Außerdem war sie noch immer in Reichweite seiner Arme. Durch ihre Gegenwehr war seine Bewegung eingeschränkt, aber nicht unterbunden. Schon hatte sie das Messer an der Kehle.
»Jetzt wirst du sterben«, knurrte er und drückte das Messer leicht in das weiche Fleisch, schaute ihr dabei fest in die Augen. Hoffte er, dort Angst zu entdecken. Nein, diesen Gefallen würde sie ihm nicht tun. Sollte der Tod sie auf diese Weise ereilen, so würde sie es hinnehmen müssen. Vorher aber würde sie bis zum letzten Atemzug kämpfen.
Ganz plötzlich gab sie ihren Druck gegen den Stock auf. Im gleichen Moment, in dem Cahils Oberkörper herabsackte, schlug sie den Stock von unten gegen den messerführenden Arm. Gleich zweifach um sein Gleichgewicht gebracht, entglitt ihm das Messer. Bevor er es wieder zu fassen bekam, hatte sie auch schon den Stab losgelassen und danach gegriffen.
Cahil lag mit seinem ganzen Gewicht auf ihr. Ihre Faust, die das Messer umklammerte, war zwischen den beiden Körpern eingeklemmt und die Spitze der Schneide zeigte auf ihr Kinn. Sie hoffte, Cahil wäre dumm genug, sich mit den Händen hochzustemmen und ihr so die Möglichkeit zu geben, das Messer einzusetzen. Zunächst einmal tat sich nichts. Da sie vollkommen bewegungsunfähig war, konnte ihr Gegner sich die Zeit nehmen nachzudenken. Sie spürte seinen Atem in ihrem Gesicht. Ihre Nasen berührten sich fast.
Fieberhaft dachte sie nach. Ihre linke Hand war nicht nur zwischen ihrer beider Brustbeine eingeklemmt, zwischen seinem Körper und der Klinge war auch noch ihr Kampfstab zu liegen gekommen.
Mit der rechten Hand umfasst sie das Holz und versuchte, es nach unten zu drücken. Sie musste, es war aussichtslos, doch sie wollte eine Reaktion provozieren. Er sollte keine Zeit zum Nachdenken habe.
Cahil griff mit beiden Händen nach dem Stab und schob ihn in Richtung ihres Halses. Er wollte ihr die Luft nehmen. Er drückte den Stock gegen ihre Kehle. Um genug Kraft aufzuwenden, hob er seinen Oberkörper dabei an. Ein triumphierendes Lächeln. Gleich würde ihr Kehlkopf bersten. Dann aber trat Überraschung in seine Augen. Der Druck auf Audreys Kehle nahm ab.
Sie hatte den Raum zwischen den Körpern genutzt, um das Messer zurückzuziehen, die Spitze gegen seinen Bauch zu richten und zuzustechen. Ausgebildet in der Kunst des Messerkampfes hatte sie gewusst, in welchem Winkel sie die Klinge unter den Rippen hindurchführen musste, um das Herz zu treffen. Ihre einzige Sorge war, das Messer könne möglicherweise zu kurz sein. Bis zum Heft hatte sie es ihm daher in den Körper gestoßen. Um den Schaden noch zu vergrößern, drehte sie es, so weit es möglich war. Sie spürte, wie das Blut warm über ihre Hand und ihren nackten Oberkörper lief. Die Überraschung in seinen Augen war Furcht gewichen. Hatte er erkannt, dass er sterben würde?
Voller Faszination verfolgte sie sein Mienenspiel. Er öffnete den Mund, als wolle er noch etwas sagen, blieb aber stumm. Stattdessen spuckte er Blut. Dann erloschen seine Augen.
Audrey wälzte den toten Körper von sich herunter, drehte die Leiche auf den Rücken. Das Messer steckte noch immer in seinem Bauch. Sie zog es heraus. Es war seine Schuld, sagte sie sich.
Das Blut auf ihrem Körper begann zu trocknen. Sie ging, um es im klaren Wasser des Bergsees fortzuspülen.
Während sie sich gründlich reinigte, überlegte sie, was sie mit der Leiche tun sollte. Sollte sie in der Schule von dem Vorfall erzählen? Er hatte sie angegriffen, es war ihr gutes Recht gewesen, ihn abzuwehren. Doch würde der Meister es gutheißen, dass sie ihn getötet hatte? Schließlich hatte sie keinen Beweis dafür, dass auch er ihr das Leben hatte nehmen wollen. Besser, sie bewahrte Stillschweigen.
An den Armen schleifte sie ihn in einen Busch. Selbst wenn man nach ihm suchen würde, würde man ihn hier wohl kaum finden. Und mit der Zeit würden die Tiere jede Spur vernichten.
Den gestohlenen Kampfstab legte sie neben ihn, das Messer aber säuberte sie und nahm es an sich.
Nachdem sie sich erneut gewaschen hatte, zog sie ihre Kleidung wieder an. Die Hose war während des Kampfes zwar schmutzig geworden, doch frei von Blut.
Als sie fertig war, klang der Rausch des Kampfes langsam ab. Jetzt erst spürte sie den Schmerz in ihrem linken Bein. Sie setzte sich und untersuchte es. Soweit sie das beurteilen konnte, war der Knochen nicht ganz durchtrennt, nur angebrochen. Mit etwas Glück würde er ohne bleibende Folgen heilen. Niemand würde davon erfahren müssen. Die Schmerzen konnte sie ertragen, ohne sich etwas anmerken zu lassen.
Aus noch sauberen Teilen der Hose des Toten machte sie einen festen Verband. Dieser würde dafür sorgen, dass sich die Knochen nicht gegeneinander verschoben. Unter ihrer weiten Hose sah man nichts davon.
Es wurde bald dunkel. Sie musste sich eilen, wollte sie nicht, dass jemand Fragen über ihr langes Ausbleiben stellte.
Jeder nahm an, Cahil sei davongelaufen. Niemand bedauerte diesen Verlust sonderlich, hatte der junge Mann doch häufig Streit ausgelöst und sich schwer damit getan, seine Gefühle zu unterdrücken. Insgeheim bezweifelte Meister Raghnall, dass aus Cahil jemals ein perfekter Krieger geworden wäre. Nicht umsonst hatte er ihm den Abschluss auch in diesem Jahr verweigert. Hätte nicht eine grundlegende Wendung stattgefunden, hätte er seine Weigerung auch im nächsten Jahr wiederholt und den jungen Mann damit der Chancen beraubt, die sich Absolventen der königlichen Kampfschule boten. Einen guten Posten im Heer aber hätte Cahil dennoch erhalten. Da er nun aber seine Eide gebrochen und davongelaufen war, würde er sein Glück als Söldner machen müssen.
Raghnall tat es leid um die verschwendeten Mühen der Lehrer.
Frühsommer 1401 n.N.
Jahr 14 des 110. Nachfahren Nalanis
Königliche Kampfschule in den Wäldern des Nördlichen Gebirges
Audrey spürte, dass mehrere Dutzend Blicke auf sie gerichtet waren. Obwohl sie es wegen der Augenbinde nicht sehen konnte, wusste sie, dass jeder auf dem Übungsplatz innehielt und zu ihr hinüberblickte. Gleich würden sie einen Kreis um Einar und sie bilden, eine Arena stummer Zeugen ihres Wettstreits. Die Zuschauer eines blinden Kampfes mussten schweigen, um die Kontrahenten nicht zu verwirren. Einzig die Stimme von Meister Raghnall, der als Schiedsrichter fungierte, würde erschallen.
Raghnall brachte die Gegner in die Anfangsposition. Audrey machte sich kampfbereit. Einar stand nur eine Armlänge von ihr entfernt in Reichweite ihres unterarmlangen Messers. Mit einem schnellen Angriff hätte sie die Chance, den ersten Treffer zu landen.
Raghnall führte Einars und Audreys Fingerspitzen der unbewaffneten Hände zusammen, dann gab er das Startsignal. Statt anzugreifen machte sie einen Schritt nach hinten. Ein Luftzug verriet ihr, dass Einar mit einem Angriff gerechnet und versucht hatte, die Nähe zu nutzen. Doch sein Messer stach ins Leere. Der Kies knirschte unter seinen Füßen. Er bewegte sich um sie herum, um sie von hinten anzugreifen. Egal, wie behutsam sie sich mitdrehte, Einar würde es hören. Daher verharrte sie regungslos in ihrer Position. Sie konnte seinen Atem hören. Er stand jetzt hinter ihr, zu weit entfernt, um ihr das Messer an den Hals zu setzen, doch nah genug, um es ihr zwischen die Rippen zu stoßen. Geschähe dies, wäre der Kampf für sie verloren.
Sie ging in die Hocke und sein Messer durchschnitt wieder nur die Luft. Dann tat er, womit sie gerechnet hatte. In der Annahme, er habe die Entfernung falsch eingeschätzt, machte er einen Schritt nach vorne, um erneut zuzustechen, bevor sie die Chance hätte auszuweichen. Seine Knie stießen gegen ihren Rücken und sie stieß mit dem Messer zu.
»Treffer am rechten Fuß«, erscholl Raghnalls Stimme. Keine Verletzung, die ihr den Sieg bringen würde, doch sie würde Einar behindern. Sie machte eine Rolle nach vorne, um sich aus seiner Reichweite zu bringen. Im Aufspringen griff sie an ihren Gürtel. Dann drehte sie sich in Richtung ihres Gegners. Noch in dieser Bewegung schleuderte sie in schneller Folge drei ihrer kleinen dreieckigen Wurfmesser. Ein dumpfes Geräusch und ein Klirren. Zwei Geschosse hatten ihr Ziel getroffen, auch wenn eines wohl von den Unterarmschienen aus Metall abgewehrt worden war.
»Treffer an Gesicht, Brust und Arm.«
Weiches Fleisch, deshalb hatte es kein Geräusch gegeben. Sie hatte Einar genug geschwächt, um sich auf einen Nahkampf einzulassen. Obwohl sie ganz genau wusste, wo er war, überließ sie es ihm heranzukommen. Er gab sich keine Mühe mehr, seine Position zu verbergen. Überdeutlich hörte sie sein Nahen. Dennoch gelang es ihr nicht, den Angriff zu verhindern. Sie spürte, wie die Spitze des Messers ihre Schulter traf.
»Treffer an der rechten Schulter«, rief Raghnall.
Sie ließ Einar keine Zeit, fester zuzudrücken. Ihre freie Hand packte seinen Arm und drückte dagegen. Er reagierte mit Gegendruck, den sie nutzte, um sich blitzschnell um die eigene Achse und seinen Körper zu drehen. Binnen eines Wimpernschlages stand sie hinter ihm, ihr Messer an seiner Kehle.
»Aus. Audrey gewinnt«, verkündete Raghnall.
Sie zog sich selbst die Binde von den Augen. Einar hatte eine blutige Schramme im Gesicht. Obgleich sie den Übungskampf mit stumpfen Klingen ausgetragen hatten, hatte ihr Wurfmesser eine Spur hinterlassen. Nun, das war zu erwarten gewesen. Nicht umsonst trugen sie lederne Kleidung, die ihre Körper vor Verletzungen schützte.
»Gut gemacht, Audrey«, sagte Einar. Fast war es ihr, als lächele er. Sie hatte ihren Lehrer noch nie lächeln gesehen und mit Lob war er äußerst sparsam. Umso mehr Stolz empfand sie. Soweit sie wusste, hatte noch nie jemand Einar im blinden Messerkampf schlagen können. Schon die Tatsache, dass er sie als Gegnerin ausgewählt hatte, war eine große Ehre gewesen. Auf einen Sieg hatte sie nicht einmal zu hoffen gewagt.
»Zurück zu euren Übungen!«, befahl Raghnall den noch immer staunenden Zuschauern.
»Audrey, du hast dir eine Pause verdient. Lass mich kurz mit Einar sprechen.«
»Natürlich, Meister.«
Sie verneigte sich und ging ein paar Schritte. Zu gern hätte sie gewusst, was die beiden sprachen. Sie bückte sich, um sich der Schuhe zu entledigen, die sie für den Kampf getragen hatte. Die beiden Männer schauten zu ihr hinüber. Sie meinten wohl, Audrey sei weit genug entfernt, um ihre Worte nicht zu hören, doch ein günstiger Wind trug die Stimmen bis an ihr Ohr. Vielleicht war ihr verbessertes Hörvermögen auch der noch immer anhaltenden Anspannung des Kampfes zuzuschreiben.
»Wäre sie doch nur ein Junge«, sagte Einar. Sie glaubte, echtes Bedauern in seiner Stimme zu hören.
»Sie ist aber ein Mädchen. Niemals wird sie der König in seine Dienste nehmen. Sähe ich auch nur die kleinste Chance, ich hätte ihr schon im letzten Sommer den Abschluss zuerkannt. Aber nach der Vorstellung heute müssen wir uns ernsthaft Gedanken machen, was mit ihr werden soll. Sie kann nicht ewig in der Schule bleiben. Irgendwann wird die Ungeduld sie packen. Seit heute weiß sie, dass es nichts mehr gibt, was wir ihr noch beibringen können.«
»Ich hätte nicht damit gerechnet, dass sie mich besiegt. Eigentlich wollte ich ihr ihre Grenzen aufzeigen.«
»Ich weiß. Doch was geschehen ist, ist geschehen. Wir werden damit umgehen müssen. Versuch, sie noch etwas hinzuhalten. Ich werde meine Kontakte nutzen, um einen Mann zu finden, der ihr gewachsen ist. Noch bevor der Herbst kommt, werden wir sie verheiraten.«
Sie hatte schon lange geahnt, dass man ihr keine Aufnahme in die Reihen der königlichen Krieger gewähren würde. Doch bisher hatte sie noch zu hoffen gewagt, den Meister durch außergewöhnliche Leistungen umzustimmen. Diese Hoffnungen waren nun zerstoben. Sie verfluchte die Bürde ihres Geschlechts. So viele Jahre hatte sie gegeben, um diese vergessen zu machen. Mit unmenschlicher Härte hatte sie ihrem Körper alles abverlangt. Und wofür? Dafür, wie ein gewöhnliches Mädchen verheiratet zu werden? Das durfte nicht sein. Niemals würde sie das zulassen. Sie erhob sich und verließ den Trainingsplatz.
Sommer 1401 n.N.
Jahr 14 des 110. Nachfahren Nalanis
Wälder des Nördlichen Gebirges
Cahils Schicksal hatte sie gelehrt, dass man nicht nach ihr suchen würde. Dennoch hatte sie ihre Flucht sorgfältig vorbereitet. Es war ihrer Ausbildung zu verdanken, dass sie trotz des herben Schlages der Erkenntnis nicht sofort davongelaufen war. Stattdessen hatte sie haltbare Lebensmittel gehortet und sorgfältig ein leichtes Marschgepäck zusammengestellt.
Jetzt aber war alles bereit. Sie holte das Messer, das sie Cahil abgenommen hatte, aus seinem Versteck und steckte es in ihren Gürtel. Eine Weile hatte sie überlegt, weitere Waffen zu stehlen, doch es wäre ihr wie grober Undank vorgekommen. Ihr Stock und das Messer würden genügen.
Bevor sie das Zimmer verließ, in dem sie dreizehn Jahre mit ihrer Ziehmutter Myrna gewohnt hatte, zog sie einen Brief aus ihrem Bündel. Ihr Verhältnis zu Myrna war nie das einer Tochter zu ihrer Mutter gewesen, dennoch hatte sich die Frau stets gut um sie gekümmert. Daher schuldete sie ihr wenigstens ein paar Abschiedsworte. Audrey wusste, dass Myrna ihre Wertsachen unter einem losen Bodenbrett verwahrte. Sie öffnete das Versteck und legte den Brief hinein.
Es war ihr freier Nachmittag und niemand hielt sie auf, als sie durch das Tor schritt. Erst als das große Gebäude mit seinem riesigen Hof und den starken Mauern schon fast außer Sicht war, hörte sie, wie jemand ihren Namen rief. Sie hätte davonlaufen können oder vorgeben, den Rufer nicht zu vernehmen. Dennoch drehte sie sich um.
Es war ihr Lehrer Einar. Mit langen Schritten kam er auf sie zu. In seiner Hand trug er ein Bündel, das er ihr, kaum dass er sie erreicht hatte, in die Hand drückte.
Sie wollte ihn fragen, was dies sei, er aber unterbrach sie: »Ich wünsche dir alles Glück dieser Erde, Audrey. Leb wohl.«