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Ungleicher können zwei Menschen kaum sein als die vor einer arrangierten Ehe geflohene Prinzessin Süylin und der wegen Heiratsschwindel gesuchte Verbrecher Rihnall. Und doch führt das Schicksal sie zusammen. Noch ahnen sie nicht, welche bedeutende Entdeckungen ihnen bevorstehen und welch schwere Prüfungen sie fernab ihrer Heimat Elung werden bestehen müssen. Eine Entdeckung, ein mit einer Karte versehener Spiegel, der ihnen die Existenz fremder Länder enthüllt, versetzt sie ohne ihr Zutun in eines dieser Reiche, Atress. Dort wartet eine nahezu unlösbare Aufgabe auf sie, aber auch neue Freunde, die ihnen dabei zur Seite stehen. Dritter Teil der Welten-Nebel-Tetralogie
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Seitenzahl: 205
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Weltenspiegel
Karten
Ein ungleiches Paar
Entdeckungen
Dunkle Wolken
Hoffnung
Rückkehr
Epilog
Personen
Orte und Begriffe
Bonus: Die Geschichte der Sechs
Leseprobe aus "Tochter aller Völker" - Welten-Nebel Band 4
Lust auf mehr?
Die Autorin
Impressum
- Fantasyroman von Anja Buchmann -
Welten-Nebel-Tetralogie Band 3
Es war nicht einfach gewesen, den Kapitän dazu zu überreden, ihn als Schiffsjungen an Bord zu nehmen. Natürlich hätte er auch für die Überfahrt von Gal nach Bellan bezahlen können, doch dafür waren ihm seine hart verdienten Münzen zu schade gewesen. Auch brauchte er ein gewisses Startkapital, um in Bellan ein neues Leben anzufangen. Eine Rückkehr nach Gal wäre für die nächste Zeit definitiv ausgeschlossen, dort wurde Rihnall steckbrieflich gesucht. Es war ohnehin ein Wunder gewesen, dass sein Geschäftsmodell so lange funktioniert hatte. Zwei Jahre lang war es gut gegangen, doch trotz seiner Vorsicht war es ihm auf Dauer nicht gelungen, unsichtbar zu bleiben. Insgeheim verfluchte er das Schicksal, das ihm seine ungewöhnliche Hautfarbe beschert hatte. Während die Haut der Elunger gewöhnlich von einem sanften Himmelblau war, war Rihnalls Haut tiefblau wie der Galsee. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis eines seiner Opfer diese Besonderheit seines Äußeren erwähnte. Dann war es ganz schnell gegangen. Innerhalb von Tagen hatte sein Gesicht an jeder Hauswand der Hauptstadt gehangen, eine Flucht war unausweichlich gewesen.
Nach einem Tag auf dem Wasser konnte sie endlich frei durchatmen. Sicher hatte sie ihre Verfolger nun abgeschüttelt. Genau genommen wusste Süylin nicht, ob sie verfolgt wurde, doch es war ausgeschlossen, dass ihr Verschwinden unbemerkt geblieben war. Eigentlich war es ein Wunder, dass sie es überhaupt aus dem Palast geschafft hatte. Sie hoffte, dass Ellinas Beteiligung daran nicht entdeckt würde. Auf keinen Fall wollte sie, dass ihre langjährige Dienerin die Wut ihres Vaters zu spüren bekam. Nachdenklich strich sie sich durch das blonde lockige Haar. Sie musste sich noch daran gewöhnen, dass es nun nicht mehr hüftlang war, sondern ihr kaum noch auf die Schultern reichte. Da dies die einzige Möglichkeit gewesen war, ihr Aussehen zu verändern, hatten die Kleider ihre allzu bekannte Erscheinung verbergen müssen. Erst als das Schiff in Gal ablegte, hatte sie gewagt, zumindest die Kapuze des Mantels zurückzuschlagen. Hier auf dem Schiff zwischen den Seeleuten und dem einfachen Volk, das den Großteil der Passagiere stellte, fühlte sie sich einigermaßen sicher vor Entdeckung. Dennoch zuckte sie jedes Mal zusammen, wenn jemand sie ansprach. Manchmal schrak sie schon zusammen, wenn sich ihr nur jemand näherte.
So auch jetzt, als plötzlich ein junger Mann an sie herantrat. Sein freier Oberkörper ließ sie vermuten, dass es sich um ein Mitglied der Schiffsbesatzung handelte. Andererseits wirkte der Mann gepflegt und kultiviert, ganz anders als die Matrosen, derer sie bis jetzt ansichtig geworden war. Allerdings beschränkten sich ihre Erfahrungen in dieser Hinsicht auf die Mannschaft dieses Schiffes, denn dies war nicht nur ihre erste Seereise, es war gar das erste Mal, dass sie am Hafen gewesen war. In Anbetracht der Tatsache, dass sie ihr ganzes bisheriges Leben am Ufer des Galsees verbracht hatte, war dies wirklich erstaunlich.
Irgendwie kam der Mann ihr bekannt vor, sie wusste nur nicht zu sagen, warum. Doch es war zu spät, sich wieder unter der Kapuze zu verbergen, ein solches Verhalten hätte erst recht Verdacht erregt. Daher senkte sie lediglich den Blick – eine Geste, die er sicher einer gewissen Schüchternheit zuschreiben würde –, als er sie ansprach. „Sei gegrüßt, hübsches Mädchen. Ganz allein auf Reisen?“
Früher als gedacht ergab sich die Gelegenheit, sein Gewerbe wieder aufzunehmen. Seit sie an Bord gegangen war, beobachtete er die junge Frau nun schon. Wie sich herausstellte, hatte ihn sein erster Eindruck nicht getrogen, sie war wirklich so unbedarft, wie es schien. Ihre scheue Art, gepaart mit den ständig suchenden, teils vor Staunen geweiteten grauen Augen, hatte sie verraten: Sie war zum ersten Mal alleine unterwegs. Ihm blieb nur wenig Zeit, um sich ihr unentbehrlich zu machen, denn in nur vier Tagen würden sie Bellan erreicht haben. Schnell hatte er sich für eine Vorgehensweise entscheiden müssen, doch das war ihm angesichts seines Gegenübers nicht schwergefallen. Sie war jung, hübsch und unerfahren, unmöglich würde sie seinen Schmeicheleien widerstehen können. Schon ihre Reaktion auf seinen ersten Annäherungsversuch zeigte dies mehr als deutlich. Wie sie ihn erst musterte und dann scheu die Augen niederschlug. Er mahnte sich, nicht zu hastig vorzugehen, wollte er sich diese Chance doch nicht entgegen lassen, indem er sie verschreckte.
Doch sein ganzes Bild von ihr wurde auf den Kopf gestellt, als er die Antwort auf seine Frage vernahm. Abweisend, fast herrisch gab sie diese: „Ich wüsste nicht, was dich das angeht, Schiffsjunge?“
Wenn er noch jemals irgendeine Chance haben wollte, half jetzt nur Rückzug. „Entschuldige die Störung.“
Rihnall beeilte sich, an seine Arbeit zurückzukehren. Nicht, dass zu allem Überfluss auch noch der Kapitän auf seine Pause aufmerksam wurde.
Noch während ihr die harschen Worte über die Lippen gekommen waren, hätte sie sie am liebsten wieder zurückgenommen. Ein solches Verhalten taugte nicht unbedingt dazu, unauffällig zu bleiben. Sie würde sich daran gewöhnen müssen, dass sie keine Prinzessin mehr war. Sie gehörte von nun an zum gemeinen Volk und es war unerlässlich, sich entsprechend zu verhalten. Ansonsten nützte auch die Geschichte, die sie sich mit Ellinas Hilfe zurechtgelegt hatte, wenig. Sie war die Tochter eines kleinen Kaufmanns, nicht mehr und nicht weniger.
Beim nächsten Zusammentreffen mit dem Mann würde sie sich bemüht höflich geben müssen. Vielleicht war es keine schlechte Idee, sich zu entschuldigen. Ihre Legende bot ihr sogar eine passable Entschuldigung für ihr Verhalten, schließlich hatte sie kürzlich ihre Eltern verloren.
Manchmal war das Wetter unberechenbar. Von einem Augenblick zum nächsten waren große schwarze Wolken aufgezogen. Er hatte gehofft, dass ihnen ein Unwetter auf See erspart bleiben würde. Es war noch ein Tag bis Bellan, die Küste zu weit entfernt, um dem Unwetter zu entgehen. Er hatte genug Ahnung von der Seefahrt, um zu wissen, dass ihnen unruhige Stunden bevorstanden. Rihnall warf noch einen Blick auf den nun vollends verdunkelten Himmel, dann ging er zum Kapitän, um dessen Befehle zu vernehmen.
Welle um Welle schlug gegen den Bug und mit jeder vergrößerte sich ihre Übelkeit. Die Tatsache, dass sie in der engen Kabine gefangen war, trug nicht gerade dazu bei, dass Süylin sich besser fühlte. Lieber hätte sie dem Unwetter an Deck getrotzt, doch der Kapitän hatte alle Passagiere ins Innere des Schiffes geschickt.
Sie wusste, sie würde sich gleich übergeben müssen und das wollte sie auf keinen Fall in der Kabine tun. Die Anordnungen des Kapitäns waren ihr in diesem Moment egal. Trotz mehrerer Stürze gelang es ihr, das Deck zu erreichen und sich an der Reling festzuklammern. Über selbige gelehnt, übergab sie sich, bis ihr Magen leer war. Danach fühlte sie sich zu schwach, um in ihre Kabine zurückzukehren.
Die Blitze, die in immer kürzeren Abständen den Himmel erhellten, ließen sie immer wieder zusammenzucken. Das Grollen des Donners mischte sich mit dem Tosen der Wellen.
Spielten ihm seine Augen einen Streich, oder stand dort eine Person an der Reling. Wirklich, es war jene junge Frau, deren Bekanntschaft er seit Beginn der Reise zu machen suchte, bisher ohne Erfolg. Was tat sie da? Sollte sie sich nicht unter Deck befinden? Er würde sie schnell wieder dorthin bringen, bevor irgendetwas geschah. Allzu leicht konnte sie über Bord gehen.
So schnell er es trotz des schwankenden Schiffes vermochte, näherte er sich ihr. Doch noch bevor er sie erreichte, neigte sich das Schiff so stark, dass sie den Halt verlor. Wie eine Feder wurde sie durch die Luft gewirbelt.
Es war Wahnsinn. Ohne auch nur einen Moment zu zögern, sprang er ihr hinterher, hinein in die brausenden Fluten des Sees.
Er verlor die Orientierung, wusste nicht mehr, wo oben und unter war. Wild paddelnd versuchte er, wieder an die Wasseroberfläche zu gelangen. Seine Lungen schmerzten, so sehr brauchte er einen neuen Atemzug. Er konnte dem Drang nicht mehr widerstehen und öffnete den Mund. Augenblicklich füllte Wasser seine Lungen. Erst glaubte er, ertrinken zu müssen, doch dann fühlte er, wie neue Lebenskraft durch seine Adern strömte. Er konnte atmen, er konnte unter Wasser atmen! Er tat noch einen Atemzug und noch einen. Sein Geist war nun von erfrischender Klarheit, auch vermochten seine Augen nun die wirbelnde Schwärze des Wassers zu durchdringen. 'Die Frau', schoss es ihm durch den Kopf. Suchend blickte er sich um, konnte jedoch keine Spur von ihr entdecken. Immer tiefer tauchte er und mit zunehmender Tiefe beruhigte sich das Wasser. Was sich nun vor seinen Augen ausbreitete, war einfach unglaublich. Die Ruinen einer Stadt, größer noch als Gal, lagen dort auf dem Grund. Erst glaubte er, seine Sinne trögen ihn, doch als er die Steine schließlich berührte, waren sie so real wie die Mauern Gals. Doch ihm blieb keine Zeit, zu verweilen. Er musste die Frau finden, und zwar schnell.
Rihnall vermochte nicht zu sagen, wie viel Zeit verstrichen war, doch als er schließlich wieder aus den Fluten auftauchte, hatte sich das Wetter beruhigt. Er erblickte das Schiff ganz in der Nähe, mit einigen kräftigen Schwimmzügen hatte er es erreicht. Schon wurde ihm ein Seil zugeworfen und wenig später war er wieder an Bord. Ein jeder zeigte sich erstaunt, dass es ihm gelungen war, den Kräften des Wassers zu trotzen. Da ihm ohnehin niemand glauben würde, wie es ihm gelungen war, schwieg Rihnall, auch über seine Entdeckung am Grund verlor er kein Wort. Stattdessen äußerte er Bedauern darüber, dass er die junge Frau nicht hatte retten können. Doch kaum hatte er es ausgesprochen, stand sie vor ihm. Er erfuhr, dass sie nie über Bord gegangen war.
Süylin wäre wirklich beinahe von Bord gegangen, doch ihr Fuß hatte sich in einem Seil verfangen und sie hatte hilflos an der Bordwand gehangen. Wie es ihr gelungen war, sich aus dieser Lage zu befreien, vermochte sie selbst nicht zu sagen. Es war ein Wunder. Bei dem Gedanken, wie es hätte ausgehen können, schlotterten ihr noch immer die Knie. Und jetzt erfuhr sie, dass der Schiffsjunge versucht hatte, sie aus den Fluten zu retten. Sie dankte allen himmlischen Mächten, dass er diesen tollkühnen Einsatz überlebt hatte. Sie hätte es sich nie verzeihen können, wenn er bei dem Versuch umgekommen wäre.
Als sie ihm nun gegenüberstand, wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Ein einfaches Danke würde wohl nicht genügen, insbesondere eingedenk der Tatsache, dass sie sich noch immer nicht für ihr erstes unglückliches Zusammentreffen entschuldigt hatte. Eine Weile schaute sie ihn einfach nur an, wie er tropfnass dastand, umgeben von den anderen Matrosen. Sie stammelte: „Ich weiß nicht, wie ich dir für deinen Mut danken soll.“
Er aber winkte ab: „Du brauchst mir nicht zu danken, schließlich habe ich dich nicht gerettet, ich war nur dumm genug, es zu versuchen.“
Er ging, ohne ihr auch nur einen weiteren Blick zu schenken.
Rihnall versuchte einzuschätzen, ob sie wirklich so dankbar war, wie sie vorgab. Sicherheitshalber hatte er sich in Bescheidenheit geübt, denn diese stand einem Helden stets gut zu Gesicht. Ob es ihm wirklich gelungen war, die Fremde zu beeindrucken, würde sich noch zeigen müssen.
Am Abend suchte sie ihn auf, während er gerade das Deck auf etwaige Beschädigungen durch den Sturm untersuchte. Sie schien sich einen Text zurechtgelegt zu haben, denn ehe er ihr auch nur einen schönen Abend wünschen konnte, sprudelte es schon aus ihr heraus: „Ich möchte mich nochmals bei dir bedanken. Was du heute getan hast, war wirklich sehr mutig. Dabei spielt es keine Rolle, dass du mir nicht helfen musstest. Was zählt, ist die Absicht. Ich kenne wirklich niemanden, der sich getraut hätte, in die Wellen zu springen, um jemanden zu retten. Ich stehe in deiner Schuld, bitte gestatte mir, diese zu begleichen. Außerdem wüsste ich gerne deinen Namen.“
„Mein Name ist Rihnall. Und du brauchst dich mir wirklich nicht verpflichtet zu fühlen. Allerdings würde ich gerne deinen Namen erfahren.“
„Ich heiße Süylin.“
„Wie die Prinzessin?“
Mist, sie hatte ihm doch wirklich ihren richtigen Namen genannt. Dabei hatte sie sich doch als Kallyn verstellen wollen. Nun, das ließ sich nun nicht mehr ändern. Glücklicherweise war Süylin ein gebräuchlicher Name. Als Antwort auf seine Frage nickte sie.
„Es freut mich, dich kennenzulernen, Süylin. Was ist der Grund für deine Reise nach Bellan?“
„Ich bin auf dem Weg zu meiner Tante und meinem Onkel, um bei ihnen zu leben.“
„Also bleibst du länger?“
„Ja. Ich nehme an, dass du nur so lange in Bellan sein wirst, bis das Schiff wieder ablegt.“
„Nein, ich bin nur für diese Fahrt Teil der Mannschaft. Ich hätte zwar auch als Passagier an Bord gehen können, doch ich fand es spannender, auf diese Art zu reisen.“
„Du bist wohl immer auf der Suche nach Spannung und Gefahr. Da wundert es mich kaum noch, dass du dich für ein Bad im Galsee entschieden hast.“ Natürlich war diese Bemerkung als Scherz gemeint, sie hoffte, er verstand es als solchen. Keinesfalls wollte sie seinen Mut herabsetzen.
Da er seine Antwort mit einem Schmunzeln verband, hatte er es wohl richtig gedeutet. „Das kann man durchaus so sehen. Aber was mich wirklich zu dem kühnen Sprung veranlasste, war der Gedanke an die vielen Männer, die im Falle deines Ertrinkens nie in den Genuss deines lieblichen Anblicks gekommen wären.“
Als Prinzessin war sie Komplimente gewöhnt gewesen, doch sie war keine Prinzessin mehr. Daher musste sie annehmen, dass das Kompliment wirklich ihrem Aussehen und nicht ihrer Stellung galt. Ob dieser Erkenntnis spürte sie eine sanfte Röte in ihren Wangen aufsteigen. Schnell senkte sie den Blick. Sie wollte nicht, dass er es bemerkte. Sie musste das Gespräch irgendwie auf unverfänglichere Themen lenken. „Und was führt dich nach Bellan?“
„Die Neugier. Ich hatte Gal einfach satt. Ich weiß noch nicht, ob ich überhaupt in Bellan bleibe oder von dort weiterziehe.“
Er war also ein Abenteurer. Sie hatte zu viele dieser Männer kennengelernt, als dass Berichte von Heldentaten noch ihr Interesse wecken konnten. Hier aber lag der Fall anders, denn Rihnall hatte seinen Mut bewiesen. Noch immer wusste sie nicht, wie sie ihm seine tapfere Tat vergelten sollte. Wenn er wirklich nur kurze Zeit in Bellan weilte, würde ihr kaum Gelegenheit dazu bleiben. Sicher, sie hätte ihm Geld geben können, doch sicher hätte er dies zurückgewiesen. Schließlich wollte er nicht einmal ihre Dankbarkeit. Also konnte sie nicht mehr tun, als sich ihm gegenüber freundlich zu zeigen.
Das Gespräch war ins Stocken geraten und sie bemühte sich, den Faden wieder aufzunehmen. „Warst du schon mal in Bellan?“
„Nein. Und was ist mit dir?“
„Ich auch nicht. Ich habe mein ganzes Leben in Gal verbracht.“
„So wie ich. Allerdings habe ich schon viel über Bellan gehört. Es ist um einiges kleiner als die Hauptstadt, aber nicht minder prachtvoll. Der Handel hat es reich gemacht. Fast alle Nahrungsmittel, die in Elung gehandelt werden, nehmen ihren Weg über Bellan. Die Märkte sind voll mit den exotischsten Früchten, aber auch mit feinen Stoffen und allerlei Kunstgegenständen. Es heißt, dass selbst die königliche Familie regelmäßig Waren und Handwerker aus Bellan kommen lässt.“
Diese Dinge waren ihr nicht neu, schließlich hatte sie die Ausbildung einer Prinzessin genossen. Dennoch tat sie interessiert und lauschte Rihnalls Erzählungen. Er beschrieb ihr die Stadt in den prächtigsten Farben, ganz so, als habe er sie mit eigenen Augen gesehen.
Über das anregende Gespräch verging der Abend, die Sonne ging unter und der bleiche Mond erschien am Himmel. Die letzten Wolken hatten sich verzogen und der nachtblaue Himmel glitzerte im Licht von Tausenden Sternen, ein Anblick, an dem sich Süylin nie würde sattsehen können.
Er beobachtete sie, wie sie dastand und den Himmel betrachtete. Er bemerkte das Lächeln, das ihre Lippen umspielte. Auch er selbst lächelte. Er hatte einen Zugang zu ihr gefunden. Angesichts dieser Tatsache würde er, entgegen seiner Behauptung, in Bellan bleiben, doch das brauchte sie noch nicht zu wissen. Sollte sie nur glauben, dass ihr wenig Zeit bliebe, ihre Schuld bei ihm zu begleichen. Seine Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass ein schnelles Voranschreiten seinem Geschäft nur zuträglich war. Je weniger Zeit seinem Opfer zum Nachdenken blieb, umso besser. Daher wagte er nun auch einen weiteren Schritt, der Moment war einfach perfekt.
„Ich liebe die Sterne. Immer, wenn ich zu ihnen aufsehe, denke ich an meinen Vater. Als ich noch ein kleiner Junge war, haben wir oft gemeinsam die Sterne betrachtet.“ Er seufzte, was sie zu genau der richtigen Frage veranlasste.
„Wo ist dein Vater jetzt?“
„Er starb, als ich sechs Jahre alt war. Meine Mutter folgte ihm vier Jahre später. Seitdem habe ich niemanden mehr auf der Welt.“ Natürlich war das gelogen, in Wirklichkeit hatte er seine Eltern nie kennengelernt, er war in einem Waisenhaus aufgewachsen. Mit acht Jahren war er von dort abgehauen und hatte sich als Dieb durchgeschlagen. Doch so klang es weitaus dramatischer.
„Das tut mir leid. Auch ich habe meine Eltern verloren, das ist allerdings noch keinen Mond her. Eine unbekannte Krankheit raffte sie dahin. Deshalb bin ich nun auch auf dem Weg zu meiner Tante und meinem Onkel.“
Das lief ja noch besser, als er zu hoffen gewagt hatte. Wenn ihr Schmerz noch so frisch war, würde sie sich sicher bereitwillig von ihm trösten lassen. Er trat hinter sie und legte ihr die Hände auf die Schultern. „Ich trauere mit dir.“
Auch wenn ihr Schmerz nur vorgetäuscht war, so war sie ihm doch dankbar für seinen Trost. Denn auch wenn ihre Eltern nicht tot waren, so hatte ihre Flucht doch dazu geführt, dass sie sie verloren hatte. Zum ersten Mal bedauerte sie, dass sie sich nicht hatte von ihnen verabschieden können. Insbesondere bei ihrer Mutter dauerte sie dies. Auch wenn diese sich den Plänen ihres Mannes nicht entgegengestellt hatte, so hatte sie dennoch nichts damit zu tun gehabt. Die Idee, sie mit diesem reichen Kaufmann zu verheiraten, der mehr als doppelt so alt war wie Süylin, war ganz allein von ihrem Vater gekommen. Er hatte nur das viele Geld gesehen, dass der einflussreiche Mann geboten hatte, nicht das Glück seiner Tochter. Obwohl er der König Elungs war, litt er unter ständiger Geldnot. Das hatte Süylin aber erst herausgefunden, als sie nach dem Grund für das Heiratsarrangement gesucht hatte. Verwunderlich war es nicht, denn die Prunksucht des Königs und seiner Familie war mehr als offensichtlich. Auch Süylin war da kaum anders gewesen, auch sie liebte schöne Kleider und Schmuck. Doch als sie erfuhr, welches Opfer sie dafür bringen sollte, war ihr plötzlich all dies zuwider gewesen. Immer wieder hatte sie ihren Vater angefleht, die Hochzeit nochmals zu überdenken, doch er hatte nicht mit sich handeln lassen. Nun, dafür hatte er nun seine älteste Tochter verloren. Hoffentlich schmerzte ihn das wenigstens etwas. Auch hoffte sie, dass er sie nicht einfach durch eine ihrer drei jüngeren Schwestern ersetzen würde. Sicher hätten diese nicht den Mut, von Zuhause fortzulaufen.
Ob der düsteren Gedanken hatte sie zu weinen begonnen. Ein Schluchzen schüttelte ihren ganzen Körper. Ohne es zu merken, lehnte sie sich an Rihnall, der daraufhin mit beiden Armen ihre Taille umfing und sie festhielt, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Das Gefühl der Geborgenheit tat ihr wohl.
Erst als ihre Tränen allmählich versiegten, wurde ihr bewusst, wie verfänglich die Situation doch war. Schnell machte sie sich los. „Ich denke, es wird Zeit, zu Bett zu gehen. Ich wünsche dir eine gute Nacht.“
Ohne sich auch nur nach ihm umzudrehen, eilte sie zu ihrer Kabine.
Außer Atem verschloss sie die Tür und lehnte sich dagegen. Sie war verwirrt, ohne den Grund dafür benennen zu können. War es die Nähe zu Rihnall gewesen oder der Gedanke an ihre Familie?
Der Verlauf des Abends war mehr als zufriedenstellend gewesen. Er hatte ihre Schwäche gespürt und gut genutzt. Er wusste, dass nicht mehr viel fehlte, damit sie sich in ihn verliebte. Wenn dies erst geschehen war, so wäre sie Wachs in seinen Händen. Noch wusste er nicht, wie viel ihm dies einbringen würde, doch unvermögend war sie gewiss nicht. Sicher hatte sie das Vermögen ihrer Eltern geerbt. Ihr ganzes Verhalten zeigte ihm, dass sie bisher ein angenehmes Leben gehabt hatte. Er hatte ihre Hände gesehen, die keine Spuren von körperlicher Arbeit aufwiesen. Die Verbindung zu Süylin würde sich sicher als einträglich erweisen. Die einzige Unsicherheit stellten ihre Verwandten dar. Doch auch wenn sie ihn ablehnten, ließ sich durchaus Kapital daraus schlagen. Schon verschiedentlich hatten ihm die Angehörigen seiner Opfer viel Geld gezahlt, damit er die Heiratspläne aufgab und aus deren Leben verschwand. Insgesamt war seine Bilanz als Heiratsschwindler fast makellos. Erst zwei Mal hatten sich seine Investitionen nicht doppelt und dreifach wieder ausgezahlt. Wenn Bellan sich als ebenso ergiebig wie Gal erweisen würde, wäre er in zwei bis drei Jahren ein wohlhabender Mann. Was für ein Aufstieg. Dass dieser durch unlautere Mittel zustande gekommen war, spielte für ihn keine Rolle. Eigentlich war er sogar stolz auf das, was er tat. Schließlich konnte er ja nichts dafür, dass seine Opfer sich so bereitwillig betrügen ließen.
Er dachte an Süylin und spürte das wohlvertraute Kribbeln, das ihn stets befiel, wenn eine neue Unternehmung an Fahrt gewann. Die Aufregung des Spiels reizte ihn ebenso wie der mögliche Gewinn. Doch ein neuer Unterton hatte sich eingeschlichen, fast eine dunkle Vorahnung. Er wusste sie nicht zu deuten und tat sie als bedeutungslos ab. Er war sich seiner Sache sicher.
Da Rihnall noch immer zur Schiffsbesatzung gehörte, konnte er nicht gemeinsam mit den Passagieren von Bord gehen. Als der Kapitän ihn schließlich entließ, konnte er Süylin nirgends entdecken. Er hoffte dennoch, ihr bald wieder zu begegnen.
Er nahm Quartier in einem günstigen Gasthaus und machte sich daran, die Stadt zu erkunden.
Ellina hatte ihr den Weg zum Haus ihres Onkels beschrieben. Die Zeit hatte nicht gereicht, um ihre Ankunft anzukündigen. So wusste Süylin nicht, wie sie aufgenommen werden würde. Daher fiel ihr Klopfen etwas zaghaft aus. Als sie sich dann jedoch Ellinas Tante gegenübersah, fielen alle Sorgen von ihr ab. Sie blickte in ein gutmütiges Gesicht, das zu einer kleinen, etwas rundlichen Frau mittleren Alters gehörte. Noch bevor sie ihr Anliegen vortragen konnte, wurde sie auch schon hineingebeten. Als sie in der gemütlichen Küche saß, überreichte sie Ellinas Brief und ließ der Frau Zeit, ihn zu lesen.
Als sie geendet hatte, nickte Ellinas Tante und sagte: „Es ist ein Risiko, dich aufzunehmen, ich werde mit meinem Mann darüber sprechen müssen. Allerdings glaube ich, dass er meine Meinung teilen wird.“
Süylin verbrachte einige bange Augenblicke, bis die Frau weitersprach: „Ich halte es für richtig, dich aufzunehmen. Ich kann deinen Schritt verstehen. Daher werden wir dich behandeln, als wärst du wirklich unsere Nichte. Mein Name ist übrigens Atella.“
„Süylin.“
„Solltest du nicht lieber einen anderen Namen annehmen?“
„Das hatte ich vor, doch in einem unbedachten Moment habe ich mich einem Mitglied der Schiffsbesatzung mit meinem Geburtsnamen vorgestellt. Der junge Mann ist ebenfalls in Bellan von Bord gegangen, gut möglich, dass sich unsere Wege erneut kreuzen. In gewisser Weise schulde ich ihm mein Leben.“
Sie berichtete Atella von den Geschehnissen im Sturm.
„Nun, dann schuldest du dem Mann wirklich etwas.“
Am Abend lernte sie auch Atellas Mann Tew kennen. Er war von einem ebenso freundlichen Wesen wie seine Frau. Er hatte nichts dagegen, Süylin in seinem Haus zu beherbergen. Bis in die Nacht hinein erörterten sie, wie es weitergehen sollte. Sie kamen überein, dass sie Süylin ihr Handwerk lehren wollten, sowohl Atella als auch Tew waren Porträtmaler und über die Grenzen Bellans hinaus bekannt. Da sie keine eigenen Kinder hatten, suchten sie ohnehin einen Lehrling, der ihr Geschäft irgendwann übernehmen würde. Den Nachbarn würden sie erzählen, dass Süylin ihre Nichte war, deren Eltern kürzlich verstorben waren. Eigentlich war sie zu alt, um eine Lehre zu beginnen, doch man würde eine zu geringe Erbschaft vorschieben, aus der sich die Notwendigkeit eines Berufes ergab. Süylin war es recht, sie wollte nur eine Chance, egal in welcher Form. Wenn es hätte sein müssen, so wäre sie auch bereitwillig Wäscherin oder Geberin geworden.
Es dauerte sechs Tage, bis er sie wiedersah. Er ging gerade über den Markt, als er sie entdeckte. Sie war in Begleitung einer älteren Frau. So, wie sie miteinander umgingen, waren sie wohl recht vertraut miteinander. Die Frau war sicher Süylins Tante. Er ging auf die beiden zu und grüßte höflich. Süylin schien erstaunt, ihn zu sehen. Sie brauchte eine Weile, bis es ihr gelang, ihn ihrer Tante vorzustellen. Diese erwiderte: „Das ist also Rihnall, der dich gerettet hat?“
„Nun, ganz so war es ja nicht. Das hat sie hoffentlich gesagt.“
„Sei nicht so bescheiden. Wir können deinen Mut nicht hoch genug loben. Wir möchten dich gerne für den Abend zum Essen einladen.“
„Das ist sehr liebenswürdig. Ich würde mich freuen.“
Sie tauschten noch ein paar Höflichkeiten aus, wobei Süylin aber stumm blieb. Sie schien sich unbehaglich zu fühlen, war wohl nicht mit der Einladung ihrer Tante einverstanden. Hoffentlich wäre sie am Abend aufgeschlossener.
Auf dem Heimweg schalt Atella sie unhöflich, da sie sich Rihnall gegenüber so abweisend gezeigt hatte. Sie versuchte, sich zu verteidigen: „Ich war einfach nur überrascht, ihn zu sehen. Außerdem hast du das Gespräch ja sofort an dich gerissen. Auch habe ich heute Abend ja noch genug Zeit, mich mit ihm zu unterhalten.“
„Da hast du natürlich recht. Gib dir Mühe, er scheint mir ein netter Mann zu sein. Was macht er so?“
Sie zuckte mit den Schultern, er hatte ihr nur gesagt, er sei ein Abenteurer, doch das war nichts, womit man seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte. Sie würde ihn danach fragen.
Noch einmal überprüfte sie den Sitz ihres Kleides und ihrer Frisur. Ob dieses Verhaltens schimpfte sie sich selbst eine Närrin. Warum gab sie sich Mühe mit ihrem Aussehen? Dieses Essen mit Rihnall bedeutete ihr im Grunde nichts!
Atellas Stimme erscholl und Süylin eilte ins Erdgeschoss. Rihnall war schon eingetroffen und in einem angeregten Gespräch mit Tew. Er hatte sie entdeckt und kam auf sie zu. In vollendeter Form nahm er ihre Hand und küsste sie. Eigentlich war sie eine solche Begrüßung durchaus gewohnt, doch in diesem Umfeld und von ihm hatte sie es nicht erwartet. Ihr fehlten die Worte und so nickte sie nur.
Auch während des Essens verflog ihre Schüchternheit nicht, Rihnall hatte irgendetwas an sich, was sie unsicher machte und hemmte. Ihr gelang es kaum, mehr als ein paar Bissen hinunterzubringen, ständig fühlte sie sich von ihm beobachtet. An ein normales Gespräch mit ihm war nicht zu denken. So war es Tew, der den Großteil der Unterhaltung mit dem Gast bestritt, Atella war zu sehr mit der Bewirtung beschäftigt.